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Können wir blind sein obwohl wir sehen?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 6.April 2023 – 7.April 2023, 14:55h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext/ Einleitung

In diesem Blog wurde schon in vielen Beiträgen jener Sachverhalt thematisiert, dass wir ‚in unserem Kopf‘ Bilder von der Welt mit uns herum tragen, die als solche zwar ‚real‘ sind, die aber dennoch die ‚tatsächliche Welt‘ außerhalb unseres Kopfes nur mehr oder weniger schlecht repräsentieren. Ist schon dieses ‚mehr oder weniger‘ ein Problem, so liegt das viel größere Problem zumeist darin verborgen, dass wir selbst kaum bis gar nicht merken, dass es mit unseren ‚Bildern im Kopf‘ nicht so weit her ist.

Vor diesem Hintergrund ist es immer wieder ‚befreiend‘, wenn man Dinge erleben kann, durch die man das ‚Ungenügen der eigenen Bilder im Kopf‘ zu erkennen beginnt.

Der folgende Text beschreibt ein sehr persönliches Erlebnis dieser Art im Rahmen eines Gesprächsprojektes in der Gemeinde Schöneck.[4]

Beginn des Textes

Dies ist eine Nachbemerkung vom Autor Gerd Doeben-Henisch, der im Zustand großer Wald-Unkenntnis an den beiden Veranstaltungen zum ‚Wald‘ [1],[2] teilnehmen konnte und der aufgrund dieser Veranstaltungen jetzt zumindest ‚ahnen‘ kann, was alles ‚mitschwingt‘, wenn man sich der Realität Wald nähert. … Und wenn er dann nahezu täglich durch ‚unseren Wald‘ läuft, wie der Wald zwischen ‚Büdesheim und Kilianstädten‘ vielfach liebevoll genannt wird, dann kommen einem ganz unterschiedliche Gedanken …. siehe Text unter dem Bild.

Im ersten Moment wird man vielleicht den Kopf schütteln, wenn man die Worte liest, dass man ‚blind‘ sein kann obwohl man ’sieht‘, versteht man doch unter ‚Blindheit‘ normalerweise genau jenen Zustand unserer Augen, in dem wir wenig bis gar nicht mehr ’sehen‘ können.[3]

Aber, bei etwas weiterem Nachdenken wird sich wohl jeder an Situationen in seinem Alltag erinnern, in denen er etwas ‚real gesehen hat‘, wo er aber auch ’nur gesehen‘ hat, ihm aber dazu weiter nichts ‚eingefallen‘ ist. Solange man sich in einer vertrauten Umgebung aufhält, z.B. in seiner eigenen Wohnung, wird einem alles ‚vertraut‘ vorkommen, sobald man sich dann aber ’nach draußen‘ begibt, kann man schnell auf Schritt und Tritt Dinge ’sehen‘, Dinge ‚erleben‘, die einem ’nicht vertraut‘ sind.

Obwohl ich als Kind jahrelang im und am Wald gelebt habe, täglich durch Wiesen streifen konnte, ‚im Wald‘ war, hat mir nie einer erzählt, was das alles ist, was man da sieht: Pflanzen, Tiere, Bäume, Sträucher, … natürlich lernt man als Kind was eine ‚Kuh‘ ist, ein ‚Hund‘, ein ‚Baum‘, eine ‚Blume‘, man lernt aber auch nicht viel mehr, wenn man sich nicht dafür ‚interessiert‘ und dann aus eigenem Interesse später ‚lernt‘, welche verschiedenen Pflanzen es gibt, wie ihre ‚Lebensweise‘ ist, ihr ‚Lebenszyklus‘, ihr ‚Leben als Gemeinschaft‘ ….

Wenn ich heute als ‚alter Mann‘ durch den Wald und die angrenzenden Wiesen gehe, sehe ich natürlich einen Strauch, einen Baum am anderen, kann auch Formen und Farben unterscheiden, aber ich sehe mit den ‚bloßen Augen‘ nicht, was in diesen Pflanzen passiert, wie sie sich ernähren, wie sie wachsen, wie sie untereinander sich gegenseitig beeinflussen, Material und Informationen austauschen, was sie wirklich zum Leben brauchen; was heißt ‚Leben‘ für eine Pflanze? Und dann die vielen ‚Vögel‘ die man hören, aber meistens nicht sehen kann? Die Unmengen an Insekten, die mit Pflanzen und Vögeln kleine Lebensräume (Biotope) bilden …

Mit den Augen sehen ist eine wichtige Voraussetzung, aber mit unserem Gehirn ‚verstehen‘ ist eine ganz andere Liga: ohne ‚Wissen‘ sehen wir tatsächlich nicht wirklich; ohne Wissen sind wir letztlich in einem viel radikaleren Sinne ‚blind‘. Ohne Wissen können wir eigentlich nichts gezielt tun, was letztlich ‚Leben‘ fördert.

Insofern waren die beiden Veranstaltungen mit Yvonne Heil — der Referentin bei den beiden Veranstaltungen — , die existentiell engagiert sich mit Natur, mit Wald, mit Tieren, seit vielen Jahren beschäftigt, ein ‚Augenöffner‘ für ein vorhandenes ‚Wissensloch‘, für eine ‚Leere im Wissen‘, wodurch die ’sehenden Augen‘ letztlich erkennend ‚blind‘ sind.

Allerdings, mein existentielles Hauptthema ist seit Jahrzehnten genau das ‚Wissen‘: Was ist das, wie entsteht es, wie kann man es ändern usw. und von daher weiß ich, dass jeder Mensch in dieser unseren Welt notgedrungen viele ‚Wissenslöcher‘ hat; die Welt ist zu komplex, als dass ein einzelner Mensch ‚alles‘ wissen kann. Das wirksamste ‚Heilmittel‘ gegen ‚Wissenslöcher‘ ist, sich ‚zusammen zu tun‘, sich ‚gegenseitig zuhören‘, Dankbar sein für das ‚Geschenk‘ einer ‚Erfahrung‘, die ein anderer einbringen kann, und sich so gegenseitig helfen, weil man alleine sonst mit seinem eigenen ‚Wissensloch‘ scheitern kann.

ANMERKUNGEN

wkp := Wikipedia (de: Deutsch, en: Englisch)

[1] Siehe: Bürger im Gespräch, Schöneck, 5.März 2023: https://www.oksimo.org/2023/03/17/buerger-im-gespraech-schoeneck-sitzung-wald-5-maerz-2023/

[2] Siehe: Bürger im Gespräch, Schöneck, 26.März 2023: https://www.oksimo.org/2023/04/03/wald-werkstatt-26-maerz-2023/

[3] Für ‚Blindheit‘ siehe wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Blindheit . Zitat: „Unter Blindheit versteht man die ausgeprägteste Form einer Sehbehinderung mit gänzlich fehlendem oder nur äußerst gering vorhandenem visuellen Wahrnehmungsvermögen eines oder beider Augen. …“

[4] Siehe: https://gruene-schoeneck.de/ortsverband/im-gespraech

DER AUTOR

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