Archiv der Kategorie: Leben glückliches

IN ZWEI WELTEN LEBEN …

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 23.Juli 2019
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Nach einer längeren Schreibpause, hier ein kurzes Blitzlicht …

SCHWEIGEN IST VIELDEUTIG

Es ist ja ein beliebter Topos, über das Schweigen zu sinnieren. Korrespondiert es mit einem ‚Nichts‘ oder ist es nur ein Artefakt vielschichtiger, sich wechselseitig in Bann haltender Aktivitäten, die sich ’nach Außen quasi ‚aufheben’…

Dies ist ein Bild. Für mein Schweigen trifft weder das eine noch das andere zu. Tatsächlich ist bei mir die letzte Zeit extrem dicht angefüllt mit Aktivitäten, Denken, Schreiben, ja auch mit Programmieren, eine moderne Form des Schreibens. Letzteres leider in unserer Kultur von schöngeistigen Menschen wenig geachtet, tatsächlich aber der Stoff, aus dem das Meiste ist, was wir heute für unser Leben benutzen.

DENKEN – VIELFÄLTIG – IM DENKEN DENKEN

Die vielfältigen Formen des Denkens zu katalogisieren und zu bewerten, dann eventuell noch hierarchisch zu gewichten, ist sicher reizvoll. Bis zu einem gewissen Grade und in gewissen Situationen mag dies sogar notwendig sein (Gesetzestexte, Rezepten, Bauanleitungen, Sportberichte, Finanzberichte ….), aber man verliert die Wahrheit aus dem Blick wenn man übersieht, dass alle diese verschiedenen Spezialformen Ausdrucksformen einer einzigen Sache sind, nämlich der Bemühung des menschlichen Geistes — realisiert in den vielen einzelnen Menschen — sich im Hier und Jetzt zurecht zu finden; zu verstehen, wie denn das alles zusammenhängt. Warum das alles so ist, wie es ist. Gibt es irgendwie ein Ziel für die Zukunft? Mehrere? Welches ist am günstigsten? Für wen? Aus welchem Grund?

Für mich war das Schreiben in diesem Block seit ca. 10 Jahren mein Versuch, mich selbst in ein Gespräch zu verwickeln, das mich zwang, Eindrücken, Fragen nachzugehen, die ich ohne dies Schreiben eher achtlos beiseite gelassen hätte. Natürlich, neben viel Spaß, Lust an der Sache, Neugierde, Entdeckerfreuden usw. war es auch weite Strecken mühsam, quälend, mit der ständigen Frage: Muss das so sein? Bringt das was? Im Rückblick, nach ca. 9000 Seiten Text, würde ich sagen, es hat — zumindest für mich — sehr viel gebracht. Ich habe begonnen, Dinge zu verstehen, von denen ich vorher nicht wusste, dass es sie gibt, Zusammenhänge, die mir verborgen waren, überraschende neue Ausblicke, Glücksgefühle, noch mehr Neugierde, viel Hoffnung, ein wachsendes Vertrauen in dieses unfassbare Wunder genannt Leben. Ich bin jetzt soweit, dass ich zumindest ahnen kann, dass das Leben viel größer, tiefer, komplexer, reicher, gewaltiger ist, als alles, was uns die bekannten alten Traditionen — vor allem die alten Religionen, aber auch Einzelbereiche der Wissenschaften — bisher erzählt haben oder heute noch erzählen.

Insofern habe ich aus dem bisherigen Schreib- und Reflexionsprozess viel Kraft gezogen, viel Hoffnung, viel neues Vertrauen, Unternehmenslust, mit dabei zu sein, wenn es geht, die Unfassbarkeit unseres Lebens weiter zu gestalten.

MITGESTALTEN …

Je mehr man diesen Wunsch hegt, nicht nur passiv aufzunehmen, nicht nur zu verstehen, um so schwieriger wird dann die Frage, wo steigt man ein? Was kann man als einzelner mit seinen jeweiligen Möglichkeiten konkret tun?

Leute, die mit markigen Sprüchen durch die Welt laufen, die vielfarbige Slogans verteilen, die einfache schwarz-weiß Bilder austeilen, gibt es genug. Alles ist sehr einfach…

Aber, das Wunder des Lebens ist — nicht wirklich einfach. Wir selbst sind zwar zunächst als ‚Hineingeworfene‘ auf den ersten Blick einfach, weil wir etwas sehr Komplexes sind, das Komplexeste, was es im ganzen Universum gibt, aber wir haben keinen Finger dafür krumm gemacht, wir finden das alles einfach so vor, wir können sofort loslegen, ohne große umständliche Prozesse zu durchlaufen (OK, es gibt mittlerweile in den meisten Kulturen komplexe selbst definierte Lernprozesse in Kindergärten, Schulen, Betrieben, Hochschulen usw.), aber wir müssen nicht verstehen, wie wir funktionieren, um zu funktionieren. Unser Körper, das Äquivalent von ca. 450 Galaxien im Format der Milchstraße, funktioniert für uns, ohne dass wir verstehen müssen (und auch tatsächlich nicht verstehen können, bislang) wie er funktioniert. Wir sind ein Wunderwerk des Universums und können ‚funktionieren‘, obwohl wir uns praktisch nicht verstehen.

Da beginnt meine zweite Story: auf Ganze gesehen weiß ich so gut wie nichts, nah besehen weiß ich aber mittlerweile zu viel, als dass ich einfach so tun könnte, nichts zu wissen 🙂

EINZELTEILE ZUSAMMEN SUCHEN

Im Rahmen meiner unterschiedlichen Lehr- und Forschungstätigkeiten, zwischendrin auch ’normale‘ berufliche Arbeiten, habe ich schrittweise viele wissenschaftliche Bereiche kennen lernen dürfen und dabei entdeckt, dass wir aktuell ein ‚Zusammenhangs-Problem‘ haben, will sagen, wir haben immer mehr einzelne Disziplinen,die je für sich hoch spezialisiert sind, aber die Zusammenhänge mit anderen Bereichen, ein Gesamtverständnis von Wissenschaft, gar doch noch mit dem ganzen Engineering, dies geht uns zusehends ab. Dies bedeutet u.a. dass ein neuer Beitrag oft gar nicht mehr richtig gewürdigt werden kann, da die Umrisse des Ganzen, für das etwas entdeckt oder entwickelt wurde, kaum noch greifbar sind. Dies ist das Fake-News-Problem der Wissenschaften.

Ob geplant oder spontan oder zufällig, ich kann es nicht genau sagen, jedenfalls habe ich vor einigen Jahren damit begonnen, zu versuchen, die Disziplinen, in denen ich tätig sein konnte, langsam, schrittweise, häppchenweise, zu systematisieren, zu formalisieren, und sie auf die mögliche Wechselwirkungen mit den anderen Bereichen hin abzuklopfen.

Zu Beginn sah dies alles sehr bruchstückhaft, eher harmlos aus.

Doch im Laufe der Jahre entwickelten sich Umrisse, entstanden immer deutlicher Querbezüge, bis dann so langsam klar wurde, ja, es gibt hier mögliche begriffliche Rahmenkonzepte, die sehr prominente und doch bislang getrennte Disziplinen auf eine Weise zusammen führen können, die so bislang nicht sichtbar waren.

MENSCH – MASCHINE – UND MEHR …

Mein Fixpunkt war das Thema Mensch-Maschine Interaktion (MMI) (Englisch: Human-Machine Interaction, HMI), von mir dann weiter entwickelt zum allgemeinen Actor-Actor Interaction (AAI) Paradigma. Mehr zufällig bedingt, genau genommen durch einen wunderbaren Freund, einem Südafrikaner, ein begnadeter Systems Engineer, habe ich auch sehr früh begonnen, das Thema Mensch-Maschine Interaktion immer auch im Kontext des allgemeineren Systems Engineerings zu denken (im englischsprachigen Raum ist das Paradigma des Systems Engineering sehr geläufig, im deutschsprachigen Bereiche gibt es viele Sonderkonzepte). Irgendwann haben wir angefangen, das Systems Engineering zu formalisieren, und im Gefolge davon habe ich dies ausgedehnt auf das Mensch-Maschine Paradigma als Teil des Systems Engineerings. Dies führte zu aufregenden Verallgemeinerungen, Verfeinerungen und letztlich auch Optimierungen. Es war dann nur eine Frage der Zeit, bis das ganze Thema Künstliche Intelligenz (KI) integriert werden würde. KI steht bislang theoretisch ein wenig verloren im Raum der vielen Disziplinen, kaum verortet im Gesamt der Wissenschaften, des Engineering, der allgemeine Kognitions-, Lern- und Intelligenztheorien der biologischen Disziplinen. Im Rahmen des AAI Paradigmas ist KI eine Subdisziplin, die eine spezielle Teilmenge von Akteuren in ihrem Verhalten beschreiben, modellieren und simulieren kann, aber eben nicht isoliert, sondern eingeordnet in den Gesamtrahmen von Engineering und Wissenschaft. Dies eröffnet viele aufregende Perspektiven und Anwendungsmöglichkeiten.

Und so wird es auch niemanden verwunden, dass mein Engagement für ein integriertes begriffliches System für Systems Engineering, MMI und KI zugleich auch ein starkes Engagement für die philosophische Dimension wurde.

Ein Leser dieses Blocks wird nicht verwundert sein, wenn ich feststelle, dass es gerade die intensive Beschäftigung mit dem Engineering und seiner Meta-Probleme waren, die mich zur Philosophie zurück geführt hatten. Nach meiner völligen Frustration mit der klassischen Philosophie während des ersten Anlaufs einer Promotion in Philosophie an der LMU München (ca. 1980 – 1983) — ein Roman für sich — fand ich viele wertvolle Erkenntnisse im intensiven Studium der Wissenschaftsphilosophie und einiger konkreter Wissenschaften. Das Engineering (mit Schwerpunkt Informatik) war dann noch bereichernder. Aber gerade hier, im Systems Engineering, bei dem Thema Mensch-Maschine, und ausgerechnet mitten in den Lerntheorien der KI, bin ich auf so viele grundlegende philosophische Fragen gestoßen, dass ich von da ab — fast notwendigerweise — wieder angefangen habe philosophisch zu denken. Eines der Hauptmotive für diesen Block.

Natürlich, das merkt man wohl auch schon beim Lesen, führt die Breite und Fülle dieser Aspekte dazu, dass man nicht schnell, und nicht immer konzise arbeiten kann. Man muss viele Fragen mehrfach bedenken, oft von verschiedenen Seiten aus, muss immer wieder von vorne anfangen, und wenn man dann meint, jetzt habe man man den Bogen doch gut hinbekommen, entdeckt man von einer anderen Seite so viele anderen Aspekte, Löcher, Unzulänglichkeiten, dass man gerade nochmals von vorne anfangen kann.

Wie schwierig es auch sein mag, die Umrisse eines Ganzen deuten sich doch mittlerweile immer stärker an, so stark, dass ich das Gefühl habe, dass dieser andere Block — uffmm.org–, mein Blog für das Engineering, ab jetzt mehr — oder gar die ganze — Aufmerksamkeit verlangt.

Denn, eine Folge von Zusammenhangs-Sichten ist, dass man — fast unaufhaltsam — immer weitere Zusammenhänge entdeckt. So ist natürlich eng verknüpft mit dem Mensch-Maschine Paradigma der gesamte Komplex der biologischen und psychologischen Verhaltenswissenschaften, dazu gehörig auch das, was man Kognitionswissenschaft nennt, und damit ganz viele weitere spezielle Disziplinen, die irgendwie den Menschen und sein Verhalten thematisieren (Semiotik, Linguistik, Soziologie, …).

Während das Lesen und Studieren einzelner Werke und Artikel aus diesen Bereichen ohne übergreifenden Zusammenhang oft so beliebig, und damit frustrierend, wirkt, gewinnen diese Werke bei einem expliziten begrifflichen Zusammenhang eine ganz andere Farbigkeit, leuchten auf, werden interessant. So ist mir dies z.B. in den letzten Monaten mit Büchern von Edelman, Gallistel und Gärdenfors gegangen (um einige Beispiele zu nennen).

Während es also einerseits darum geht, immer mehr prominente Beispiele aus den genannten Disziplinen in den neuen begrifflichen Rahmen einzuordnen, ist mir auch klar geworden, dass dies alles — so wunderbar das für sich genommen schon ist (obgleich noch im Prozess) — heute nicht mehr ausreichend ist, ohne eine hinreichende Softwareunterstützung, ohne Software-Modellierung und vielerlei Simulationsversionen. Schon ein rein empirisches verhaltenswissenschaftliches Buch wie das grundlegende Werk von Gallistel zur Organisation des biologischen Lernens bleibt ohne zugehörige Softewaremodelle irgendwie ein Torso, entsprechend auch die Werke von Gärdenfors zu Begriffs-Räumen (Conceptual Spaces). Ein positives Beispiel für Theorie und Computersimulation liefert Edelman in vielen Büchern, Artikeln und Programmen. Und ich weiß aus eigener Vorlesungserfahrung, dass die Vorlesungen zum dynamischen Lernen erste mit der zugehörigen Softwaremodellierung jene Farbe und Tiefe bekommen haben, die es heute braucht.

Für mich ergibt sich daraus, dass ich parallel zur Text-Version der Theorie — natürlich mit hinreichenden Formalisierungen — eine vollständige Softwareabdeckung brauche. Ohne diese wird das alles nur Stückwerk bleiben.

Damit entsteht ein ziemliches Aufgabenpaket: Systems Engineering mit Actor-Actor Paradigma, dazu KI integriert, bei AAI Kognitionswissenschaften integriert, und zu allem die notwendige Software.

Allerdings eine wichtige Dimension fehlt bei dieser Aufzählung noch: die allgemeine Philosophie und die Wissenschaftsphilosophie. Die allgemeine Philosophie und die Wissenschaftsphilosophie können zwar die Einzelwissenschaften nicht ersetzen, aber die Einzelwissenschaften ohne eine explizite allgemeine Philosophie und Wissenschaftsphilosophie gleichen einem Haufen gackernder Hühner, deren Einzelbeiträge schnell in Kakophonie umschlagen kann, wenn sie nicht integriert werden.

Also, im Prinzip ist sehr klar, wie es gehen soll, es konkret zu tun ist scheinbar unmöglich. Aber genau das ist es, worum es geht: das Leben als solches in diesem Universum ist die maximale Unmöglichkeit, aber dennoch ist es da, dennoch entwickelt es sich. Dieses Mysterium einer ungeheuren Kraft, das Unmögliche möglich zu machen, das ist das, was jeden Menschen, insbesondere jeden Wissenschaftler, antreiben sollte, ansonsten sind wir tatsächlich — möglicherweise — schlechter als alle denkbaren Roboter der Zukunft.

AUF DIE BAUSTELLE

Wie schon angedeutet, hat meine Theoriebaustelle einen Namen: uffmm.org . ‚uffmm‘ ist die Abkürzung eines ganzen Satzes. Ich verrate jetzt nicht, wie dieser Satz heißt. Schön wäre es, wenn er einmal wahr werden würde.

Wer will, kann die Ereignisse auf dem uffmm-Blog verfolgen, allerdings ist dort alles auf Englisch. Es ist nicht meine Sprache, ich fühle mich damit sprachlich amputiert, aber es ist die zur Zeit beste Arbeitssprache für den internationalen Raum.

Ich habe auch keine Ahnung, wie weit ich kommen werde.

Parallel betreibe ich noch ein Anwendungsprojekt mit Überschrift ‚Kommunalplanung als eGaming‚. Damit zielen wir auf alle ca. 11.000 Kommunen in Deutschland, mit einem neuen Ansatz für mehr Demokratie in einer digitalisierten Welt. Dieser Ansatz ist ein direkter Ausfluss der zuvor angedeuteten Theoriearbeit (plus Software).

Der Philosophie-Jetzt Block war der entscheidende Inkubator für diese Weiterentwicklung. Ob und wie sich dieser Blog weiter entwickelt, wird man sehen. Er war ganz und gar ungeplant, und so wird auch die weitere Zukunft sich ereignen 🙂

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JEDER VON UNS KANN DER KLEINE UNTERSCHIED SEIN. Ein besonderes Theaterereignis gestern

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
31.März 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: cagent

I

Gestern Abend, ein kleiner Ort in Hessen; eine alte, kleine Kirche mittendrin, evangelisch, wo ich normalerweise nie hingehe. Doch gestern Abend war ich dort, mit meiner Frau. Ein Theaterstück, in der Kirche. Mitglieder der Gemeinde waren die Schauspieler, Menschen wie jeder von uns: Alt, jung, Mann, Frau, dick, dünn, Stimmen, wie man sie im Alltag hört. Aber was?

II

Der Titel hieß: „Vernissage Passion. Eine postdramatische Darstellung Jesu Leiden“. Eine ungewöhnliche Formulierung, von einem ungewöhnlichen Dramaturgen. Gerade mal das Abitur hinter sich, ein noch sehr junger Mann, Leon Bornemann, hat die allen bekannte Passionsgeschichte in seinem Kopf mehrfach ‚verschoben‘ und als Regisseur dann zu einer Ereignisfolge im alten Kirchenraum verdichtet, der sich die Aufmerksamkeit kaum entziehen konnte.

III

„Kunst kann real sein. Kunst kann ideal sein. Kunst kann nicht wahr sein“. Diese abstrakt klingenden Sätze empfingen den Zuschauer in der Einleitung, szenisch aufbereitet, mit Margrits berühmten Pfeifenbild garniert, das bekanntlich einen Text mitliefert: ‚Das ist keine Pfeife‘. Als Zuschauer wurde man quasi offiziell aufgeweckt, nicht zu glauben, was man sieht, und es doch zu erleben, es auf sich wirken zu lassen. Aber wie dann? Nachdem die Eingangsfigur, offensichtlich ein Maler in seinem Atelier, der damit kämpfte, wie man denn die Figur Jesu malen könne, wo es doch eigentlich jeder sein könne, mit viel Dramatik in ein Koma fiel, erwachten 14 unvollendete Bilder zum Leben.

IV

Diese 14, zwar ganz in weiß und die Gesichter maskenhaft in weiß, boten dennoch ein realistisches Abbild unserer alltäglichen Erscheinungen. Suchend, zweifelnd, streitend versuchten sie ihre Position zu bestimmen. Wer sind wir jetzt. Was sollen wir jetzt tun. Wo sollen wir hin. Wer soll diese Jesusfigur darstellen? Die Lösung war: jeder stellt sie dar. Jeder ist Jesus.

V

Karges Bühnenbild, minimale Beleuchtung, zwischendurch Klänge, Songs, Einbeziehung des ganzen Raumes, des Publikums in die szenischen Abläufe. Das Publikum konnte sich ansatzweise als Teil dieser 14 fühlen. Dies umso mehr als ja die Schauspieler trotz ihrer ‚Maskierungen‘ erkennbar waren. Jeder kannte hier jeden. Das Wort des ‚anderen‘ waren Worte aus dem eigenen Bekanntenkreis, der Freund, die Schwester, der Vater, die Mutter, die Mitarbeiterin, …. In den 14 konnte sich jeder wiederfinden, konnte jeder das Gefühl haben: da spiele ich…Theater spielen war hier unmittelbar fühlbare Erweiterung des Alltags, von jedem…Die Ereignisse nahmen dann ihren Lauf.

VI

Ja, es war erkennbar, die all-bekannte Passionsgeschichte wurde gespielt. Aber wie! Jeder war mal dieser Jesus (im Spiel). Jeder war mal JüngerIn. Jeder war mal anklagendes Volk, Jeder war mal Richter, Pilatus…. Mal spielte es ‚vorne‘, mal in den Gängen, mal auf den Rängen, irgendwie überall. Der ansonsten tote, leere Raum wurde zum ‚Ereignisraum‘, menschliche Körper und Stimmen füllten den Raum, belebten ihn, umhüllt von Licht, eingehüllt von Sounds, aber nicht irgendwie, sondern planvoll, akzentuiert, zum Punkt. Jeder konnte erleben, wie sich ein Fokus durch eine Geschichte zog, die bekannt war und doch, in diesen Momenten so anders.

VII

Am Ende starb dieser Jesus so, wie es in der Passionsgeschichte vorgezeichnet ist, aber die Art und Weise des ereignishaften Geschehens, war merklich, spürbar anders. Viele Zuschauer sagten am Ende, dass es ihnen mehr unter die Haut gegangen sei, als wenn es einfach gelesen worden wäre; mehr auch, weil Bekanntes neu daherkam.

VIII

Dies alles nur, weil ein noch sehr junger Mann irgendwann vorher in seinem Kopf etwas Bekanntes, die Passionsgeschichte, hin und her geschoben hat, sich dazu befragt hat, andere gefragt hat, über modernes Theater nachgedacht hat, über Schein und Sein, über real und ideal, darüber, was Kunst denn eigentlich tut, tun kann. Und irgendwie wurden aus diesen Gedanken ein neues Bild, eine Folge von neuen Bildern, und er fand in den 14 Menschen, die bereit waren, diese Gedanken anzuhören, aufzunehmen, bereit waren, als konkrete Personen diese in Raum und Zeit umzusetzen. Eine dieser 14 war auch die Pfarrerin, wie ich später erfuhr; die mit der ‚Gesangsstimme’…

IX

Ja, ein junger Mensch erlaubte sich, zu Denken, anders zu denken, zu reden,… und das machte hier den kleinen Unterschied zum ‚gewöhnlichen‘ Gang der Dinge. Es entstand etwas Neues, das andere mit in seinen Bann zog, das mich in den Bann zog.

X

Natürlich war es Zufall. Am gleichen Abend lief zu späterer Stunde im Fernsehen der Film „Im Labyrinth des Schweigens“, die Geschichte der Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Ausschwitz. Er spielte in den 1950iger Jahren, als in Deutschland noch das große Schweigen herrschte über die systematische Vernichtung von Millionen Menschen. Keiner wusste etwas, fast niemand wollte etwas wissen, und man galt als ‚Nestbeschmutzer‘, wenn man es wissen wollte. In dieser Wolke des Nichtwissens und der sozialen Ächtung war es ein junger Staatsanwalt, der anfing, die ‚Eindrücke im Kopf‘ neu zu ordnen, neu zu fragen, neu zu denken. Gegen massive Widerstände (aber mit Rückendeckung des Generalstaatsanwalts, auch einer, der wagte, ‚anders zu denken‘) spürte er den kleinsten Hinweisen nach, fand Unterstützer, kam in eine Krise, weil es irgendwann so aussah, als ob ja alle (auch sein Vater, der Vater seiner Freundin, sein Freund, …) Nazis waren, alle. Wo war hier Gerechtigkeit? Welche? Seine persönliche Krise, die das ganze Projekt zu zerschlagen drohte, fand dann Halt in den Gesichtern und Stimmen der realen Opfer, die das schier unfassbare Leiden erlebbar machten. In einer bestimmten Zeit hängen alle irgendwie ‚mit drin‘; einige aber mehr, einige wenige sehr viel mehr. Seine Neugierde machte den kleinen Unterschied, der alles ins Rollen brachte. Heute wissen wir in Deutschland, können wir wissen, welch unfassbares Leid die systematische Vernichtung von Juden, Andersdenkenden und psychisch kranke Menschen mit sich gebracht hat. Jeder kann das Opfer sein. Jeder kann der Täter sein. Jeder kann den kleinen Unterschied machen für jede Richtung…

XI

Die historische Person Jesu war einerseits nur einer von vielen, die damals als Messias angesehen wurden, die damals am Kreuz endeten, und doch machte er einen kleinen Unterschied zum allgemeinen Ablauf, ließ ein anderes Miteinander, ein anderes Menschenbild aufblitzen, für einen Wimpernschlag in der Weltgeschichte. Nach ihm gab es viele Tausend, Hunderttausend, Millionen Menschen, die wie er ihr Leben für andere hingegeben haben, für Gerechtigkeit, für Liebe, für Hoffnung. Seine Worte an seine Anhänger, dass sie all das, was er tut, auch tun könnten, ja, sie könnten sogar noch viel mehr tun als er es getan hat; diese Worte sind vielleicht die wichtigsten Worte, die den kleinen Unterschied ausmachen können, um in einem Ort irgendwo auf diesem Planeten, den Ablauf des Alltags ein klein wenig zu verschieben, gerade so viel, dass es ‚anders‘ wird.

XII

Es ist unbequem, es zu sagen, aber die kleinen Unterschiede beginnen, wenn überhaupt, ‚im Kopf‘, in der Art und Weise, wie wir die Dinge wahrnehmen, wie wir die Welt ‚in unserem Kopf‘ hin und her schieben; alles unsichtbar, ohne Geruch, ohne Sound, ohne Schmerzen. Aber hier, ‚im Kopf‘ entscheidet sich, ob wir einen kleinen Unterschied sehen, ihn fühlen, ihn denken, ihn in unseren Alltag erlebbar machen.

XIII

Schaut man sich um, heute, im Jahr 2018, dann nimmt die Zahl jener Länder, in denen Nationalismus, diktatorische Politik, Gewalt, Verbrechen, Armut, Korruption spürbar wirken, zu. Die kleinen Unterschiede verschieben sich zu mehr Dunkelheit, mehr Leid, mehr Aggression. In den Köpfen vieler Verantwortlichen herrscht Dunkelheit. Woher soll das Licht kommen? Irgendwelche Worte werden nicht ausreichen. Konkret erlebbare ‚Ereignisse des Guten‘ müssen her. Wie lernen Menschen, was gut ist? Was motiviert sie, ‚Gutes‘ zu tun? Wenn jeder an sich denkt, wo kann dann das Licht herkommen?

XIV

Die Geschichte hat viele klare Antworten bereit: wenn einer anfängt, den kleinen Unterschied zu machen, kann sich etwas ereignen. Wenn es dann zwei sind, drei, ….. Dunkelheit kann man nicht durch Dunkelheit bekämpfen. Irgendwo muss ‚Licht‘ herkommen, und die einzigen bekannten Quellen für Licht sind nur Menschen, Du oder ich …. die gleichen Menschen, die auch die Dunkelheit in die Welt bringen können…

 
BILDER VOM ABEND

Der Künstler (Leon Bornemann, Autor und Regisseur) zu Beginn in seinem Atelier mit einer seiner Figuren
Der Künstler (Leon Bornemann, Autor und Regisseur) zu Beginn in seinem Atelier mit einer seiner Figuren

Jeder war mal Jesus. Hier ein junger Mann im Kreis seiner Anhänger
Jeder war mal Jesus. Hier ein junger Mann im Kreis seiner Anhänger

Die Geister der Versuchung - Jesus vor seiner Schicksalsfrage
Die Geister der Versuchung – Jesus vor seiner Schicksalsfrage

Einzug in Jerusalem
Einzug in Jerusalem

Hoher Priester mit Geldbeute für Judas
Hoher Priester mit Geldbeute für Judas

Das ganze Ensemble (mit sehr viel Applaus!)
Das ganze Ensemble (mit sehr viel Applaus!)

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SIND VISIONEN NUTZLOS?

Letzte Aktualisierung: 23.Okt.2016 (Formeln wegen Lesbarkeit entfernt)

VERTRAUTER ALLTAG

  1. Jeder kennt das aus seinem Alltag: Menschen tun ihre Pflicht, man tut, was man kennt; Gewohnheiten, Vorschriften, Verordnungen, Gesetze weisen einem den Weg.
  2. Dies hat etwas Vertrautes, es stützt Erwartungen, macht das Geschehen ansatzweise überschaubar, gar berechenbar, man kann ansatzweise planen.
  3. Dann gibt es noch die zeitlichen Rhythmen Woche, Monat Jahreszeiten, Jahr; Fixpunkte des Erinnerns, Planens und Erwartens.
  4. Diese Rhythmen, die erkennbaren Regelhaftigkeiten, spannen einen Raum auf für das mögliche Geschehen, ermöglichen die Koordination mit anderen: Treffen, Urlaubsreisen, Feiern, Freizeiten, Umsatzplanung, Produktionszyklen, Finanzierungsmaßnahmen, Marketingaktionen, Einstellungspläne, Kooperationen mit Zulieferern, Wahlkampfpläne, Gesetzesprojekte im Parlament, ….

… WENN ER WANKT

  1. Ohne diesen erkennbaren und erwartbaren Raum gerät alles ins Schwimmen, entsteht Unsicherheit, werden Pläne unmöglich, das Erreichte fängt an zu Wanken: wird es bleiben? Wie wird es weitergehen?
  2. Die normale Reaktion eines homo sapiens (sapiens) in solch einer Situation sind Unruhe, Sorgen, Ängste, wenn man die Bedrohlichkeit der Situation zu realisieren beginnt. Dies kann in Existenzängste übergehen, Suche nach Rettung, nach Alternativen, nach Ursachen, Verursachern. Was hat dazu geführt? Warum ist das so? Was kann ich tun?

BLICK ZURÜCK

  1. Phasen der Stabilität, des Wohlstands gab und gibt es in der Geschichte des homo sapiens (sapiens) immer wieder. Manchmal Jahrzehnte, mal mehrere Generationen, bisweilen mehrere hundert Jahre. Aber noch nie waren solche Phasen ewig.
  2. Diese Phasen relativer Ruhe mit relativem Wohlstand waren nie monoton, gleichförmig: von sehr reich und mächtig bis sehr arm und rechtlos reichte die Bandbreite immer. Die Armen lebten von der Hoffnung auf den möglichen größeren Reichtum, und die Reichen und Mächtigen lebten von ….?
  3. Länger andauernder Wohlstand setzt immer lang andauernde stabile Verhältnisse voraus in denen all jene Tätigkeiten stattfinden können, die Nahrung ermöglichen, Wohnräume jeglicher Art, Handwerk, Verkehr, Technologien, Regeln des Zusammenlebens, Sicherung von Ordnung durch effektive Bestrafung der Abweichler, Sicherung von Ordnung durch effektive Abwehr nach außen, Weitergabe und Entwicklung von Wissen, geeignete Ausbildung von Menschen zum Erhalt der bestehenden Abläufe, notwendige Rohstoffe, geeignete Ökosysteme …..
  4. Je komplexer eine Gesellschaft des homo sapiens (sapiens) war, umso anfälliger wurde sie: Naturkatastrophen gab und gibt es immer wieder: Zu viel Regen, zu wenig Regen, schwere Unwetter mit Blitzen, Feuerereignissen, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Tsunamis, Meteoriteneinschläge, Asteroiden; dazu mikrobakterielle Veränderungen, die sich in neuen Krankheiten zeigten, auf die das menschliche Immunsystem nicht sofort eine Antwort fand, …
  5. Auch gab es Ressourcenknappheiten: Erde erschöpft sich, Trinkwasser geht zur Neige, zu wenig Nahrung für die lebenden Menschen (und Tiere), Energiequellen versagen, Arten sterben aus, Verschmutzung der Umwelt macht vieles unbrauchbar, …
  6. Manche Veränderungen sind punktuell in Raum und Zeit, andere dauern an, erstrecken sich über größere Regionen, oder sind periodisch (Überschwemmungen, Brände,…)…

REAKTIONEN AUF VERÄNDERUNGEN

  1. Auf viele lebensfeindliche Ereignisse kann der homo sapiens (sapiens) reagieren, wenn er davon Kenntnis hat und hinreichend viele Menschen sich einig sind, wie sie es verhindern können und sie es auch gemeinsam wollen. Andere sind schwer voraussagbar, sind zu selten und schwer erkennbar; wieder andere setzen sehr viel Wissen, hinreichende Technologien, und hinreichende kulturelle und politische Strukturen voraus, um darauf langfristig und nachhaltig reagieren zu können (Klima, Ressourcenzerstörung, Verhältnis von Ernährung und Bevölkerung, …).

AUFBÄUMEN GEGEN BEDROHUNG(EN)

  1. Auffällig ist, dass aber zu allen Zeiten die Menschen bei Bedrohung, Unglücken, Katastrophen nach Ursachen suchen, nach Verursachern oder nach eigener Schuld. Der Wille zum Leben gibt sich nicht mit dem Ereignis zufrieden. Der Wille zum Überleben sucht nach Anhaltspunkten, wie man Bedrohungen abwehren, sie überwinden kann. Aber welche Chancen hat ein einzelner homo sapiens (sapiens), eine ganze Population von Menschen?
  2. Eines ist ganz klar, was immer ein homo sapiens (sapiens) tun will, er hängt von dem Wissen ab, was sich gerade in seinem Kopf befindet, von den Handlungsmöglichkeiten der aktuellen Situation, und von der Fähigkeit, sich mit anderen zu koordinieren.
  3. Und in ungewöhnlichen Situationen zeigt sich eines sehr deutlich: auch wenn man aktuell nichts wirklich tun kann, wenn man nicht wirklich weiß, was man tun kann, dann tendiert der homo sapiens (sapiens) dazu, irgend etwas zu tun, nur um das Gefühl zu haben, er tue ja etwas. Das Gefühl des Nichtwissens, der Alternativlosigkeit, der darin aufkeimenden Ohnmacht ist so unerträglich, dass der homo sapiens (sapiens) dann irgend etwas tut, nur um nicht Nichts zu tun.
  4. Ist das dumm? Ist das primitiv? Ist das lächerlich? Ist das gefährlich?
  5. Halten wir einen Moment inne und schauen zurück (weil wir heute vieles wissen können, was hunderte, tausende Generationen vor uns nicht wissen konnten).

VOR SEHR LANGER ZEIT (KEIN MÄRCHEN)

  1. In der Zeit vor dem homo sapiens (sapiens) – viele Milliarden Jahre – als es nur einzelne Zellen oder einfache Zellverbände gab, beherrschte das biologische Leben zwar die Kunst, sich selbst zu vermehren (bis heute eines der größten Wunder im Universum und noch immer nicht vollständig aufgehellt!), aber das biologische Leben in Gestalt der Zellen verfügte über keinerlei Möglichkeit, in der aktuellen Situation der Selbstreproduktion im großen Maßstab über Alternativen, Varianten, mögliche Szenarien nachzudenken. Es besaß keinerlei Wissen über die weitere Zukunft. Die Zukunft war eine unfassbar große Wand des Nichtwissens, undurchdringlich. Das einzige, was verfügbar war, das waren genetisch kodierte Informationen über solche Baupläne, die in der zurückliegenden Geschichte überlebt hatten. Überlebt in einer Welt, der Erde, die selbst in beständiger Veränderung war, tiefgreifenden Veränderungen. Alles, was bisher erfolgreich war garantierte in keiner Weise, dass es morgen auch noch erfolgreich sein würde. Das Leben stand vor einer eigentlich unlösbaren Aufgabe: es musste Formen annehmen, die in einer Welt überleben können, die als solche noch nicht bekannt waren.
  2. Zu einem bestimmten Zeitpunkt t definierten die vielen genetisch kodierten möglichen Baupläne G in den Zellen mögliche Lebensformen L, die sich in der Vergangenheit in einer bestimmten Umwelt U bewährt hatten. Diese Umwelt ist aber nicht statisch sondern dynamisch, d.h. von einem Zeitpunkt t zu einem anderen späteren Zeitpunkt verändert sie sich nach bestimmten Regeln V; diese Veränderungsregeln sind dem Leben zum Zeitpunkt t nur partiell bekannt, und nur indirekt, kodiert im genetischen Kode. Heute wissen wir (wir glauben es zu wissen), dass diese Veränderungsregel V ein Bündel von Regeln ist, die unterschiedlich stabil sind, weil eine Veränderung der Umwelt U auch zurück wirkt auf manche Aspekte der Veränderungsregel V. Wir haben also eine Veränderungsregel V, die sich im Laufe der Zeit partiell selbst ändert …
  3. Im Nachhinein betrachtet hatte das biologische Leben extrem schlechte Karten. Keine Bank dieser Welt hätte einem solchen Kandidaten einen Kredit gewährt; keine Versicherung dieser Welt würde das Risiko des Lebens zu den frühen Zeiten versichert haben; kein Investor dieser Welt hätte je in das Projekt des Lebens investiert; keine bekannte politische Bewegung hätte auf dieses Leben gesetzt, keine Religion dieser Welt hat jemals über dieses biologisch Leben geredet …. Ein Grund dafür ist sicher, dass die menschliche Akteure von der Art homo sapiens (sapiens) nur eine vergleichsweise verschwindend geringe Lebenserwartung haben verglichen mit den Zeiträumen, in denen sich das Projekt des Lebens auf der Erde (und damit auch im Universum) in seinem sichtbaren Teil in vielen Milliarden Jahren entwickelt hat.
  4. Rein Mathematisch (soweit wir heute Mathematik entwickelt haben) hatte das biologische Leben vor dem homo sapiens (sapiens) keine wirkliche Chance, und dennoch hat es überlebt, 3.8 Mrd Jahre im sichtbaren Teil. Wie? Warum?

DAS NOTORISCH UNBERECHENBARE AM LEBEN

  1. Das biologische Leben hat bis heute viele unaufgeklärte Geheimnisse. Neben dem Selbstreproduktionsmechanismus, der wertvolle Informationen aus der Vergangenheit enthält, ist der Prozess der Weitergabe von Informationen und deren Umsetzung in eine neue, lebensfähige Struktur, nicht deterministisch, nicht 1-zu-1!
  2. Der Prozess ist aus sich heraus vielfältig, lässt Variationen zu, Abweichungen, schafft neue Kombinationen, so dass die Menge der genetisch kodierten Informationen G in den Zellen eben nicht eine eindeutige Menge L von möglichen Lebensformen kodiert, sondern eine partiell undefinierte Menge L*, die sich aus den Variationen innerhalb des Prozesses herleiten. Diese Menge L* weicht von der Erfahrung der Vergangenheit mehr oder weniger stark ab. Sofern die neue Umwelt U‘, die auf eine aktuelle Umwelt U aufgrund der jeweiligen Weltveränderungsregel V folgt, mit der ursprünglichen Umgebung U hinreichend ähnlich ist, hatte jener Anteil von Lebensformen in den neu realisierten Lebensformen L*, die noch den alten Lebensformen L entsprachen, gute Chancen, zu überleben. Diejenigen Lebensformen in L*, die zu neu waren, möglicherweise nicht. Sofern aber die neue Umwelt U‘ sich von der vorausgehenden Umwelt U in machen Punkten unterscheidet, haben dagegen die Lebensformen, die den vorausgehenden Lebensformen L ähneln, weniger Aussichten auf das Überleben; die Lebensformen aus der neuen Menge von Lebensformen L*, die sich von den alten Lebensformen L hingegen unterscheiden, möglicherweise schon. Vor dem Ereignis von L* in U‘ konnte der Mechanismus der Selbstreproduktion dies nicht wissen; volles Risiko war notwendig! Man kann dies die Urform von Kreativität nennen, von Genietum, von Verrücktheit ….Es ist tief verwurzelt im Kern des geheimnisvollen Lebens…
  3. Normale wahrscheinlichkeitstheoretische Modelle sind nicht in der Lage, diese Prozesse angemessen zu beschreiben. In jeder Phase des Lebens (und es gab ja Millionen von Phasen) sind sie zum Scheitern verurteilt.
  4. Fakt ist nur, dass das Leben mit dieser Methode aus Erinnerung (= genetisch kodierte Informationen aus der Vergangenheit) + voll riskante Variationen (Würfeln gegen die unbekannte Zukunft) es geschafft hat, eine wahrscheinlichkeitstheoretische Unmöglichkeit in ein (bisher) Erfolgsmodell zu verwandeln, das eine Komplexität erreicht hat (z.B. allein der Körper eines einzelnen homo sapiens (sapiens) besitzt etwa 120 Milchstraßen-Galaxien an Zellen, die hochkomplex miteinander interagieren), die unser aktuelles Verstehen noch weitgehend überfordert.

LEHREN AUS DER VERGANGENHEIT?

  1. Was das biologische Leben uns, die wir ein Produkt dieses Lebens sind – und auch nur ein Teil davon – damit sagen kann/ will, ist ziemlich klar. Ein aktuelles Wissen von der Welt und dem Leben auf der Erde (und im Universum) ist niemals vollständig. Die objektiven Grenzen eines aktuellen Wissens zu überwinden kann nur gelingen, wenn man sich nicht in den objektiven Grenzen einmauert, sondern diese Grenzen durch ein ganzes Feuerwerk an Experimenten jenseits des Bekannten zu durchbrechen, zu überwinden sucht. Dies kann man Kreativität nennen, Visionen, Träume, Verrücktheit, Genietum … egal wie wir es nennen, ohne ein hinreichendes Maß an Verrücktheit, Kreativität, Mut zum Risiko hat das Leben keine Zukunft. In einer dynamischen Welt kann das Wissen um die Vergangenheit nicht der alleinige Maßstab für die mögliche Zukunft sein. Hätte das biologische Leben in der Vergangenheit nur das wiederholt, was bislang Erfolg hatte, es wäre schon lange gescheitert. Die Wahrheit des Lebens liegt nicht nur in ihm selbst, sondern in ihm und in Wechselwirkung mit einer dynamischen Umgebung, also mindestens mit dem bekannten Universum.
  2. Jetzt werden manche sagen, dass wir ja heute so viel mehr wissen. Wir können die Entstehung des bekannten Universums sehr weitgehend nachvollziehen und simulieren; wir haben technisches Knowhow, komplexe Maschinen, Gebäude, ganze Städte zu bauen; wir haben neue Informationstechnologien, um mehr Daten zu verwalten, sie zu finden, sie neu zu kombinieren ….
  3. Das ist richtig. Das Leben hat in Gestalt des homo sapiens (sapiens) Handlungsräume ermöglicht, die noch vor 100-200 Jahren unvorstellbar waren.
  4. Wahr ist aber auch, dass wir zunehmend die inhärenten Grenzen der bisherigen Methoden erkennen: der homo sapiens (sapiens) ist dabei, die Lebensgrundlage Erde weitgehend und nachhaltig zu stören oder gar zu zerstören. Die neue Vielfalt an Wissen, Lebensformen, Handlungsmöglichkeiten überfordert das aktuelle Format des Erlebens und Verstehens eines einzelnen homo sapiens (sapiens). Statt Frieden weltweit und Wohlstand für alle produziert der homo sapiens (sapiens) krasse Unterschiede zwischen Reich und Arm, zwischen Ernährung und Wasser im Überfluss in einer Region und Hunger und Wassermangel in einer anderen; statt globaler Friedensgesellschaft mit gemeinsamer Verantwortung (Vision der United Nations) beobachten wir wieder eine Tendenz zum Nationalismus, zur Radikalisierung, zu Fanatismus, zu Vereinfachungen.
  5. Die begrenzte Lebenszeit des homo sapiens (sapiens) und sein biologisch begrenztes Verstehen werden zum Stolperstein, das größere Ganze, den Zusammenhang zwischen allem, die großen Perspektiven wahrzunehmen und danach zu handeln. Die sogenannten nationalen Führer erweisen sich als krasse Zwerge gemessen an den Anforderungen der je größeren Zukunft.
  6. Mathematisch ist die Prognose für den homo sapiens (sapiens) als Teil des Lebens wie schon immer schlecht.
  7. Die Botschaft der Vergangenheit sagt aber, im Phänomen des Lebens steckt mehr als das, was die endlichen Gehirne eines homo sapiens (sapiens) bislang denken.
  8. Die Zukunft wird erzählen, was stimmt. Ganz unbeteiligt sind wir nicht. Visionen sind nicht unbedingt schlecht. Wir alle sind ein Produkt der Visionen von vielen Milliarden Jahren von aberwitzig vielen Experimenten.

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START DES PHILOSOPHIESOMMERS 2016 IN DER DENKBAR FRANKFURT – Nachhall zum 14.Februar 2016

START GELUNGEN

Nach einer Unterbrechung von mittlerweile fast 6 Monaten hat sich die Philosophie in der DENKBAR zurückgemeldet.  Aufgrund der Einladung vom 9.Februar 2016 hatte sich eine sehr interessante Gruppe  zum Re-Start versammelt. Und der gedankliche Austausch nahm seinen Lauf.

EIN HAUCH VON PHILOSOPHY-IN-CONCERT

Wie angekündigt wurde ein kleines Hörstück vom PHILOSOPHY-IN-CONERT Experiment eingespielt, dazu ein Bild von der – noch – leeren virtuellen Insel aus einer virtuellen Welt.

cagent vor leerer PiC-Insel 14.Februar 2016
cagent vor leerer PiC-Insel 14.Februar 2016

PHILOSOPHY-IN-CONCERT versteht sich als Versuch, die Fragestellung von der Zukunft des Menschen in Wechselwirkung mit der neuen Technologie der intelligenten Maschinen aus philosophischer und wissenschaftlicher Sicht künstlerischer erlebbar zu machen. Wie das genau geschehen wird, ist Teil des laufenden Experimentes. Erste Gehversuche fanden in öffentlichen Veranstaltungen am 1.Dez. 2015 und am 12.Dez. 2015 statt. Daraus stammt das Hörstück, das an diesem Abend gespielt wurde.

 

Dieses Stück kann uns daran erinnern, dass wir uns ohne Gebrauchsanleitung vorfinden und seit vielen tausend Jahren auf der Suche nach uns selbst, nach dem inneren Drehbuch von allem sind. Alle Kulturen haben ihre eigene Version erzählt, die vielen Religionen, die Philosophen, die moderne Wissenschaft liefern ständig neue Varianten. Welche ist nun die richtige? Woran können wir die richtige erkennen?

Zwei der Stimmen im Hörstück sind vom Computer generiert. Die gesamte Musik ist vom Computer generiert. Wir erleben einen realen Klang, der von Algorithmen erzeugt wurde. Auch das Bild, das in der Live-Schaltung sehr realistisch wirkte (z.B. mit Wellenbewegungen und Lichtreflexen) war komplett vom Computer generiert, ein Virtuelles als Reales, Virealität …

DIE AUSGANGSLAGE

Damit waren wir bei der Ausgangslage angekommen.

In unserem Alltag erfahren die, die Arbeit haben, oft (meistens?), dass sie zu viel Arbeit haben. Sie drehen in ihrem Rad und schaffen es kaum noch, jenseits der beruflichen Routine andere Aspekte des Lebens breit und differenziert aufzunehmen. Zugleich hat man das subjektive Gefühl, die Ereignismenge nimmt beständig zu, die Änderungen werden schneller. In all dem ist eine Entwicklung unübersehbar: die fortschreitende, mittlerweile umfassende, Digitalisierung des gesamten Lebens. Im Beruf, in der Freizeit, öffentlich und im Privaten, überall begleiten uns mittlerweile Computer, die mit Netzwerken verbunden sind. Vielfach sind sie schon nicht mehr erkennbar, da sie die Gestalt von Alltagsgegenständen angenommen haben, sie Teil von Wohnungen und Gebäuden sind, überall in den Verkehrsmitteln eingebaut sind, Teil von öffentlichen Räumen …. noch weniger kann man die Aktivitäten in den Netzwerken und Datenbanken wahrnehmen. Das globale Geschäft mit den privaten (und kommerziellen und institutionellen) Daten brummt; einige wenige werden immer reicher, viele andere werden jeden Tag schleichend entwertet. Der Staat scheint zu versagen; es wirkt, als ob er seine Bürger den Datenkraken und den außer Rand geratenen Geheimdiensten überlässt. Privatheit war einmal. Industriespionage scheint mittlerweile der Standard sein, vorpraktiziert von den staatlichen Geheimdiensten selbst, wenn man den Quellen trauen kann.

Erleben wir einen epochalen Umbruch? Was ist mit den traditionellen Wertelieferanten, den bekannten Religionen? Was ist mit den Wissenschaften? Sind Menschen nur ein zufälliges Ereignis der Evolution, eine biochemische Masse, die alsbald wieder vergeht? Sind die Menschenrechte nur noch gut für Sonntagsreden, aber ansonsten im Alltag blutleer, wert-los? Warten alle nur noch auf die Erlösung durch die Roboterfabriken und intelligente Maschinen, die dann alles lösen werden, was der Mensch nicht lösen konnte?

Was ist mit den globalen Konzernen, die ihr Geschäft auf Algorithmen basieren, die die globalen Datenmengen auswerten und hochrechnen: sind sie morgen bankrott, weil sie ihre eigenen Algorithmen nicht mehr unter Kontrolle haben? Lassen die anwachsenden Bot-Armeen die Daten von twitter, facebook, google und Co zu Schrott werden?

GEDANKENSTURM

Dies sind einige der Gedanken, die eingangs geäußert wurden, und die dann zu einem intensiven Gedankenaustausch führten.

Gedankensturm vom 14Febr2016 - ungeordnet
Gedankensturm vom 14Febr2016 – ungeordnet

Im Gegensatz zu sonst fiel es dem Protokollanten schwer, diese vielen Aspekte sofort in eine Struktur einzupassen. Dies kann auch ein Anzeichen dafür sein, dass wir es hier mit einem qualitativ neuem Gesamtphänomen zu tun haben. Alle bisher benutzten Muster greifen nicht mehr so richtig.

Am erfolgversprechendsten erschien dann die Perspektive, dass wir den Menschen, uns, viel radikaler als bislang als Teil eines evolutionären Prozesses sehen müssen, der uns dorthin gebracht hat, wo wie heute stehen. Dies intensiviert die Rückfragen an diesen Prozess. Welche Rolle spielt dann der berühmte Zufall bei der Entstehung des bekannten Universums und der bekannten Lebensformen. Ist alles nur Zufall oder ist Zufall nur ein Moment an einem komplexeren Geschehen? In der Wissenschaft haben einige gemerkt, dass der Zufall insofern nur ein – wenngleich sehr wichtiges – Moment des Geschehens ist, da bei der Entwicklung des biologischen Lebens die Speicherung bisheriger Erfolge im DNA-Molekül wesentlich ist. Nur durch diese Speicherung (Erinnerung, Gedächtnis) wurde eine Zunahme von Komplexität möglich. Der Zufall variiert, das DNA-Gedächtnis gibt eine Richtung. Dieser Prozess ist sehr langsam. Erst mit dem Auftreten des homo sapiens als Teil dieses Prozesses gab es eine Revolution: die Gehirne des homo sapiens können mit ihren elektrischen Zuständen Eigenschaften der Umgebung und sich selbst zu Modellen formen, mit diesen virtuellen Modellen elektrisch spielen und auf diese Weise in sehr kurzer Zeit hochkomplexe Alternativen erkunden, verwerfen oder ausprobieren. Dies führt zu einer extremen potentiellen Beschleunigung der Evolution. Veränderungen, die zuvor vielleicht tausende, zehntausende von Generationen gebraucht haben, können nun innerhalb von Jahren, Monaten, Tagen … gedacht und gestartet werden. Die Erfindung des Computers (eine 1-zu-1 Kopie der Struktur, die dem Kopiervorgang von biologischen Zellen zugrunde liegt!) erscheint in diesem Kontext folgerichtig, dazu Netzwerke und Datenbanken. Aus Sicht der Evolution ist es die Befreiung der Materie in frei konfigurierbare Zustände mit extremer Beschleunigung.

Für die agierenden Menschen, Mitglieder der Gattung homo sapiens, scheint dies aber zu einer Zerreißprobe zu werden, zur Krise der alten Weltbilder die – stimmt das neue Bild – sowieso falsch waren. Wer sind wir wirklich? Was soll das Ganze? Kann es in diesem kosmischen Gesamtgeschehen überhaupt so etwas wie einen Sinn für einzelne Individuen, für einzelne Generationen geben? Wie können wir in all dem, was diese neue Entwicklung mit uns macht, ein Muster erkennen, irgendetwas, was über puren Zufall hinausweist? Oder brauchen wir das alles nicht, ist es sowieso egal? Soll jeder halt die Zeit seines Lebens nutzen so gut es geht, ohne Rücksicht auf Verluste? Sind die Menschen, nachdem sie die Evolution durch Computer, Netzwerke und Datenbanken neu entfesselt haben, sowieso überflüssig geworden? Homo sapiens hat seinen Job gemacht; die Zukunft liegt jetzt nur noch in Hand der intelligenten Maschinen?

WIE GEHT ES WEITER?

Am 13.März 2016 treffen wir uns zur weiteren Verhandlung in Sachen homo sapiens.

  • Was macht das alles mit uns?
  • Hat der homo sapiens noch eine Chance?
  • Ist er überflüssig geworden?
  • Gibt es die intelligenten Maschinen, die den homo sapiens ersetzen sollen, wirklich?
  • Ist dies aller nur ein Propagandatrick der Medien und einiger globaler Konzerne?
  • Sind google, facebook und Co morgen schon pleite, weil sie ihre eigenen Algorithmen nicht mehr unter Kontrolle haben?
  • Was wird uns PHILOSOPHY-IN-CONCERT zum Nachdenken geben?
  • Könnten uns intelligente Maschinen sogar helfen?
  • Was ist mit der Maschine als Therapeut und Partner?
  • Was ist mit den technischen Erweiterungen des Körpers?
  • Was ist mit den möglichen genetischen Veränderungen: warum wollen wir sie nicht?
  • Wo liegt unsere Zukunft? In der bloßen Wiederholung des Alten oder in einem real Neuem? Wie kommen wir dahin? Wer sind unsere Ratgeber? Müssen wir auf unsere Enkel hoffen, dass die es dann schon richten, weil wir zu dumm und träge sind?

Einen Überblick über alle vorausgehenden Sitzungen der Philosophiewerkstatt findet sich HIER.

DIE MÜCKE FLIEGT INS TODESLICHT – UND DER MENSCH FLIEGT …

DIE MÜCKE

1. Wir kennen alle das Schauspiel, wenn Mücken, Insekten sich, magisch angezogen vom Licht, geradezu unaufhaltsam hineinstürzen … und verglühen, verkohlen, durch beißenden Geruch in unsere Wahrnehmung dringen.

2. Die einen ekelt es, andere schaudern innerlich, manche fühlen sich überlegen: diese dummen Mücken; könnte mir nicht passieren.

3. In der Tat, dass Menschen sich in eine Lichtquelle stürzen und dabei umkommen ist ziemlich ausgeschlossen. Aber sind wir deswegen aus dem Schneider?

Eine musikalische Mücke (Vom 7.Mai2015)

UND WIR

4. Ersetzt man das Wort ‚Licht‘ durch etwas anderes, kann sich das Bild schnell ändern. Wie wär’s mit ‚liebgewordener Vorstellung‘?

5. Wenn man jahrelang ‚Erfolg‘ hatte mit einer bestimmten Vorgehensweise (VW, Flüchtlingspolitik der Europäer, Nokia-Handy, Faule Geldprodukte der Großbanken, Fifa-Korruption, …), dann gaukelt dies eine Sicherheit vor, die tatsächlich nicht gegeben ist. Das scheinbar Bekannte, Erprobte übt solch eine Anziehungskraft aus, dass man alles tut, es zu bewahren, und damit bereitet man den Untergang vor.

REICHTUM

6. Wohlhabende und reiche Menschen, insbesondere, die diesen Reichtum geerbt und nicht selbst erarbeitet haben, leben in einer Welt scheinbarer Vorteile und Privilegien wie in einem Käfig. Freiwillig gibt dies kaum jemand auf; warum auch. Hat man nicht alles? Was wären die Alternativen? Warum sollte man sein Leben ändern? Was aus Sicht des einzelnen einen gewissen Sinn ergibt, kann als Teil des Ganzen einen gefährlichen Sprengsatz darstellen: wenn immer weniger Menschen (Prozentual) immer mehr besitzen, erzeugt dies ein soziales Spannungsfeld, das in der Geschichte bislang immer zu Aufruhr, Revolution, Zerstörung geführt hat, zu Chaos (fast alle Länder dieser Welt leiden an dieser Krankheit). Die individuelle Verblendung wird dann zur Falle, wird zum Gift, das das Denken, Fühlen und Handeln lähmt.

MACHT

7. Mit Macht ist dies nicht anders. Wer einmal in den scheinbare Genuss von ‚Macht‘ gekommen ist, der ist in der Regel verloren. Es ist wie ein physikalisch schwarzes Loch: die Beteiligung an dem System, das die Macht besitzt, wirkt wie die Gravitationskraft, die alles Individuelle, alle Art von Moral, Ethik, Individualität weg saugt und den einzelnen zum fast willenlosen Element des Machtfeldes macht, aus dem es kein Entkommen gibt, solange man die Macht für sich als oberstes Lebensprinzip akzeptiert.

8. Eines der berühmtesten Beispiele aus der Gegenwart für solch ein Macht-System ist die NSA: sie hat unglaubliche Geldvermögen zur Verfügung; sie steht außerhalb jeglichen Gesetze (jede Art von Verbrechen ist legitimiert, weil es offiziell um die ‚Sicherheit‘ geht, die über allem steht, was Menschen sonst heilig ist); eine demokratische Kontrolle existiert schon seit vielen Jahren nicht mehr (ehemalige Mitglieder des einzigen demokratischen Kontrollgremiums bestätigen, dass eine Kontrolle faktisch ausgeschlossen ist); das gelegentliche Auswechseln der offiziellen Leiter ist reine Kosmetik; die einzelnen Chefs müssen über ihre finanziellen Gebaren keinerlei Rechenschaft ablegen (die Generäle des US-Militärs übrigens auch nicht). Die innere Struktur ist auf Geheimniskrämerei und bedingungslosen Gehorsam ausgelegt. Für Machtmenschen ein Paradies. Für das Individuum eine Dauerhölle: nichts ist sicher; man muss alles abliefern, selbst seine intimsten Überzeugungen und Wünsche, Ethik ist ein Verbrechen; Entkommen ausgeschlossen. Das ganze ummantelt von der Illusion einer Demokratie, die aber keinerlei Zugriff mehr besitzt. Umgekehrt kann dies Monster jederzeit überall auf jeden zugreifen, ihn kontrollieren, ihn manipulieren und ihn nach Belieben zerstören. Keine juristische Einrichtung dieser Welt kann und wird dies verhindern.

9. Warum also sollte z.B. solch eine Institution sich ändern? Was könnte es geben, was diese Institution motiviert, ‚anders‘ zu sein, wie anders? Dieses schwarze-Macht-Loch (analog zum schwarzen Gravitations-Loch) zieht alles an sich; je tiefer man drin ist, umso stärker. Im Innern des Gravitationsfeldes dieser Macht ist jeder einzelne bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis solche Machtzentren die sie umgebenden gesellschaftlichen Systeme von innen heraus völlig aufsaugen und zerstören. Schon heute ist nicht mehr so richtig klar, ob das zivile politische System überhaupt noch ein Rest an Eigenleben hat, um solch ein Machtmonster demokratisch unter Kontrolle zu bringen. Alle Versuche der letzten Jahre in den politischen Gremien sind kläglich gescheitert.

10. Die NSA ist sicher ein Extrembeispiel. Immerhin gibt es noch Grundinformationen zu diesem System. In anderen Ländern (Russland, China, Iran, …) sind die Dinge verdeckter, aber, so muss man vermuten, sicher nicht besser. Ein klares Bild ist schwer möglich.

ANGST ZU SCHEITERN

11. Aber wir müssen nicht so weit streifen. Schauen wir uns in unserem eigene Alltag um, in unserer Nahumgebung, in unserem Bundesland. Wo immer wir hin schauen, überall finden wir die Tendenz, erreichte scheinbare ‚Vorteile‘ zu verteidigen, ‚erprobte Vorgehensweisen‘ heilig zu sprechen. Dies ist kein Zufall. Wir Menschen sind so konstruiert, dass unser Gedächtnis alles speichert und dass wir uns das, was einmal schlecht war zu meiden versuchen, und das, was erfolgreich erscheint, beibehalten und wiederholen. Die tiefsitzende Angst zu ’scheitern‘, ‚Fehler‘ zu machen, treibt uns dazu, das bislang erkannte ‚Erfolgreiche‘ quasi ‚heilig‘ zu sprechen, es auf das Podest zu stellen, es nicht zu hinterfragen.

WER HILFT DEN SCHWACHEN?

12. Und es ist ja auch objektiv nicht einfach. Die Dinge erscheinen heute vielfach so undurchsichtig, so komplex, dass man oft auch informatorisch hilflos da steht, und nicht wirklich weiß, was soll ich denn jetzt tun. Dann gibt es Prozesse, die man für ein Ziel durchlaufen muss, die Jahre dauern können, viele Jahre. In dieser Zeit muss man eine Beharrlichkeit, eine Konstanz entwickeln, die aktuelle Infragestellungen, Verunsicherungen abwehrt, sie durchsteht, sonst kommt man nicht zum Ziel. Änderungen sind angesichts solcher Prozesse nicht schnell machbar, nur in größeren Zeitabschnitten. Manchmal kann es also Jahre dauern, bis man einem unterschwelligen Gefühl der ‚Unstimmigkeit‘ wirklich Raum gibt, es kommen lässt, es anschaut, und man sich dann plötzlich ganz neu entscheidet. Dies sind aber schon sehr stabile Persönlichkeiten. Unsichere, instabile Persönlichkeiten werden beständig verunsichert, entscheiden sich um, brechen ab, erzeugen ein persönliches und soziales Chaos, was dann alles noch schwerer macht; vieles ausweglos erscheinen lässt. Sie können sich offensichtlich nicht alleine helfen. Doch wer hilft Ihnen? Welche Unterstützung haben die, die Hilfe brauchen?

EHEMALIGE DDR

13. In der damaligen DDR (ich bin da geboren; ein Teil unserer Verwandtschaft lebte dort, hatte immer Kontakt, war z.T. in der DDR) hatten wir ein System, das sich offiziell ideologisch auf ein Programm verpflichtet hatte, das gute Werte propagierte, und ein unmenschliches Programm der Überwachung und der Unterdrückung praktizierte. Das real Böse wurde gerechtfertigt mit einem virtuell Guten (die heutigen Parallelen zur NSA sind sehr stark: das virtuell Gut ‚Sicherheit‘ dient als Argument, alle erdenklichen Verbrechen, Überwachungen und Unterdrückungen zu rechtfertigen; dazu viel umfassender und effizienter, als es die Stasi je konnte). Für die Mitglieder der ‚Macht‘ in der ehemaligen DDR war dies sehr vorteilhaft; und diese Vorteile wurden in Stufen an die Unterstützer weitergegeben. Für diese gab es kein Motiv, sich zu ändern; im Gegenteil, durch die bekannten Unterdrückungsmaßnahmen musste jeder Angst um sich und sein Umfeld haben. Im Nachhinein und von außen betrachtet können wir heute wissen, dass dieses System als Ganzes ruinös war, Ressourcen verschwendet hat, nicht konkurrenzfähig war. Aus sich heraus hatte es keine Kraft, sich zu ändern, weil die Gravitationskraft der Macht und der Privilegien die Individuen in ihrem Bann hielt. Dass dann die Bürgerbewegungen Kraft entfalten konnten, lag weitgehend nur daran, dass das übergeordnete Machtsystem aufgrund anderer Faktoren Machtverschiebungen ermöglichte, die ein Handeln ohne Blutvergießen zuließen.

IST LEBEN UNMÖGLICH?

14. Individuelle Emotionen, individuelles Wissen, Koordinierung vieler Gehirne durch Kommunikation und durch faktische Verhältnisse, die immer größere Anzahl von Individuen, die riesige Bandbreite an kulturellen Gepflogenheiten und Sprache, darin enthalten die unterschiedlichen Ethiken, Regelsysteme, Werte … dass dies alles sich täglich neu finden und koordinieren soll, ohne mitgelieferte Bauanleitungen für das Leben, das ist eigentlich eine unlösbare Aufgabe. Dass wir es als Menschen trotzdem überhaupt soweit geschafft haben ist für mich ein Wunder, das hoffen lässt.

DAS GANZ GROSSE WUNDER

15. Eigentlich kann es nicht gehen, aber es geht doch, es geht immer weiter, es gibt nicht nur Katastrophen, es gibt nicht nur narzisstische Alphatierchen, es gibt nicht nur gewissenlose Diener der Macht, es gibt unglaublich Schönes, es gibt wunderbare tiefe Wahrheiten, es gibt berauschende Kunst, es gibt Menschen, die ihr Leben der Gravitation von Macht und Reichtum entrissen haben und eigenverantwortlich risikobereit handeln, es gibt Menschen, es gibt …. ja es gibt immer noch dieses unfassbare Phänomen des Lebens in diesem Universum, das sich über ca. 4 Mrd Jahre entwickelt hat, ohne dass wir auch nur das kleinste Momentum dazu beigetragen haben. Kann man dann überhaupt am Leben zweifeln?

eDrum – eBass – ePiano Overdrive (2.Okt.2015)

SPRUCH

Wer nicht staunen und lieben kann, sollte anfangen, nach seinen eigenen Lügen zu forschen, die ihn daran hindern, das Wunderbare wahrzunehmen, was schon immer da ist, bevor wir überhaupt den ersten Atemzug gemacht haben (nicht selten sind es andere, die zumindest dazu mit beigetragen haben, dass uns diese Lügen ‚eingepflanzt‘ wurden …).

 

PS: Einen thematisch ähnlichen, und doch leicht anders akzentuierten, Beitrag  findet man HIER.

Einen Überblick über alle Blogbeiträge des Autors cagent nach Titeln findet sich HIER.

MEDITATION (UND BETEN) ZUM NULLTARIF!

Letzte Änderung (7.4.2015, 00:00h): Soundtracks geändert; jetzt vier.

NACHBEMERKUNG ALS VORBEMERKUNG

Nachdem ich den nachfolgenden Text in den Blog eingestellt hatte, wurde ich in einem Gespräch darauf aufmerksam gemacht, dass es für einen potentiellen Leser des Textes schwer bis unmöglich ist, zu verstehen, warum ich diesen Text geschrieben habe bzw. was denn die ‚Erfahrungsgrundlage‘ meinerseits ist, die mich in die Lage versetzt, solch einen Text zu schreiben. Nach einigem Überlegen bin ich zum Entschluss gekommen, diesen Hinweis aufzugreifen und kurz das Folgende dazu anzumerken:

Die wesentlichen, grundlegenden Erfahrungen zur Meditation und zum Beten, die im folgenden Text die Grundlage bilden, hätte ich auch schon gut 25 Jahre früher aufschreiben können. Dies reicht zurück in meine Zeit als ‚existentiell Gottsuchender‘, der sich – mehr durch Zufall – in einen bestimmten katholischen Orden ‚verirrt‘ hatte, dort aber dann, nachdem ich mich eigentlich nur für ein Jahr ‚parken‘ wollte, immer länger verblieb; letztlich 22 Jahre lang. In dieser Zeit durchlief ich viele verschiedene Phasen, Rollen, Erfahrungen, Wissensgebiete, u.a. lernte ich verschiedene Meditationstechniken kennen, lernte das ‚Beten‘ kennen, machte vielfältige Erfahrungen, die grundlegend bis umstürzend waren. Dass ich mich dann nach ca. 20 Jahren aufgrund der ’spirituellen Einstellung‘ in einer Situation wiederfand, in der mich die ‚innere Stimme‘ dazu brachte, mich aus dem kirchlichen Kontext wieder zu lösen, wo ich mich gerade ‚wohl zu fühlen‘ begann, war überraschend, unerwartet, und verwickelte mich über gut zwei Jahre in einen schwierigen Prozess der Klärung und Loslösung. Nachdem die Entscheidung schließlich klar war, trat ich mehr oder weniger sofort auch aus der Kirche aus.

Die spannende Frage war, was von all den tiefgreifenden positiven Erfahrungen dem kirchlich-religiösen Kontext geschuldet waren und was zum ganz normalen Leben, zu jedem Menschen gehört, egal wo und wie dieser Mensch lebt?

Zwar war schon unmittelbar nach dem Verlassen der Kirche klar, dass der Weg der richtige war, aber es war nicht klar – und es konnte so schnell auch nicht klar sein – wie sich das Phänomen des grundlegend Spirituellem im nichtkirchlichen Alltag wiederfinden würde.

Es hat gut weitere 25 Jahre gedauert, mit vielen neuen Orten, Rollen, mit ca. 6 radikal neuen ‚Lebensphasen‘, vielen neuen Studien, bis mir klar war, was gilt ‚allgemein‘, und was ist speziell. Der nachfolgende Text beschreibt also das Ergebnis eines intensiven existentiellen und kognitiven Erfahrungs- und Suchprozesses von zusammen gut 47 Jahren. Andere mögen dies schneller können …

Das ‚Wahre‘ ist letztlich immer sehr einfach.

Das ‚Leben‘ ist das größte Wunder im ganzen bekannten Universum. Und je mehr man sich damit beschäftigt, umso ungeheuerlicher wird es, umso großartiger; wir alle sind Teil davon. Das ist das Unfassbare.

SOUNDTRACK 1: Diverse Begegnngen

ZEIT NEHMEN

1. Was jeder irgendwann in den 24 Stunden seines Tages tun kann, ist, sich etwas Zeit zu nehmen: wenigstens 10 Minuten, besser 20 Minuten, oder länger.

KÖPERHALTUNG(EN)

2. Idealerweise nimmt man eine Körperhaltung ein, die so ist, dass sie während der Meditationszeit keine Ablenkung verursacht (Schmerzen, Durchblutungsstörungen, …) und in der man optimal atmen kann.

3. Es gibt (fanatische) Verfechter eines Verschränkungssitzes; andere schwören auf Kniehocker, wieder andere legen sich auf den Boden, andere stellen sich irgendwo hin. Ich kann nur sagen, dass ein moderner Bürosessel ideal ist: man kann bequem auf der vorderen Kante sitzen, ohne dass es einschneidet; man kann die Höhe optimal einstellen, so dass die Beine leicht nach unten abfallen können, so dass man automatisch mit dem Oberkörper aufrecht sitzen kann, und man kann die Höhe so wählen, dass die Füße eine bequeme Haltung einnehmen können, ohne auf Dauer zu stören.

4. Wer aufgrund körperlicher (oder psychischer) Einschränkungen mit solchen ’normalen‘ Haltungen Probleme hat, muss ausprobieren, mit welcher Körperstellung er einigermaßen klarkommt; notfalls müssen geeignete Unterstützungsmittel entwickelt werden.

ORTE

5. Bewährt hat sich ein Ort, an dem man weitgehend ungestört ist.

6. Letztlich aber kann es jeder Ort sein, auch mit anderen zusammen.

7. Man kann auch mitten am Tag, mitten in einer belebten Stadt, sich irgendwo einfach hinstellen oder setzen und für einen gewählten Zeitraum auf einen bestimmten Punkt vor sich schauen, ruhig bleiben, bewegungslos, atmen, und so einfach ‚da sein‘.

8. Einer Toilette ist es egal, was man da tut; Gebetsräume anderer Religionsgemeinschaften bietet auch Ruhe; im unbequemen Sessel der Economy-Klasse eines Flugzeugs findet man fast ideale Bedingungen; im Wartezimmer eines Arztes, an der Haltestelle, … Wer sucht, der findet.

SOUNDTRACK 2: Meditation Jetzt

INHALTE

9. Der primäre ‚Inhalt‘ des Innehaltens ist der Augenblick, man selbst, die eigene Körperlichkeit mit all dem, was dazu gehört.

10. Der eigene Körper ist die – bislang – wunderbarste Struktur, die es im bekannten Universum gibt.

11. Die Zellen des Körpers haben wir gemeinsam mit allen Lebensformen des Planeten Erde.

12. Die ‚Baustoffe‘ der Zellen, die Moleküle, Atome, subatomaren Partikel, haben wir gemeinsam mit allen Planeten und Sonnen des bekannten Universums; es ist der ‚Stoff‘, aus dem alles ist, was wir kennen; seit Jahrmilliarden Jahren.

13. Der ‚Stoff‘ aus dem wir bestehen, ist nach heutigem Erkenntnisstand ‚Energie-Materie‘, die koexistent ist mit allem, was wir vom ‚Geist‘, von der ‚Seele‘, von der ‚Psyche‘ wissen.

14. Jeder Körper, der auf den ersten Blick so ‚endlich‘ erscheint, ist aufgrund seiner stofflichen Beschaffenheit ’nah besehen‘ quasi ‚unendlich‘: besteht ein Körper aus etwa 4 Billionen (10^12) einzelnen Zellen (plus weiteren Billionen Bakterien, die direkt mit den Körperzellen kooperieren), so besteht jede Zelle nochmals aus einer unfassbar großen Zahl von Atomen, die wiederum nichts anderes sind als idealisierte Modellvorstellung von subatomaren Teilchen, die sich permanent in Wechselwirkung befinden: mit ihrem direkten Umfeld, aber auch in jedem Augenblick – nach Erkenntnissen der Quantenphysik – können sie sich mit beliebigen andern Teilchen über nahezu unbeschränkte Distanzen in ‚Wechselwirkungen‘ befinden. Quantenphysikalisch ist unser Körper ein ‚offenes‘ System, in einer ‚Wolke von Wechselwirkungen‘, die wir bislang noch nicht vollständig entschlüsselt haben. ‚Körper‘ im Sinne der Alltagserfahrung sind so gesehen ‚Täuschungen‘ unseres körperlichen Wahrnehmungs- und Vorstellungssystems. Letztlich bilden wir quasi ‚energetische Felder‘ in einem nicht abgrenzbarem energetischen Gesamtraum.

15. Während die ‚Form‘ eines menschlichen Körpers nach dem Tod ‚zerfallen‘ kann, bleiben alle ‚Bestandteile‘, die Atome, erhalten. Diese sind quasi ‚ewig‘; Atome (nur existent als Modellvorstellungen in unserem Denken) selbst können wiederum nur übergehen in Energie; diese ist ‚untötbar‘.

16. Wer also mit seinem wunderbare Körper (der zugleich auch ‚Geist‘ ist!) ‚innehält‘, sich aushält, sich ‚wahrnimmt‘, ist in diesem Moment jenes Universum an Zellen, Molekülen, Atomen, subatomaren Teilchen, die sich alle permanent in Wechselwirkungen mit nahezu allem befinden bzw. befinden können.

17. Individuell verschieden können sehr viele aktuelle Bilder auftauchen, Gefühlsregungen hochschießen, Stimmungen sich ausbreiten; dies alles ist unwichtig. Man lässt es kommen und gehen. Entscheidend ist das Ganze, die Existenz in all dem, das, was alles ermöglicht und trägt. Das Leben selbst ist ‚gut‘, es ist das ‚höchste Gut‘, an dem wir teilhaben können. Und dieses höchste Gut ist einfach da, immer, jederzeit, kostenfrei, gratis, ohne Bedingung, umfassend.

18. Wer sich darauf einlässt, sich innerlich öffnet, kann von diesem ‚Gut des Lebens‘ ‚erwärmt‘ werden, beruhigt, inspiriert, gestärkt werden; es kann eine Sensibilisierung eintreten, eine wachsende Empathie für das gesamte Dasein.

SOUNDTRACK 3: Cello Solo mit Drums

BETEN

19. Man kann Meditieren vom expliziten Beten unterscheiden, wenngleich die Grenze zwischen beiden Zuständen möglicherweise ‚fließend‘ ist.

20. Im Beten wendet man sich innerlich dem unfassbaren Raum des Daseins so zu, als ob dieser unfassbar reiche Raum ‚personal‘ ist, als ob es da ein ‚kosmisches Gegenüber‘ gibt, mit dem man ‚reden‘ kann.

21. Wie man dieses ‚kosmische Gegenüber‘ anredet, ist eigentlich egal; entscheidend ist die innere Haltung. Entscheidend ist die Offenheit, dass etwas passieren kann, ohne dass man weiß, wann, was und wie. Man selbst kann die Antwort nicht erzwingen; das ist entscheidend.

22. Sehr oft ist es so, dass das kosmische Gegenüber von sich aus spricht, anspricht, berührt, ohne dass man es in diesem Moment wollte, ohne dass man für diesen Moment vorbereitet war.

23. Jeder kann die ‚Nähe‘ des kosmischen Gegenübers sofort erkennen. Es ist in seiner Art einzigartig, unvergleichlich, unverwechselbar, nicht kopierbar.

24. Das kosmische Gegenüber kann eine ‚emotionale Welle‘ in uns auslösen, die stärker und nachhaltiger ist als alles, was wir mit ’normalen‘ Mitteln und Techniken erreichen können. Menschen, die 10, 15 und mehr Jahre ergebnislos mit einer Therapie an ihren unbewältigten Traumata gearbeitet haben, können quasi in einem Moment soviel emotionale Kraft erfahren, dass Ängste verdunsten, dass Zutrauen Ketten sprengen kann, dass man sein Leben in einer Weise grundlegend ändern kann, wie man es zuvor sich nie vorstellen konnte, es nie gewagt hätte zu tun.

25. Wie gesagt, dies steht jedem Menschen jederzeit ohne Bezahlung unbeschränkt zur Verfügung, egal welche Hautfarbe, egal welche gesellschaftliche Stellung, egal wie alt, egal welches Geschlecht, egal ob reich oder arm. Ob Hinduist, ob Buddhist, ob Jude, ob Christ, ob Muslim, ob Atheist, keiner hat hier einen Vorteil oder Nachteil. Als Menschen sind wir diese Wunderwerke, zu deren Natur es gehört, dass sie in dieser permanenten Offenheit und Kommunikation mit allem stehen können (es ist anzunehmen, dass andere Lebensformen auch irgendwie daran Anteil haben; denn es ist die Gestalt des ‚Lebens‘, die genau dies impliziert).

26. Ob die bekannten Religionen für Meditation und Gebet letztlich eher hilfreich sind oder hinderlich – dass muss die Geschichte zeigen. Andere hassen, unterdrücken, diskriminieren, ausgrenzen oder gar morden sind mit Sicherheit keine Anzeichen für ein ‚gutes‘ Leben.

SOUNDTRACK 4: Pattern Driven Rhytms and some Sounds

und

SOUNDTRACK 5: Die Dinge sind in Bewegung

Einen Überblick über alle Blogeinträge von cagent nach Titeln findet sich HIER: cagent.

Einen Überblick über alle Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER: Blog gesamt.

WORTE ANLÄSSLICH VON 30 JAHREN EHE VON FREUNDEN …

Letzte Änderungen: 6.Dez.2014, 15:30h

Liebe G, lieber P,

1. Euer besonderes Geheimnis wurde zum Anlass, dass wir uns hier eingefunden haben. Motiviert durch eure lieben Worte sind wir hierher geeilt, Erwartungen in den Augen ….. und dann steht man vor der Entscheidung: Sage ich etwas oder sage ich nichts?

2. Alle, die mich kennen, wissen, dass ich meist dazu neige, eher etwas zu sagen, als zu schweigen …. und dass ich die weitere Neigung habe, die Worte mit Musik – manche nennen es ‚Lärm‘ – zu verpacken. Die lärmende Musik fällt heute aus; zu wenig Zeit, keine hinreichende Transportkapazität, ein entzündeter Finger, die zusammengezogenen Augenbrauen meiner Frau … alles Faktoren die nicht sehr förderlich sind… Doch es bleibt das Wort ….

3. Gestern Abend, schon leicht erschöpft von der zurückliegenden Woche, bemerkte ich folgenden Sachverhalt: Wir schreiben das Jahr 2014. Ihr feiert euer 30-Jähriges. In der Schule habe ich gelernt, dass 2014 – 30 = 1984 ergibt. Ein Zahlendreher führt von 1984 zum Jahr 1948; dies ist nicht nur das Jahr, in dem ich geboren wurde, sondern 1948 ist das Jahr, in dem George Orwell (1903 – 1950) seinen berühmten Roman ‚1984‘ abschloss (veröffentlicht ein Jahr später, 1949).

4. Jetzt werden sich vielleicht einige fragen, was hat solch ein düsterer Roman eines totalen Überwachungsstaates mit dem menschlich berührenden Ereignis eines 30-jährigen Ehejubiläums zu tun, speziell bei G & P, die doch sowohl einzeln wie zusammen so viel Positives ausstrahlen und auch in der Vergangenheit ausgestrahlt haben?

5. Nun, es gäbe mehrere Antworten: die eine findet sich schnell. In diesem eigentlich düster-bedrückenden Roman sind die beiden Hauptpersonen ein Mann und eine Frau, die trotz aller Überwachung und Angst ihre Menschlichkeit, ihre Gefühle und Emotionen so stark spüren, dass sie einen Weg zueinander finden und ihr individuell-einzelnes Leben stückweise miteinander teilen und sich darin gegenseitig Mut machen, sich bestärken, sich beflügeln, um den Dunkelheiten und Widrigkeiten des Alltags besser trotzen zu können.

6. Dies ist ein Motiv, das wir oft bei Liebenden finden können, auch bei jenen, die ihre Liebe über die Jahre retten, bewahren, möglicherweise weiter entwickeln können, so, wie wir es bei G & P wahrnehmen. Sicher, G & P hatten — wie viele andere auch — ihre ganz speziellen Krisen, aber Krisen, die man gemeinsam durchsteht, daran lernt, lassen alle Beteiligte reifen, führen näher zusammen als vorher, lassen alles in einem noch nachhaltigeren Rot erstrahlen, erweitern das Verstehen, stärken das Vertrauen, bauen mit an der gemeinsamen Hoffnung auf ein Gelingen.

7. Im Roman ‚1984‘ endet die Geschichte leider – wie ihr wisst — unschön. Die Liebe der beiden wird von der Geheimpolizei – die vordergründig als Gesinnungsgenossen auftraten — aufgedeckt und mit Folter und Gehirnwäsche werden die beiden zuvor Liebenden dazu gebracht, sich wechselseitig zu verraten und dann in der Liebe zum ‚Großen Bruder‘, der Ausgeburt des Bösen, ihren letzten Sinn zu finden. Dies ist hart, tut weh, ist sehr traurig, schneidet ein in unser Bild von einer sinnvollen liebenden Welt.

8. Und doch hat diese Geschichte eine Wahrheit, der wir ins Auge schauen sollten, um die dann jeweils größere und tiefere Wahrheit und Liebe überhaupt verstehen zu können.

9. Es ist sehr natürlich dass Menschen menschliche Wärme, Liebe, Vertrauen und Treue suchen, und es ist sehr schön, wenn man dies erleben kann. Der Gang des Lebens auf dieser Erde seit ca. 3.8 Milliarden Jahren zeigt aber auch, dass ein gemeinsames, friedliches, erfülltes Zusammenleben zu den großen geschenkten Momenten eines Lebens auf dieser Erde zählt. Damit wir friedlich, sicher, angenehm irgendwo leben können, müssen jeden Tag unglaubliche Dinge geschehen, die nicht ‚einfach so‘ geschehen. Ohne Menschen, die täglich neu den Kampf aufnahmen, die täglich neu arbeiten, leiden, ringen, hoffen, vertrauen und lieben, ohne diese kann kein einziger von uns friedlich leben. Und auch, wenn jeder einzelne nur leben kann, weil so viele andere täglich neu für sich den Kampf aufnehmen, ist es wiederum die Entscheidung und der Beitrag jedes einzelnen von uns, die ein Gesamtkunstwerk von Leben möglich macht.

10. Vor diesem Hintergrund freue ich mich – und ich denke wir alle zusammen – dass G & P für sich in den letzten 30 Jahren einen Weg gegangen sind, der für viele andere eine Quelle von Inspiration, Vertrauen und Liebe war – und hoffentlich bleibt.

11. Doch, bei aller Glückseligkeit im Moment, sollten wir wachsam bleiben und uns bewusst sein, dass es seit George Orwells Roman ‚1984‘ weiterhin gesellschaftliche Prozesse gab und weiterhin zu geben scheint, in denen Machtgruppen versuchen, die Mehrheit der Bürger über eine Bedrohungspropaganda in eine gefügige ängstliche Masse zu verwandeln, die ihre eigenen Überzeugungen, Wahrheiten, Hoffnungen — und womöglich sogar ihre eigene Liebe — vergisst, aus Angst, sie könnten etwas verlieren, was sie aber in diesem Moment der Angst schon längst verloren haben.

12. Wahre Liebe zeigt sich nicht nur in einer Zweierbeziehung gerade in Zeiten der Krise, der Infragestellungen. Wenn wir zu Zweit lieben wollen, dann brauchen wir auf Dauer auch eine Gemeinschaft von Menschen um uns herum, die liebesfähig ist.

13. Ich wünsche G & P ganz besonders, aber auch uns allen, dass wir gemeinsam eine solche ‚liebesfähige‘ Gesellschaft auch in der Zukunft leben können.

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

SEXARBEITERiNNEN – SIND WIR WEITER?

Erste Version: 20.Nov.2013
Letzter Zusatz: 27.Nov.2013

 

1) In einem früheren Beitrag zum Thema Sexualität mit dem Titel Sexualität gestern, morgen, und … hatte ich versucht, einige der Alltagsphänomene im Umfeld des Themas Sexualität einzuordnen in den größeren Kontext der biologischen Evolution. Hatte dort versucht, das Moment der Sexualität als ein — wenngleich sehr starkes — Moment im Kontext der menschlichen Psyche einzuordnen, um deutlich zu machen, dass der Versuch seiner ‚Isolierung‘ als eigenständiges Phänomen nur in die Irre führen kann.
2) Wenn man die Diskussion der letzten Monate zum Thema SexarbeiterInnen in Deutschland (und Frankreich, und Italien, und…) verfolgt, hat man nun nicht unbedingt den Eindruck, dass wir mit dem Thema ‚Sexualität‘ ‚weiter‘ wären. In den öffentlichen Diskussionen prallen noch immer unterschiedlichste Fronten schroff aufeinander und jeder versteht sich als eifriger Wiederholer seiner eigenen Auffassung ohne dass man den Eindruck hat, dass die einen von den anderen das lernen, was man lernen könnte, und ohne, dass ein Gesamtbild entsteht, in dem die verschiedenen Facetten ineinanderlaufen, sich wechselseitig erklären, und wir damit als Gesellschaft handlungsfähiger würden.
3) Im Prinzip ist es fast egal, in welcher Zeit man an welchem Ort Nachforschungen anstellt. Dem biologischen Mechanismus der Sexualität entkommt niemand. Die Wucht und Intensität der genetisch eingebauten Triebkräfte sind Teil jeder Psyche oder jeder sozialen Konstellation. Und was Menschen auch immer sonst empfinden, erleben, denken, glauben und tun, das biologisch induzierte Programm der Sexualität sitzt allen in den Knochen. Es ist bislang der intimste Teil des biologischen Lebens auf der Erde, eines Lebens, das wir bis heute kaum verstanden haben. Je älter ich werde würde ich sogar dazu tendieren, zu sagen, wir haben überhaupt noch nicht verstanden, was dieses Leben tatsächlich ist und soll.
4) Wenn in Talkshows junge, gesunde, intelligente Frauen auftreten, die in einem freien Land ihre eigenen Körper in eigener Regie gegen Geld anbieten (genaue Zahlen kennt man nicht), ist dies ein anderer Fall, als wenn junge Frauen (eher noch Kinder) aus wirtschaftlich schwachen Ländern unter Vortäuschung falscher Tatsachen von zu Hause weggelockt werden, um dann unter Gewalt und Drogen ihren Körper verkaufen zu müssen. Und es ist sicher wiederum ein anderer Fall, ob Frauen ihren Körper im direkten Kontakt anbieten müssen oder oder sie dies mit dem boomenden Online-Varianten tun: zeigen und reden ja, aber irgendwo in einem Studio (was nicht frei von Zwang und Gewalt sein muss). Und dies ist wiederum etwas anderes als ein Unternehmer, der Wohnungen und Häuser einrichtet und vermietet, und daran verdient, und des ist wiederum verschieden von der Vielzahl jener Vereinigungen, die auf unterschiedlichste Weise freiwillig sich wechselseitig sexuelle Betätigungen eröffnen, anbieten, arrangieren.
5) Dies ist nur die Spitze des Eisbergs in einem der wenigen freien Länder dieser Erde, in dem es ein einigermaßen funktionierendes Rechtssystem gibt. Die bekanntgewordenen spektakulären Vergewaltigungsfälle in Indien haben schlaglichtartig gezeigt, in welch gefährlicher und unwürdiger Situation viele indische Frauen leben; Frauen sind wie Freiwild, wenn es um Sexualität geht. In Pakistan und Afghanistan ist es nicht besser. Die Kette der hier einschlägigen Länder ist lang.
6) Vom Strom der Armutsflüchtigen heute weiß man von Zeugenaussagen, dass Frauen bevorzugte Opfer von Vergewaltigungen sind. In den zahllosen kleinen Kriegen der letzten Jahrzehnte gehören systematische Vergewaltigungen fast unausweichlich zum tödlichen Ritual (man denke beispielsweise an Ruanda oder das vormalige Jugoslawien, man denke an die japanische Besetzung von Korea und China, man denke an …). Ist es schon schlimm, dass Frauen gegen ihren Willen missbraucht werden, kommt es in vielen Gesellschaften (kenne Berichte vom Irak und Afghanistan) erschwerend hinzu, dass eine ‚geschändete Frau‘ als ein ‚gesellschaftlicher Makel‘ gilt, der so schlimm ist, dass dann weniger die bestraft werden, die dies verübt haben, sondern die geschändeten Frauen selbst werden ausgestoßen, eingesperrt oder gar von den eigenen Verwandten umgebracht. Auf jeden Fall wird es solange möglich vertuscht und verschwiegen; zur Anklage und dann Verfolgung der Schuldigen kommt es daher eher nicht. Die Geschichte von Frauen in Gefängnissen (in fast allen totalitären Regimes, aber auch während der Besetzung Iraks durch die US-Truppen) ist durchtränkt von sexueller Gewalt (zumindest, wenn man den bekannten Zeugenaussagen (darunter beteiligte Beamte) glauben darf). In Ländern mit starken lokalen Sitten und Gebräuchen, in denen — wie in Afghanistan — Frauen weitgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt sind, sollen — laut verschiedenen Untersuchungen — bis zu 95% aller Frauen zu Hause regelmäßig Gewalt erleiden; Frauen sind dort Eigentum des Mannes und können wie Ware verkauft werden. Weibliche Ärzte aus Afghanistan berichten von furchtbaren Verletzungen, die ‚Kinder-Bräuten‘ in der Hochzeitsnacht zugefügt werden (und dann nicht selten sterben). Frauen, die versuchen, zu fliehen, oder die direkt von Männern entführt werden, haben keine Chance. Die ‚Ehre‘ würde verlangen, dass die Familie sie wegen der Schande umbringt (aber nicht die, die ihnen die Schande zugefügt haben….).
7) Eine andere Perspektive sind die Armutsflüchtigen der vergangenen Jahrhunderte, positiv ‚Auswanderer‘ genannt, jene z.B. die von Europa aus die USA und Südamerika mit aufgebaut haben. Nicht zufällig sind es überwiegend Männer, da es für Frauen ungleich schwieriger war, ähnliche Wege zu gehen. Eine Ausstellung im Auswandererhaus in Bremerhaven belegt eindrucksvoll am Beispiel von jüdischen Frauen aus Osteuropa, wie diese — ganz ähnlich wie heute — mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in vielerlei Abhängigkeiten gerieten, die ihnen wenig gesellschaftlichen Spielraum ließen (siehe Stratenwerth (2012)).
8) Die oben genannten Sachverhalte sind nur Splitter aus der Menge der Fakten, die hier zu nennen wären (Und die Tatsache, dass wir heute aufgrund der modernen Wissenschaft erkennen können, dass es genetisch betrachtet Variationen des Mann-Frau-Musters gibt, die sich nur schwer oder gar nicht diesen beiden Mustern zuordnen lassen, macht die Diskussion nicht einfacher, sondern verstärkt nur die Herausforderung nach der Bestimmung des Bildes, was Menschsein auf dieser Erde eigentlich heißt).
9) Was sich in historischer Tiefe und geographischer Breite andeutet, das ist jedenfalls ein tief verwurzeltes Muster dahingehend, dass man bis in die neueste Zeit versucht hat, das Phänomen der Sexualität ‚abzukapseln‘, und dies zumeist zu Lasten der einen Hälfte der Menschheit, nämlich der Frauen. Deren Leid war — und ist es heute in vielen Ländern immer noch — beispiellos.
10) Wie immer man diese Zurücksetzungen und Diskriminierungen begründet (die sogenannten religiösen Normen sind vielleicht die schlimmsten, weil sie vielfach für eine in sich schlechte Sache sogar den Namen Gottes missbrauchen), dieses Zurückdrängen als solches leistet nichts zum Verständnis unseres Menschseins. Damit leisten sie auch nichts für eine Weiterentwicklung des Humanums. Sie stabilisieren ein Nichtwissen, das alltäglich millionenfach Unrecht und Leid für konkrete Menschen bedeutet.
11) Die Frage ist, wie wir mit unserem Bild vom Leben auf der Erde ‚weiterkommen‘ können? Die Aufhebung aller Tabus im Umgang mit Sexualität ist sicher ein wichtiges Moment, um erkennen zu können. Wir wissen aber auch, dass der Sexualtrieb nur ein Moment im Profil der menschlichen Psyche ist, dass diese Psyche komplex und fragil ist, dass hier Momente wie Anerkennung, Vertrauen, Freundlichkeit — und vieles mehr — wirksam sind und ineinandergreifen. Damit Kinder zu glücklichen und psychisch gesunden Erwachsenen werden können müssen viele positive Dinge geschehen. Dass heute in einer ‚freien‘ Gesellschaft Missbrauch von Kindern und sexuelle Gewalt weiterhin ein (eher noch verdrängtes) Thema sind, sollte uns aufmerksam machen, dass die Enttabuisierung alleine nicht automatisch ein menschenwürdigeres Leben garantiert. Die Wucht des Triebes auf Seiten des Mannes bleibt ein Moment, das kulturell, sozial, psychisch (vielleicht auch physiologisch, genetisch) so gestaltet sein will, dass es in den immer enger werdenden sozialen Vernetzungen nicht zu jenem Störfaktor wird, der sowohl die anderen wie sich selbst mehr schädigt als hilft. Da niemand heute mit Sicherheit sagen kann, wo und wie es ‚lang gehen soll‘ sitzen wir alle im gleichen Boot auf der Suche nach ‚mehr Menschlichkeit‘. Jenen mit den schnellen Patentantworten sollte man grundsätzlich misstrauen, und umso mehr, je höher ihre Honorare (oder je unglaublicher ihre Versprechen) sind…

GEWALTTÄTIG – CHEMISCH PROGRAMMIERT; EIN SCHWERES ERBE

Nachträgliche Anmerkung vom 27.Nov.2013: Am 25.Nov.2013 brachte das ZDF in seiner Heute-Sendung (siehe: Vergewaltigungen in Kenia (im Rahmen des Oberthemas ‚Gewalt gegen Frauen‘) einen Bericht von Kenia, wonach jede dritte Frau  in ihrem Leben mindestens einmal vergewaltigt worden ist. Ein Filmbeitrag von einer Schülerin, die von ihren Klassenkameraden ‚einfach so, aus Spass‘ vergewaltigt worden war, zeigte, dass es bei den Schülern keinerlei Unrechtsbewusstsein gab. Die Schulleitung nahm die Schülerin nicht ernst. Diese konnten ungeschoren bei anderen mit ihrer Tat öffentlich prahlen. Offensichtlich scheint es in diesr Gesellschaft bei den männlichen Mitgliedern — und zwar auch schon bei den jungen Männern, bei Schülern — ein Rollenmodell ‚im Kopf‘ zu geben, das all denen, die dies in ihrem Kopf haben (sie sind damit ‚programmiert‘), ’sagt‘, einer Frau kannst Du Gewalt antun, deinen Trieb gegen ihren Willen ausleben, das ist für Männer ’normal‘. Man kann dies ‚Brauchtum‘ nennen, ‚Kultur‘, und vergisst dabei dann zu fragen, wie denn solch ein Modell entstehen konnte.Es gibt mittlerweile Länder auf dieser Erde, wo das Modell zumindest abgeschwächt wurde. Die Grundsatzfrage lautet aber, warum solche Modelle, speziell in den Köpfen von Männern, weltweit entstehen können? Die Antwort ist letztlich einfach: Männer stehen aufgrund ihrer genetischen Programmierung chemisch permanent unter einem Dauerdruck; biochemisch sind sie in einer Weise ‚programmiert‘, die es für sie schwer bis unerträglich erscheinen lässt, gewisse Dinge nicht zu tun (die anschliessen biochemisch verankerte ‚Belohnung‘ fällt dabei kaum ins Gewicht; der entscheidende Faktor ist der biochemisch induzierte Handlungsdruck davor). Solange Männer in einer Gesellschaft die Oberhand haben, ist es für die Männer einfacher, ein Rollenmodell zu vereinbaren, dass ihnen in der Öffentlichkeit erlaubt, ihren biochemisch ‚Druck‘ handlungsmäßig auszuleben als diesen ‚Druck‘ zu unterdrücken und in weniger offensichtlicher gewalttätiger Form auszuleben. Von sich aus haben Männer wenig Motivation, ein solches Rollenmuster zu ändern. Das genetisch bedingte biochemische Programm in ihnen ist zu mächtig, als dass man dagegen einfach mal so angeht. Dass Religion auf dieses biochemische Programm nahezu keinen Einfluss hat, zeigt die Tatsache, dass laut einer Volkszählung von 2009 in Kenia 82,6% der Bevölkerung angibt, ‚Christen‘ zu sein (siehe: Kenia, dort Religion). Eine Kernbotschaft in den Evangelien ist die einer grundsätzlichen Achtung vor allen Menschen, speziell auchvor Frauen (was eine katholische Kirche bis heute noch nicht vollständig geschafft hat). Selbst wenn Männer irgendwann erkennen würden (was die allermeisten mangels Wissen nicht erkennen können), dass sie in bestimmten Bereichen ihres eigenen Verhaltens massiv biochemisch gesteuert sind, selbst dann würde dies zunächst nahezu nichts ändern, da das genetisch bedingte Programm an der Wurzel des Verhaltens liegt. Es ist so angelegt, dass es das Verhalten ‚von innen heraus‘ beeinflusst, und zwar möglichst so, dass es alle anderen Faktoren weitgehend ’neutralisiert‘. Es sitzt so tief in der Biochemie des männlichen Körpers, dass die entwicklung einer ‚Pille für den Mann‘ (wie mir Mediziner erklärten), fast auswegslos erscheint gegenüber einer Pille für die Frau (dies ist ein Punkt, den würde ich gerne besser verstehen, ob dies wirklich so ist). Die Biochemie der Frauen lässt sich offenbar leichter ‚manipulieren‘. Solange wir nicht anfangen, über diese genetisch bedingte Programmierung des Mannes zu sprechen, reden wir — so erscheint es mir — am Problem vorbei. Das weltweite Leid von Frauen als Opfer von sexueller Gewalt ist weder zufällig noch gottgewollt; es ist das Ergebnis einer evolutionären Entwicklung der männlichen Genetik, die in früheren Zeten für den Erhalt der Population homo sapiens sapiens vielleicht wichtig war; in der heutigen Situsation einer drohenden Überbevölkerung (über 7 Mrd Menschen) mit einer extremen Wohndichte in den großen Metropolen erscheint dieses genetische Programm eher ‚unangepasst‘; es schreit nach genetischer Veränderung. Die Schwierigkeit, diesen Sachverhalt überhaupt zu thematisieren, ist ein Indiz für den ‚Erfolg‘ dieses Programms: es hat alle Männer dieser Erde fest im Griff. Von ’sich aus‘, ‚von alleine‘ wird es nicht verschwinden, sondern jeden Tag, jede Stunde, jede Minute findet es statt. Roboter, die eine soche deutliche Fehlanpassung aufweisen würden, würde man sofort aus dem Programm nehmen und umprogrammieren. Die Kunst der genetischen Umprogrammierung sind wir gerade erst dabei, zu lernen. Wo aber bleibt die gesamtgesellschaftliche Diskussion über das, ‚was wir sind‘ bzw. ’sein sollten‘?

QUELLEN

Irene Stratenwerth, „Der gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 – 1930“, herausgegeben von Simone Blaschka-Eick, Herman Simon, Bremerhaven: Deutsches Auswandererhaus Edition DAH, 2012

Eine Fortsetzung (unter Bezugnahme auf das Buch von Stratenwerth) findet sich HIER.

Einen Überblick zu allen bisherigen Blogeinträgen nach Titeln findet sich HIER.

M.DONALD: EVOLUTION DES MENSCHLICHEN BEWUSSTSEINS – Kurzbesprechung, Teil 3

Diesem Beitrag ging voraus Teil 2.

1) Im Rahmen seiner Arbeitshypothese, dass sich der Mensch mit seinem Gehirn nur im Rahmen einer entsprechenden ‚Kultur‘ entwickeln kann und entwickelt hat, sucht Donald nun Anhaltspunkte in der empirischen Geschichte des Menschen. Dabei greift er auf die Ergebnisse seines ersten Buches von 1991 zurück (siehe unten). Entlang der Geschichte des Menschen mit den Phasen ‚homo‘ (ca. -2 Mio Jahre), ‚homo sapiens‘ (ca -0.5 Mio Jahre) und ‚homo sapiens sapiens‘ (ca. -125.000 Jahre) meint Donald vier charakteristische Typen von Kulturen unterscheiden zu können: ‚Episodisch‘, ‚Mimetisch‘, ‚Mythisch‘ und ‚Theoretisch‘.(vgl. Tabelle S.260)
2) Versucht man diese Klassifizierung zu verstehen, dann findet man aber nur eine recht allgemeine Charakterisierung des Lebens unserer Vorfahren anhand archäologischer Befunde (ohne Aufweis von Quellen). Es skizziert das Bild von Wesen (homo), die in kleinen Gruppen organisiert waren, über Feuer und einfache Werkzeuge für die Jagd verfügten, und jahreszeitlich bedingt den Standort wechselten. Die Gehirngröße war deutlich größer als in vorausgehenden Phasen; direkte Nachweise für Sprache finden sich nicht. Andererseits impliziert diese Lebensweise ein Minimum an Koordination von Tätigkeiten und ein Minimum an Wissensweitergabe. Indirekt muss man annehmen, dass mit dieser Phase die ‚episodische‘ Phase gemeint zu sein scheint.(vgl. S.261)
3) Noch in der Phase des Wesens ‚homo‘ und noch vor dem Auftreten des ‚homo sapiens‘ sieht er die ‚mimetische‘ Phase gegeben: ’spielerische Handlungen‘ (‚play acting‘), ‚Körpersprache‘, ‚Gesten‘, ‚präzise Nachahmung‘, noch keine Sprache aber ‚expressive Laute‘, die die ‚prosodische‘ Dimension in der späteren Sprache vorwegnehmen.(vgl. S.261)
4) Die dritte ‚mythische‘ Phase sieht er gegeben in der Zeit vom ersten Auftreten des ‚homo sapiens‘ bis zum ersten Auftreten des ‚homo sapiens sapiens‘. Mit der weiteren deutlichen Zunahme des Gehirns werden immer schneller neue ‚Erfindungen‘ gemacht, komplexere Werkzeuge, wunderschön gestaltete Objekte (Schmuck?), verbesserte Schutzvorrichtungen, besser ausgestaltete Gräber, vielteilige Objekte, erste Musikinstrumente usw. homo sapiens bevölkerte große Teile der Erde und hatte sicherlich schon gesprochene Sprache, ein Medium für Erinnerung und Wissensweitergabe. (vgl. S.261f)
5) Den letzten großen Übergang sieht er im Bereich des homo sapiens sapiens gegeben, als dieser vor ca. 40.000 Jahren Symbole erfand, die dann zur Schrift wurden. Damit ist für Donald der charakteristische Dreiklang erreicht, der für ihn den Menschen als homo sapiens sapiens vor allem auszeichnet: Mimesis, oral-linguistisch und extern-symbolisch.(vgl.S.262)
6) [Anmerkung: So schön dieses Bild einen anmuten mag, so sehr birgt es doch mehr Fragen als Antworten. Die Klassifikationen, die er auf S.260 einführt, sind in dieser Form in keiner Weise verständlich, nicht in der kurzen Tabelle, noch durch den begleitenden Text. Man kann zwar eine Ahnung bekommen, was gemeint sein mag, aber harte Kriterien zur Unterscheidung der verschiedenen Phasen sind das nicht. Schaut man in sein Buch von 1991, dann kann man feststellen, dass das aktuelle Buch von 2001 tatsächlich die ausführlichen Texte von 1991 voraussetzt; ohne den Text des 1991-Buches kann man seine Begriffe ab Kapitel 7 nicht verstehen. Dies wird deutlich, wenn man z.B. seinen Begriff von ‚episodisch‘ verstehen will. Im Buch von 1991 hat er ein ganzes Kapitel (Kap.5), das sich mit dieser Klassifikation im Detail beschäftigt, dazu viele Seiten (SS.148ff) nur für die eigentliche Definition. Zusätzlich findet man dort sehr viele Quellenhinweise. Dies ist sehr schade. Im 2001-Buch findet man interessante Thesen, aber die harte, nachvollziehbare Erklärung fehlt.]
7) Auch im 2001-Buch folgen dann doch noch ausführlichere Beschreibungen zu den Klassifikationen, nicht aber zu ‚episodisch‘! Donald beginnt mit der mimetischen Phase als der notwendigen Vorstufe zur Sprache, allerdings nicht so, dass die Mimesis direkt auf Sprache abzielt sondern eher so, dass sich über viele kleine Zwischenschritte ein kognitives System im homo aufgebaut hat, das die Kernelemente ‚Erinnerung‘ (‚mime‘), ‚Nachahmung‘ (‚precise imitation‘), ‚Fertigkeit‘ (’skill‘) und ‚Gestik‘ (‚gesture‘) realisieren kann. Im Lernen der Kinder finden sich alle diese Elemente wieder und dieses Lernen setzt einen geeigneten sozialen Raum voraus, in dem es stattfinden kann. (vgl. SS.262-269)
8) [Anmerkung: Hier gilt leider das auch schon zuvor Festgestellte: so suggestiv diese Begriffe sein mögen, bei einer näheren Analyse fällt es schwer, die Kernelemente eindeutig zu identifizieren. Das spricht nicht unbedingt gegen Donald, sondern lässt erahnen, wie schwierig dieses Untersuchungsgebet ist, will man es wissenschaftlich fixieren. Das zentrale Problem liegt darin, dass wissenschaftliche Begriffe ihre Bedeutung nur insoweit besitzen, als sie (i) in einem theoretischen Modell verankert sind und (ii) dieses Modell einen klaren empirischen Bezug besitzt. Ein theoretisches Modell hat Donald bislang nicht vorgestellt. Dadurch fehlen für die Begriffe klare Kontexte. Der empirische Bezug ist sehr vage und sicherlich nicht einfach nachvollziehbar. Damit wird es schwierig. ]
9) [Anmerkung: Nehmen wir sein Kernelement ‚Erinnern‘ (‚mime‘). Der Begriff der ‚Erinnerung‘ ist in erster Linie ein Begriffe der Alltagssprache mit Bezug auf spezifische subjektive Erlebnisse, die jeder nur ‚für sich‘ hat; was ‚genau‘ damit gemeint ist, ist wissenschaftlich unklar. Will man ihn ‚objektivieren‘, dann müsste man versuchen, ‚Korrelate‘ des Erinnerns im beobachtbaren ‚Verhalten‘ aufzuweisen (eine Aufgabe der Verhaltenspsychologie mit Interesse am ‚Wissen‘), oder zusätzlich noch im Bereich ’neuronaler Prozesse‘ (eine Aufgabe der ‚Neuropsychologie‘). Im Falle des Verhaltensansatzes könnte man dann anhand von Experimenten z.B. herausfinden, dass das – im Verhalten nachweisbare – ‚Wiedererkennen‘ von bestimmten zuvor gesehenen Objekten nur funktioniert, wenn bestimmte Areale im Gehirn aktiv sind und – meistens, nicht immer – das subjektive ‚Erleben‘ des Erinnerns auftritt. Diese Experimente wurden viel hundertfach durchgeführt, machen aber deutlich, dass das Konzept des Erinnerns sehr komplex ist. Wieweit man diesen wissenschaftlichen Term dann im Bereich der archäologischen Artefakte rekonstruieren kann, ist sicher keine einfache Frage. Man wird, was Donald zu tun scheint, eher ‚indirekt‘ in dem Sinne schließen müssen, dass unter Voraussetzung einer bestimmten Modellvorstellung von ‚Erinnern‘ (die fehlt) bestimmte Artefakte Schlüsse auf Verhaltensweisen erlauben, die dann wiederum im Lichte des Modells ‚Erinnern‘ dahingehend gedeutet werden könnten, dass diese Verhaltensweisen Erinnern voraussetzen; ansonsten wären sie nicht ‚erklärbar‘. ]
10) [Anmerkung: Entsprechendes gilt von den anderen Schlüsselbegriffen ‚Nachahmung‘ (‚precise imitation‘), ‚Fertigkeit‘ (’skill‘) und ‚Gestik‘ (‚gesture‘). Diese sind mindestens so komplex wie der Begriff ‚Erinnern‘. Nach meiner Einschätzung sind diese drei Begriffe in keinem bekannten Buch der Psychologie wissenschaftlich wirklich erschöpfend ‚erklärt‘ (was an zahlreichen schwierigen Randbedingungen liegt, die unsere wissenschaftlichen Möglichkeiten (noch?) überfordern). Da jeder zumindest ansatzweise ein paar Vorstellungen mit jedem dieser Begriffe verknüpft, wird sich jeder Szenarien ausmalen können, in denen diese Begriffe vorkommen, aber ob diese selbst vorgestellten Prozesse mit den Prozessen etwas zu tun haben, die tatsächlich in einem Wesen von der Art ‚homo‘ stattgefunden haben, ist mehr als offen. Für mich verliert der Text von Donald hier immer mehr an Boden: anregend, spekulativ, aber was erklärt er tatsächlich?]
11) [Anmerkung: Obwohl ich das Buch bis zu Ende gelesen habe, werde ich die Besprechung hier abbrechen. So anregend der Text war, im reflektierenden Nacherzählen wird deutlich, dass er zu spekulativ ist und der ‚Wahrheitsgehalt‘ seiner Sätze ist einfach zu nebulös. Möglicherweise bin ich hier ein bisschen zu ‚verseucht‘, da ich an ein ‚harten‘ Theorie des ‚emergenten Geistes‘ arbeite, die sowohl vollständig formal ist wie auch vollständig kontrolliert durch empirische Experimente. ‚Wahre‘ Theorien sind in der Regel auch ‚einfacher‘ als spekulative Texte, da die Rekonstruktion von ‚Komplexität‘ in der Regel auf ‚einfache‘ Elemente führt, deren Art und Weise des ‚Zusammenwirkens‘ die (emergente) Komplexität für Beobachter erzeugt. Obwohl unser Körper aus ca. 14 Billionen einzelnen Zellen besteht, erfahren wir nicht 14 Billionen ‚Einzelteile‘ sondern erleben (glücklicherweise) ein unfassbares ‚Zusammenspiel‘ dieser Einzelzellen in Form eines Körpers und körperlicher Prozesse, die auf unvorstellbar komplexe Weise miteinander ‚interagieren‘. Und dieses unfassbar komplexe Zusammenspiel resultiert aus den ‚impliziten Funktionen‘ dieser Einzelteile, Funktionen, die als solche nicht ’sichtbar‘ sind. Ich schätze, wir haben noch einen sehr weiten Weg zu gehen, bis wir das alles wirklich verstehen.]
12) [Anmerkung: Der Ausdruck ‚unfassbar komplex‘ bezieht sich auf den Umstand, dass im Falle des menschlichen Körpers (einschliesslich des Gehirns) ein Sachverhalt vorliegt, der unsere aktuellen kognitiven Fähigkeiten des Begreifens real sprengt. Selbst wenn wir wollen, uns fehlen bislang die kognitiven Mittel, um solch eine Komplexität zu bearbeiten. Neben sehr konkret-realen Faktoren, die dies andeuten, gibt es philosophisch-mathematische Argumente, nach denen das vollständige und konsistente ‚Begreifen‘ des ‚Begreifens‘ prinzipiell unmöglich ist. Ich erinnere nur an Godel 1931/ Turing 1936.]

QUELLENNACHWEISE

Ein älteres Buch von Donald:

  • Merlin Donald, Origins of the Modern Mind. Three stages in the evolution of culture and cognition. Cambridge (MA) – London: Harvard University Press, 1991
    /* Anmerkung: In diesem Buch gibt Donald erheblich konkretere Aufweise und Nachweise als in dem Buch von 2001 */

  • Gödel, K;. Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I, In: Monatshefte Math.Phys., vol.38(1931),pp:175-198
  • Gödel, K.; Remarks before the princeton bicentennial conference on problems in mathematics, 1946. In: Martin Davis, 1965: pp.84-87
  • Turing, A.M.; Intelligence Service. Schriften, ed. by Dotzler, B.; Kittler, F.; Berlin: Brinkmann & Bose, 1987, ISBN 3-922660-2-3
  • Turing, A. M. On Computable Numbers with an Application to the Entscheidungsproblem. In: Proc. London Math. Soc., Ser.2, vol.42(1936), pp.230-265; received May 25, 1936; Appendix added August 28; read November 12, 1936; corr. Ibid. vol.43(1937), pp.544-546. Turing’s paper appeared in Part 2 of vol.42 which was issued in December 1936 (Reprint in M.DAVIS 1965, pp.116-151; corr. ibid. pp.151-154).(an online version at: http://www.comlab.ox.ac.uk/activities/ieg/e-library/sources/tp2-ie.pdf, last accesss Sept-30, 2012))
  • Turing, A.M. Computing machinery and intelligence. Mind, 59, 433-460. 1950

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

DIE ANDERE DIFFERENZ (im Gespräch über das, was ein ‘glücklicher Zustand’ sein soll)

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Datum: 2.März 2012

(1) Im Nachklang zu meinem letzten Blogeintrag und in Erinnerung an ein Gespräch, das ich gestern mit einem lieben Freund hatte (und davor mit einem meiner Studenten), trat nochmals die Frage in den Mittelpunkt, was denn das Besondere am Leben sei. Als einzelne(r) erlebt man das Leben aus der individuellen Perspektive und aus dieser Perspektive eröffnen sich zahllose Paradoxien (Widersprüche): z.B. stehen die Endlichkeit des Körpers und der individuellen Lebenszeit in einem scheinbar unauflösbaren Widerspruch zum persönlichen Wunsch nach einem glücklichen, unbeschwerten Leben. Denn, der Körper ist nicht nur endlich, sondern auch geschwängert mit zahllosen Bedürfnissen, Trieben, Emotionen und Gefühlen, die auf vielfältige Weise Spannungen in das Lebensgefühl hineintragen, Unruhen, Unzufriedenheiten, Ängste und dergleichen mehr. Dazu kommt für die überwiegende Anzahl der Menschen die tägliche Notwendigkeit, Zeit und Energie aufwenden zu müssen – man nennt es ‚Arbeiten‘ –, um den ‚Lebensunterhalt‘ zu sichern. Für die allerwenigsten ist diese Arbeit das, was sie tun würden, wenn sie nicht diesem ‚Zwang‘ unterliegen würden; für die meisten erscheint die Arbeit als ‚Last‘, und für nicht wenig ist sie eher ‚Hölle‘ denn ‚Himmel‘. Die täglichen Qualen, die hier sehr viele Menschen erleiden müssen, würden, könnte man sie hörbar machen, eine ‚Musik des Grauens‘ entstehen lassen, die den wenigen, die sich – aus welchen Gründen auch immer –, dieser täglichen Hölle entziehen können, das Leben unerträglich machen, wobei es sicherlich mehr ‚Höllen‘ in diesem Sinne gibt, als der äußere Anschein auf den ersten Blick an Eindruck erweckt. Denn die Endlichkeit, in der wir uns als individuelle Menschen vorfinden ist in sich eine Struktur, der niemand entfliehen kann. Das ‚Hineingeworfensein‘ in das tägliche Leben hat eine Uerbittlichkeit, die letztlich über allem und jedem steht, sie ist Teil unseres Vorkommens in dieser Welt, Teil unseres Erlebens und Fühlens, Teil unseres Denkens, unentrinnbar, wesentlich, selbst im Versuch des ‚Nicht-Denkens‘ verbleibt eine grundlegende ‚Differenz‘ ähnlich wie der kosmischen Hintergrundstrahlung, die noch 13.2 Mrd Jahre nach dem ‚BigBang‘ Kunde gibt, von diesem Anfangsereignis.

(2) Beschreibungen von ‚Glück‘ und ‚Zufriedenheit‘ orientieren sich oft an der gewünschten ‚Abwesenheit‘ der täglichen Spannungen, Abwesenheit von ‚Müssen‘, Abwesenheit von ‚Unruhen‘ oder, konkreter, durch Erfüllung konkreter Bedürfnisse und Triebe wie ‚viel Geld‘, ‚viel Macht‘, ’sexuelle Befriedigung‘, ‚tolles Essen‘, ‚eigenes Haus mit Garten‘, usw. Alle solchen ‚konkreten‘ Erfüllungswünsche tragen den Samen zu neuer Unzufriedenheit, den Samen zu neuen Spannungen schon in sich, bevor sie überhaupt so richtig ‚das Licht dieser Welt‘ erblickt haben. Es sind Wechselpositionen, bei denen man eine Unzufriedenheit gegen eine andere (neue) eintauscht. Hier sind wir alle gern und leicht ‚Wiederholungstäter‘; wir sind unzufrieden mit dem ‚Bisherigen‘, trennen uns, weil wir die Unzufriedenheit loswerden wollen, und schon sind wir im scheinbar ‚Neuen‘ genau wieder da, wo wir eigentlich herkommen: weil wir nicht wirklich etwas Neues kennen oder suchen landen wir immer wieder bei dem, was uns vertraut ist, selbst im Muster der ‚Flucht‘.

(3) Ähnlich der klassischen bewusstseinsorientierten Philosophie, in der alle – auch noch so großen – Gedanken im engen Raum des bewussten Erlebens wie Atome an die Wände eines Behälters prallen und so auf engem Raum verharren, und den Anschein von Aporien (Widersprüchen) entstehen lassen, so unterliegt unser subjektives Erleben der permanenten Gefahr, seine eigentümliche Kraft in einer Art dauerhaften ‚psychischen Selbstverbrennung‘ zu verzehren, anstatt zu erleben, dass es weit über sich selbst hinausweisen kann, dass es sehr wohl individuelle Schranken überwinden kann, dass es nicht nur dem Anschein nach, sondern ‚wirklich‘, ‚real‘ ‚grenzenlos‘ sein kann.

(4) Dies kann man aber nur erkennen, wenn man den Blick über den Augenblick hinaus ausweitet und sich der Zusammenhänge bewusst wird, die alle wirksam sind dafür, dass man selbst in dem jeweiligen Augenblick ‚da ist‘, und zwar ’so‘ da ist, wie man sich gerade vorfindet. Denn, schon der eigene Körper, in den man sich so leicht verlieben kann, ist so da, ohne dass man selbst irgend etwas dafür getan hätte; natürlich, die Ernährung dieses Körpers, die tägliche Bewegung oder Nicht-Bewegung können diese Körper beeinflussen, können ihn ‚dick‘ oder ‚dünn‘ machen, können ihn ‚verschleißen‘ und dergleichen mehr, aber dies sind nur Modulationen eines Grundthemas, das als solches uns vorgegeben ist. Grundsätzlich finden wir uns vor mit unserem Körper, mit den Eigenschaften dieses Körpers; wir finden uns vor mit anderen Menschen, die wir uns nicht ausgesucht haben, wir finden uns vor in Gebäuden, Strassen, Infrastrukturen, die wir selbst nicht gemacht haben, wir finden uns vor mit Pflanzen und Tieren, die wir nicht gemacht haben, mit einer Atmosphäre, einer Erde, usw. Strenggenommen gibt es nahezu nichts von Bedeutung, was wir selbst dazu beigetragen haben, dass das Leben ist, wie wir es vorfinden. Merkwürdigerweise scheint es es nur wenige Menschen zu geben, denen diese Grundtatsache bewusst ist. Nicht wenige zeigen ein Selbstgefühl im Sinne eines ‚Grundanspruchs auf alles‘, ‚Hier bin ich, seht doch, ich habe ein Anspruch auf…‘. Dabei sind Alle ‚Gewordene‘, ungefragt; alle sind Teil eines größeren Prozesses, der nicht nur Orte und Regionen umfasst, sondern die ganze Erde, unser Sonnensystem, unsere Milchstraße, ja sogar das gesamte Universum: wer sich dieser Perspektive verschließt, wird vermutlich niemals verstehen, verstehen können, wer er ist, was das Ganze soll. Es kann keine ‚partielle‘ Wahrheit geben; dies ist ein Widerspruch in sich.

(5) Was ist ein ‚wirklich glücklicher Zustand‘? Wir Menschen haben unzählige Bilder entwickelt von dem, was wir als ’schön‘ und ‚gut‘ empfinden wollen, unzählige (Texte, Musik, Mode, Rezepte, Bauten, soziale Gebilde, Verhaltensweisen,….), aber, was auch immer es war oder ist, im Moment des Geschehens ist klar, dass das nicht ‚voll wirklich‘ sein kann, weil es einen nächsten Moment gibt, noch einen, und noch einen und dann verfällt entweder das mühsame zubereitete Gebilde oder das Erlebnis ist vergangen, wird zur Erinnerung, oder wir selbst haben uns verändert, verändern uns beständig weiter, und noch so viele ‚Verdrängungsmassnahmen‘ können auf Dauer unser Altern und Sterben nicht verhindern, und was ist ’schön‘ und ‚wahr‘ im Moment des Sterbens?

(6) Was also ist ein ‚wahrhaft glücklicher Zustand‘? Die Logik hat uns gelehrt, dass wir nur Dinge als ‚logisch wahr‘ beweisen können, die in den akzeptierten Voraussetzungen potentiell enthalten sind. Angewandt auf unsere Fragestellungen würde dies bedeuten, dass wir nur dann ein ‚umfassendes‘ Glück finden können, wenn unsere jeweiligen Voraussetzungen solch ein umfassendes Glück prinzipiell zulassen könnten.

(7) Erinnert man sich nun, dass das biologische Leben seinen Ausgangspunkt bei der Tatsache nimmt, dass sich in einem Universum, in dem das Gesetz der Entropie gilt (salopp: Ausgleich aller Unterschiede auf Dauer) — in einer bestimmten Region dieses Universums (ob woanders als auf der Erde auch, wissen wir noch nicht; ist aber nicht auszuschließen) durch Verbrauch von Energie lokale Unterschiede gebildet haben, die die Eigenschaft besitzen, als ‚Signale für Ereignisse‘ fungieren zu können, und – mehr noch –, die nicht nur die außergewöhnliche Eigenschaft besitzen, sich ‚kopieren‘ zu können, sondern darüber hinaus auch noch, sich zu ‚immer komplexeren Differenzmustern‘ anreichern zu können, für deren ‚Ausdehnung‘ es keine ‚Grenze‘ zu geben scheint. Diese Differenzmustern verbrauchen immer mehr Energie aus der Umgebung, sind aber in der Lage, ihre ‚Signaleigenschaften‘ dahingehend ‚organisieren‘ zu können, dass Sie unterschiedliche ‚Signalebenen‘ generieren, die sich ‚wechselseitig repräsentieren‘ können. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass ‚Ereignisprofile der Umgebung‘ als energetische Muster in die internen Signalstrukturen ‚abgebildet‘ und dort weiter ‚verarbeitet‘ werden können. Auf diese Weise hat das Universum eine Möglichkeit geschaffen, in Form ’selbstorganisierender Differenzstrukturen‘ energetisch bedingte Eigenschaften des Universums in Form von ‚Signalmodellen‘ zu ‚reformulieren‘ und damit ‚explizit‘ zu machen. Durch das Aufspannen von ‚Signalebenen‘ ist auch das entstanden, was wir ‚Bewusstsein‘ nennen. D.h. die sich selbst organisierenden und expandierenden Differenzmuster des ‚Lebens‘ können ‚in sich‘ die Struktur des Universums (einschließlich ihrer selbst) ‚wiederholen‘ und in steigendem Umfang auf diese zurückwirken. Grundsätzlich ist nicht ausgeschlossen, dass das Prinzip der vielschichtigen Differenzmuster nicht nur die wesentlichen Wirkprinzipien des Universums entschlüsselt (und dabei zu einem ‚zweiten‘ Universum, zur ’symbolischen Form‘ des Universums wird), sondern letztlich das gesamte Universum ‚mittels seiner eigenen Prinzipien‘ ‚verändert. In dem Masse, wie dies geschieht, kann das ‚erreichbare Glück‘ für solch eine Differenzstruktur ’sehr weit‘ anwachsen.

(8) Natürlich wird hier auch klar, dass es nicht die einzelne, isolierte Differenzstruktur ist, auf die es ankommt (wenngleich es ohne jede einzelne Struktur auch kein Ganzes geben kann), sondern die Gesamtheit, die nur solange eine ‚Gesamtheit‘ ist, solange es ihr gelingt, sich untereinander durch ‚Kommunikation‘ und entsprechende ‚Verarbeitung‘ zu ‚koordinieren‘. ‚Isolierte‘ hochentwickelte Differenzstrukturen haben keine Überlebenschance auf Dauer; sie vergehen, ohne möglicherweise eine ‚Wirkung‘ entfaltet zu haben. Überleben können nur solche ‚Verbände‘ von Differenzstrukturen, die einen ‚hinreichenden‘ Zusammenhang, sprich eine hinreichende ‚Koordinierung‘ haben. Dies kann bis zu einem gewissen Grad durch ‚Zwang‘ geschehen, aber auf Dauer ist ‚Zwang‘ ‚unproduktiv‘. Ein ‚Optimum‘ liegt nur vor, wenn jede einzelne Differenzstruktur ihr ‚Maximum‘ erreichen kann und diese individuellen Maxima durch ‚Kommunikation‘ miteinander im permanenten ‚Austausch‘ bestehen. Historisch beobachten wir momentan, dass die Kommunkationstechnologie zwar das Ausmaß des Austausches dramatisch erhöhen konnte, dass aber die individuellen Verarbeitungskapazitäten der einzelnen Differenzmuster quasi konstant auf einem bestimmten Niveau verharrt (daneben gibt es  kulturell und machtpolitisch errichtete Barrieren des Austausches und des ungehinderten Denkens, die erheblich sind). Dieser ‚Bottleneck‘ ist eine ernsthafte Gefahr. Es steht den Differenzmustern allerdings frei, ihre Denkpotential zu nutzen, um den ‚eigenen Bottleneck‘ durch geeignete Maßnahmen zu beheben (Denktechnologie in Verbindung mit Gentechnik, d.h. Beschleunigung der Evolution dadurch, dass die Evolution eine ihrer größten Errungenschaften, die Denkmöglichkeiten des homo sapiens, dazu benutzt, ihren Konstruktionsprozess zu beschleunigen. Viele aktuell gehandelte sogenannte ‚Ethiken‘ (salopp: Regeln des richtigen Verhaltens) sind hoffnungslos falsch und damit für das Überleben des Lebens (nicht nur auf der Erde) gefährlich).

Natürlich ist das Thema damit nicht erschöpft. Unser Schicksal ist es, ein großes Ganzes immer nur in Splittern und Bruchstücken denken zu können; viele Splitter können ‚Umrisse‘ ergeben, Umrisse …. usw.

 

 

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