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MOTIVATION 2. Außen und Innen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 22.Sept. 2019
URL: cognitiveagent.org
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Nach dem kurzen Überblick zum Lösen von Problemen mit den drei Faktoren Wissen (Erfahrung), Kommunikation und Motivation, sind in einem Schnelldurchgang die wichtigen Kontexte angesprochen worden, die der Mensch seit seiner Abspaltung vom homo erectus vor ca. 600.000 Jahren bis heute durchlaufen hat. Diese Kontexte sind wichtig, da die inneren Zustände des Menschen durch die kontinuierliche Interaktion mit dem jeweiligen Kontext einschneidend geprägt werden. In dieser Darstellung ist die genaue Rolle der internen Zustände, insbesondere jene, die das konstituieren, was im ersten Beitrag zusammenfassend ‚Motivation‘ genannt wurde, noch ungeklärt, offen. Dieser Punkt soll nun etwas weiter bedacht werden.

KREATIVER KERN. NUR BEDINGT ANPASSBAR

Die grundlegende Annahme, dass der Mensch durch seine Interaktionen mit der Umgebung seine inneren Zustände modifiziert, impliziert, dass der Mensch grundlegend ein lernendes System ist; dies gilt nach heutigem Kenntnisstand generell für alle biologischen Systeme. Dies bedeutet, dass der Mensch je nach dem Wandel der Verhältnisse sich unterschiedliche Strukturen, Abläufe, Konventionen, Erwartungen usw. intern aufprägt. Das so entstehende dynamische Wissen ist quasi ein inneres Bild der äußeren Welt, mehr oder weniger klar, und mehr oder weniger unterschiedlich in jedem einzelnen. Bedenkt man ferner, dass nach den neuen Erkenntnissen das Gehirn als Träger vieler geistiger Eigenschaften die Welt außerhalb des Körpers nicht direkt kennt, nur die sensorischen Fragmente, die es kunstvoll zu zusammenhängenden Strukturen zusammenbaut, dann repräsentiert das innere Bild für jeden einzelnen die Welt (wie sie vielleicht gar nicht ist), und dies für jeden ganz individuell. Vom eigenen Weltbild auf das des anderen zu schließen ist daher gefährlich; in der Regel ist das eigene Bild verschieden von dem der anderen. Es erfordert daher eine geeignete Kommunikation, um diese Verschiedenheit zu bemerken und die Gemeinsamkeiten klar zu stellen.

Jede Gesellschaft trainiert die nachwachsenden Generationen in der Regel dahingehend, den aktuellen Abläufen und damit einhergehenden Erwartungen zu folgen. Ein ‚regelkonformes Verhalten‘ ist so gesehen ein weit verbreiteter gesellschaftlicher Standard. Vielfach existieren Interventionsmechanismen, wenn einzelne oder ganze Gruppen scheinbar von den allgemeinen Normen abweichen.

Trotz einem solchen Erwartungsdruck gibt es aber die berühmten Aussteiger; gibt es Menschen die Aufbrechen und Auswandern (migrieren); gibt es die Protestler, die Alternativen und Oppositionellen, gibt es Freiheitskämpfer und Revolutionäre; andere wagen einen Neuanfang, gründen etwas; Wissenschaftler, Erfinder, kreative Köpfe schaffen neue Formen, neues Verhalten; andere sprechen von Bekehrung, vom Abwenden von Bisherigem und Zuwendung zu etwas ganz Anderem; Beziehungen zwischen Menschen über gesellschaftliche Schranken hinweg, trotz drohender Marginalisierung oder Todesdrohungen.

Diese Beispiele deuten an, dass Kontexte, die sich in das Innere von Menschen eingraben, nicht immer und überall das gesamte Innere beherrschen müssen. Aufgeprägte innere Strukturen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen sich entsprechend konform verhalten, aber sie garantieren diese Konformität nicht. Das Innere verfügt anscheinend über Möglichkeiten, äußere Verhältnisse innerlich zu überwinden, die sich dann in neuen, alternativen Verhalten niederschlagen können. Das Innere besitzt irgendwie einen ‚kreativen Kern‘, der sich nicht notwendigerweise und nicht immer ganz durch die herrschenden Verhältnisse vereinnahmen lässt.

In den bekannten gesellschaftlichen Systemen seit dem Auftreten des homo sapiens, dem modernen Menschen, gibt es neben der schlichten Präsenz von Alltagsprozessen auch jene, in denen eine Gruppe von Menschen versucht, auf die anderen besonderen Einfluss zu nehmen durch Machtstrukturen bewehrt mit empfindlichen Strafen, durch nackte Gewalt und Folter, durch spezielle Belohnungsstrukturen, durch Indoktrinationen und Propaganda, und durch spezielle Werbung. Neben rein verbalen Aktionen gibt es auch den Bereich von Doping, Drogen oder der Virtualisierung von sozialen Beziehungen mit neuartigen Manipulationsmöglichkeiten (z.B. das Vorgaukeln von sozialer Nähe in virtuellen Räumen, die gleichzeitig zum Abbau von realer sozialer Nähe führen). Aber auch bei diesen verschärften Formen der Einflussnahme von Außen gibt es zahlreiche historische Beispiele aus allen Zeiten, dass Menschen standhalten und sich gegen diese Strukturen stellen. Sie besitzen eine ‚innere Motivation‘ die sie stark macht.

Allerdings kann auch der einzelne durch sich selbst zum Opfer werden, wenn er bestimmte grundlegende Bedürfnisse des Körper nicht hinreichend unter Kontrolle bringen kann. Prominente Beispiele sind vielfältige Formen von Sucht wie z.B. Sex, Essen, Trinken, Narzissmus, Eitelkeit, Drogen, Erfolg, Berühmt sein, um nur einige zu nennen. Auch hier gilt: viele zerbrechen daran, genauso gibt es immer wieder aus allen Zeiten Beispiele, dass Menschen es schaffen, sich diesen scheinbar unüberwindlichen Mechanismen zu entziehen. Die Motivation kann stärker sein als der Druck von außen (wobei ‚außen‘ hier physiologische, chemisch Prozesse sind, die die Zustände des Gehirns beeinflussen).

DER KÖRPER ALS FILTER UND ERMÖGLICHUNG

Viele der geistigen, psychischen Eigenschaften, die wir uns Menschen zuschreiben, erscheinen aus Sicht des Verhaltens und der Physiologie mit dem Gehirn verknüpft zu sein, das räumlich ‚im‘ Körper sitzt.

Aus Biologischer Sicht lassen sich die unterschiedlichen Körperstrukturen auflösen in eine unfassbar große Menge von Zellen, die beständig miteinander kommunizieren, von denen ständig welche absterben, andere neu entstehen. Rein zahlenmäßig entsprechen alle Zellen unseres Körpersystems etwa 450 Galaxien im Format der Milchstraße. Die Auflösung in Zellen macht viele der komplexen Strukturen unsichtbar, die den Körper zu dem machen, als was er uns funktionell erscheint.

In einem weiteren Abstraktionsschritt lassen sich alle Zellen auflösen in Richtung der Moleküle, aus denen Zellen bestehen, und noch weitergehender in Richtung der Atome der Moleküle, und sogar noch weitergehender in Richtung der subatomaren Partikel. Dies ist die Sicht der Quantenmechanik. In der Quantenmechanik gibt es keine festen Strukturen, sondern nur noch Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Bei dieser Sichtweise ist ein menschlicher Körper (samt Gehirn) ein nach allen Seiten offenes Gebilde, das über riesige Entfernungen mit nahezu allem in Verbindung stehen kann.

Nicht wenige meinen, dass diese grundlegende quantenmechanische Offenheit und Verbundenheit von jedem mit jedem alle bislang ungelöste Fragen des menschlichen Geistes oder möglicher mystischer Zustände, für die bislang keine befriedigenden wissenschaftliche Erklärungsansätze existieren, lösen können.

Dies muss man allerdings bezweifeln. Schon die Entstehung der grundlegenden biologischen Strukturen, jene der einfachen Zellen vor ca. 3.5 Milliarden Jahre, entzieht sich bislang vollständig einer physikalischen Erklärung. Mit Quantenmechanik kann man in keiner Weise die Entstehung und die Besonderheit von biologischen Zellen erklären. Biologische Zellen haben so viele neuartigen spezielle Strukturen mit Hilfe von Molekülen geschaffen, die wiederum neuartige komplexe Funktionen ermöglicht haben, für die die Physik nicht den geringsten Denkansatz bietet. Schrödinger und viele andere großen Physiker haben dies erkannt. Die weitere Entwicklung des BIOMs mit komplexen Zellen, Zellverbänden, Atmosphäre und dann komplexen Organismen mit hochkomplexen Organen mit komplexen Nervensystemen für eine neuartige Informationsverarbeitung weit über die Mechanismen der DNA hinaus, entzieht sich der heutigen Physik bislang vollständig.

Was immer also sich auf der quantenmechanischen Ebene abspielt, die jeweils komplexeren biologischen Strukturen ‚verbergen‘ diese Vorgänge so, dass sie auf den höheren Ebenen in keiner Weise direkt durchschlagen.

Für den Bereich des sogenannten Bewusstseins bedeutet dies, dass das, was wir ‚bewusst‘ wahrnehmen, durch sehr viele komplexe Strukturen und Prozesse vermittelt ist, die die zugehörigen quantenmechanischen Vorgänge völlig verdecken, ‚weg filtern‘. Will man also die inneren Zustände verstehen, insbesondere den winzig kleinen Anteil der ‚bewussten‘ Ereignisse, dann muss man sich diesen bewussten Ereignissen und den zugehörigen ‚unbewussten‘ Prozessen direkt zuwenden. Die Leistung des Gesamtsystems zeigt sich eben in seinen komplexen funktionalen Ausprägungen, nicht in seinen möglichen Bestandteilen, die im Rahmen eines funktionellen Prozesses benutzt werden.

KRITISCHES DENKEN

Die Steuerung durch die alltäglichen Strukturen und Prozesse kann, wie die erwähnten Beispiele andeuten, durch den inneren, kreativen Kern der Motivation partiell oder ganz aufgehoben werden.

Eine Ursache dafür kann jene Form des Denkens sein, die sich mit den vorliegenden Formen des Wissens beschäftigt, das vorliegende Wissen zum Gegenstand macht, und auf einer zusätzlichen Reflexionsebene mit diesem vorliegenden Wissen ‚kreativ spielt‘, was sich auch in Form von systematischen philosophischen Reflexionen niederschlagen kann. Aber auch engagierte Literatur, manche Formen von Theater und vieles mehr kann zum Medium für alternatives Denken werden.

Wie auch immer solche kreativen Diskurse aussehen mögen, ohne eine geeignete Motivation werden sie nicht stattfinden.

Und die aufgeführten Beispiele enthalten viele Fälle, in denen die alternative, kreative Motivation nicht unbedingt von einer starken Wissenskomponenten begleitet wird. Motivationen als solche können eine Kraft entfalten, die ‚aus sich heraus‘ einen Menschen bewegen können, ‚das Andere‘ zu tun. Wie kann, wie muss man sich diesen ‚kreativen, heißen Kern‘ der Motivation vorstellen?

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KI UND BIOLOGIE. Blitzbericht zu einem Vortrag am 28.Nov.2018

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
29.Nov. 2018
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

LETZTE AKTUALISIERUNG: 1.Dez.2018, Anmerkung 1

KONTEXT

Im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung des Fachbereichs 2 ‚Informatik & Ingenieurwissenschaften‘ der Frankfurt University of Applied Sciences am 28.November 2018 mit dem Rahmenthema „Künstliche Intelligenz – Arbeit für Alle?“ hielt Gerd Doeben-Henisch einen kurzen Vortrag zum Thema „Verändert KI die Welt?“ Voraus ging ein Vortrag von Herrn Helmut Geyer „Arbeitsmarkt der Zukunft. (Flyer zur Veranstaltung: FRA-UAS_Fb2_Karte_KI-Arbeit fuer alle_Webversion )

EINSTIEG INS KI-THEMA

Im Kontext der Überlegungen zur Arbeitswelt angesichts des technologischen Wandels gerät die Frage nach der Rolle der Technologie, speziell der digitalen Technologie — und hier noch spezieller der digitalen Technologie mit KI-Anteilen – sehr schnell zwischen die beiden Pole ‚Vernichter von Arbeit‘, ‚Gefährdung der Zukunft‘ einerseits und ‚Neue Potentiale‘, ‚Neue Arbeit‘, ‚Bessere Zukunft‘, wobei es dann auch einen dritten Pol gibt, den von den ‚übermächtigen Maschinen‘, die die Menschen sehr bald überrunden und beherrschen werden.

Solche Positionen, eine Mischungen aus quasi-Fakten, viel Emotionen und vielen unabgeklärten Klischees, im Gespräch sachlich zu begegnen ist schwer bis unmöglich, erst Recht, wenn wenig Zeit zur Verfügung steht.

Doeben-Henisch entschloss sich daher, das Augenmerk zentral auf den Begriff ‚Künstliche Intelligenz‘ zu lenken und die bislang uneinheitliche und technikintrovertierte Begrifflichkeit in einen größeren Kontext zu stellen, der das begrifflich ungeklärte Nebeneinander von Menschen und Maschinen schon im Ansatz zu überwinden sucht.

ANDERE DISZIPLINEN

Viele Probleme im Kontext der Terminologie der KI im technischen Bereich erscheinen hausgemacht, wenn man den Blick auf andere Disziplinen ausweitet. Solche andere Disziplinen sind die Biologe, die Mikrobiologie sowie die Psychologie. In diesen Disziplinen beschäftigt man sich seit z.T. deutlich mehr als 100 Jahren mit komplexen Systemen und deren Verhalten, und natürlich ist die Frage nach der ‚Leistungsfähigkeit‘ solcher Systeme im Bereich Lernen und Intelligenz dort seit langem auf der Tagesordnung.

Die zunehmenden Einsichten in die unfassbare Komplexität biologischer Systeme (siehe dazu Beiträge in diesem Blog, dort auch weitere Links), lassen umso eindrücklicher die Frage laut werden, wie sich solche unfassbar komplexen Systeme überhaupt entwickeln konnten. Für die Beantwortung dieser Frage wies Doeben-Henisch auf zwei spannende Szenarien hin.

KOMMUNIKATIONSFREIE EVOLUTION

Entwicklungslogik vor der Verfügbarkeit von Gehirnen
Entwicklungslogik vor der Verfügbarkeit von Gehirnen

In der Zeit von der ersten Zelle (ca. -3.8 Mrd Jahren) bis zur Verfügbarkeit hinreichend leistungsfähiger Nervensysteme mit Gehirnen (ab ca. -300.000, vielleicht noch etwas früher) wurde die Entwicklung der Lebensformen auf der Erde durch zwei Faktoren gesteuert: (a) die Erde als ‚Filter‘, was letztlich zu einer bestimmten Zeit geht; (b) die Biomasse mit ihrer Reproduktionsfähigkeit, die neben der angenäherten Reproduktion der bislang erfolgreichen Baupläne (DNA-Informationen) in großem Umfang mehr oder weniger starke ‚Varianten‘ erzeugte, die ‚zufallsbedingt‘ waren. Bezogen auf die Erfolge der Vergangenheit konnten die zufälligen Varianten als ’sinnlos‘ erscheinen, als ’nicht zielführend‘, tatsächlich aber waren es sehr oft diese zunächst ’sinnlos erscheinenden‘ Varianten, die bei einsetzenden Änderungen der Lebensverhältnisse ein Überleben ermöglichten. Vereinfachend könnte man also für die Phase die Formel prägen ‚(Auf der dynamischen Erde:) Frühere Erfolge + Zufällige Veränderungen = Leben‘. Da zum Zeitpunkt der Entscheidung die Zukunft niemals hinreichend bekannt ist, ist die Variantenbildung die einzig mögliche Strategie. Die Geschwindigkeit der ‚Veränderung von Lebensformen‘ war in dieser Zeit auf die Generationsfolgen beschränkt.

MIT KOMMUNIKATION ANGEREICHERTE EVOLUTION

Nach einer gewissen ‚Übergangszeit‘ von einer Kommunikationsfreien zu einer mit Kommunikation angereicherte Evolution gab es in der nachfolgenden Zeit die Verfügbarkeit von hinreichend leistungsfähigen Gehirnen (spätestens mit dem Aufkommen des homo sapiens ab ca. -300.000)[1], mittels deren die Lebensformen die Umgebung und sich selbst ‚modellieren‘ und ‚abändern‘ konnten. Es war möglich, gedanklich Alternativen auszuprobieren, sich durch symbolische Kommunikation zu ‚koordinieren‘ und im Laufe der letzten ca. 10.000 Jahren konnten auf diese Weise komplexe kulturelle und technologische Strukturen hervorgebracht werden, die zuvor undenkbar waren. Zu diesen Technologien gehörten dann auch ab ca. 1940 programmierbare Maschinen, bekannt als Computer. Der Vorteil der Beschleunigung in der Veränderung der Umwelt – und zunehmend auch der Veränderung des eigenen Körpers — lies ein neues Problem sichtbar werden, das Problem der Präferenzen (Ziele, Bewertungskriterien…). Während bislang einzig die aktuelle Erde über ‚Lebensfähig‘ ‚oder nicht Lebensfähig‘ entschied, und dies das einzige Kriterium war, konnten die  Lebewesen mit den neuen Gehirnen  jetzt eine Vielzahl von Aspekten ausbilden, ‚partielle Ziele‘, nach denen sie sich verhielten, von denen oft erst in vielen Jahren oder gar Jahrzehnten oder gar noch länger sichtbar wurde, welche nachhaltigen Effekte sie haben.

Anmerkung 1: Nach Edelman (1992) gab es einfache Formen von Bewusstsein mit den zugehörigen neuronalen Strukturen ab ca. -300 Mio Jahren.(S.123) Danach hätte es  also ca. 300 Mio Jahre gedauert, bis   Gehirne, ausgehend von einem ersten einfachen Bewusstsein, zu komplexen Denkleistungen und sprachlicher Kommunikation in der Lage waren.

LERNEN und PRÄFERENZEN

Am Beispiel von biologischen Systemen kann man fundamentale Eigenschaften wie z.B. das ‚Lernen‘ und die ‚Intelligenz‘ sehr allgemein definieren.

Systematisierung von Verhalten nach Lernen und Nicht-Lernen
Systematisierung von Verhalten nach Lernen und Nicht-Lernen

In biologischer Sicht haben wir generell Input-Output-Systeme in einer unfassbar großen Zahl an Varianten bezüglich des Körperbaus und der internen Strukturen und Abläufe. Wie solch ein Input-Output-System intern im Details funktioniert spielt für das konkrete Leben nur insoweit eine Rolle, als die inneren Zustände ein äußerlich beobachtbares Verhalten ermöglichen, das wiederum das Überleben in der verfügbaren Umgebung ermöglicht und bezüglich spezieller ‚Ziele‘ ‚erfolgreich‘ ist. Für das Überleben reicht es also zunächst, einfach dieses beobachtbare Verhalten zu beschreiben.

In idealisierter Form kann man das Verhalten betrachten als Reiz-Reaktions-Paare (S = Stimulus, R = Response, (S,R)) und die Gesamtheit des beobachtbaren Verhaltens damit als eine Sequenz von solchen (S,R)-Paaren, die mathematisch eine endliche Menge bilden.

Ein so beschriebenes Verhalten kann man dann als ‚deterministisch‘ bezeichnen, wenn die beobachtbaren (S,R)-Paare ’stabil‘ bleiben, also auf einen bestimmten Reiz S immer die gleiche Antwort R erfolgt.

Ein dazu komplementäres Verhalten, also ein ’nicht-deterministisches‘ Verhalten, wäre dadurch charakterisiert, dass entweder (i) der Umfang der Menge gleich bleibt, aber manche (S,R)-Paare sich verändern oder (ii) der Umfang der Menge kann sich ändern. Dann gibt es die beiden interessanten Unterfälle (ii.1) es kommen nach und nach neue (S,R)-Paare dazu, die ‚hinreichend lang‘ ’stabil‘ bleiben, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt ‚t‘ sich nicht mehr vermehren (die Menge der stabilen Elemente wird ‚eingefroren‘, ‚fixiert‘, ‚gezähmt‘, …), oder (ii.2) die Menge der stabilen (S,R)-Paare expandiert ohne Endpunkt.

Bezeichnet man diese Expansion (zeitlich ‚befristet‘ oder ‚unbefristet‘) als ‚Lernen‘, dann wird sichtbar, dass die ‚Inhalte des Lernens‘ (die korrespondierenden Repräsentationen der (S,R)-Paare in den internen Zuständen des Systems) einmal davon abhängen, was die Umgebung der Systeme ‚erlaubt‘, zum anderen, was die ‚inneren Zustände‘ des Systems an ‚Verarbeitung ermöglichen‘, sowie – sehr indirekt – über welche welche ‚internen Selektionskriterien‘ ein System verfügt.

Die ‚internen Selektionskriterien‘ werden hier kurz ‚Präferenzen‘ genannt, also Strategien, ob eher ein A oder ein B ’selektiert‘ werden soll. Wonach sich solche Kriterien richten, bleibt dabei zunächst offen. Generell kann man sagen, dass solche Kriterien primär ‚endogen‘ begründet sein müssen, dass sie aber nachgeordnet auch von außen (‚exogen‘) übernommen werden können, wenn die inneren Kriterien eine solche Favorisierung des exogenen Inputs ‚befürworten‘ (Beispiel sind die vielen Imitationen im Lernen bzw. die Vielzahl der offiziellen Bildungsprozesse, durch die Menschen auf bestimmte Verhaltens- und Wissensmuster trainiert (programmiert) werden). Offen ist auch, ob die endogenen Präferenzen stabil sind oder sich im Laufe der Zeit ändern können; desgleichen bei den exogenen Präferenzen.

Am Beispiel der menschlichen Kulturen kann man den Eindruck gewinnen, dass das Finden und gemeinsame Befolgen von Präferenzen ein bislang offenes Problem ist. Und auch die neuere Forschung zu Robotern, die ohne Terminierung lernen sollen (‚developmental robotics‘), hat zur Zeit das Problem, dass nicht ersichtlich ist, mit welchen Werten man ein nicht-terminiertes Lernen realisieren soll. (Siehe: Merrick, 2017)) Das Problem mit der Präferenz-Findung ist bislang wenig bekannt, da die sogenannten intelligenten Programme in der Industrie immer nur für klar definierte Verhaltensprofile trainiert werden, die sie dann später beim realen Einsatz unbedingt einhalten müssen.  Im technischen Bereich spricht man hier oft von einer ’schwachen KI‘. (Siehe: VDI, 2018) Mit der hier eingeführten Terminologie  wären dies nicht-deterministische Systeme, die in ihrem Lernen ‚terminieren‘.

INTELLIGENZ

Bei der Analyse des Begriffs ‚Lernen‘ wird sichtbar, dass das, was gelernt wird, bei der Beobachtung des Verhaltens nicht direkt ’sichtbar‘ ist. Vielmehr gibt es eine allgemeine ‚Hypothese‘, dass dem äußerlich beobachtbaren Verhalten ‚interne Zustände‘ korrespondieren, die dafür verantwortlich sind, ob ein ’nicht-lernendes‘ oder ein ‚lernendes‘ Verhalten zu beobachten ist. Im Fall eines ‚lernenden‘ Verhaltens mit dem Auftreten von inkrementell sich mehrenden stabilen (S,R)-Paaren wird angenommen, das den (S,R)-Verhaltensformen ‚intern‘ entsprechende ‚interne Repräsentationen‘ existieren, anhand deren das System ‚entscheiden‘ kann, wann es wie antworten soll. Ob man diese abstrakten Repräsentationen ‚Wissen‘ nennt oder ‚Fähigkeiten‘ oder ‚Erfahrung‘ oder ‚Intelligenz‘ ist für die theoretische Betrachtung unwesentlich.

Die Psychologie hat um die Wende zum 20.Jahrhundert mit der Erfindung des Intelligenztests durch Binet und Simon (1905) sowie in Weiterführung durch W.Stern (1912) einen Ansatz gefunden, die direkt nicht messbaren internen Repräsentanten eines beobachtbaren Lernprozesses indirekt dadurch zu messen, dass sie das beobachtbare Verhalten mit einem zuvor vereinbarten Standard verglichen haben. Der vereinbarte Standard waren solche Verhaltensleistungen, die man Kindern in bestimmten Altersstufen als typisch zuordnete. Ein Standard war als ein Test formuliert, den ein Kind nach möglichst objektiven Kriterien zu durchlaufen hatte. In der Regel gab es eine ganze Liste (Katalog, Batterie) von solchen Tests. Dieses Vorgehensweisen waren sehr flexibel, universell anwendbar, zeigten allerdings schon im Ansatz, dass die Testlisten kulturabhängig stark variieren konnten. Immerhin konnte man ein beobachtbares Verhalten von einem System auf diese Weise relativ zu vorgegebenen Testlisten vergleichen und damit messen. Auf diese Weise konnte man die nicht messbaren hypothetisch unterstellten internen Repräsentationen indirekt qualitativ (Art des Tests) und quantitativ (Anteil an einer Erfüllung des Tests) indizieren.

Im vorliegenden Kontext wird ‚Intelligenz‘ daher als ein Sammelbegriff für die hypothetisch unterstellte Menge der korrespondierenden internen Repräsentanten zu den beobachtbaren (S,R)-Paaren angesehen, und mittels Tests kann man diese unterstellte Intelligenz qualitativ und quantitativ indirekt charakterisieren. Wie unterschiedlich solche Charakterisierung innerhalb der Psychologie modelliert werden können, kann man in der Übersicht von Rost (2013) nachlesen.

Wichtig ist hier zudem, dass in diesem Text die Intelligenz eine Funktion des Lernens ist, das wiederum von der Systemstruktur abhängig ist, von der Beschaffenheit der Umwelt sowie der Verfügbarkeit von Präferenzen.

Mehrdimensionaler Raum der Intelligenzrpräsentanen
Mehrdimensionaler Raum der Intelligenzrpräsentanen

Aus Sicht einer solchen allgemeinen Lerntheorie kann man statt biologischen Systemen auch programmierbare Maschinen betrachten. Verglichen mit biologischen Systemen kann man den programmierbaren Maschinen ein Äquivalent zum Körper und zur Umwelt spendieren. Grundlagentheoretisch wissen wir ferner schon seit Turing (1936/7), dass programmierbare Maschinen ihr eigenes Programm abändern können und sie prinzipiell lernfähig sind. Was allerdings (siehe zuvor das Thema Präferenz) bislang unklar ist, wo sie jeweils die Präferenzen herbekommen sollen, die sie für eine ’nachhaltige Entwicklung‘ benötigen.

ZUKUNFT VON MENSCH UND MASCHINE

Im Licht der Evolution erscheint die  sich beschleunigende Zunahme von Komplexität im Bereich der biologischen Systeme und deren Populationen darauf hinzudeuten, dass mit der Verfügbarkeit von programmierbaren Maschinen diese sicher nicht als ‚Gegensatz‘ zum Projekt des biologischen Lebens zu sehen sind, sondern als eine willkommene Unterstützung in einer Phase, wo die Verfügbarkeit der Gehirne eine rapide Beschleunigung bewirkt hat. Noch bauen die biologischen Systeme ihre eigenen Baupläne  nicht selbst um, aber der Umbau in Richtung von Cyborgs hat begonnen und schon heute ist der Einsatz von programmierbaren Maschinen existentiell: die real existierenden biologischen Kapazitätsgrenzen erzwingen den Einsatz von Computern zum Erhalt und für die weitere Entwicklung. Offen ist die Frage, ob die Computer den Menschen ersetzen sollen. Der Autor dieser Zeilen sieht die schwer deutbare Zukunft eher so, dass der Mensch den Weg der Symbiose intensivieren wird und versuchen sollte, den Computer dort zu nutzen, wo er Stärken hat und zugleich sich bewusst sein, dass das Präferenzproblem nicht von der Maschine, sondern von ihm selbst gelöst werden muss. Alles ‚Böse‘ kam in der Vergangenheit und kommt in der Gegenwart vom Menschen selbst, nicht von der Technik. Letztlich ist es der Mensch, der darüber entscheidet, wie er die Technik nutzt. Ingenieure machen sie möglich, die Gesellschaft muss entscheiden, was sie damit machen will.

BEISPIEL EINER NEUEN SYMBIOSE

Der Autor dieser Zeilen hat zusammen mit anderen KollegenInnen in diesem Sommer ein Projekt gestartet, das darauf abzielt, dass alle 11.000 Kommunen in Deutschland ihre Chancen haben sollten, ihre Kommunikation und Planungsfähigkeit untereinander dramatisch zu verbessern, indem sie die modernen programmierbaren Maschinen in neuer ‚intelligenter‘ Weise für ihre Zwecke nutzen.

QUELLEN

  • Kathryn Merrick, Value systems for developmental cognitive robotics: A survey, Cognitive Systems Research, 41:38 – 55, 2017
  • VDI, Statusreport Künstliche Intelligenz, Oktober 2018, URL: https://www.vdi.de/vdi-statusbericht-kuenstliche-intelligenz/ (zuletzt: 28.November 2018)
  • Detlef H.Rost, Handbuch der Intelligenz, 2013: Weinheim – Basel, Beltz Verlag
  • Joachim Funke (2006), Kap.2: Alfred Binet (1857 – 1911) und der erste Intelligenztest der Welt, in: Georg Lamberti (Hg.), Intelligenz auf dem Prüfstand. 100 Jahre Psychometrie, Vandenhoek & Ruprecht
  • Alfred Binet, Théodore Simon: Methodes nouvelles pour le diagnostiqc du niveau intellectuel des anormaux. In: L’Année Psychologique. Vol. 11, 1904, S. 191–244 (URL: https://www.persee.fr/doc/psy_0003-5033_1904_num_11_1_3675 )
  • William Stern, Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung und deren Anwendung an Schulkinder, 19121: Leipzig, J.A.Barth
  • Alan M. Turing, On computable numbers, with an application to the Entscheidungsproblem. Proceedings of the London Mathematical Society, 42(2):230–265, 1936-7
  • Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books

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DAS WAS MENSCHSEIN AUSMACHT. Eine Notiz

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  1. Während der Auseinandersetzung mit dem Buch von Edelman gab es unterschiedliche Wechselwirkungen mit anderen gedanklichen Prozessen. Ein Thema hier ist eine mögliche grundlegende Typologie von ‚Intelligenz‘.

  2. Vorab müsste man das Verhältnis des Begriffs ‚Intelligenz‘ zu Begriffen wie ‚Lernen‘, ‚Bewusstsein‘, ‚Geist‘ und ‚Gehirn‘ klären. Hier nur soviel, dass alle diese Begriffe ein ‚Gehirn‘ – oder eine vergleichbare materielle Struktur – zum Funktionieren voraussetzen. Allerdings kann das bloße Vorhandensein solcher materieller Strukturen nicht garantieren, dass es dann auch so etwas wie ‚Geist‘, ‚Bewusstsein‘, ‚Lernen‘ und ‚Intelligenz‘ gibt.

  3. Der Begriff ‚Geist‘ wird im Englischen als ‚mind‘ gerne und oft benutzt, um Besonderheiten im Verhalten des Homo sapiens zu ‚markieren‘. Allerdings ist dieser Begriff sehr diffus und bislang in keiner Theorie hinreichend erklärt.

  4. Meistens werden die Begriffe ‚Bewusstsein‘ und ‚Geist‘ sehr ähnlich benutzt, ohne dass deren Beziehung zueinander – wegen einer fehlenden Theorie – letztlich klar ist. Da unser ‚Zugang‘ zum Phänomen ‚Geist‘ irgendwie über das beobachtbare Verhalten und das ‚Bewusstsein‘ läuft, ist der Begriff ‚Geist‘ eher ein theoretischer Begriff innerhalb einer Theorie, die man auf der Basis von Bewusstseinsdaten formulieren würde. Mit dem Begriff ‚Bewusstsein‘ wäre dies ähnlich: würden wir alle erreichbaren Daten aus der 1.Person und 3.Person Perspektive sammeln, könnten wir eine Theorie bauen, die den theoretischen Term ‚Bewusstsein‘ enthält und damit indirekt ‚erklärt‘. Paradox würde es, weil der Begriff ‚Bewusstsein‘ dann nicht nur eine theoretische Beschreibung ‚von etwas‘ wäre, also einen ‚Gegenstand‘ der Beschreibung bilden würde, sondern zugleich auch den ‚Autor‘ der ‚Beschreibung‘ repräsentieren würde, allerdings nur indirekt. Der so theoretisch beschriebene ‚Gegenstand Bewusstsein‘ würde wesentliche Eigenschaften nicht enthalten. Für diesen Fall eines ‚Gegenstandes‘ der zugleich ‚Autor‘ ist gibt es bislang keinen akzeptierten Theoriebegriff.

  5. Der ‚wissenschaftliche Intelligenzbegriff‘ orientiert sich am beobachtbaren Verhalten und definierten Referenzpunkten. Dieses Verfahren wurde seit gut 100 Jahren auf den Homo sapiens angewendet und dann auf viele andere biologische Systeme verschieden vom Homo sapiens. Man könnte grob von ‚Menschlicher Intelligenz‘ sprechen und von ‚Tierischer Intelligenz‘ mit vielen Überschneidungen.

  6. Daneben gibt es heute eine ‚Maschinelle Intelligenz‘, die bislang aber in keiner allgemein akzeptierten Form beschrieben und untersucht wird. Die Beziehung zur ‚menschlichen‘ und ‚tierischen‘ Intelligenz wurde bislang nicht systematisch untersucht.

  7. Im Alltag, in den Medien, in der Kunst gib es eine ‚fiktive Intelligenz‘, der man nahezu alles zutraut, ohne dass klar ist, ob dies wirklich möglich ist. Die ‚fiktive Intelligenz‘ ist gleichsam eine Art ‚Sammelpunkt‘ aller Projektionen von dem, was Menschen sich unter ‚Intelligenz‘ vorstellen können.

  8. Durch die Koexistenz von Menschen und neuer Informations-Technologie kann es zu einer neuen ‚hybriden Intelligenz‘ kommen, in der menschliche und maschinelle Intelligenz auf neue Weise symbiotisch zusammen wirken. Dazu gibt es bislang kaum Forschungen; stattdessen versucht man, die maschinelle Intelligenz möglichst unabhängig vom Menschen und oft in Konkurrenz und im Gegensatz zu ihm zu entwickeln. Zugleich verbleibt die Forschung zur menschlichen Intelligenz auf niedrigem Niveau; viele – die meisten? – wichtigen Eigenschaften sind weiterhin unerforscht. Beides zusammen blockiert die Entwicklung von wirklich starken, neuen Intelligenzformen.

  9. Durch die ungelöste Paradoxie von zugleich ‚Gegenstand‘ und ‚Autor‘ bleiben viele wichtige, vielleicht die wichtigsten, Eigenschaften menschlicher Intelligenz im Verborgenen. Es gibt hier einen Erkenntnismäßigen ‚blinden Fleck‘ der nur sehr schwer aufzulösen ist.

  10. Wenn man sieht, wie in vielen Ländern dieser Erde, auch in jenen, in denen man glaubte, viele ‚primitive‘ Sichten zur Welt, zum Leben, zum Menschen überwunden zu haben, große Teile der Bevölkerung und der politischen Leitinstitutionen wieder in solche ‚primitiveren‘ Sichten und Verhaltensweisen zurückfallen und darin zunehmend Anhänger finden, dann kann man dies als Indikator dafür nehmen, dass differenziertere, komplexere Sichten des Lebens und die dazu gehörigen Verhaltenskomplexe keine Automatismen darstellen. Nur weil jemand, eine Gruppe, eine Population zu einer bestimmten Zeit einmal eine ‚Einsicht‘ hatte, ein aus dieser Einsicht resultierendes ‚praktisches Lebenskonzept umgesetzt hat‘, folgt nicht automatisch, dass diese Einsicht in den Individuen der Population ‚am Leben bleibt‘. Die Struktur und Dynamik eines einzelnen Homo-sapiens-Exemplars ist von solch einer Komplexität, dass nur maximale Anstrengungen dieses Potential an Freiheit zu einer ‚konstruktiven Lebensweise‘ motivieren können. Dabei ist das Wort ‚motivieren‘ wichtig. Im Homo sapiens kulminiert die ‚Freiheit‘, die sich in der Materie und Struktur des gesamten Universums samt den biologischen Strukturen grundlegend findet, zu einem vorläufigen ‚Optimum‘, das sich jeder vollständigen ‚Verrechnung‘ in fixierte Strukturen widersetzt. Man kann einen Homo sapiens einsperren, töten, mit Drogen willenlos machen, durch Entzug von materiellen Möglichkeiten seiner Realisierungsbasis berauben, durch falsche Informationen und Bildungen fehlleiten, man kann aber seine grundlegende Freiheit, etwas ‚Anderes‘, etwas ‚Neues‘ zu tun, dadurch nicht grundlegend aufheben. In der Freiheit jedes einzelnen Homo sapiens lebt potentiell die mögliche Zukunft des gesamten Universums weiter. Ein unfassbarer Reichtum. Die größte Lüge und das größte Verbrehen an der Menschlichkeit und am Leben überhaupt ist daher genau diese grundlegende Eigenschaft des Homo sapiens zu verleugnen und zu verhindern.

  11. Natürlich hat der Homo sapiens noch weitere grundlegende Eigenschaften über die zu sprechen gut tun würde.

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KÜNSTLICHE INTELLIGENZ (KI) – CHRISTLICHE THEOLOGIE – GOTTESGLAUBE. Ein paar Gedanken

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24.Juni 2018
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VORBEMERKUNG

Der folgende Text wurde im September in einer christlichen Zeitschrift veröffentlicht [*]. Es war (und ist) ein ‚experimenteller Text‘, bei dem ich versucht habe, auszuloten, was gedanklich passiert, wenn man die beiden Themenkreise ‚Glaube an Gott im   Format christlicher Theologie‘ mit dem Themenkreis ‚Künstliche Intelligenz‘ zusammen führt. Das Ergebnis kann überraschen, muss aber nicht. Dieser ganze Blog ringt von Anbeginn um das Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft (mit Technologie) und dem Phänomen der Spiritualität als Menschheitsphänomen, und die christliche Sicht der Dinge (die in sich ja keinesfalls einheitlich ist), ist nur eine Deutung von Welt unter vielen anderen. Wer die Einträge dieses Blogs durch mustert (siehe Überblick) wird feststellen, dass es sehr viele Beiträge gibt, die um die Frage nach Gott im Lichte der verfügbaren Welterfahrung kreisen. Die aktuelle Diskussion von W.T.Stace’s Buch ‚Religion and the Modern Mind‘ (Beginn mit Teil 1 HIER) setzt sich auch wieder   mit dieser Frage auseinander.

INHALT BEITRAG

Im Alltag begegnen wir schon heute vielfältigen Formen von Künstlicher Intelligenz. Bisweilen zeigt sie sehr menschenähnliche Züge. In Filmen werden uns Szenarien vorgeführt, in denen Superintelligenzen zukünftig die Herrschaft über uns Menschen übernehmen wollen. Wie verträgt sich dies mit unserem Menschen-und Gottesbild? Macht Glauben an Gott dann noch Sinn?

I. KI IST SCHON DA …

Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, wo sie im Alltag schon mit Programmen der Künstlichen Intelligenz (KI) zu tun haben. Schaut man sich aber um, wird man entdecken, dass Sie scheinbar schon überall am Werk ist. Hier ein paar Stichworte: Kundenanfragen werden immer mehr durch KI-Programme bestritten. In der Logistik: In Lagerhallen und ganzen Häfen arbeiten intelligente Roboter, die wiederum von anderen KI-Programmen überwacht und optimiert werden. Ähnliches in Fabriken mit Produktionsstraßen. Für die Wartung von Maschinenbenutzen Menschen Datenhelme, die über ein KI-Programm gesteuert werden und die dem Menschensagen, was er sieht, und wo er was tun soll. In der Landwirtschaft sind die beteiligten Maschinen vernetzt, haben KI-Programme entweder an Bord oder werden über Netzwerke mit KI-Programmen verbunden: diese kontrollieren den Einsatz und steuern Maßnahmen. Auf den Feldern können diese Maschinen autonom fahren. Im Bereich Luftfahrt und Schifffahrt können sich Flugzeuge und Schiffe schon heute völlig autonom bewegen, ebenso beim LKW-Verkehr und auf der Schiene. Durch das Internet der Dinge (IoT) wird gerade der Rest der Welt miteinander vernetzt und damit einer zunehmenden Kontrolle von KI-Programmen zugänglich gemacht. In der Telemedizin ist dies schon Alltag: Ferndiagnose und Fernbehandlung sind auf dem Vormarsch. Schon heute wird für die Diagnose schwieriger und seltener Krankheiten KI eingesetzt, weil sie besser ist als ganze Gruppen menschlicher Experten. Viele komplizierte Operationen – speziell im Bereich Gehirn – wären ohne Roboter und KI schon heute unmöglich. KI-Programme entschlüsseln das Erbgut von Zellen, Suchen und Finden neue chemische Verbindungen und pharmakologische Wirkstoffe.

In der Finanzwirtschaft haben KI-Programme nicht nur den Handel mit Aktien und anderen Finanzprodukten übernommen (Stichwort: Hochfrequenzhandel), sondern sie verwalten auch zunehmend das Vermögen von Privatpersonen, übernehmen den Kontakt mit den Kunden, und wickeln Schadensfälle für Versicherungen ab. Bei anwaltlichen Tätigkeiten werden Routineaufgaben von KI-Programmen übernommen. Richter in den USA lassen sich in einzelnen Bundesländern mit KI-Programmen die Wahrscheinlichkeit ausrechnen, mit der ein Angeklagter wieder rückfällig werden wird; dies wird zum Schicksal für die Angeklagten, weil die Richter diese Einschätzungen in ihr Urteil übernehmen. Das Militär setzt schon seit vielen Jahren in vielen Bereichen auf KI-Programme. Zuletzt bekannt durchfliegende Kampfroboter (Drohnen). Dazu weltweite Ausspähprogramme von Geheimdiensten, die mit Hilfe von KI-Programmen gewaltige Datenströme analysieren und bewerten.Diese Aufzählung mag beeindruckend klingen, sie ist aber nicht vollständig. In vielen anderen Bereichen wie z.B. Spielzeug, Online-Spiele, Musikproduktion,Filmproduktion, Massenmedien, Nachrichtenproduktion,… sind KI-Programme auch schon eingedrungen. So werden z.B. mehr und mehr Nachrichtentexte und ganze Artikel für Online-Portale und Zeitungen durch KI-Programme erstellt; Journalisten waren gestern. Dazu hunderttausende von sogenannten ’Bots’ (Computerprogramme, die im Internet kommunizieren, als ob sie Menschen wären), die Meinungen absondern, um andere zu beeinflussen. Was bedeuten diese Erscheinungsformen Künstlicher Intelligenz für uns?

A. Freund oder Konkurrent?

Bei einem nächtlichen Biergespräch mit einem der berühmtesten japanischen Roboterforschern erzählte er aus seinem Leben, von seinen Träumen und Visionen. Ein Thema stach hervor: seine Sicht der Roboter. Für ihn waren Roboter schon seit seiner Kindheit Freunde der Menschen, keinesfalls nur irgendwelche Maschinen. Mit diesen Roboter-Freunden soll das Leben der Menschen schöner, besser werden können. In vielen Science-Fiction Filmen tauchen Roboter in beiden Rollen auf: die einen sind die Freunde der Menschen, die anderen ihre ärgsten Feinde; sie wollen die Menschen ausrotten, weil sie überflüssig geworden sind. Bedenkt man, dass die Filme auf Drehbüchern beruhen, die Menschen geschrieben haben, spiegelt sich in diesem widersprüchlichen Bild offensichtlich die innere Zerrissenheit wieder, die wir Menschen dem Thema Roboter, intelligenten Maschinen, gegenüber empfinden. Wir projizieren auf die intelligenten Maschinen sowohl unsere Hoffnungen wie auch unsere Ängste, beides übersteigert, schnell ins Irrationale abrutschend.

B. Neue Verwundbarkeiten

Ob intelligente Maschinen eher die Freunde der Menschen oder ihre Feinde sein werden, mag momentan noch unklar sein, klar ist jedoch, dass schon jetzt der Grad der Vernetzung von allem und jedem jeden Tag einen realen Raum mit realen Bedrohungen darstellt. Global operierenden Hacker-Aktivitäten mit Datendiebstählen und Erpressungen im großen Stil sind mittlerweile an der Tagesordnung. Während die einen noch versuchen, es klein zu reden, lecken andere schon längst ihre Wunden und es gibt immer mehr Anstrengungen, diesen Angriffen mehr ’Sicherheit’ entgegen zu setzen. Doch widerspricht das Prinzip der Zugänglichkeit letztlich dem Prinzip der vollständigen Abschottung. Wenn die Vernetzung irgendeinen Sinn haben soll, dann eben den, dass es keine vollständige Abschottung gibt. Dies läuft auf die große Kunst einer ’verabredeten Abschottung’ hinaus: es gibt eine ’bestimmte Datenkonstellation, die den Zugang öffnet’. Dies aber bedeutet, jeder kann herumprobieren, bis er diese Datenkonstellation gefunden hat. Während die einen KI-Programme einsetzen, um diese Datenschlüssel zu finden, versuchen die anderen mit KI-Programmen, mögliche Angreifer bei ihren Aktivitäten zu entdecken. Wie dieses Spiel auf lange Sicht ausgehen wird, ist offen. In der Natur wissen wir, dass nach 3.8 Milliarden Jahren biologischem Leben die komplexen Organismen bis heute beständig den Angriffen von Viren und Bakterien ausgeliefert sind, die sich um Dimensionen schneller verändern können, als das biologische Abwehrsystem(das Immunsystem) lernen kann. Die bisherige Moral aus dieser Geschichte ist die, dass diese Angriffe bei komplexen Systemen offensichtlich ko-existent sind, dazu gehören. Nur ein schwacher Trost ist es, dass der beständige Abwehrkampf dazu beiträgt, die Systeme graduell besser zu machen. Mit Blick auf diese fortschreitende Vernetzung ist es wenig beruhigend, sich vorzustellen, dass es in ca. 70- 90 Jahren (wie viele vermuten) (Anmerkung: Siehe dazu eine längere Argumentation im 1.Kap. von Bostrom (2014) [Bos14]) tatsächlich eine echte technische Superintelligenz geben wird, die allen Menschen gegenüber überlegen ist; eine solche technische Superintelligenz könnte im Handumdrehen alle Netze erobern und uns alle zu ihren Gefangenen machen. Nichts würde mehr in unserem Sinne funktionieren: die Super-KI würde alles kontrollieren und uns vorschreiben, was wir tun dürfen. Über das Internet der Dinge und unsere Smartphones wäre jeder 24h unter vollständiger Kontrolle. Jede kleinste Lebensregung wäre sichtbar und müsste genehmigt werden. Ob und was wir essen, ob wir noch als lebenswert angesehen werden …

C. Noch ist es nicht soweit …

Zum Glück ist dieses Szenario einer menschenfeindlichen Superintelligenz bislang nur Science-Fiction. Die bisherigen sogenannten KI-Programme sind nur in einem sehr eingeschränkten Sinne lernfähig. Bislang sind sie wie abgerichtete Hunde, die nur das suchen,was ihnen ihre Auftraggeber vorgeben, zu suchen. Sie haben noch keine wirkliche Autonomie im Lernen, sie können sich noch nicht selbständig weiter entwickeln(nur unter speziellen Laborbedingungen). Allerdings sammeln sie Tag und Nacht fleißig Daten von allem und jedem und erzeugen so ihre einfachen Bilder von der Welt: z.B. dass die Männer im Alter von 21 in der Region Rhein-Main mit Wahrscheinlichkeit X folgende Gewohnheiten haben …. Herr Müller aus der Irgendwo-Straße hat speziell jene Gewohnheiten …. seine Freunde sind … Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit dass er Partei Y wählen wird … dass er in drei Monaten ein neues Auto vom Typ X kaufen wird ….am liebsten klickt er folgende Adressen im Internet an …

In den Händen von globalen Firmen, anonymen Nachrichtendiensten, autoritären Regierungen oder verbrecherischen Organisationen können allerdings schon diese Daten zu einer echten Bedrohung werden, und diese Szenarien sind real. Die Rolle der bösen Superintelligenz wird hier bis auf weiteres noch von Menschen gespielt; Menschen haben in der Vergangenheit leider zur Genüge bewiesen, dass sie das Handwerk des Bösen sehr gut beherrschen können…Es stellt sich die Frage, ob sich die bisherigen einfachen künstlichen Intelligenzen weiter entwickeln können? Lernen künstliche Intelligenzen anders als Menschen? Welche Rolle spielen hier Werte? Sind Werte nicht ein altmodischer Kram, den nur Menschen brauchen (oder selbst diese eigentlich nicht)? Schließlich, wo kommt hier Gott ins Spiel? Tangieren künstliche Intelligenzen den menschlichen Glauben an Gott überhaupt?

II. WAS IST ’KÜNSTLICHE INTELLIGENZ’

Für eine Erkundungsreise in das Land der Künstlichen Intelligenz ist die Lage nicht ganz einfach, da das Gebiet der KI sich mittlerweile sehr stürmisch entwickelt. Immer mehr Konzepte stehen nebeneinander im Raum ohne dass es bislang allgemein akzeptierte Theorie- und Ordnungskonzepte gibt. (Anmerkung: Für zwei sehr unterschiedliche historische Rückblicke in das Thema sei verwiesen auf Mainzer (1995) [Mai95] und Nilsson (2010) [Nil10]. Für eine sehr populäre, wenngleich methodisch problematische, Einführung in den Stand der Disziplin siehe Russel und Norvik (2010) [RN10]).

Wir besuchen hier für einen Einstieg einen der großen Gründungsväter ganz zu Beginn 1936 – 1950 Alan Matthew Turing, und dann für die Zeit 1956 – 1976 Alan Newell und Herbert A.Simon. (Anmerkung: Simon war auch ein Nobelpreisträger im Gebiet der Wirtschaftswissenschaften 1978.) Dann schauen wir noch kurz in allerneueste Forschungen zum Thema Computer und Werte.

A. Am Anfang war der Computer

Wenn wir von künstlicher Intelligenz sprechen setzen wir bislang immer voraus, dass es sich um Programme (Algorithmen) handelt, die auf solchen Maschinen laufen, die diese Programme verstehen. Solche Maschinen gibt es seit 1937 und ihre technische Entwicklung hing weitgehend davon ab, welche Bauteile ab wann zur Verfügung standen. Das Erstaunliche an der bisherigen Vielfalt solcher Maschinen, die wir Computer nennen, ist, dass sich alle diese bis heute bekannt gewordenen Computer als Beispiele (Instanzen) eines einzigen abstrakten Konzeptes auffassen lassen. Dieses Konzept ist der Begriff des universellen Computers, wie er von Alan Matthew Turing 1936/7 in einem Artikel beschrieben wurde (siehe: [Tur 7] 4 ). In diesem Artikel benutzt Turing das gedankliche Modell einer endlichen Maschine für jene endlichen Prozesse, die Logiker und Mathematiker intuitiv als ’berechenbar’ und ’entscheidbar’ ansehen. (Anmerkung: Zum Leben Turings und den vielfältigen wissenschaftlichen Interessen und Einflüssen gibt es die ausgezeichnete Biographie von Hodges (1983) [Hod83].) Das Vorbild für Turing, nach dem er sein Konzept des universellen Computers geformt hat, war das eines Büroangestellten, der auf einem Blatt Papier mit einem Bleistift Zahlen aufschreibt und mit diesen rechnet.

B. Computer und biologische Zelle

Was Turing zur Zeit seiner kreativen Entdeckung nicht wissen konnte, ist die Tatsache, dass sein Konzept des universellen Computers offensichtlich schon seit ca. 3.5 Milliarden Jahre als ein Mechanismus in jeder biologischen Zelle existierte. Wie uns die moderne Molekularbiologie über biologische Zellen zur Erfahrung bringt(siehe [AJL + 15]), funktioniert der Mechanismus der Übersetzung von Erbinformationen in der DNA in Proteine (den Bausteinen einer Zelle) mittels eines Ribosom-Molekülkomplexes strukturell analog einem universellen Computer. Man kann dies als einen Hinweis sehen auf die implizite Intelligenz einer biologischen Zelle. Ein moderner Computer arbeitet prinzipiell nicht anders.

C. Computer und Intelligenz

Die bei Turing von Anfang an gegebene Nähe des Computers zum Menschen war möglicherweise auch die Ursache dafür, dass sehr früh die Frage aufgeworfen wurde, ob, und wenn ja, wieweit, ein Computer, der nachdem Vorbild des Menschen konzipiert wurde, auch so intelligent werden könnte wie ein Mensch?

Der erste, der diese Frage in vollem Umfang aufwarf und im einzelnen diskutierte, war wieder Turing. Am bekanntesten ist sein Artikel über Computerintelligenz von 1950 [Tur50]. Er hatte aber schon 1948 in einem internen Forschungsbericht für das nationale physikalische Labor von Großbritannien einen Bericht geschrieben über die Möglichkeiten intelligenter Maschinen. (Anmerkung: Eine Deutsche Übersetzung findet sich hier: [M.87]. Das Englische Original ’Intelligent Machinery’ von 1948 findet sich online im Turing Archiv: http://www.alanturing.net/intelligent_machinery.) In diesem Bericht analysiert er Schritt für Schritt, wie eine Maschine dadurch zu Intelligenz gelangen kann, wenn man sie, analog wie bei einem Menschen, einem Erziehungsprozess unterwirft, der mit Belohnung und Strafe arbeitet. Auch fasste er schon hier in Betracht, dass sein Konzept einer universellen Maschine das menschliche Gehirn nachbaut. Turing selbst konnte diese Fragen nicht entscheiden, da er zu dieser Zeit noch keinen Computer zur Verfügung hatte, mit dem er seine Gedankenexperimente realistisch hätte durchführen können. Aber es war klar, dass mit der Existenz seines universellen Computerkonzeptes die Frage nach einer möglichen intelligenten Maschine unwiderruflich im Raum stand. Die Fragestellung von Turing nach der möglichen Intelligenz eines Computers fand im Laufe der Jahre immer stärkeren Widerhall. Zwei prominente Vertreter der KI-Forschung, Allen Newell und Herbert A.Simon, hielten anlässlich des Empfangs des ACM Turing-Preises1975 eine Rede, in der sie den Status der KI-Forschung sowie eigene Arbeiten zum Thema machten (siehe dazu den Artikel [NS76]).

D. Eine Wissenschaft von der KI

Für Newell und Simon ist die KI-Forschung eine empirische wissenschaftliche Disziplin, die den Menschen mit seinem Verhalten als natürlichen Maßstab für ein intelligentes Verhalten voraussetzt. Relativ zu den empirischen Beobachtungen werden dann schrittweise theoretische Modelle entwickelt, die beschreiben, mit welchem Algorithmus man eine Maschine (gemeint ist der Computer) programmieren müsse, damit diese ein dem Menschen vergleichbares – und darin als intelligent unterstelltes – Verhalten zeigen könne. Im Experiment ist dann zu überprüfen, ob und wieweit diese Annahmen zutreffen.

E. Intelligenz (ohne Lernen)

Aufgrund ihrer eigenen Forschungen hatten Newell und Simon den unterstellten vagen Begriff der ’Intelligenz’ schrittweise ’eingekreist’ und dann mit jenen Verhaltensweisen in Verbindung gebracht, durch die ein Mensch (bzw. ein Computer) bei der Abarbeitung einer Aufgabe schneller sein kann, als wenn er nur rein zufällig’ handeln würde. ’Intelligenz’ wurde also in Beziehung gesetzt zu einem unterstellten ’Wissen’ (und zu unterstellten ‚Fertigkeiten‘), über das ein Mensch (bzw. ein Computer) verfügen kann, um eine bestimmte Aufgabe ’gezielt’ zu lösen. Eine so verstandene ’Intelligenz’ kann sich aus sehr vielfältigen, möglicherweise sogar heterogenen, Elementen zusammen setzen.

Dies erklärt ihre mannigfaltigen Erscheinungsweisen bei unterschiedlichen Aufgaben. ’Intelligenz’ ist dabei klar zu unterscheiden, von einem ’Lernen’. Ist die Aufgabenstellung vor dem Einsatz einer Maschine hinreichend bekannt, dann kann ein Ingenieur all das spezifische Wissen, das eine Maschine für die Ausführung der Aufgabe benötigt, von vornherein in die Maschine ’einbauen’. In diesem Sinne ist jede Maschine durch das Knowhow von Ingenieuren in einem spezifischen Sinne ’intelligent’. Bis vor wenigen Jahrzehnten war dies die Standardmethode, wie Maschinen von Ingenieuren entworfen und gebaut wurden.

F. Lernen ermöglicht Intelligenz

Im Fall von biologischen Systemen ist ein solches Vorgehen kaum möglich. Biologische Systeme entstehen (durch Zellteilung), ohne dass bei der Entstehung bekannt ist, wie die Umwelt aussehen wird, ob sie sich verändert, welche Aufgaben das biologische Systemlösen muss. Zwar haben alle biologische Systeme auch genetisch vorbestimmte Verhaltensmuster, die gleich bei der Geburt zur Verfügung stehen, aber darüber hinaus haben alle biologische Systeme einen ariablen Anteil von Verhaltensweisen, die sie erst lernen müssen. Das Lernen ist hier jene Fähigkeit eines biologischen Systems, wodurch es seine internen Verhaltensstrukturen in Abhängigkeit von der ’Erfahrung’ und von ’spezifischen Bewertungen’ ’ändern’ kann. Dies bedeutet, dass biologische Systeme durch ihre Lernfähigkeit ihr Verhalten ’anpassen’ können. Sie können damit – indirekt – ein ’spezifisches Wissen’ erwerben, das ihnen dann eine spezifische ’Intelligenz’ verleiht, wodurch das biologischen System besser als durch Zufall reagieren kann. Diese Fähigkeit eines situationsgetriebenen Wissens besaßen Maschinen bis vor kurzem nicht. Erst durch die modernen Forschungen zu einer möglichen ’künstlichen Intelligenz (KI)’ machte man mehr und mehr Entdeckungen, wie man Maschinen dazu in die Lage versetzen könnte, auch nach Bedarf neues Verhalten erlernen zu können. Innerhalb dieses Denkrahmens wäre dann eine ’künstliche Intelligenz’ eine Maschine, hier ein Computer, der über Algorithmen verfügt, die ihn in die Lage versetzen, Aufgaben- und Situationsabhängig neues Verhalten zu erlernen, falls dies für eine bessere Aufgabenbearbeitung wünschenswert wäre.

Die noch sehr ursprüngliche Idee von Turing, dass ein Computer Lernprozesse analog dem der Menschen durchlaufen könnte, inklusive Belohnung und Bestrafung, wurde seitdem auf vielfältige Weise weiter entwickelt. Eine moderne Form dieser Idee hat unter dem Namen ’Reinforcement Learning’ sehr viele Bereiche der künstlichen Intelligenzforschung erobert (vgl. Sutton und Barto (1998) [SB98]).

G. KI und Werte

Für die Aufgabenstellung einer ’lernenden Intelligenz’ spielen ’Werte’ im Sinne von ’Verhaltenspräferenzen’ eine zentrale Rolle. Ein Gebiet in der KI-Forschung, in dem diese Thematik sehr intensiv behandelt wird, ist der Bereich der ’Entwicklungs-Robotik’ (Engl.:’developmental robotics’). In diesem Bereich wurde u.a. die Thematik untersucht (vgl. Kathryn Merrick(2017) [Mer17]), wie ein Roboter ’von sich aus’, ohne direkte Befehle, seine Umgebung und sich selbst ’erforschen’ und aufgrund dieses Lernens sein Verhalten ausrichten kann. Dabei zeigt sich, dass reine Aktivierungsmechanismen, die im Prinzip nur die Neugierde für ’Neues’ unterstützen, nicht ausreichend sind. Außerdem reicht es nicht aus, einen Roboter isoliert zu betrachten, sondern man muss Teams oder ganze Populationen von Robotern betrachten, da letztlich ein ’Wert’ im Sinne einer ’Präferenz’ (eine bevorzugte Verhaltenstendenz) nur etwas nützt, wenn sich alle Mitglieder einer Population daran orientieren wollen. Dies führt zur grundlegenden Frage, was denn eine Population von Robotern gemeinschaftlich als solch einen gemeinsamen ’Wert’ erkennen und akzeptieren soll. Wirklich befriedigende Antworten auf diese grundlegenden Fragen liegen noch nicht vor. Dies hat u.a. damit zu tun, dass die Robotersysteme, die hier untersucht werden, bislang noch zu unterschiedlich sind und dass es auch hier bislang – wie bei der KI-Forschung insgesamt – ein großes Theoriedefizit gibt in der Frage, innerhalb welches theoretischen Rahmens man diese unterschiedlichen Phänomene denn diskutieren soll.

Man kann aber den Ball dieser Forschung einmal aufgreifen und unabhängig von konkreten Realisierungsprozessen die Frage stellen, wie denn überhaupt ein ’Wert’ beschaffen sein müsste, damit eine ganze Population von Robotern sich ’von sich aus’ darauf einlassen würde. Letztlich müsste auch ein Roboter entweder eine ’eingebaute Tendenz’ haben, die ihn dazu drängt, ein bestimmtes Verhalten einem anderen vor zu ziehen, oder aber es müsste eine ’nicht eingebaute Tendenz’ geben, die im Rahmen seiner ’internen Verarbeitungsprozesse’ neue Verhalten identifizieren würde, die ihm im Sinne dieser ’Tendenz’ ’wichtiger’ erscheinen würde als alles andere. Es ist bislang nicht erkennbar, wo eine ’nicht eingebaute Tendenz’ für eine Verhaltensauswahl herkommen könnte. Ein industrieller Hersteller mag zwar solche Werte aufgrund seiner Interessenlage erkennen können, die er dann einem Roboter ’zu verstehen geben würde’, aber dann wäre die Quelle für solch eine ’Initiierung einer Verhaltenstendenz’ ein Mensch.

In der aktuellen Forschungssituation ist von daher als einzige Quelle für nicht angeborene Verhaltenstendenzen bislang nur der Mensch bekannt. Über welche Werte im Falle von sogenannten künstlichen Super-Intelligenzen diese verfügen würden ist noch unklar. Dass künstliche Super-Intelligenzen von sich aus Menschen grundsätzlich ’gut’ und ’erhaltenswert’ finden werden, ist in keiner Weise abzusehen. Die künstlichen Superintelligenzen müssten sich in Wertefragen – wenn überhaupt – eher am Menschen orientieren. Da die bisherige Geschichte der Menschheit zeigt, dass der Mensch selbst zu allen Zeiten eine starke Neigung hat, andere Menschen zu unterdrücken, zu quälen, und zu töten, würde dies für alle Menschen, die nicht über künstliche Superintelligenzen verfügen, tendenziell sehr gefährlich sein. Ihr ’Opferstatus’ wäre eine sehr große Versuchung für die jeweilige technologische Macht.

III. WER SIND WIR MENSCHEN?

Wenn Menschen sich in der KI wie in einem Spiegelbetrachten, dann kann dies für den betrachtenden Menschen viele Fragen aufwerfen. Zunächst erfinden die Menschen mit dem Computer einen Typ von intelligenter Maschine, die zunehmend den Eindruck erweckt, dass sich die Menschen in solchen Maschinen vervielfältigen (und möglicherweise noch übertreffen) können. Dann benutzen sie diese Computer dazu, die Strukturen des menschlichen Körpers immer tiefer zu erforschen, bis hin zu den Zellen und dort bis in die Tiefen der molekularen Strukturen, um z.B. unsere Gene zu erforschen, unser Erbmaterial, und zwar so weitgehend, dass wir dieses Erbmaterial gezielt verändern können. Die Menschen verstehen zwar noch nicht in vollem Umfang die möglichen Wirkungen der verschiedenen Änderungen, aber es ist möglich, real Änderungen vorzunehmen, um auszuprobieren, ’was dann passiert’? Mit Hilfe des Computers beginnt der Mensch, seinen eigenen Bauplan, sein eigenes genetisches Programm, umzubauen.

Dazu kommt, dass die Menschen seit dem19.Jahrhundert mit der modernen Biologiewissen können, dass die vielfältigen Formen des biologischen Lebens zu einem bestimmten Zeitpunkt immer das Ergebnis von langen vorausgehenden Entwicklungsprozessen sind. Das Wachsen und Sterben von Organismen gründet jeweils in einer befruchteten Zelle, für die durch das Erbmaterial festgelegt ist, wie sie sich weiter vermehrt und wie sich Millionen, Milliarden und gar Billionen von Zellen zu komplexen Formen zusammen finden. Und bei der Vervielfältigung von Zellen können Änderungen, Abweichungen vom ursprünglichen Plan auftreten, die über viele Tausende  und Millionen von Jahren zu deutlichen Änderungen im Bau und Verhalten eines Organismus führen können. Die Biologen sprechen von ’Evolution’. Eine Erkenntnis aus diesem Evolutionsprozess war (und ist), dass wir Menschen, so, wie wir heute da sind, auch solche evolutionär gewordene biologische Strukturen sind, die Vorläufer hatten, die mit uns heutigen Menschen immer weniger zu tun hatten, je weiter wir in der Zeit zurückgehen. Wer sind wir also?

Die Frage, ob Computer als intelligente Maschinen genau so gut wie Menschen werden können, oder gar noch besser, läuft auf die Frage hinaus, ob der Mensch Eigenschaften besitzt, die sich generell nicht durch einen Computer realisieren lassen.

Die moderne Psychologie und die modernen Neurowissenschaften haben bislang nichts zutage fördern können, was sich einem ingenieurmäßigen Nachbau entziehen könnte. Auch wenn es sich hierbei nicht um einen ’strengen Beweise’ handelt, so kann dieser Anschein einer generellen ’maschinelle Reproduzierbarkeit’ des Menschen in Gestalt von intelligenten Maschinen das bisherige Selbstverständnis von uns Menschen stark verunsichern.

IV. GLAUBEN AN GOTT

A. In allen Himmelsrichtungen

Aus der Geschichte der letzten Jahrtausende wissen wir, dass es zu allen Zeiten und in allen Kulturen Religionen gegeben hat. Die größten sind wohl (bis heute) der Hinduismus, der Buddhismus, das Judentum mit dem Christentum, und der Islam. So verschieden diese zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen äußerlich erscheinen mögen, sie verbindet alle das tiefe Fühlen und Glauben von Menschen an einen über-persönlichen Sinn, der Glaube an ein höheres Wesen, das zwar unterschiedliche Namen hat (’Gott’, ’Deus’, ’Theos’, ’Jahwe’, ’Allah’ …), aber – möglicherweise – vielleicht nur ein einziges ist.

B. Jüdisch-Christlich

So verschieden die christlichen Bekenntnisse der Gegenwart auch sein mögen, was die Anfänge angeht beziehen sich noch immer alle auf die Bibel, und hier, für die Anfänge der Geschichte auf das Alte Testament.(Anmerkung: Für eine deutsche Übersetzung siehe die Katholisch-Evangelische Einheitsübersetzung [BB81]).

Wie uns die modernen Bibelwissenschaften lehren, blickt der Text des Alten Testaments auf eine vielfältige Entstehungsgeschichte zurück. (Anmerkung: Für eine Einführung siehe Zenger et.al (1998) [ZO98]). Nicht nur, dass der Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung sich im Zeitraum von ca. -700 bis ca.+200 abgespielt hat, auch die redaktionelle Erzeugung verweist auf sehr viele unterschiedliche Traditionen, die nebeneinander existiert und die zu unterschiedlichen Varianten geführt haben. Auch die Kanonbildung dauerte dann nochmals viele hundert Jahre mit dem Ergebnis, dass es schwer ist, von dem einen Urtext zu sprechen. Für jene Menschen, die vorzugsweise Halt an etwas Konkretem, Festen suchen, mag dieses Bild der Überlieferung der Texte des alten Testaments beunruhigend wirken. Wird hier nicht vieles relativiert? Kann man denn da noch von einem ’Wort Gottes an die Menschen’ sprechen? Diese Furcht ist unbegründet, im Gegenteil.

C. Neues Weltbild

Wenn wir Menschen heute lernen (dürfen!), wie unsere individuelle, konkrete Existenz eingebettet ist in einen geradezu atemberaubenden Prozess der Entstehung der bekannten Lebensformen über viele Milliarden Jahre, wie unser eigener Körper ein unfassbares Gesamtkunstwerk von ca. 37 Billionen (10^12 !) Körperzellen in Kooperation mit ca. 100 Bio Bakterien im Körper und ca. 220 Mrd. Zellen auf der Haut  ist, die in jedem Moment auf vielfältige Weise miteinander reden, um uns die bekannten Funktionen des Körpers zur Verfügung zu stellen, dann deutet unsere reale Existenz aus sich heraus hin auf größere Zusammenhänge, in denen wir vorkommen, durch die wir sind, was wir sind. Und zugleich ist es die Erfahrung einer Dynamik, die das Ganze des biologischen Lebens auf der Erde in einem ebenfalls sich entwickelnden Universum umfasst und antreibt. Wenn wir verstehen wollen, wer wir sind, dann müssen wir diesen ganzen Prozess verstehen lernen.

Wenn wir uns dies alles vor Augen halten, dann können uns die Texte des alten Testaments sehr nahe kommen. Denn diese Texte manifestieren durch ihre Vielfalt und ihre Entstehungsgeschichte über viele Jahrhunderte genau auch diese Dynamik, die das Leben auszeichnet.

D. Schöpfungsberichte

Claus Westermann, ein evangelischer Theologe und Pfarrer, leider schon verstorben, hat uns einen Kommentar zum Buch Genesis hinterlassen und eine Interpretation der beiden biblischen Schöpfungsberichte, der jedem, der will, aufzeigen kann, wie nah diese alten Texte uns heute noch sein können, vielleicht viel näher als je zuvor. (Anmerkung: Neben seinen beiden wissenschaftlichen Kommentaren aus den Jahren 1972 und 1975 hat er schon 1971 ein kleines Büchlein geschrieben, in dem er seine Forschungsergebnisse in einer wunderbar lesbaren Form zusammengefasst hat (siehe: [Wes76]).

Der erste der beiden Schöpfungstexte in Gen 1,1-2,4a ist der jüngere der beiden; seine Entstehung wird auf die Zeit 6.-5.Jh vor Christus angesetzt, der zweite Schöpfungstext in Gen 2,4b – 24 wird mit seiner Entstehung im 10.-9.Jh vor Christus verortet. Der jüngere wird einer Überlieferungsschicht zugeordnet, die als ’Priesterschrift’ bezeichnet wird, die einen großen Bogen spannt von der Entstehung der Welt mit vielen Stationen bis hin zu einem neuen Bund zwischen Menschen und Gott. Dieser erste Schöpfungsbericht, bekannt durch sein 7-Tage-Schema, steht im Übergang von sehr, sehr vielen Traditionen mythischer Berichte über Schöpfung in den umliegenden Kulturen, Traditionen, die selbst viele Jahrhunderte an Entstehungszeit vorweisen können. Von daher wundert es nicht, wenn sich einzelne Worte, Motive, Bilder, die auch im 7-Tage-Schema auftauchen, Parallelen haben in anderen Schöpfungsgeschichten. Interessant ist das, was die biblische Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift anders macht als die anderen bekannten Geschichten es tun.

E. Menschen als Ebenbild

Die zentrale Aussage im neueren Schöpfungsbericht ist nicht, wie im älteren Text, wie Gott den Menschen geschaffen hat, sondern die Aussage, dass er den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, und dass er dem Menschen eine Verantwortung übertragen hat. In der schon zu dieser Zeit bekannten Vielgestaltigkeit der Welt, ihrer vielen Werdeprozesse, war die zentrale Einsicht und damit verbunden der Glaube, dass der Mensch als ganzer (nicht eine einzelne Gruppe, kein bestimmter Stamm, kein bestimmtes Volk!) über die konkrete, reale Existenz hinausweisend mit Gott verbunden ist als seinem Schöpfer, der auch ansonsten alles geschaffen hat: die Gestirne sind keine Götter, wie in vielen anderen älteren Mythen. Die Menschen sind nicht dazu da, niedere Arbeiten für Gott zu machen, wie in anderen Mythen. Die Menschen werden vielmehr gesehen als in einem besonderen Status im Gesamt der Existenz in der Geschichte, mit einer Verantwortung für das Ganze.

Und diese besondere Stellung des Menschen wird nicht festgemacht an besonderen körperlichen und geistigen Eigenschaften; schon zu dieser Zeit wussten die Autoren der Priesterschrift, wie vielfältig die Lebensformen, ja der konkrete Mensch, sein kann. Wenn wir heute durch die Wissenschaften lernen können, wie der Mensch sich im größeren Ganzen eines biologischen Werdens einsortieren lässt, wie der Mensch selbst durch seine Kultur, seine Technologie in der Lage und bereit ist, sich selbst in allen Bereichen– einschließlich seines biologischen Körpers – zu verändern, dann steht dies in keiner Weise im Gegensatz zu der globalen Sicht des biblischen Schöpfungsberichts. Im Gegenteil, man kann das Gefühl bekommen, das sich in unserer Gegenwart die Weite des biblischen Texte mit den neuen Weiten der Erkenntnisse über Mensch und Universum neu begegnen können. Was allerdings heute auffällig ist, wie viele Menschen sich schwer tun, in diesen neuen primär wissenschaftlichen Weltsichten den Glauben an einen Gott, einen Schöpfer, an eine Geschichtsübergreifende Beziehung zu einem Schöpfer aufrecht zu erhalten. Ist dies heute nicht mehr möglich?

F. Frömmigkeit – Spiritualität

An dieser Stelle sollte man sich vergegenwärtigen, dass zu allen Zeiten die Menschen in ihrer Religiosität nie nur ’gedacht’ haben, nie nur ’mit Bildern’ der Welt oder Gottes umgegangen sind. Zu allen Zeiten gab es – und gibt es noch heute – auch das, was man ’Frömmigkeit’ nennt, ’Spiritualität’, jenes sehr persönliche, individuelle sich einem Gott gegenüber ’innerlich Vorfinden‘, ’Ausrichten’, ’Fühlen’, ’Erleben’. Es ist nicht leicht, dafür die richtigen Worte zu finden, da es nun einmal ’innere’ Prozesse sind, die sich nicht wie Gegenstände vorweisen lassen können.   Sie betreffen das grundsätzliche Erleben eines Menschen, ein inneres Suchen, ein Erfahren, ein Erfülltsein (oder auch Leersein), das, was viele Menschen ermöglicht, ihr Leben in einer anderen, neuen Weise zu gestalten, sich zu ändern, anders mit Gefahren und Leiden umzugehen. In den Bildern des Alltags ’mehr’ sehen zu können als ohne dieses innere Erleben, Gestimmt sein.

In einer interessanten Untersuchung hat der britische Philosoph Walter Terence Stace die spirituellen Zeugnisse von vielen Jahrtausenden in unterschiedlichen Kulturen philosophisch untersucht (vgl. [Sta60]). Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich trotz aller Verschiedenheiten im Äußeren, auch bei bestimmten Interpretationen, im Kern des Erlebens, des Wahrnehmens, sofern man dieses überhaupt von möglichen Interpretationen trennen lässt, erstaunliche Übereinstimmungen erkennen kann. Er folgert daraus, dass diese Fähigkeit von Menschen, einen übergreifenden Sinn direkt, existentiell erfahren zu können, möglicherweise auf eine sehr grundsätzliche Eigenschaft aller Menschen verweist, die wir einfach haben, weil wir Menschen sind. (Anmerkung: Er schließt auch nicht aus, dass alles Lebendige, von dem wir Menschen ja nur ein Teil sind, an dieser grundsätzlichen Fähigkeit einen Anteil haben könnte, wenn auch möglicherweise verschieden von der Art, wie wir Menschen erleben können.)

Die Tiefe und Weite der Sicht des jüngeren Schöpfungsberichts im Buch Genesis würde einem solchen grundlegenden Sachverhalt gut entsprechen: das Bild vom Menschen als Ebenbild Gottes schließt eine besondere Verbundenheit nicht aus; das ist das, was nach Westermann dem Menschen seine besondere Würde verleiht, diese Beziehung, nicht sein aktuelles konkretes So-sein, das sich ändern kann, ist die zentrale Botschaft.

G. Mensch, KI, Glaube an Gott

Damit beginnt sich der Kreis zu schließen. Wenn die Besonderheit des Menschen, seine zeitübergreifende Würde, in dieser grundlegenden Beziehung zu einem Schöpfergott gründet, die sich vielfältig im Gesamt des Universums und Lebens manifestiert, speziell auch in einer Form von individueller Spiritualität, dann gewinnt die Frage nach der Zukunft von Mensch und intelligenten Maschinen noch eine neue Nuance.

Bislang wird von den Vertretern einer Zukunft ohne Menschen nur noch mit intelligenten Maschinen einseitig abgehoben auf die größere Rechenkraft und die größeren Speicher, die alles erklären sollen. In diesem Beitrag wurde darauf hingewiesen, dass selbst die einfachsten Formen des Lernens ohne ’Werte’ im Sinne von ’Präferenzen’, von ’Bevorzugung von Handlungsalternativen’, ins Leere laufen. Sogenannte ’angeborene’ Präferenzen (oder eingebaute) können nur einen sehr begrenzten Nutzen vermitteln, da sich die Handlungsgegebenheiten und die gesamte Welt beständig weiter verändern. Auch die teilweise sehr komplexen Wertfindungen im sozialen-kulturellen Kontext ganzer Populationen, die von den künstlichen Intelligenzen dieser Welt noch nicht mal ansatzweise beherrscht werden, sind nur von begrenztem Wert, wie die bisherige Kulturgeschichte der Menschen eindrücklich belegt. [Mai95]

Vor diesem Hintergrund ist aktuell nicht zu sehen, wie intelligente Maschinen in der Zukunft alleine zu irgendwelchen brauchbaren Präferenzen kommen können. [SB98][Mer17][Nil10][NS76][RN10][Sta60][Tur37] Ungeklärt ist aktuell allerdings, ob und wieweit der Mensch – also jeder von uns – im Wechselspiel von philosophisch-empirischer Welterkenntnis und Spiritualität jene großen Richtungen ermitteln kann, die für die kommende komplexe Zukunft gefordert wird?

Sollte die Existenz eines Schöpfergottes über Welterkenntnis und Spiritualität wichtig sein für ein weiteres erfolgreiches Fortschreiten, dann hätten intelligente Maschinen möglicherweise ein grundsätzliches Problem. Es sei denn, auch sie könnten Gott erfahren? Einfacher wäre es, wenn Mensch und Maschine ihre aktuelle Koexistenz zu einer intensiveren Symbiose ausbauen würden. Dies würde viele sehr spannende Perspektiven bieten. Der Glaube an einen Schöpfergott ist auch heute, nach allem, was wir jetzt wissen können, keineswegs unsinnig;er erweist sich sogar – rein rational – als scheinbar dringend notwendig. Andererseits ist ein lebendiger Glaube kein Automatismus, sondern erfordert von jedem Menschen sein sehr persönliches Engagement in Verbundenheit mit dem ganzen Leben in einem dynamischen Universum. Gott erscheint hier nicht als das Hindernis, eher unsere Verweigerungen, das Ganze anzuschauen und zu akzeptieren.

QUELLEN

[*] G.Doeben-Henisch, Künstliche Intelligenz und der Glaube an Gott, In: Brennpunkt Gemeinde 70 (Aug./Sept. 2017), Studienbrief R21, 14 S., Hg. AMD Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste im Verbund der Diakonie, Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, 47497 Neukirchen-Vluyn

[AJL + 15] B. Alberts, A. Johnson, J. Lewis, D. Morgan, M. Raff,
K. Roberts, and P. Walter. Molecular Biology of the Cell.
Garland Science, Taylor & Francis Group, LLC, Abington
(UK) – New York, 6 edition, 2015.
[BB81] Katholisches Bibelwerk and Deutsche Bibelgesellschaft. Die
Heilige Schrift. Einheitsübersetzung. Verlag Katholisches
Bibelwerk & Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, 1 edition, 1981.
[Bos14] Nick Bostrom. Superintelligence. Paths, Dangers, Strategies.
Oxford University Press, Oxford (UK), 1 edition, 2014.
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WAHRHEIT CONTRA WAHRHEIT. Notiz

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Worum es geht

Im Zeitalter von Fake News (manche sprechen schon vom postfaktischen Zeitalter ) scheint der Begriff der Wahrheit abhanden gekommen zu sein. Dies trifft aber nicht zu. Die folgenden Zeilen kann man als Fortsetzung des vorausgehenden Beitrags lesen.

I. ARBEITSDEFINITION VON WAHRHEIT

1) In dem vorausgehenden Beitrag wurde angenommen, dass Wahrheit zunächst einmal die Gesamtheit des Wissens, der Erfahrungen und der Emotionen ist, die einer einzelnen Person zum aktuellen Zeitpunkt zur Verfügung steht. Was immer geschrieben, gedacht, gesagt usw. wird, jeder einzelne versteht und handelt auf
der Basis dessen, was er zu diesem Zeitpunkt in sich angesammelt hat.

2) Eine zentrale Einsicht ist dabei, dass unser Gehirn die aktuellen sensorischen Daten – externe wie interne– sofort, und automatisch, mit dem abgleicht, was bisher zu diesem Zeitpunkt im Gedächtnis verfügbar ist. Dadurch erleben wir alles, was uns begegnet, im Lichte des bislang Bekannten. Unsere Wahrnehmung ist eine unausweichlich interpretierte Wahrnehmung.

3) Ein Beispiel: Wenn jemand gefragt wird, ’ist dies dein Kugelschreiber?’, und dieser jemand antwortet mit ’Ja’, dann nimmt er einen Gegenstand wahr (als Ereignis seines Bewusstseins) und dieser jemand stellt zugleich fest, dass sein Gedächtnis in ihm eine Konzept aktiviert hat, bezogen auf das er diesen Gegenstand als seinen Kugelschreiber interpretieren kann. Für diesen jemand ist Wahrheit dann die Übereinstimmung zwischen (i) einer Wahrnehmung als einem Ereignis ’Kugelschreiber’ in seinem Bewusstsein, (ii) einem zugleich aktivierten Konstrukt aus dem Gedächtnis  ’mein Kugelschreiber’, sowie (iii) der Fähigkeit, erkennen zu können, dass das Wahrnehmungsereignis ’Kugelschreiber’ eine mögliche Instanz des Erinnerungsereignisses ’mein Kugelschreiber’ ist. Das Erinnerungsereignis ’mein Kugelschreiber’ repräsentiert (iv) zudem den Bedeutungsanteil des sprachlichen Ausdrucks ’dein Kugelschreiber’. Letzteres setzt voraus, dass der Frager und der Antwortende (v) beide die gleiche Sprache  gelernt haben und der Ausdruck ’dein Kugelschreiber’ aus Sicht des Fragenden und ’mein Kugelschreiber’ aus Sicht des Antwortenden von beiden (vi) in gleicher Weise interpretiert wird.

4) Anzumerken ist hier, dass jene Ereignisse, die ihm Bewusstsein als Wahrnehmungen aufschlagen können, unterschiedlich leicht zwischen zwei Teilnehmern des Gesprächs identifiziert werden können. Einmal können Aussagen über die empirische Welt sehr viele komplizierte Zusammenhänge implizieren, die nicht sofort erkennbar sind (wie funktioniert ein Fernseher, ein Computer, ein Smartphone…), zum anderen kann es
sein, dass die beiden Gesprächsteilnehmer die benutzte Sprache sehr unterschiedlich gelernt haben können (Fachausdrücke, spezielle Redewendungen, Art der Bedeutungszuschreibung, usw). Obwohl der Sachverhalt vielleicht im Prinzip erklärbar wäre, kann es sein, dass beide Gesprächsteilnehmer im Moment des Gesprächs
damit überfordert sind.

5) Ferner kann man sich durch dieses Beispiel nochmals deutlich machen, dass die Bezeichnung der Gesamtheit des Wissens, der Erfahrung und der Emotionen eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt als der subjektiven Wahrheit dieses Menschen ihren Sinn darin besitzt, dass dieser Mensch in dem Moment, wo er gefragt wird, ob es sich SO verhält, nur dann ’Ja’ sagen wird, wenn der gefragte Mensch in seiner subjektiven Wahrheit Elemente findet, die diesem So-sein entsprechen. Das ’So-sein’ aus der Frage muss ein Bestandteil der subjektiven Wahrheit sein und nur dann kann ein Mensch auf eine Anfrage hin sagen, ja, das wahrgenommene So-sein findet in der subjektiven Wahrheit eine Entsprechung. Die Fähigkeit zur Wahrheit erscheint somit primär in der subjektiven Wahrheit eines Menschen begründet zu sein.

II. WAHRHEIT UND LEBENSFORM

1) Ergänzend zu diesem geschilderten grundsätzlichem Zusammenhang wissen wir, dass die subjektive Wahrheit nicht unabhängig ist von dem Lebensprozess des jeweiligen Menschen. Alles, was ein Mensch erlebt, was auf ihn einwirkt, kann in diesem Menschen als Ereignis erlebbar werden, kann ihn beeinflussen, kann ihn
verändern. Dazu gehört natürlich auch das eigene Tun. Wenn jemand durch den Wald läuft und merkt, dass er laufen kann, wie sich das Laufen anfühlt, wie sich dies langfristig auf seinen Körperzustand auswirkt, dann beeinflusst dies auch das individuelle Erkennen von Welt und von sich selbst, als jemand, der laufen und
Fühlen kann. Wenn stattdessen Kinder in Kobaldminen arbeiten müssen statt zu lernen,  sich vielfältig neu entdecken zu können, dann wird diesen Kinder mit der Vorenthaltung einer Lebenspraxis zugleich ihr Inneres zerstört; es kann nur ein verzerrter Aufbau von Persönlichkeit stattfinden. Wir schwärmen derweil von den angeblich umweltfreundlichen Elektroautos, die wir fahren sollen. Oder: wenn Kinder im Dauerhagel von Granaten und Bomben aufwachsen müssen, um sich herum Verwundete und Tote erleben müssen, dann werden sie sich selbst entfremdet, weil verschiedene Machthaber ihre Macht in Stellvertreterkriegen meinen, ausagieren zu müssen.

2) Aufgrund der so unendlich verschiedenen Lebensprozesse auf dieser Erde können sich in den Menschen, die von ihrer Natur aus weitgehend strukturgleich sind,  ganz unterschiedliche subjektive Wahrheiten ansammeln. Derselbe Mensch sieht dann die Welt anders, handelt anders, fühlt anders. Es ist dann nahezu unausweichlich, dass sich bei der Begegnung von zwei Menschen zwei verschiedene Wahrheiten begegnen. Je nachdem, wie ähnlich oder unähnlich die Lebensprozesse dieser Menschen sind, sind auch die subjektiven Wahrheiten eher ähnlich oder unähnlich.

3) Wie man beobachten kann, tendieren Menschen dazu, sich vorzugsweise mit solchen Menschen zu treffen, mit ihnen zu reden, mit ihnen zusammen etwas tun, die mit ihnen bezüglich ihrer subjektiven Wahrheiten möglichst ähnlich sind. Manche meinen, solche selbstbezügliche Gruppen (’Echokammer’, ’Filterblase’) auch
im Internet, in den sozialen Netzwerken entdecken zu können. Obwohl das Internet im Prinzip die ganze Welt zugänglich macht [Anmerkung: Allerdings nicht in Ländern, in denen der Zugang zum Internet kontrolliert wird, wie z.B. massiv in China.], treffen sich Menschen vorzugsweise mit denen, die sie kennen, und mit denen sie eine ähnliche Meinung teilen. Man muss aber dazu gar nicht ins Internet schauen. Auch im Alltag kann man beobachten, dass jeder einzelne Mitglied unterschiedlicher sozialer Gruppen ist, in denen er sich wohl fühlt, weil man dort zu bestimmten Themen eine gleiche Anschauung vorfindet. An meiner Hochschule, an der Studierende aus mehr als 100 Ländern vertreten sind, kann man beobachten, dass die Studierenden
vorzugsweise unter sich bleiben statt die Vielfalt zu nutzen. Und die vielfältigen Beziehungskonflikte, die sich zwischen Nachbarn, Freunden, Lebenspartnern, Mitarbeitern usw. finden, sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie real  unterschiedlich subjektive Wahrheiten im Alltag sind. [Anmerkung: Allerdings ist diese Aufsplitterung in viele kleine Gruppen von ‚Gleichgesinnten‘ nicht notwendigerweise nur negativ; die Kultivierung von Vielfalt braucht eine natürliche Umgebung, in der Vielfalt möglich ist und geschätzt wird.]

4) Obwohl also der Mechanismus der subjektiven Wahrheitsbildung grob betrachtet einfach erscheint, hat man den Eindruck, dass wir Menschen uns dieses Sachverhaltes im Alltag nicht  wirklich bewusst sind. Wie schnell fühlt sich jemand beleidigt, verletzt, oder gar angegriffen, nur weil jemand sich anders verhält, als man es im Lichte seiner subjektiven Wahrheit erwartet. Wie schnell neigen wir dazu, uns von anderen abzugrenzen, sie abzustempeln als krank, verrückt, oder böse zu erklären, nur weil sie anders sind als wir selbst.

III. GEDANKE UND REALE WELT

1) Bis hierher konnte man den Eindruck gewinnen, als ob die subjektive Wahrheit ein rein gedankliches, theoretisches Etwas ist, das sich allerdings im Handeln bemerkbar machen kann. Doch schon durch die Erwähnung des Lebensprozesses, innerhalb dessen sich die subjektive Wahrheit bildet, konnte man ahnen, dass die konkreten Umstände ein wichtiges Moment an der subjektiven Wahrheit spielen. Dies bedeutet z.B., dass wir die Welt nicht nur in einer bestimmten Weise sehen, sondern wir verhalten uns ganz konkret in dieser Welt aufgrund unserer subjektiven Wahrheit (= Weltsicht), wir leben unseren Alltag mit ganz konkreten Objekten, Besitztümern und Gewohnheiten. Eine andere subjektive Wahrheit (bzw. Weltsicht) ist daher in der
Regel nicht nur ein bloßer abstrakter Gedanke, sondern kann zugleich reale, konkrete Veränderungen des eigenen Alltags implizieren. Da aber schrecken wir alle (verständlicherweise?) sofort zurück, blitzartig, vielleicht sogar unbewusst. Über die Wahrheit reden mag grundsätzlich chic sein, aber wenn die zur Sprache kommenden
Wahrheit anders ist als die eigene Wahrheit, dann zucken wir zurück. Dann wird es unheimlich, ungemütlich; dann können allerlei Ängste aufsteigen: was ist das für eine Welt, die anders wäre als die Welt, die wir kennen? Der verinnerlichten Welt korrespondiert immer auch eine reale Alltagswelt. [Anmerkung: In diesen Kontext passt vielleicht das paradoxe Beispiel, das Jesus von Nazareth in den Mund gelegt wird mit dem Bild, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen würde, als dass ein Reicher in den Himmel gelangen könnte. Eine Deutung wäre, dass jemand der als Reicher
(unterstellt: auf Kosten anderer) in einer Wirklichkeitsblase lebt, die angenehm ist, und er als Reicher wenig Motive hat, dies zu ändern. Allerdings, was man gerne
übersieht, ein solches Verhaftetsein mit der aktuellen Situation, die als angenehm gilt, gilt in vielen Abstufungen für jeden Menschen. In den Apartheitsgefängnissen von Südafrika (heute als Museum zu besichtigen) gab es z.B. unter den Gefangenen eine klare Hierarchie: die Bosse, die Helfer der Bosse, und der Rest. Kein Boss wäre auf die Idee gekommen, seine relativen Vorteile zu Gunsten von allen aufzugeben.]

2) In der Struktur der gesellschaftliche Wirklichkeit kann man den Mechanismus der parzellierten Wahrheiten wiederfinden. Eine Gesellschaft ist mit unzähligen Rollen durchsetzt, mit Ämtern, Amtsbezeichnungen, Institutionen usw.. Dazu kommen in vielen Ländern Abgrenzungen von unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Weiter gibt es Nationalstaaten, die ihre eigenen Wahrheiten pflegen. Die Tendenz, das Andere, die Anderen negativ zu belegen, um seinen eigenen Status dadurch indirekt zu sichern, findet sich zwischenstaatlich auch wieder. [Anmerkung: Gut zu erkennen in dem Erstarken von nationalistisch-populistischen Doktrinen in leider immer mehr Ländern der Erde.] Eine unkritische Ausübung gewachsener partieller Wahrheiten kann Unterschiede dann nur zementieren oder gar vergrößern, anstatt sie zu überbrücken und zu allgemeineren Wahrheitsbegriffen zu kommen.

IV. EINE KULTUR DER WAHRHEIT?

1) Wenn man sieht wie unglaublich stark die Tendenz unter uns Menschen ist, aktuelle, partielle Wahrheiten (die aus Sicht des einzelnen nicht partiell, sondern universell sind) mit einer bestimmten Alltagspraxis zu verknüpfen und diese fest zu schreiben, dann könnte man auf die Idee kommen, zu fragen, was wir als Menschen tun können, um dieser starken Tendenz ein natürliches Gegengewicht gegenüber zu stellen, das
dem Trieb zu partiellen Wahrheit entgegenwirken könnte.

2) Innerhalb der Rechtsgeschichte kann man beobachten, wie im Laufe von Jahrtausenden das Recht des Angeklagten häppchenweise soweit gestärkt wurde, dass es in modernen Staaten mit einem funktionieren Rechtssystem üblich geworden ist, jemanden erst dann tatsächlich zu verurteilen, nachdem in nachvollziehbaren, transparenten Verfahren die Schuld bzw. Unschuld objektiv festgestellt worden ist. Dennoch kann man sehen, dass gerade in der Gegenwart in vielen Staaten wieder eine umgekehrte Entwicklung um sich greift: der methodische Respekt vor der Gefahr partieller Wahrheiten wird einfachüber Bord geworfen und Menschen werden allein aufgrund ihrer Andersheit und eines blinden Verdachts vorverurteilt, gefoltert, und
aus ihren gesellschaftlichen Stellungen verjagt.

3) Innerhalb der Welt der Ideen gab es eine ähnliche Entwicklung wie im Rechtssystem: mit dem Aufkommen der empirischen experimentellen Wissenschaften in Kooperation mit Mathematischen Strukturen konnte das Reden über Sachverhalte, über mögliche Entstehungsprozesse und über mögliche Entwicklungen auf ganz neue Weise transparent gemacht werden, nachvollziehbar, überprüfbar, wiederholbar, unabhängig von dem Fühlen und Meinen eines einzelnen [Anmerkung: Allerdings nicht ganz!].  Diese Art von Wissenschaft kann großartige Erfolge aufweisen, ohne die das heutige
Leben gar nicht vorstellbar wäre. Doch auch hier können wir heute beobachten, wie selbst in den Ländern mit einem entwickelten Wissenschaftssystem die wissenschaftlichen Prinzipien zunehmen kurzfristigen politischen
und ökonomischen Interessen geopfert werden, die jeweils auf den partiellen Wahrheiten der Akteure beruhen.

4) Es drängt sich dann die Frage auf, ob der Zustand der vielen (partiellen) Wahrheiten generell vermeidbar wäre bzw. wie man ihn konstruktiv nutzen könnte, um auf der Basis der partiellen Wahrheiten zu einer umfassenderen weniger partiellen Wahrheit zu kommen.

5) Eine beliebte Lösungsstrategie ist ein autoritär-diktatorisches Gesellschaftssystem, das überhaupt nur noch eine partielle Wahrheit zulässt. Dies kennen wir aus der Geschichte und leider auch aus der Gegenwart: Gleichschaltung von Presse, Medien; Zensur; nur noch eine Meinung zählt.

6) Die Alternative ist die berühmte offene Gesellschaft, in der eine Vielfalt von partiellen Wahrheiten möglich ist, verbunden mit dem Vertrauen, dass die Vielfalt zu entsprechend vielen neuen erweiterten partiellen Wahrheiten führen kann (nicht muss!). Hier gibt es – im Idealfall – eine Fülle unterschiedlicher Medien und keine Zensur. Entsprechend wären auch alle Lern- und Erziehungsprozesse nicht an einem Drill, einer
autoritären Abrichtung der Kinder und Jugendlichen orientiert, sondern an offenen, kreativen Lernprozessen, mit viel Austausch, mit vielen Experimenten.

7) Allerdings kann man beobachten kann, dass viele Menschen nicht von vornherein solche offenen, kreativen Lernprozesse gut finden oder unterstützen, weil sie viel anstrengender sind als einfach einer autoritären Vorgabe zu folgen. Und es ist ein historisches Faktum, dass partielle Wahrheitsmodelle bei geeigneter Propaganda und gesellschaftlichen Druck eine große Anhängerschaft finden können.  Dies war und ist eine große Versuchung für alle narzisstischen und machtorientierte Menschen. Das scheinbar Einfachere und Bequemere wird damit sprichwörtlich zum ’highway to hell’.

8) Für eine offene Gesellschaft als natürlicher Entwicklungsumgebung für das Entstehen immer allgemeinerer Wahrheiten sowohl in den Beteiligten wie auch im Alltag scheinen von daher geeignete Bildungsprozesse sowie freie, unzensierte Medien (dazu gehört heute auch das Internet) eine grundlegende Voraussetzung zu
sein. Die Verfügbarkeit solcher Prozesse und Medien kann zwar keine bessere gedachte und gelebte Wahrheit garantieren, sie sind allerdings notwendige Voraussetzungen, für eine umfassendere Kultur der Wahrheit. [Anmerkung: Natürlich braucht es noch mehr Elemente, um einen einigermaßen freien Raum für möglicheübergreifende Wahrheiten zu ermöglichen.]

9) Vor diesem Hintergrund ist die weltweit zu beobachtende Erosion von freien Medien und einer offenen, kreativen Bildung ein deutliches Alarmsignal, das wir Menschen offensichtlich dabei sind, den Weg in ein wahrheitsfähige Zukunft immer mehr zu blockieren. Letztlich blockieren wir uns als Menschen damit nur selbst. Allerdings,
aus der kritischen Beobachtung alleine folgen keine wirkenden konkreten Verbesserungen. Ohne eine bessere Vision von Wahrheit ist auch kein alternatives Handeln möglich. Deswegen versuchen ja autoritäre Regierungen immer, zu zensieren und mit Propaganda und Fake-News die Öffentlichkeit zu verwirren.

V. KONTEXTE

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