Alle, die in den vergangenen Jahren immer wieder Artikel in diesem Blog gelesen haben, werden bemerkt haben, dass es immer wieder den Versuch gab, die Vielfalt der Ideen in einem Buch zu einer besser fassbaren ‚Einheit‘ zusammen zu fassen. Doch alle diese ‚Versuche‘ scheiterten daran, dass der Autor irgendwann das Gefühl hatte, dass das Konzept einfach noch nicht ’stimmig‘ ist: angesichts der Unzahl an Büchern in dieser Welt macht es keinen Sinn, einfach nur ein weiteres Buch zu schreiben, damit der Autor das Gefühl hat, „jetzt habe ich auch ein Buch geschrieben“.
Dazu kommt der Umstand, dass der Autor in zwei anderen Blogs auch eher grundsätzlichen Fragen nachging, wenngleich mit leicht veränderter Perspektive.
Prozess als Realität
Irgendwann gab es dann die ‚Kapitulation‘ des Autors und er beerdigte die Vision eines abschließenden einen Buches ganz offiziell, indem er das ‚Existieren in einem Prozess‘ mit offenem Ende zum ‚eigentlichen Zustand‘ erklärte [1]
Diese klare Entscheidung wirkte irgendwie ‚befreiend‘: wenn schon die Erkenntnissituation des einzelnen keine abschließende, für alles gültige Erkenntnis zulässt, dann eben mit dem ‚Aufenthalt in einem Prozess‘ so ehrlich und transparent wie möglich umgehen.
Die Realität des ’normalen Bürgers‘
Es dauerte von da ab nur wenige Monate, bis sich die Lage grundsätzlich änderte. Nicht so, dass das Prozesshafte des Daseins und des Erkennens sich änderte, aber aus dem Prozess heraus entstand in einem anderen Blog die Notwendigkeit, anderen ein neues theoretisches und praktisches Konzept so zu erklären, dass ‚die anderen‘ in die Lage versetzt werden, ihren ‚eigenen Prozess‘ im Lichte eines bestimmten theoretischen und praktischen Konzepts ’selbst in die Hand‘ nehmen können: die Ermöglichung eines Denkens und Handelns bei anderen; nicht unbestimmt sondern ganz konkret.
Was war geschehen?
Parallelität von Perspektiven
Die Überlegungen in diesem Philosophie-Blog kreisten im Wesentlichen immer um die Frage nach den Grundlagen des Verstehens, der Natur des Wissens, Sprache, Lernen, um einen angemessenen Begriff von Wissenschaft. Parallel hat der gleiche Autor unter uffmm.org versucht, diese Fragen aus der Perspektive seiner Lehrtätigkeit in Informatik zu reflektieren: hier die konkreten Tatbestände der Informatik, dort das philosophische Denken, das versucht, sich daran abzuarbeiten. Erste Erfolge bestanden darin, dass sich die verschiedenen Themen (Disziplinen innerhalb der Informatik) mit wissenschaftsphilosophischen Methoden ‚besser‘ aufarbeiten und darstellen ließen als ohne. Speziell das Fach ‚Mensch-Maschine Interaktion‘ bot die Gelegenheit, das ‚Ineinander‘ von Mensch und Maschine sehr detailliert und umfassend zu beleuchten und in eine komplette Theorie eines integrierten Prozesses zu überführen.[2] Im Jahr 2018 schien es so, als ob die Ingenieure die Theorie bieten, die die Philosophen seit langem suchen, aber bislang noch nicht gefunden haben.
Wiedereinsetzung der normalen Sprache
Als der Autor dann versuchte, diesen Theorieansatz auf Prozesse jenseits des Engineering anzuwenden, z.B. auf Prozesse kommunaler Planung in Kommunen, Kreisen usw., in Interaktion mit beliebigen Bürgern, zeigte sich eine bis dato wenig ernst genommene ‚Schwachstelle‘: die Sprache. Informatiker und Ingenieure sind gewohnt mit Mathematik zu arbeiten, mit Programmiersprachen, diese wirksam mittels Computern. Bis heute gehören diese technisch-bedingten Sprache nicht zum allgemeinen Weltverständnis eines Bürgers. Der bisherige Theorieansatz sah ’normale Sprache‘ nicht wirklich vor. Oder, genauer gesagt: der neue Theorieansatz im Bereich des Engineering arbeitete mit normaler Sprache in der Kommunikation, setzte aber dabei voraus, dass sich dies alles — bei Bedarf — dann doch ‚leicht‘ in formale Sprachen übersetzen lässt, damit eine Computerunterstützung möglich ist. Dazu braucht ein normaler Bürger dann aber wieder ‚Spezialisten‘; er selbst konnte es nicht richten …
Die Hinwendung zum ’normalen Bürger‘, die sehr ernst gemeint war, konnte dieses ‚Restproblem‘ aber nicht akzeptieren. Diese kompromisslose Anforderungen an das neue Paradigma — normale Sprache, keine Spezialsprache! — führte dann doch plötzlich zu einem radikalen Paradigmenwechsel. Dieser Paradigmenwechsel wurde möglich, da jetzt Dinge in den Vordergrund rückten, die seit der Wende vom 20. zum 21.Jahrhundert als ‚erledigt‘ galten. Die Abtrennung des ‚Formalen‘ von der Welt der ‚Bedeutung‘ war mit dem Aufkommen der modernen formalen Logik und der weiteren Formalisierung der Mathematik zum neuen leitenden Paradigma geworden und begründete damit die ‚weltlose Welt‘ des Formalen und der Computer. Neben den unschätzbaren Vorteilen einer Formalisierung und einer davon geleiteten Computerisierung verabschiedete sich diese formale Welt vom Menschen in einer bis dahin nie gekannten Radikalität. Die Philosophie schaute weitgehend tatenlos zu, wurde sprachlos, und die sogenannten Geisteswissenschaften mit ihr.
In vielen aufeinander folgenden Diskussionspapieren (siehe [3]) konnte gezeigt werden, dass man den Folgerungsbegriff der modernen formalen Logik direkt auf solche Texte übertragen kann, die nur mit ’normaler Sprache‘ arbeiten. Und nicht nur das, es konnte auch gezeigt werden, dass die Kernstruktur von modernen empirischen Theorie damit ebenfalls ohne Verlust auf Texte mit normaler Sprache übertragen werden kann.
So schön diese Gedanken klingen, und so mächtig die Konzepte sind, die sich dahinter verbergen, in ihrer Mischung aus ’neu‘ und ‚komplex‘ besteht kaum eine Chance, dass jemand außerhalb dieses Diskurses dies versteht. Verschiedene Experimente mit unterschiedlichen Gruppen von Bürgern und Studierenden bestätigten dies.
Ein Buch muss her …
An dieser Stelle erschien mit einem Mal die Notwendigkeit eines Buches unausweichlich: alle wichtigen Erklärungen an einem Ort, dazu direkt die passenden Anwendungsbeispiele; das Ganze als ‚philosophischer Essay‘ … der Entschluss zu solch einem Buch (vielleicht sogar dann mehrere Bücher) war kaum gefasst, da kam unerwartet die Anfrage eines internationalen Verlages wegen gemeinsamer Bücher. … Man wird sehen.
Hier geht es zum START 🙂
Der experimentelle Text zum Buch entsteht zunächst mal im oksimo.org Blog, und zwar HIER. Alles weitere basierend darauf.
Kommentar
[1] Am intensivsten vielleicht im englischsprachigen Blog formuliert: HIER.
[2] Ein Zeugnis dieser Überlegungen findet sich HIER.
[3] Einige der Diskussionspapiere, in denen sich der Übergang von Formal-Sprache zu Normal-Sprache für folgerungsbasiertes Denken abzeichnete finden sich HIER.
DER AUTOR
Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.
Die Diskussion im Kontext des letzten Textes von Freud zur Psychoanalyse lässt erkennen, wie sich das Bild von uns Menschen über uns selbst dadurch in gewisser Weise ändern kann und letztlich dann ändert, wenn wir uns auf diese Gedanken einlassen. Die Einbeziehung des ‚Unbewussten‘ in das Gesamtbild des Systems homo sapiens verschiebt so manche Beziehungen im Gefüge des menschlichen Selbstbildes, und nicht nur das, es wirkt sich auch aus auf das Gesamtbild der empirischen Wissenschaften, auf ihr Gesamtgefüge. Dies hatte sich ja auch schon angedeutet in der vorausgehenden Diskussion des Buches von Edelman, die noch nicht abgeschlossen ist.
Dies hat mich angeregt, über Freud und Edelman hinausgehenden einige der epistemischen Schockwellen zusammen zu stellen, denen das menschliche Selbstverständnis in den letzten ca. 3500 Jahren ausgesetzt war. Dabei muss man sich darüber im Klaren sein, dass es natürlich immer nur eine Minderheit war, die überhaupt an den übergreifenden Erkenntnissen teilhaben konnte, und selbst diese Minderheit zerfällt in unterschiedliche Subgruppen ohne ein kohärentes Gesamtbild.
EPISTEMISCHE SCHOCKWELLEN
Unter ‚Schockwellen‘ werden hier energetische Ereignisse verstanden, die nur gelegentlich auftreten, und die geeignet sind, bestehende Strukturen zumindest zum Schwingen, zum Erbeben zu bringen, wenn nicht gar zu ihrer Zerstörung führen. ‚Epistemisch‘ bezieht sich auf die Dimension des Erkennens, des Verstehens, zu dem Exemplare des Homo sapiens fähig sind. ‚Epistemische Schockwellen‘ sind also Ereignisse, durch die das Selbstverständnis, die Weltbilder der Menschen in Schwingungen versetzt wurden bzw. sich neu aufbauen mussten.
Die folgende Zusammenschau solcher epistemischer Schockwellen ist in keiner Weise vollständig, weitgehend nicht differenziert genug, rechtfertigt sich aber dadurch, dass es darum geht in einer überschaubaren Weise einen Grundeindruck von der Dynamik des Geistes zu vermitteln, die dem Geschehen des biologisch fundierten Lebens innewohnt.
CLUSTER RELIGION
Zwischen ca. -1500 bis etwa 650 gab mindestens 8 große das Weltverstehen prägende Ereignisse – daneben viele andere, weitere –, die wir im Nachgang als ‚Religionen‘ bezeichnen. Religionen zeichnen sich aus durch ‚Gründer‘, durch ‚Botschaften‘, durch ‚Erfahrungen‘ und dann meistens nachfolgend durch ‚Regeln‘ und Bildung von ‚Organisationsformen‘. Sie erheben einen Anspruch auf ‚Deutung der Welt‘ mit ‚Sinn‘, ‚Werten‘ und ‚Spielregeln‘. Sie versprechen auch den Kontakt zu eine Letzten, Größten, Umfassenden, Endgültigen, dem alles andere unter zu ordnen ist. Vielfach gehen diese Versprechungen auch einher mit speziellen ‚außergewöhnlichen Erlebnissen‘, die im einzelnen stattfinden.
In Vorderasien und Europa waren dies vor allem das Duo Judentum-Christentum und der Islam. Während diese sich explizit auf einen ‚Schöpfer‘ bezogen, kam der indische Subkontinent neben der vielfältigen Götterwelt des Hinduismus in seinem Grundtenor — realisiert im Buddhismus — ohne einen expliziten Schöpfer aus, allerdings nicht ohne eine tiefgreifende Existenzerfahrung des einzelnen Menschen, der sich durch einen geeigneten Lebensstil und Meditation möglichst weitgehend von einem normalen Alltag und seinen vielfältigen Spannungen isolierte.
So verschieden Jugentum-Christentum, Islam auf der einen Seite und Indischer Existentialismus auf der anderen Seite auf den ersten Blick wirken können, kann man aber dennoch auffällige strukturelle Parallelen erkennen.
Die sprachliche Seite der genannten Religionen tendiert dazu, nicht die Weite und Vielfalt der Welt zu kommunizieren, keine weiterreichende Erkenntnisse, sondern die Sprache hat einzig den Zweck, eine bestimmte, abgegrenzte Idee zu kommunizieren, diese abzugrenzen von allem anderen, bis dahin, dass alle Abweichungen diskreditiert werden. Jene Menschen, die sich sprachlich von der ‚Norm‘ entfernen sind Abweichler, Dissidenten, Ungläubige, Verräter, Feinde. Die Sprache wird also nicht gesehen als ein offener, lebendiger, dynamischer Raum von ‚Wahrheit‘, die sich weiter entwickeln kann, sondern als eine symbolische Fessel, eine symbolische Mauer, die einige wenige Ideen abgrenzen sollen. Auch der Buddhismus, der eigentlich sein Fundament in einer schwer beschreibbaren individuellen Existenzerfahrung sieht, praktiziert Sprache überwiegend als Gefängnis.
Betrachtet man sich die Geschichte dieser Religionen bis heute, dann ist diese Starrheit unübersehbar. Alle modernen Erkenntnisse und Entwicklungen prallen an der Sprache dieser Religionen ab.
Neben der sprachlichen Dimension haben alle diese Religionen auch eine ‚Erlebnisdimension‘, oft auch ‚Spiritualität‘ oder ‚Mystik‘ genannt. Einzelne, Gruppierungen, Bewegungen erzähltem davon, schrieben es auf, dass sie ‚besondere, tiefgreifende Erlebnisse‘ hatten, die ihnen ‚klar gemacht haben‘, was wirklich ‚wichtig‘ ist, ‚worin der Sinn des Lebens‘ liegt, Erlebnisse, die ihnen ‚Frieden‘ geschenkt haben, ‚Erfüllung‘, ‚Wahrheit‘. Und diese Erlebnisse waren immer so stark, dass sie diese Menschen aus allen Schichten dazu bewegt haben, ihr Lebens radikal zu ändern und von da an eben ‚erleuchtet‘ zu leben. Diese Menschen gab es nicht nur im Umfeld des Buddhismus, sondern auch zu Tausenden, Zehntausenden im Umfeld des Judentum-Christentums.
Solange diese religiösen Bewegungen sich im Umfeld der etablierten religiösen Überzeugungen und Praktiken bewegen wollten, mussten sie sich – wie immer auch ihre individuellen Erlebnisse waren – diesem Umfeld anpassen. In vielen Fällen führte dies auch zu Absetzbewegungen, zur Entwicklung neuer religiöser Bewegungen. Das Problem dieser erlebnisbasierten Bewegungen war, dass sie entweder nicht die Sprache benutzen durften, die sie zur Beschreibung ihrer Erlebnisse brauchten (da nicht erlaubt), oder aber, sie benutzten eine neue Sprache, und dies führte zum Konflikt mit den etablierten Sprachspielen.
Unter den vielen hunderten Bewegungen allein im Bereich Judentum-Christentum, die z.T. viele tausend, ja zehntausend Mitglieder hatten und dabei oft auch materiell sehr wohlhabend bis reich wurden, möchte ich zwei kurz erwähnen: die Reformation angefeuert von Martin Luther und den Jesuitenorden, angefeuert von Ignatius von Loyola. Im historischen Klischee werden beide Bewegungen oft als direkte Gegner skizziert, da der Jesuitenorden kurz nach Beginn der Reformationsbewegung gegründet wurde und der katholische Papst gerade diesen Orden auch zur ‚Bekämpfung der Reformation‘ einsetzte. Dieses Bild verdeckt aber die wirklich interessanten Sachverhalte.
Der Jesuitenorden entstand aus den spirituellen Erfahrungen eines baskischen Adligen, deren innere Logik, Beschreibung und Praxis, im Lichte der Erkenntnisse der modernen Psychologie (und Psychoanalyse) stand halten würde. Außerdem war der Orden aufgrund dieser Spiritualität extrem weltoffen, wissenschaftsaffin, und revolutionierte die damals beginnende christliche Missionierung der Welt, indem jeweils die Kultur der verschiedenen Erdteile studiert und übernommen und sogar gegen zerstörerische Praktiken der europäischen Kolonisatoren geschützt wurden. Genau dieses wahre Gesicht des Ordens mit einer radikal individuell-erlebnisbasierten Spiritualität und daraus resultierenden Weltoffenheit und Menschlichkeit führte dann zum Verbot und Aufhebung des Ordens weltweit, verbunden mit Einkerkerungen, Folter und Tod ohne Vorankündigung. Das korrupte Papsttum ließ sich damals von dem portugiesischen und spanischen Hof erpressen, die ihre menschenverachtende Geschäfte in den Kolonien, speziell Südamerika, bedroht sahen. Dies war nicht die einzige Aufhebung und Misshandlung, die der Orden seitens des Papstums erfuhr. Während Luther sich gegen das Papsttum erhob und es auf einen Konflikt ankommen ließ, blieben die Jesuiten dem Papst treu und wurden vernichtet.
Diese Minigeschichte ließe sich aber zu einem großen Thema erweitern, da eben die sprachlich fixierten Religionen generell ein Problem mit Wahrheit und damit mit jeglicher Art von Erfahrung haben. Die Akzeptanz individueller Erfahrung als möglicher Quell von ‚Wahrheit‘, möglicherweise einer weiter reichenden alternativen Wahrheit zu der sprachlich fixierten (und damit eingesperrten) Wahrheit der Religionen, eine solche Akzeptanz würde das Wahrheitsmonopol dieser Religionen aufheben. Bislang hat keine der genannten Religionen es geschafft, von sich aus ihr problematisches Wahrheitsmonopol in Frage zu stellen.
JUDENTUM – CHRISTENTUM – PHILOSOPHIE
In der Zeit vor den modernen empirischen Wissenschaften existierte wissenschaftliches Denken entweder gar nicht oder in enger Verbindung mit dem philosophischen Denken bzw. der Medizin.
In der alten und klassischen Griechischen Philosopie (ca. -800 bis -200) wurde das Weltverstehen in vielen Bereichen erstmalig sehr grundlegend reflektiert, unabhängig von bestimmten religiösen Überzeugungen, obgleich natürlich auch diese Denker nicht im luftleeren Raum lebten sondern in konkreten Kulturen mit einer damals üblichen Moral, Ethik, Spielregeln, Sprachspielen.
Unter den vielen bedeutenden Konzepten war das größte systematische Konzept wohl jenes von Aristoteles, Schüler Platons, und den an ihn anschließenden Schulen. Während dieses griechische Denken nach der Eroberung Griechenlands durch die Römer in Mittel- und Westeuropa bis zum Jahr 1000 mehr oder weniger unbekannt war (Kriege, radikal anti-wissenschaftliche Einstellung der katholischen Kirche) war der damalige Islam sehr offen für Wissen. Das griechische Denken war im Islam weitgehend bekannt, lag entsprechend in arabischen Übersetzungen vor, und durch eine Vielzahl von Schulen, Bildungsstätten und großen Bibliotheken (z.T. mehrere hundert Tausend Bücher!) wurde dieses Wissen gepflegt und weiter entwickelt (welcher Kontrast zum heutigen Islam!). Und nur über diese Umweg über den hochgebildeten Islam mit Übersetzungsschulen in Spanien kam das Wissen der Griechen ab ca. 1000 wieder in das christliche Mittel- und West-Europa.
Mit dem Entstehen eines aufgeschlosseneren Bildungssystem in Europa wanderten die griechischen Gedanken über Bücher und Gelehrte wieder in europäische Bildungsstätten ein. Es gab eine Zeit der intensiven Auseinandersetzung zwischen bisheriger christlicher Theologie und Aristoteles. Auf dem Höhepunkt der begrifflichen Integration von christlichem Glauben und Aristotelischer Weltsicht gab es aber ‚Abspaltungstendenzen‘ in mehreren Bereichen.
POLITIK – WISSENSCHAFT – SPIRITUALITÄT
Das zunehmend freie und kritische Denken begann mit der Infragestellung der bis dahin waltenden absolutistischen Machtstrukturen.
Das methodisch geschulte universitäre Denken begann, über die aristotelischen Konzepte hinaus zu denken. Anknüpfungspunkte gab es genügend.
Das individuelle Erleben der Menschen, ihre Frömmigkeit, ihre Spiritualität suchte nach neuen Wegen, benutzte eine neue Sprache, um sich besser ausdrücken zu können.
Das neue politische Denken führte später zur französischen Revolution und vielen ähnlichen politischen Erneuerungsbewegungen.
Das neue philosophische Denken führt alsbald zum Bildung der neuen empirischen Wissenschaften mit neuer Logik und Mathematik.
Die neue Spiritualität lies viele neue religiöse Bewegungen entstehen, die quer zu allen etablierten Glaubensformen lagen, u.a. auch zur Reformation.
PHILOSOPHIE – WISSENSCHAFT
Aus der Vielzahl der philosophischen Denker bieten sich vier besonders an: Descartes, Kant, Wittgenstein und Carnap.
Von heute aus betrachtet markieren diese Vier entscheidende Umbrüche des philosophischen Denkens, das von den Entwicklungen in der Logik, Mathematik,Physik, Geowissenschaften, Biologie und Psychologie zusätzlich profitiert hat und noch immer profitiert.
Descartes versuchte zu klären, inwieweit sich die Wahrheitsfrage nur durch Rekurs auf das eigene Denken lösen ließe. Sein Fixpunkt in der Gewissheit des eigenen Denkens (cogito ergo sum) wurde aber erkauft durch einen fortbestehenden Dualismus zwischen Körper (res extensa) und Denken/ Geist (res cogitans), den er mit einem irrationalen Gedanken zu einer Zirbeldrüse zu kitten versuchte.
Kant führte dieses Forschungsprogramm von Descartes letztlich weiter. Sein Vermittlungsversuch zwischen fehlbarer konkreter empirischer Erfahrung und den allgemeinen Prinzipien der Mathematik und des Denkens (des Geistes) ging über Descartes insoweit hinaus, dass er auf eine Zirbeldrüsen-ähnliche Lösung verzichtete und stattdessen davon ausging, dass der Mensch in seinem Denken von vornherein in abstrakten Kategorien wahrnimmt und denkt. Unsere menschliche Konstitution ist so, dass wir so wahrnehmen und Denken. Er konstatierte damit ein Faktum, das wir heute mit all unseren Erkenntnissen nur bestätigen können. Es blieb bei ihm offen, warum dies so ist. Es zeichnet seine intellektuelle Redlichkeit aus, dass er die offenen Enden seiner erkenntnistheoretischen (epistemischen) Analysen nicht krampfhaft mit irgendwelchen Pseudo-Lösungen versucht hat zu vertuschen.
Wittgenstein war der erste, der sich mit dem Funktionieren der Sprache und ihrer Wechselwirkung mit unserem Denken ernsthaft, ja radikal beschäftigte. Während er in seinem Frühwerk noch der Statik der damaligen modernen Logik huldigte, begann er dann später alle diese statischen formalen Konstruktionen in der Luft zu zerreißen, durchlief weh-tuende detaillierte Analysen der Alltagssprache, machte vor nichts Halt, und hinterließ mit seinem frechen und angstfreien Denken einen Trümmerhaufen, dessen Verdienst es ist, den Raum frei gemacht zu haben für einen echten Neuanfang.
Carnap wirkt in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick wie ein Antipode zu Wittgenstein, und in der Tat hat er ja das vor-wittgensteinsche Sprachverständnis in seinen Studien zu den formalen Sprachen, zur Logik, zur logischen Semantik weiter angewendet. Allerdings hat er dies dann auch im Kontext der empirischen Wissenschaften getan. Und in diesem Kontext hat sein formal-scholastisches Denken immerhin dazu beigetragen, die Grundstrukturen moderner empirische Theorien mit einem formalen Kern frei zu legen und ihre Eigenschaften zu untersuchen.
Alle diese genannten Ansätze (Kant, Wittgenstein, Carnap) wurden später mehrfach kritisiert, abgewandelt, weiter entwickelt, aber es waren diese Ansätze, die die nachfolgenden Richtungen entscheidend beeinflusst haben.
Ein interessanter Grenzfall ist Freud (s.u.). Irgendwie könnte man ihn auch zur Philosophie rechnen.
LOGIK – MATHEMATIK
Aus heutiger Sicht kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass es eine Zeit gegeben hat, in der die moderne Logik und Mathematik nicht verfügbar war. Nahezu alles, was unseren Alltag ausmacht setzt sehr viel Mathematik als beschreibende Sprache, als Berechnung, als Simulation voraus. Dass mathematisches Denken in den Schulen so wenig – und immer weniger – behandelt wird, ist sehr irritierend.
Logik und Mathematik sind einen weiten Weg gegangen.
Ein Meilenstein ist der Übergang von der klassischen aristotelischen Logik (eng an der Alltagssprache, Einbeziehung inhaltlichen Alltagsdenkens) zur modernen formalen Logik seit Frege (formale Sprache, formaler Folgerungsbegriff).
Eng verknüpft mit der Entwicklung der neuen formalen Logik ist auch die Entwicklung der modernen Mathematik, die entscheidend mit der Erfindung der Mengenlehre durch Cantor ihren Durchbruch fand, und dann mit Russel-Whitehead und Hilbert die Neuzeit erreichte. Keine der modernen Arbeiten in Gebieten wie z.B. Algebra, Topologie, Geometrie sind ohne diese Arbeiten denkbar, ganz zu schweigen von der modernen theoretischen Physik.
EMPIRISCHE WISSENSCHAFTEN
Erste Ausläufer empirischer Wissenschaft gab es schon vor Galilei (man denke z.B. nur an die bahnbrechenden Forschungen zur Medizin von dem islamischen Gelehrten (und Philosophen, Logiker, Theologen!) Avicenna). Doch an der Person Galileis kristallisiert sich der Konflikt zwischen neuem, offenen wissenschaftlichen Denken und dem alten, geschlossenen christlichen Denken. Zudem hat Galilei eben konsequent sowohl eine experimentelle Messmethode angewendet wie auch eine beginnende mathematische Beschreibung. Mit Newton gelang dann eine Fassung von Experiment und Theorie, die atemberaubend war: die Bewegung der Himmelskörper ließ sich nicht nur mit einfachen mathematischen Formeln beschreiben, sondern auch noch mit bis dahin unbekannter Präzision voraus sagen. Es sollte dann zwar noch fast 300 Jahre dauern, bis die moderne Physik eine erste Theorie zur Entstehung des ganzen Weltalls formulieren konnte samt ersten experimentellen Bestätigungen, aber die Befreiung des Denkens von dogmatischen Sprachbarrieren war geschafft. Die Wissenschaft insgesamt hatte sich freigeschwommen.
Schon im 17.Jahrhundert hatte Niels Stensen entdeckt, dass die unterschiedlichen Ablagerungsschichten der Erde in zeitlicher Abfolge zu interpretieren sind und man daher auf geologische Prozesse schließen kann, die die Erde durchlaufen haben muss.
Zwei Jahrhunderte später, schon im 19.Jahrhundert, wurde diese historische Sicht der Erde ergänzt durch Charles Darwin, der am Beispiel der Pflanzen- und Tierwelt auch Hinweise auf eine Entwicklung der Lebensformen fand. Sowohl die Erde als auch die biologischen Lebensformen haben eine Entwicklung durchlaufen, zudem in enger Wechselwirkung.
Fast parallel zu Darwin machte Freud darauf aufmerksam, dass unser ‚Bewusstsein‘ nicht die volle Geschichte ist. Der viel größere Anteil unseres menschlichen Systems ist ’nicht bewusst‘, also ‚unbewusst‘. Das Bewusstsein ‚erzählt‘ uns nur ‚Bruchstücke‘ jener Geschichten, die weitgehend im ‚Nicht-Bewusstein‘ oder ‚Unbewussten‘ ablaufen.
Die weitere Entwicklung der Biologie lieferte viele Argumente, die das Bild von Freud stützen.
Der Versuch von Watson, 1913, die Psychologie als empirische Verhaltenswissenschaft zu begründen, wurde und wird oft als Gegensatz zu Psychoanalyse gesehen. Das muss aber nicht der Fall sein. Mit der Verhaltensorientierung gelang der Psychologie seither viele beeindruckende theoretische Modelle und Erklärungsleistungen.
Von heute aus gesehen, müsste man ein Biologie – Psychologie – Psychoanalyse Cluster befürworten, das sich gegenseitig die Bälle zuspielt.
Durch die Einbeziehung der Mikro- und Molekularbiologie in die Evolutionsbiologie konnten die molekularen Mechanismen der Evolution entschlüsselt werden.Mittlerweile steht ein fast komplettes Modell der biologischen Entwicklung zur Verfügung. Dies erlaubt es sowohl, Kants (als auch Descartes) Überlegungen von den biologischen Voraussetzungen her aufzuklären (z.B. Edelman!), wie auch die Psychologie samt der Psychoanalyse.
COMPUTER
Als Gödel 1931 die Unentscheidbarkeit anspruchsvoller mathematischer Theorien (das fängt bei der Arithmetik an!) beweisen konnte, wirkte dies auf den ersten Blick negativ. Um seinen Beweis führen zu können, benötigte Gödel aber sogenannte ‚endliche Mittel‘. Die moderne Logik hatte dazu ein eigenes Forschungsprogramm entwickelt, was denn ‚endliche Beweismethoden‘ sein könnten. Als Turing 1936/7 den Beweis von Gödel mit dem mathematischen Konzept eines Büroangestellten wiederholte, entpuppte sich dieses mathematische Konzept später als ein Standardfall für ‚endliche Mittel‘. Turings ‚mathematisches Konzept eines Büroangestellten‘ begründete dann die spätere moderne Automatentheorie samt Theorie der formalen Sprachen, die das Rückgrat der modernen Informatik bildet. Das ‚mathematische Konzept eines Büroangestellten‘ von Turing wurde ihm zu Ehren später ‚Turingmaschine‘ genannt und bildet bis heute den Standardfall für das, was mathematisch ein möglicher Computer berechnen kann bzw. nicht kann.
Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass gerade das Konzept des Computers ein extrem hilfreiches Werkzeug für das menschliche Denken sein kann, um die Grenzen des menschlichen Wahrnehmens, Erinnerns und Denkens auszugleichen, auszuweiten.
Schon heute 2018 ist der Computer zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Gesellschaft geworden. Das Wort von der ‚Digitalen Gesellschaft‘ ist keine Fiktion mehr.
ZEITGEIST
Der extrem kurze Rückblick in die Geschichte zeigt, wie schwer sich die Ausbildung und Verbreitung von Ideen immer getan hat. Und wenn wir uns die gesellschaftliche Realität heute anschauen, dann müssen wir konstatieren, dass selbst in den hochtechnisierten Ländern die gesamte Ausbildung stark schwächelt. Dazu kommt das eigentümliche Phänomen, dass das Alltagsdenken trotz Wissenschaft wieder vermehrt irrationale, gar abergläubische Züge annimmt, selbst bei sogenannten ‚Akademikern‘. Die Herrschaft von Dogmatismen ist wieder auf dem Vormarsch. Die jungen Generationen in vielen Ländern werden über mobile Endgeräte mit Bildern der Welt ‚programmiert‘, die wenig bis gar nicht zu wirklichen Erkenntnissen führen. Wissen als solches, ist ‚wehrlos‘; wenn es nicht Menschen gibt, die mit viel Motivation, Interesse und Ausdauer und entsprechenden Umgebungen zum Wissen befähigt werden, dann entstehen immer mehr ‚Wissens-Zombies‘, die nichts verstehen und von daher leicht ‚lenkbar‘ sind…
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Gerald M.Edelman, Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind, New York: 1992, Basic Books
KONTEXT BLOG
Eine der zentralen Fragen, um die dieser Blog seit vielen Jahren kreist, ist die Frage nach dem Verhältnis von ‚Geist‘ und ‚Materie‘. Während die Tradition der Philosophie (und davon stark abhängig auch die christliche Theologie) seit den Griechen einen wesentlichen Unterschied zwischen ‚Geist‘ und ‚Materie‘ annimmt, legen die neuen Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften mehr und mehr den Schluss nahe, dass der ‚Geist‘, das ‚Geistige‘, das ‚Psychische‘, das ‚Bewusstsein‘ Eigenschaften sind, die nur im Kontext einer hochkomplex organisierten Materie (z.B. im Kontext des Körpers des homo sapiens mit Gehirn) auftreten, die sich im Laufe von vielen Milliarden Jahren auf der Erde in Gestalt des ‚biologischen Lebens‘ entwickelt konnte. Dies ist nicht zwingend als schlichte Gleichsetzung materieller Strukturen und geistiger Eigenschaften zu verstehen, sondern möglicherweise eher in Richtung einer ‚emergenten Logik‘ derart, dass sich diese Eigenschaften anlässlich des Auftretens bestimmter komplexer materieller Strukturen ‚zeigen‘. Dies entspricht analog der Situation in der Mathematik, in der man zwischen ‚Mengen‘ und ‚Relationen‘ unterscheidet: ohne Mengen lassen sich keine Relationen definieren und aufzeigen, aber Relationen sind keine Mengen. Mengen können auch ohne Relationen auftreten, genauso wie es materieller Strukturen gibt, die keine Phänomene von ‚Geist‘ zeigen.
Hat man diese Blickweise einer emergenten Logik erst einmal eingenommen, stellen sich natürlich sehr viele neue Fragen. Einige dieser Fragen lauten, wie denn überhaupt etwas ‚Materielles‘ beschaffen sein muss, dass es etwas ‚Geistiges‘ zeigen kann? Was genau ist dann das ‚Geistige‘ in Abgrenzung vom ‚Materiellen‘? Wieso kann es materielle Strukturen geben, die keine ‚geistige‘ Phänomene zeigen, und solche, die es tun?
Und, wie so oft in der Geschichte der Philosophie und der neueren Geschichte der empirischen Wissenschaften, kann es von Bedeutung sein, die ‚Bedingungen des Erkennens‘ im Kontext des ‚vermeintlich Erkannten‘ mit zu reflektieren. Ein ‚Lebewesen‘, das ‚läuft‘ kann ich z.B. ‚träumen‘, mir ‚vorstellen‘, ‚erinnern‘, mir ‚ausdenken‘ oder ‚aktuell sehen‘. Und wenn ich es aktuell sehe, dann kann es ein Gemälde sein, eine Photographie, ein Film, ein Video, ein Computerspiel, oder ein ‚realer Gegenstand der Körperwelt’… und mein individuelles Erkennen eingebettet in einen sozialen Kontext eröffnet eine weitere große Anzahl an Varianten des wechselseitigen ‚Verstehens‘ oder ‚Nicht-Verstehens‘. Und selbst, wenn wir spontan ein ‚Verstehen‘ unterstellen, kann sich – nicht selten – später heraus stellen, dass der andere etwas anderes verstanden hat als man selber ‚meinte‘, was er ‚verstanden haben sollte‘. Viele weitere Aspekte der Art des Erkennens können benannt werden.
Diese Fragen zu klären ist ein Anliegen dieses Blogs.
KONTEXT EDELMAN
Bleibt man dem Anliegen des Blogs treu, dann kommt man an einer Gestalt wie Gerald Maurice Edelman (1929 – 2014) kaum vorbei. Gestartet als ein mit dem Nobelpreis gekrönter Erforscher des menschlichen Immunsystems wendet er sich später der Erforschung des menschlichen Gehirns und seines Geistes zu. Die vielen Bücher, die er zu diesem Thema seit 1987 geschrieben hat, sind von einer eindrücklichen Klarheit und zeugen von einem profunden Wissen. Eines dieser Bücher mit dem vieldeutigen Untertitel ‚Über die Materie des Geistes‘ oder auch ‚Über die Sache des Geistes‘ (‚On the Matter of the Mind‘) soll hier exemplarisch diskutiert werden.
GEIST (MIND)
Bei der Diskussion der Texte von Edelman werde ich seinen Begriff ‚Mind‘ mit ‚Geist‘ übersetzen, obgleich das Wortfeld von ‚Geist‘ im Deutschen möglicherweise nur partiell mit dem Wortfeld von ‚Mind‘ im Englischen übereinstimmt. Aufgrund der komplexen Bedeutungs- und Wortfeldbeziehungen aller Begriffe einer Sprache ist jedes Übersetzungsprojekt immer nur eine Annäherung. Soweit würde ich hier jedoch gar nicht gehen. Ich benutze den Begriff ‚Geist‘ hier einfach so, als ob es der Begriff ‚Mind‘ im Englischen wäre und folge dem Englischen Text. Wer sich vergewissern will, was ‚tatsächlich‘ da steht, sollte daher selbst den Englischen Text lesen, was sich im übrigen auf jeden Fall empfiehlt, da ich ja nicht den Text von Edelman hier direkt wiedergebe sondern nur bestimmte Gedanken aus seinem Text aufgreife und sie hier diskutiere.
Generell ist sich Edelman bewusst, dass der Begriff ‚Mind‘ in der Geschichte der Philosophie, überhaupt in der Kultur, und dann auch im Alltag, so vielfältig überladen ist, dass es im Einzelfall schwer bis unmöglich ist, zu einer klaren und eindeutigen Bestimmung der gemeinten Bedeutung zu kommen. Dennoch meint er, dass es im Alltag eine Art ‚gemeinsamen Bedeutungskern‘ gib, den er wie folgt umreißt (vgl. S.5):
Dinge haben keinen Geist
Normale Menschen haben Geist; einige Tiere verhalten sich so, als ob sie über Geist verfügen.
Seiendes mit Geist kann sich auf anderes Seiendes oder auf Dinge beziehen; Dinge ohne Geist können sich nicht auf anderes Seiendes oder auf andere Dinge beziehen.
Dieses ’sich auf etwas anderes beziehen können‘ assoziiert Edelman mit dem Begriff der ‚Intentionalität‘, die der Deutsche Philosoph Franz Brentano eingeführt hat. ‚Bewusstsein‘ (‚awareness‘) wird hier so gesehen, dass es immer ein ‚bewusst sein von einem anderen als einem Objekt‘ ist. (vgl. S.5)
Ferner sieht Edelman dieses Bewusstsein als einen ‚Prozess‘, darin dem Psychologen William James folgend, für den ‚Geist ein Prozess ist, kein Zeug (’stuff‘)‘. Und da die moderne Wissenschaft ‚Materie‘ (‚matter‘) auch als einen ‚Prozess‘ sieht, der auf Energieaustausch basiert, ist diese Sicht des Geistes als Prozess nicht inkompatibel mit der generellen Sicht von Materie als Prozess.(vgl. S.6) Allerdings schränkt Edelman diese generelle Sicht insofern ein, als er ‚Geist‘ als einen ’spezielle Art von Prozess‘ ansieht, der nur mit einem ’speziellen Arrangement von Materie‘ korreliert! (vgl. S.7)
Dieses spezielle Arrangement von Materie sieht er gegeben in den Strukturen des Gehirns, das in einen Körper eingebettet ist, der sich – was seit Darwin Thema ist – im Rahmen einer evolutionären Entwicklung ‚herausgebildet‘ (‚arose‘) hat. (vgl. S.7) Vor diesem Hintergrund ist es keineswegs ausreichend, Wissenschaft auf Objekte ‚ohne Geist‘ (‚inanimate‘) zu beschränken.
Nein, Lebewesen (‚animals‘) mit Gehirnen, mit Intentionalität, müssen untersucht werden, allein auch schon deshalb, weil ‚wissenschaftliche Beobachter‘ selbst solche Lebewesen mit Gehirn, mit Intentionalität sind, die in ihr eigenes Bewusstsein ‚eingeschlossen sind‘ (‚locked into‘) und die deswegen darauf angewiesen sind, ihre eigenen Erfahrungen mit anderen Beobachtern so zu ‚kommunizieren‘, dass sie ‚objektiv‘ sind.(vgl. S.8)
Diese Forderung nach einer Rückbesinnung darauf, den ‚Geist‘ als Eigenschaft der ‚Natur‘ zu sehen, richtet sich nicht nur an die Philosophen, sondern auch an die empirischen Wissenschaftler!
DEN GEIST IN DIE NATUR ZURÜCKVERLAGERN
(PUTTING THE MIND BACK INTO NATURE)
Edelman listet eine Reihe illustrer Naturwissenschaftler auf, die alle entscheidende Beiträge zur modernen Physik geleistet haben (Galilei, Newton, Einstein, Planck, Heisenberg), die alle das Ideal der ‚invarianten Naturgesetze‘ befördert haben, (vgl. S.9-11) ‚invariant‘ in dem Sinne, dass die ‚Subjektivität des Beobachters‘ aus den Beobachtungen und Gesetzmäßigkeiten ausgeklammert werden muss.
Diese methodisch geforderte Ausgrenzung des Subjekts – und damit des Geistes – aus dem Gegenstandsbereich der Physik ähnelt äußerlich dem philosophischen Dualismus, für den der Philosoph (und Mathematiker) Descartes gerne zitiert wird. Mit seiner begrifflichen Unterscheidung von ‚res extensa‘ (frei übersetzt ‚Materie‘) und ‚res cogitans‘ (frei übersetzt ‚Geist‘) konservierte er das klassische dualistische Denken auf eine Weise, die eine Aporie aufbaute, aus der es lange kein Entkommen zu geben schien.(vgl. S.11)
Edelman klassifiziert auch die moderne, verhaltensbasierte Psychologie (‚behaviorism‘) als ‚dualistisch‘ (vgl. S.11f), obgleich deren Motivation die gleiche war wie jene der Physiker: es ging um eine methodische Ausklammerung jener subjektiven Momente des Erkennens, die eine objektive Kommunikation erschweren bis unmöglich machen.
Sehr ausführlich schildert er auch die Position der ‚Kognitionswissenchaft‘ (‚cognitive science‘, ‚cognitivism‘), die sich als Reaktion auf die radikal verhaltensorientierte Psychologie entwickelt hatte. Den Mangel an kognitiven Strukturen der frühen verhaltensbasierten Psychologie versuchte die multidisziplinär aufgestellte Kognitionswissenschaft durch umfangreichen Einsatz von mathematischen Modellen und Computersimulationen auszugleichen. (vgl. S.12-14) Allerdings kritisiert Edelman diese Position auch sehr entschieden, da sie sich – nach seiner Einschätzung – weitgehend von empirischen Grundlagen des menschlichen Geistes verabschiedet hatte. Die wahre Struktur und die wahre Entwicklung biologischer Systeme blieb dadurch auf der Strecke.
Edelman fordert demgegenüber, dass die Eigenschaften des Geistes nicht als biologiefreie Funktionen zu postulieren sind, sondern im Aufweis der biologischen Strukturen muss der Geist in die Natur ‚zurück verlagert‘ werden. (vgl. S.14f)
DISKUSSION
Die generelle Idee von Edelman, den Dualismus von ‚Geist‘ und ‚Materie‘ dadurch aufzulösen, dass man der Frage nachgeht, wie der Geist überhaupt in die als ‚materiell klassifizierte Welt‘ hineinkommt, ist auch die Idee dieses Blogs.
Edelman selbst liefert mehrere Hinweise, wo er ansetzen will: (i) Descartes hatte versäumt, die Grundlage seines ‚cogito ergo sum‘ zu hinterfragen, nämlich seinen Körper. Den spanischen Universal-Intellektuellen Miguel de Unamuno y Jugo (1864 – 1936 ) zitierend formulierte er das Motto von Descartes um: ’sum ergo cogito‘ (‚Ich bin, daher denke ich‘). In diesem Motto, das in diesem Blog inhaltlich schon ähnlich formuliert worden ist, ist die ‚res cogitans‘ eine Eigenschaft der ‚res extensa‘, was wiederum die Frage nach der genauen ‚Beschaffenheit‘ der res extensa aufwirft. (ii) Die moderne Physik hat den Beobachter aus ihrer Theoriebildung ausgeklammert, dabei aber fundamentale Eigenschaften der empirischen Wirklichkeit mit ausgeklammert. Die ‚geist-freie‘ Materie erscheint in dieser Hinsicht als ein ‚methodischer Artefakt‘ der Theoriemacher. (iii) Die moderne verhaltensbasierte Psychologie (oft als ‚Behaviorismus‘ bezeichnet) verhält sich synchron zur modernen Physik: sie klammert den Beobachter aus aus Angst, die ‚objektive Empirie‘ mit ’subjektiven Wahrnehmungsinhalten zu verunreinigen‘. (iv) Der wissenschaftliche Modetrend der Kognitionswissenschaft unterscheidet sich letztlich vom Behaviorismus methodisch gar nicht; die Kognitionswissenschaft hat nur freizügiger von Theorie-Erweiterungen Gebrauch gemacht, die mehr Mathematik und mehr Algorithmen einbezogen haben, ohne allerdings die empirische Basis entsprechend zu erweitern.
Edelman sieht nun eine Verbesserung des Verstehens gegeben in dem Versuch, die Biologie stärker einzubeziehen: einmal mit Blick auf den Entwicklungsaspekt (Evolution), wie auch mit Blick auf die funktionalen Aspekte des Körpers und hier speziell des Gehirns (Physiologie).
Obwohl Edelman die fundamentale Rolle des Beobachters und seiner Körperlichkeit sieht und unterstreicht, lässt er aber gerade den Beobachter als Ausgangspunkt und Basis jeder Theoriebildung offen. Obwohl Edelman auf das Problem der primären Subjektivität hinweist, das sich nur mühsam durch Kommunikationsprozesse mit anderen Subjektivitäten ‚vermitteln‘ lässt, lässt er es offen, was dies für die verschiedenen empirischen Disziplinen methodisch bedeutet.
Wissenschaftsphilosophisch handelt es sich bei ‚introspektiven (=subjektiven)‘ Daten (Phänomenologie), ‚Verhaltensdaten‘ (Psychologie, Biologie) und ‚physiologischen‘ Daten (Physiologie, Biologie), das Ganze noch ausgedehnt in ‚Zeitreihen‘ (Evolution, Wachsen, Lernen, Biologie), um ganz unterschiedliche Daten, die eigene Theoriebildungen erfordern, die miteinander ‚korreliert‘ werden müssten. Bedenkt man weiter, dass die Verhaltensdaten und physiologischen Daten samt aller Zeitreihen primär auch subjektive Daten sind (das Gehirn sitzt ‚im Körper‘, berechnet von dort aus alles) und nur im abgeleiteten Sinne ‚objektiv‘ genannt werden können, werden hier viele Fragen aufgeworfen, von denen nicht bekannt ist, dass sie bislang irgendjemand ernsthaft verfolgt hat. Edelman liefert alle Zutaten, um die Fragen zu stellen, aber auch er lässt diesen Komplex zunächst mal im Unbestimmten.
Angeregt durch die Lektüre des Buches von Thomas Görnitz, Quanten Sind Anders: Die verborgene Einheit der Welt, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg: 2006, habe ich zunächst mal einen kurzen Kommentar direkt bei amazon geschrieben (alternative Adresse).
Hier der Text des Kommentars:
SCHREIBEN ODER NICHT SCHREIBEN?
Ich habe offen gestanden länger überlegt, ob ich einen kurzen Kommentar zu diesem Buch schreiben sollte oder nicht. Einerseits ist das Thema ‚Quantentheorie‘ weiterhin wichtig und ich habe nicht den Endruck, dass die einschlägigen Konzepte mittlerweile zum ‚Alltagswissen‘ unserer Gesellschaft gehören; andererseits unternimmt Görnitz den – letztlich mutigen und verdienstvollen – Versuch, dieses schwierige Thema mit anderen Wissensbereichen wie unserer Alltagserfahrung, mit der Philosophie, der Psychologie der Biologie, und der Mathematik und Logik zu verknüpfen. Und es sind gerade diese eigentlich so notwendigen ‚Grenzgänge‘ zu anderen Disziplinen, die mir als Leser Schwierigkeiten bereitet haben und noch immer bereiten.
Zu dieser grundlegenden Thematik kommt der durchgängige Darstellungsstil: Görnitz arbeitet viel mit Vereinfachungen, Andeutungen, Verweise auf spätere Behandlungen im Buch. Dies ist bisweilen begrüßenswert, aber wenn es bei den Vereinfachungen bleibt, wenn dann die späteren Behandlungen doch keine Antwort liefern, dann kann dies ein bisschen frustrierend wirken. Ich war mehrfach versucht, mein Lesen einzustellen, habe dann aber irgendwie durchgehalten.
Dieses ‚Durchhalten‘ hat mir immerhin die Einsicht beschert, dass Thomas Görnitz bei allen Vereinfachungen und Grenzgängen zumindest in seinem Hauptgebiet der Quantenmechanik samt er zugehörigen Mathematik unzweifelhaft ein großer Kenner ist der sich grundlegende und weitreichende Gedanken gemacht hat. Aufgrund seiner Fachkenntnisse hätte er zu dem Thema ‚Quantenmechanik und Mathematik‘ eine Menge sagen können, wird doch gerade hier die Abhängigkeit des Denkens von der benutzen Sprache (hier: der mathematischen Sprache) in einer Weise deutlich wie sie kaum noch zu überbieten ist. Eng damit verknüpft ist das ganze Problem der ‚empirischen Überprüfbarkeit‘ von quantenmechanischen Aussagen.
PHILOSOPHISCHER AUSFALL
Leider kommt es in letzter Konsequenz dann nicht zu solchen spannenden Reflexionen. Es zeigt sich hier, dass Thomas Görnitz von der modernen Wissenschaftsphilosophie offenbar nur wenig kennt (er erwähnt moderne Wissenschaftstheorie einmal auf S.55, tendenziell abschätzig). Seine philosophischen Kenntnisse erklären das Programm Kants noch immer zu einem interessanten Kandidaten, ohne die ganze moderne Diskussion zu erwähnen, in denen die kantischen transzendentalen Bedingungen durch die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie auf mögliche konkrete, sehr dynamische Voraussetzungen hin verflüssigt wurden. Obgleich er das bahnbrechende Buch von Edelmann von 1983 ‚Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind‘ positiv erwähnt, hält er an der künstlichen Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften fest. Sein Art von Logik zu reden, entspricht dem Konzept der klassischen aristotelischen Logik ohne scheinbar zu bemerken, dass die moderne Logik parallel zur modernen Mathematik ebenfalls eine explosionsartige Entwicklung genommen hat. Neben einer ‚klassischen‘ zweiwertigen Variante gibt es in der modernen Logik beliebig viele mehr-wertige Logiken, dazu eine kaum abgrenzbare Menge von unterschiedlichen Folgerungsbegriffen und unterschiedlichen Sprachtypen. Unter anderem bedingt durch die eben erwähnten Einschränkungen seiner Sehweise kommt Görnitz u.a. zu einer Sicht des ‚Beobachters‘ im Theorieprozess, die man nur als ‚vereinfachend‘ bezeichnen kann. Dies aber korrumpiert dann letztlich seine eigenen Grundlagen.
SEHR VIELE ANREGUNGEN – PROBLEMATISCHE GRUNDANNAHMEN
Die ausführlichen historischen Beschreibungen zur Geschichte der Naturwissenschaften und dann der späteren Quantenmechanik als Teil der Naturwissenschaften kann man sehr wohl als informativ und anregend empfinden, aber die Einbettung dieser Informationen in bestimmte philosophische und psychologische Grundannahmen, die als solche kaum reflektiert werden, wirft viele Fragen auf.
Neben der schon angesprochenen Begrenztheit der philosophischen Perspektive werden ebenfalls beständig psychologische Sachverhalte benutzt, ohne dass es irgendwo zu einer nennenswerten Auseinandersetzung mit den Methoden der modernen Psychologie kommt geschweige denn mit den grundlegenden Wechselwirkungen zwischen empirischer Psychologie, Biologie (inklusive Neurowissenschaften) und Phänomenologie. Die Überlegungen zur Wechselwirkung zwischen quantentheoretischen Erkenntnissen und dem ‚menschlichen Geist‘ verbleiben dadurch in einem begrifflich ungeklärten Rahmen und wirken auf diese Weise eher ‚aufgesetzt‘.
SEHR SCHADE
Die Grundannahmen der Quantentheorie und die zugehörigen mathematischen Konzepte blitzen auf, lassen erahnen, was Görnitz zu sagen hat, aber die Art und Weise der Einbettung in andere Disziplinen, in grenzüberschreitende Überlegungen, wirkt schwach, ist nicht überzeugend. Dies ist sehr schade.
AUTOR UND PUBLIKUM
Wenn man ein Buch aus der Sicht des Lesers wahrnimmt, besteht natürlich immer die Gefahr, dass man im Buch etwas anderes sieht, als der Autor selbst intendiert hatte. Würde ich die vielen Seiten mit Notizen benutzen, die ich mir während der Lektüre gemacht habe, dann würde dieser Kommentar zu einer Ansammlung vieler Details verkommen. Der Versuch, sich auf ein paar allgemeine Aspekte zu beschränken, kann hingegen schnell ungerecht werden. Daher hier noch ein ganz anderer Gedanke.
Wenn man in Rechnung stellt, wie wenig heute in der normalen schulischen Ausbildung und im Allgemeinwissen Naturwissenschaft, insbesondere auch Mathematik, repräsentiert sind, dass es geradezu als ‚chic‘ gilt, davon möglichst nichts zu verstehen, dann stellt sich für einen Experten aus diesen Gebieten die Frage, wie soll er seine Geschichte erzählen? Einfach mit Mathematik so loszulegen, wie man es tun müsste, um die Sachverhalten angemessen zu beschreiben, geht nicht. Jeder Versuch, es dann mit ‚Alltagsverständnis‘ zu versuchen, mit möglichst ‚mathematikfreien‘ Formulierungen, mit Alltagsbeispielen, wird der eigentlichen Sache dann mehr oder weniger NICHT gerecht. Will man trotzdem nicht schweigen, beginnt ein begrifflicher Weg, der im Prinzip nur scheitern kann. Andererseits, wagt man es nicht, verharrt man im Schweigen, wird das Alltagswissen auch nicht besser. So gesehen empfinde ich die Unternehmung von Thomas Görnitz sehr mutig und sehe darin einen wichtigen Versuch, das alltagssprachlich eigentlich ‚Nicht-Sagbare‘ doch ‚irgendwie‘ zu sagen. Diejenigen, die die Grenzen des Gesagten aufgrund ihrer Kompetenzen erkennen können, können aus diesen Grenzen letztlich immer viel lernen. Von daher habe ich mich für 4 Sterne entschieden und nicht für 2-3. Mich hat das Buch trotz aller Fragen, die es in mir hervorgerufen hat – oder gerade wegen dieser? –, sehr angeregt.
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In Fortsetzung der vorausgehenden Teile 1 und 2 wird hier das Kap.4 besprochen. In ihm beschreibt Stace die Entstehung des modernen wissenschaftlichen Weltbildes am Beispiel der Astronomie. Bei genauerem Hinsehen kann man schon hier die ’Bruchstelle’ erkennen, wo heute (mehr als 60 Jahre nach Staces Buch) eine ’Wiedervereinigung’ von Wissenschaft und ’Moral’ (oder gar ’Religion’) nicht nur möglich, sondern geradezu ’notwendig’ erscheint.
I. KAPITEL 4
Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft
Die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft ist eine langwierige und – wenn man sie voll aufschreiben wollte – eine komplexe Geschichte, die sich, je mehr man sich der Gegenwart nähert, in immer mehr Verfeinerungen aufspaltet und heute den Charakter einer ’großen Unübersichtlichkeit’ hat. Stace konzentriert sich auf ein Thema, lange Zeit das Hauptthema schlechthin, die ’Astronomie’, die Himmelskunde, und entwirft anhand der führenden Wissenschaftler dieser Zeit (15.Jh bis 20.Jh, kleine Rückblicke bis in die klassische Griechische Periode) holzschnittartig ein Bild der Entstehung des Neuen.
Ein Hauptcharakteristikum des neuen wissenschaftlichen Weltbildes ist der Übergang vom dominierenden ’geozentrischen Weltbild’ (die Erde als Mittelpunkt von allem) zum ’heliozentrischen Weltbild’ (die Erde dreht sich um die Sonne; die Sonne ist nicht mehr der einzige Bezugspunkt).
Vorgeschichten sind üblich
Für den Charakter von Weltbildern, die eine Kultur, eine ganze Epoche beherrschen, ist es bezeichnend, dass viele der wichtigen Grundüberzeugungen nicht einfach so ’vom Himmel gefallen sind’, sondern einen meist viele hundert Jahre andauernden ’Vorlauf’ haben, bisweilen tausende von Jahren. So auch im Fall der Diskussion ob ’geozentrisch’ oder ’heliozentrisch’. Schon lange vor dem Beginn der modernen Diskussion um ’geozentrisch’ oder ’heliozentrisch’, nämlich ca. 1800 Jahre (!) vor Kopernikus, gab es zwei griechische Mathematiker und Astronomen (Aristarch von Samos (um -310 bis um -230) und Seleukos von Seleukia (um -190 bis vor -135) ) die aufgrund ihrer Beobachtungen und Berechnungen ein klares heliozentrisches Weltbild vertraten. Für den damaligen ’Main Stream’ war das aber so ’unglaubwürdig’, dass Aristarch in die Rolle eines ’Ketzers’ gerückt worden sein soll, den man wegen ’Gottlosigkeit’ anklagen müsse.
Die Wiederkehr dieses Musters im Fall von Galileo Galilei und noch lange nach ihm (in manchen Teilen von religiösen Strömungen bis in die Gegenwart) mag als Indiz dafür gesehen werden, dass ’herrschende Weltanschauungen’ in ihrem eigenen Selbstverständnis, in ihrer Selbstbegründung, die Tendenz haben, sich ohne wirkliche Begründung ’absolut zu setzen’. Auf den ersten Blick erscheint solch ein Verhalten als ’Schutz der bestehenden Ordnung’, aber bei längerer Betrachtung ist dies ein gefährliches Spiel mit der Wahrheit, das eine ganze Kultur in die Irre und dann in den Abgrund führen kann. ’Sicherheit’ ist kein Ersatz für ’Freiheit’ und ’Wahrheit’.
Die Theoretiker
Bezeichnend für die Entwicklung von etwas Neuem ist auch, dass es letztlich nicht die ’Praktiker’ waren, nicht die ’Datensammler’, durch die das ’Neue’ sichtbar wurde, sondern eher die ’Theoretiker’, also jene Menschen, die über all die vielen ’Phänomene’ ’nachgedacht’ haben, nach irgendwelchen ’Regelhaftigkeiten’, ’Muster’ Ausschau gehalten haben, und die dies letztlich auch nur geschafft haben, weil sie in der Lage waren, die wichtigste Sprache der Menschheit zu benutzen, die es gibt, die Sprache der Mathematik. Kopernikus, Kepler, Galileo, Descartes, Huygens, Newton, Laplace – dies waren Menschen mit einer starken, primären Bildung in Mathematik. Ohne die mathematischen Kenntnisse hätten sie niemals die neue Sicht der Welt entwickeln können.
Andererseits, das gilt auch, ohne die Daten eines Tycho Brahe oder ohne bessere Messgeräte (z.B.Fernrohr), die Handwerker (und heute Ingenieure) bauen und gebaut haben, gäbe es auch nicht die Daten, die Fakten, anhand deren die Theoretiker jene Muster herauslesen konnten, die sie dann in der Sprache der Mathematik soweit ’idealisieren’, ’veredeln’ konnten, dass daraus die neuen unfassbaren Sichten entstanden, mit denen wir auch heute noch die Wirklichkeit um uns herum, das ’Rauschender Phänomene’ gedanklich sortieren, filtern, so neu anordnen können, dass wir darin und dadurch weitreichende Strukturen und Dynamiken erkennen können, die Jahrtausende unsichtbar waren, obwohl sie schon Milliarden Jahre da waren und wirkten.
Politisch Inkorrekt …
Während Kopernikus Zeit seines Lebens nur Ausschnitte aus seinem Hauptwerk ’De revolutionibus orbium coelestium’ veröffentlichte, da er damit rechnen konnte, von der Kirche als Ketzer angeklagt zu werden (der volle Text also erst 1543 erschien), legte sich Galileo Galilei (1564 – 1642) schon zu Lebzeiten mit den Vertretern der Kirche an und bewegte sich immer nah vor einer vollen Verurteilung als Ketzer mit dem dazugehörigen Tod durch Verbrennen.
Theoriebildung – Ein Muster
An der Theoriebildung von Galileo wird eine Eigenschaft sichtbar, die sich auch bei allen späteren wissenschaftlichen Theorien finden wird. Es ist das Moment der ’kreativen Irrationalität’, wie ich es mal nennen möchte. Dieses Moment findet sich in jeder wissenschaftlichen Theorie, und zwar notwendigerweise (Was heute gerne übersehen oder verschwiegen wird.). Seine Experimente zur Bewegung mit Körpern führten ihn zur Formulierung seines ersten Bewegungsgesetzes (das sich später auch in Newtons Hauptwerk ”Philosophiae Naturalis Principia Mathematica” als Teil seiner Mechanik findet) . Es besagt letztlich, dass kräftefreie Körper entweder in Ruhe bleiben oder sich geradlinig mit konstanter Bewegung bewegen (vgl. Stace (1952) [1]:64ff). Als ’Gesetz’ kann man diese Aussage nicht beweisen, man kann nur aufgrund von ’endlichen Daten’ eine ’Vermutung’ äußern, eine ’Hypothese’ formulieren, dass die bekannten Beispiele einen ’Wirkzusammenhang’ nahelegen, der sich eben auf die zuvor formulierte Weise beschreiben lässt. Solange dieser ’hypothetische Wirkzusammenhang’ sich im Experiment ’bestätigt’, so lange ist dieses Gesetz ’gültig’. Es kann im Laufe der Zeit aber auch durch neue, bisweilen ’feinere’ Beobachtungen, in ’Frage gestellt’ werden und dann –was oft geschehen ist – durch neue Formulierungen abgelöst werden.
Wichtig ist die grundlegende Figur, die sich hier zeigt: (i) Es gibt aktuell Phänomene (meistens aus der Vergangenheit), die man ’erklären möchte. Noch fehlen passende ’Regeln’. (ii) Aufgrund eines kreativen, irrationalen Denkprozesses entstehen ’Bilder von möglichen Mustern/ Regeln’, die mit den bekannten Phänomenen so ’passen’, dass man mit diesen Regeln das Auftreten der Phänomene so ’erklären’ kann, dass man ’zukünftige Phänomene’ voraussagen kann. (iii) Man erhebt diese kreativ gewonnenen Regeln in den Status von offiziellen ’Arbeitshypothesen’. (iv) Man macht Experimente mit diesen Arbeitshypothesen und ’überprüft’, ob die Arbeitshypothesen auch bei neuen, zukünftigen Phänomenen ’gültig’ bleiben. (v) Solange sich keine’ widersprüchlichen Befunde’ ergeben, gelten die Arbeitshypothesen als akzeptierte Regel.
Kreativität ist Fundamental – Logik Sekundär
Anders formuliert, mittels eines ’kreativen irrationalen’ Denkprozesses gewinnt man aus gegebenen Phänomenen ’induktiv’/ ’bottom-up’ mögliche ’erklärende Hypothesen’. Sofern man diese hat, kann man ’deduktiv’/ ’top-down’ gezielt Experimente durchführen, um die ’Gültigkeit’ dieser Arbeitshypothese zu überprüfen. Arbeitshypothesen kann man aber ’nicht logisch beweisen’, da dies voraussetzen würde, dass man über eine noch ’allgemeinere’ Hypothese verfügt, aus der man eine ’speziellere’ Hypothese ableiten kann (So hat sich gezeigt, dass man z.B. die drei Planetengesetze von Kepler durch das spätere Gravitationsgesetz von Newton
als ’Spezialfall’ ’ableiten’ kann). Das menschliche Gehirn verfügt aber als solches nicht ’von vornherein’ (nicht ’a priori’) über irgendwelche allgemeinen Gesetze. Das Gehirn scheint aber sehr wohl in der Lage zu sein, anscheinend beliebig viele (genauer Umfang ist unbekannt) ’Regelmäßigkeiten’, sofern sie sich anhand von Phänomenen zeigen, zu erkennen und weiter zu ’verallgemeinern’. Die Geschichte zeigt, dass das ’Zusammenwirken’ von vielen Gehirnen einerseits den einzelnen bei weitem übertreffen kann, ohne allerdings — andererseits — die kreativ-irrationale Kraft des einzelnen dadurch zu ersetzen. Es bleibt immer ein spannungsvolles Wechselspiel von individueller Kreativität und kulturellem Main-Stream. Individuelle Abweichungen werden eher nicht toleriert, werden eher an die Seite gedrückt. Der ’aktuelle’ Erfolg wirkt stärker als der ’vermeintliche’. Insofern sind Kulturen große ’Echokammern’, die beständig in Gefahr sind, sich selbst zu lähmen.
Entzauberung – Entmystifizierung
Kopernikus, Galileos Fernrohr und Bewegungsgesetze, Keplers Planetengesetze, Newtons Mechanik samt dem Gravitationsgesetz, dies alles verhalf dem Denken durch neue Erklärungsmuster und unter Einsatz der mathematischen Sprache, zu einer Sicht der Dinge, die ein direktes Eingreifen ’anderer Mächte’ oder ’Gottes’ überflüssig erscheinen liesen. Im Fall von Newton ist aber zu beobachten, dass er trotz so großartiger Erklärungserfolge ’in seinem Innern’ noch eine Vorstellung von ’Gott’ hatte, die ihn dazu verleitete, einige Unregelmäßigkeiten bei den Planetenbahnen, die er nicht mit seinen Formeln erklären konnte, dann doch einem ’direkten Wirken Gottes’ zuzuschreiben. (vgl. Stace (1952) [1]:69ff) Es war dann Laplace, der die Unregelmäßigkeiten mathematisch einordnen konnte und der mit einer eigenen Theorie zur Entstehung der Sterne (bekannt als ’Nebularhypothese’) sogar meinte, er habe damit die Annahme Gottes als notwendiger erster Ursache ’erledigt’.
QUELLEN
[1] W. Stace, Religion and the Modern Mind, 1st ed. Westport (Connecticut): Greenwood Press, Publishers, 1952, reprint 1980
from Lippincott and Crowell, Publishers.
Ausgehend von einem Artikel von A.Fink werden hier einige Gedanken geäußert, die sich auf die Art und Weise beziehen, wie der Begriff Gott in diesem Artikel benutzt wird. Dies reicht bis hin zu den Grundannahmen unseres menschlichen Erkennens.
I. Kontext
Durch einen Hinweis wurde ich aufmerksam auf den Artikel von Alexander Fink (2017) [Fink:2017] zur Themenstellung Kosmologie und der Glaube an Gott. Diese Themenstellung, geschrieben aus einer christlichen Perspektive, erscheint mir interessant, da im Kontext dieses Blogs das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft zur Debatte steht, hierin speziell fokussiert auf die Frage der möglichen Symbiose von Menschen und intelligenten Maschinen in der Zukunft. Während das Konzept intelligente Maschine vergleichsweise einfach erscheint, bietet das Konzept Mensch unfassbar viele komplexe Fragestellungen. Unter anderem auch deswegen, da wir heute immer mehr zu erkennen meinen, dass der heutige Mensch das Ergebnis einer komplexen Entstehungsgeschichte ist, sowohl des Universums als ganzem wie auch der komplexen Evolution des Lebens innerhalb der Entwicklung des Universums. Seit dem Auftreten des Menschen als homo sapiens hat der Mensch immer komplexere Umgebungen geschaffen, zu denen neben Weltbildern zur Weltdeutung neuerdings auch intelligente Maschinen gehören, die seine selbst geschaffene Umwelt weiter anreichern.
Im Bereich der Weltbilder wird heute im Bereich der Wissenschaften gewöhnlich unterschieden zwischen sogenannten wissenschaftlichen Bildern der Welt — wissenschaftliche Theorie genannt — und solchen Überzeugungen, die Menschen in ihrem Alltag zwar auch benutzen, die aber nach den methodischen Prinzipien der empirischen Wissenschaften nicht als überprüfbar gelten. Daraus muss allerdings nicht denknotwendig folgen, dass diese Überzeugungen im nicht-wissenschaftlichen Format von vornherein falsch sind.
Ein prominenter Bereich solcher im Alltag verhafteter Überzeugungen ohne eine direkte wissenschaftliche Unterstützung ist der Bereich der religiösen Überzeugungen und der religiösen Erfahrungen, hier speziell die Auffassung, dass die bekannte Wirklichkeit auf ein — letztlich nicht genau beschreibbares — höheres Wesen zurückgeht, das mit unterschiedlichsten Namen Gott genannt wird. [Anmerkung: An dieser Stelle die Wortmarke ‚Gott‘ zu benutzen ist ein eher hilfloses Unterfangen, da in den verschiedensten Religionen und Kulturen ganz verschiedene Wortmarken benutzt werden, von denen nicht ohne weiteres klar ist, was sie meinen und ob sie von daher miteinander überhaupt vergleichbar sind. Die großen religionswissenschaftlichen Untersuchungen legen allerdings die Hypothese nahe, dass zumindest die großen Religionen wie Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam (mit jeweils vielen Spielarten) letztlich einen gemeinsamen Gottesbegriff haben, sofern es darum geht, wie in diesen Religionen Gott von den einzelnen Menschen erfahren wird. Im Glauben versuchen jene Menschen, die sich ‚Gläubige‘ nennen, diesem höchsten Wesen ‚Gott‘ Rechnung zu tragen, im Alltag und speziell im Lichte wissenschaftlicher Überzeugungen ist dann oft wenig oder gar nicht klar, wie sich denn die bekannte Wirklichkeit (einschließlich des Menschen selbst) zu dem höchsten Wesen des Glaubens verhält.]
An dieser Stelle versucht der Artikel von Fink einen Antwort zu geben für den speziellen Bereich physikalische Sicht des Universums auf der einen Seite und christlicher Glaube an einen Schöpfergott andererseits.
II. Fink – Denkrahmen
Der Artikel ist gut lesbar geschrieben und stellt ziemlich umfassend die Fakten zusammen, die die heutige Physik zur Beschaffenheit, Entstehung und Dynamik des physikalischen Universum zusammengetragen hat, ohne dabei in technische Details abzugleiten. Von daher ist es sicher ein Gewinn, wenn jemand diesen Artikel liest.
Im Artikel zeigen sich dabei grob zwei Argumentationslinien: (i) Die physikalischen Fakten, die das heutige Bild des physikalischen Universums konstituieren, und (ii) die Ansatzpunkte für eine Deutung der physikalischen Fakten im Lichte eines vorausgesetzten christlichen Glaubens an ein bestimmtes Bild eines Schöpfergottes.
A. Physikalische Fakten
Als physikalische Fakten werden z.B. genannt die räumliche Ausdehnung des Universums; eine Größe, die die alltägliche Vorstellung von räumlichen Verhältnissen jenseits alles Vorstellbaren sprengen. Dazu die zeitliche Dauer der ganzen Prozesse, die auch sowohl im ganz Großen von Milliarden Jahren sich der Vorstellung entzieht wie auch im ganz Kleinen, zu Beginn der Entstehung des bekannten Universums; hier gerät man in Größenordnungen von 10^-44 Sekunden. Die Präzision der Feinabstimmung der bekannten physikalischen Parameter, damit das Universum genau die heute bekannte Struktur und Eigenschaften angenommen hat, und nicht nirgend eine der unendlich vielen anderen Möglichkeiten.[Anmerkung: So nennt Fink z.B. für die Abstimmung der dunklen Energiedichte zur gravitativen Energiedichte eine Größenordnung von 1:10^60, für das Verhältnis von Gravitation zur elektromagnetischen Kraft eine Genauigkeit von 1:10^40]. Dazu kommen Erkenntnisse zu den Besonderheiten der Erdchemie, wie z.B. die außergewöhnlichen Fähigkeiten von Kohlenstoff im Vergleich zu anderen chemischen Verbindungen (wie z.B. Silizium), sowie die vielseitigen Eigenschaften des Wassermoleküls. Er verweist ferner auf die das Leben begünstigende Konstellation des Erd-Sonnensystems, auf die geschützte Position des Erd-Sonnensystems innerhalb der Milchstraße, sowie auf die Funktion des Magnetfeldes, und einiges mehr.
Obgleich Fink das Phänomen des biologischen Lebens mit seiner komplexen Evolutionsgeschichte weitgehend ausblendet, bieten schon die genannten physikalischen Fakten im engeren Sinne viele Ansatzpunkte, um Deutungen vornehmen zu können.
B. Physik und Gott
Während Fink im Falle der Physik ansatzweise die historische Entstehung der physikalischen Bilder anspricht, vermisst man diese im Fall der Auffassung von Gott als Schöpfer. Ohne historische Herleitung aus der Geschichte des christlichen Glaubens stellt Fink einfach fest, dass das mit der Wortmarke ‚Gott‘ Gemeinte einen freien Willen habe, rational denke und sich zuverlässig verhalte. Dies sei die tiefere Ursache dafür, dass das Universum für die menschlichen Forscher gesetzmäßig erscheine, d.h. man kann es mit rationalen Mitteln erforschen. Die hier zur Verwendung kommenden Begriffe (freier Wille, rational, zuverlässig) sind Begriffe, die im Kontext der menschlichen Welterfahrung eine gewisse — wenngleich vage — Bedeutung haben. Wendet man sie aber ohne weitere Erläuterungen direkt auf ein unbekanntes Etwas an, das irgendwie hinter und in dem ganzen Universum stehen soll, ist es nicht direkt nachvollziehbar, was diese Begriffe in diesem umfassenden Kontext bedeuten können.
Zusätzlich zu der allgemeinen Verstehbarkeit des physikalischen Universums verweist Fink auch auf jene Momente hoher Unwahrscheinlichkeit, die bei der Wahl der Parameter am Werk zu sein scheinen und die er als Argument für eine mögliche Zielgerichtetheit der ganzen Entwicklung des Universums sieht, die er wiederum als Argument für den als rationalen zuverlässigen Schöpfer mit freiem Willen angenommen hatte. Dieser Schöpfergott hat also zusätzlich noch einen Plan.
III. Kritische Anmerkungen
A. Gottesbilder
In diesem Blog gibt es mehrere Beiträge, die sich mit dem Problem beschäftigt haben, die Bedeutung der Wortmarke ‚Gott‘ in ihrer historischen Vielfalt klären zu können.
Schränkt man die Frage ein auf die christliche Tradition, so hat man es immerhin mit mittlerweile fast 2000 Jahren Interpretationsgeschichte zu tun, dazu die jüdische Vorgeschichte und die vielfältigen Wechselwirkungen mit den umgebenden Gesellschaften und Kulturen im Laufe der Jahrhunderte. Dazu kommen die diversen Aufspaltungen der christlichen Tradition in Traditionen mit unterschiedlichen Schwerpunkten (West zu Ost, Katholisch und Protestantisch, dazu viele Unterarten). In dieser gewaltigen und vielschichtigen Tradition zu sagen, was die christliche Meinung zum Schema Schöpfergott sei, erscheint fast unmöglich. Natürlich kann man sich auf einzelne Autoren beschränken oder auf speziell ausgezeichnete Lehrmeinungen, aber inwieweit diese dann als die christliche Auffassung gelten können, erscheint doch eher fraglich.
Geht man auf die historisch frühen Quellen zurück, zu den sogenannten heiligen Schriften des Neuen Testamentes, das vielfältig Bezug nimmt auf das Alte Testament, so wird die Lage nicht unbedingt einfacher. Zeigen doch gerade die 2000 Jahre andauernden Interpretationsversuche, dass es offensichtlich keine zwingend eindeutige Interpretation zu geben scheint, wie sonst hätte es sonst zu den vielen unterschiedlichen Interpretationen kommen können.[Anmerkung: Untersucht man nur die vielfältigen Übersetzungen vom Hebräischen ins Griechische und Lateinische, vom Lateinischen in die vielen Alltagssprachen, vom Griechischen in die vielen Alltagssprachen, dann sieht man schon auf dieser ersten Kodierungsstufe von möglichen Bedeutungen, dass es schon an der Wurzel keine eindeutige Bedeutung gibt.]
Aufgrund der Erkenntnisse zu der Art und Weise wie Sprache funktioniert, wie Menschen Wahrnehmen, Erinnern, Denken und kommunizieren, kann man seit mehr als 100 Jahren immer besser verstehen, warum Texte als solche keine zwingenden Botschaften enthalten können! Es gibt zwar zu allen Zeiten viele Menschen, die das behaupten und glauben, aber die reale Funktion von Sprache und menschlichem Erkennen können solche — oft fundamentalistisch genannten — Auffassungen als grob falsch erweisen.
Für Menschen, die ernsthaft Sicherheit und Wahrheit suchen, sind diese neuen Erkenntnisse beunruhigend; nicht wenige lehnen sie daher ab. Dies hilft aber nicht weiter. Wir müssen uns den Tatsachen stellen, dass unsere Suche nach Wahrheit und Sicherheit nicht so einfach durch Bezug auf irgendeinen Text eingelöst werden kann, und mag er von manchen Menschen als noch so heilig bezeichnet werden.
Menschen, die sich gegen diese neuen Erkenntnisse zur Natur von sprachlichem Verstehen und Verstehen wehren, machen oft nach einen weiteren Fehler: aus der Tatsache der Unmöglichkeit einer direkten absoluten Erkenntnis aus einem Text heraus folgern sie oft, dass es dann ja überhaupt keine Wahrheit geben würde. Dieser weitreichende Schluss folgt aus der Relativierung von Texten und sprachlicher Bedeutung nicht zwingend.
Wenn jemand im Lichte des modernen Wissens die allzu einfache Deutungen sogenannter heiliger Texte in Frage stellt, sie kritisiert, dann bedeutet dies zunächst nur, dass man sich ein paar mehr Gedanken machen muss als bisher, wie man die Wirklichkeit insgesamt deuten kann. Die Kritik an einer nativen und unkritischen Verwendung eines Gottesbegriffes, eines bestimmten, sehr menschlichen Bildes von einem Schöpfergott, muss daher nicht notwendigerweise heißen, dass man damit das damit Gemeinte (eine irgendwie geartetes Etwas, was hinter und in allem steckt/ wirkt/ …) als solches in Frage stellt oder zerstört. Wenn es tatsächlich so etwas wie ‚Gott‘ geben sollte (mag man es nun glauben oder nicht), dann würde die Existenz und die Art und Weise dieses Gotes mit Sicherheit nicht davon abhängen, ob ein paar Exemplare des homo sapiens darüber sprechen, und wie sie darüber sprechen. Allerdings kann es für uns, die wir uns als Exemplare des homo sapiens ansehen, möglicherweise einen Unterschied machen, ob und wie wir über dieses Thema reden.
B. Bilder der Welt
Bei der kritischen Diskussion des Artikels von Fink spielen eine Reihe von Faktoren eine Rolle. Einige im Zusammenhang mit der Verwendung der Wortmarke ‚Gott‘ wurden im vorausgehenden Abschnitt angesprochen. Weitere sollen jetzt hier angesprochen werden. Das Schaubild oben kann dazu vielleicht hilfreich sein.
1) Evolution
Aus den letzten ca. 100 Jahren konnten wir lernen, dass wir Menschen Teil eines Entwicklungsprozesses sind, die die Biologen als Evolution des biologischen Lebens bezeichnen. Ferner konnte die Struktur und die Entwicklung des bekannten physikalischen Weltalls soweit aufgehellt werden, dass auch das Zusammenspiel von Sternentwicklung und Entstehung von biologischem Leben auf der Erde viele neue, tiefe Einsichten ermöglicht hat.
2) Empirisches Wissen
Dies alles wurde möglich, weil die Menschen gelernt haben, wie man Bilder von der Welt in einer methodisch kontrollierten Weise so konstruiert, dass sie auf transparenten, reproduzierbaren Messoperationen aufbauen. Für die Interpretation dieser Messwerte wird eine mathematische Sprache benutzt, die zusammen mit einer formalen Logik die Möglichkeit bietet, Regelmäßigkeiten und Strukturen zu formulieren, sofern sie in der Gesamtheit der Messwerte vorliegen. Die Geltung der formalen Strukturen ist hier entscheidbar zurückgebunden an die Messwerte.[Anmerkung: Diese Rückbindung ist zentral, da die mathematische Sprache es erlaubt, beliebig viele Regelmäßigkeiten und Strukturen zu formulieren. Ob eine von diesen möglichen Strukturen tatsächlich etwas beschreibt, was mit der umgebenden Wirklichkeit korrespondiert, können nur vorzeigbare Messwerte entscheiden. Diese Form von Wissens nennt man gewöhnlich empirisches Wissen oder eine empirische Theorie.]
3) Wirklichkeit und Mathematik
Die Entwicklung und Nutzung von empirischem Wissen stellt viele neue Fragen zur Natur des menschlichen Erkennens, die weitgehend noch ungeklärt sind. So ist es eine bemerkenswerte Tatsache, dass die umgebende Wirklichkeit sich mit den Mitteln einer extrem einfachen mathematischen Sprache und formalen Logik beschreiben lässt.[Anmerkung: Man kann zwar mit der mathematischen Sprache sehr komplexe Ausdrücke aufbauen, doch die Sprache selbst, mit der dies geschieht, ist in ihren Grundelementen extrem einfach. Es ist keine andere Sprache bekannt, die genauso einfach oder gar noch einfacher ist.] Bislang ist nicht zu sehen, dass es irgendein Phänomen in der erfahrbaren Welt geben könnte, was sich mit dieser mathematischen Sprache nicht beschreiben lässt, es sei denn, das Phänomen selbst, das beschrieben werden soll, ist ‚in sich‘ nicht klar.
4) Virtualität und Wahrheit
Ferner wissen wir heute, dass unser bewusstes Wissen, ein funktionierendes Gehirn voraussetzt, das selbst keinen Kontakt mit der realen Welt hat. Dennoch produziert es aufgrund von Sinnesdaten von außerhalb und von innerhalb des Körpers — und im Zusammenspiel mit einem Gedächtnis — beständig virtuelle Bilder einer Welt da draußen so, dass wir in unserem Bewusstsein die virtuellen Bilder als real erleben und als real deuten. Unsere menschliche Erkenntnis ist also ein als real erlebtes virtuelles Bild einer Welt ‚da draußen‘, die wir tatsächlich niemals direkt erleben werden. Wie können wir dann jemals erkennen was wahr ist, wenn Wahrheit verstanden würde als die Übereinstimmung von etwas Gedachtem mit etwas Realem?
Diese Frage springt sofort über zu dem zuvor eingeführten Konzept des empirischen Wissens. Ist es doch gerade ein Dogma des empirischen Wissens, dass dieses sich direkt mit der realen, objektiven Welt beschäftige im Gegensatz zu anderen Wissensformen. Wenn der Mensch nun grundsätzlich gar keinen direkten Kontakt zur sogenannten realen Wel haben kann, wie kann es dann empirische Wissenschaft geben?
Die Antwort ist relativ einfach. Unser bewusstes Wissen ist zwar quasi Wissen aus zweiter Hand, d.h. von einem Gehirn generiert, das im Körper fest sitzt, aber von all den Phänomenen des Bewusstseins (PH), die dieses Gehirn erzeugt, gibt es eine echte Teilmenge von solchen Phänomenen PH_EMP, die aus jenen sensorischen Erregungsmustern gewonnen werden, die von den externen Sensoren (Augen, Ohren, Tastorgane, …) gewonnen werden. Für uns sind sie zwar abgeleitete, virtuelle Ereignisse, aber sie korrespondieren mit Ereignissen in der unterstellten Außenwelt. Sofern Wissenschaftler empirische Messprozesse vereinbaren, gibt es Messprozesse, die unabhängig vom Denken eines einzelnen Menschen gestartet und gestoppt werden können. Diese Messprozesse liefern Ereignisse, die mit externen Sinnesorganen registriert werden können, und zwar von allen, die diese Messprozesse wiederholen. Im Bewusstsein der beteiligten empirischen Wissenschaftler haben dieses Messergebnisse zwar weiterhin nur den Status von virtuellen Ereignissen, generiert vom Gehirn, aber diese Ereignisse lassen sich mit Messprozessen wiederholen, die alle Beteiligten in hinreichend gleicher Weise erleben können. Durch diese spezielle Maßnahme können Menschen ihr virtuelles Gefängnis methodisch partiell öffnen; nicht wirklich, aber für eine empirische Form des Erkennens praktikabel. Wir haben also die echte Teilmenge der empirischen Phänomene PH_EMP c PH, die sich partiell mit Ereignissen in der angenommenen Außenwelt (W) zusammen mit anderen parallelisieren lässt.[Anmerkung: Es ist erstaunlich, wie lange die Menschen als homo sapiens gebraucht haben, bis sie diesen ‚Trick‘ entdeckt haben. Allerdings, selbst heute (2017) scheint es noch genügend viele Menschen zu geben, die diesen Zusammenhang immer noch nicht verstehen (selbst solche, die sich empirische Wissenschaftler nennen).]
Das Potential des empirischen Wissens für das Erkennen und Verstehen der umgebenden Welt ist enorm, und seine Auswirkungen neben dem reinen Verstehen im Bereich der technologischen Anwendungen erscheint schon jetzt schier unendlich.
5) Schwache Akzeptanz von Empirischem Wissen
Nicht wirklich geklärt erscheint das Verhältnis des empirischen Wissens zu den anderen Wissensformen, speziell auch zu den alten religiösen Überzeugungen, die für die meisten auch ein Stück Welterklärung waren bzw. noch sind.
In dieser Differenz von realen Erklärungsleistungen auf der einen Seite (bei aller Begrenztheit) und den vielen unwissenschaftlichen Bildern der Welt, liegt eines der vielen Probleme der Gegenwart. Der Anteil der Menschen, die empirisches Wissen nicht verstehen oder gar offen ablehnen, liegt in Ländern mit hoher Technologie aufgrund von offiziellen Untersuchungen bei ca. 20 – 30\%; betrachtet man aber seine eigene Umgebung, einschließlich der Menschen mit mindestens einem akademischen Abschluss, dann kann man den Eindruck gewinnen, dass es vielleicht umgekehrt nur 10-20\% der Menschen sind, die überhaupt verstehen, was empirisches Wissen ist. Dies ist eine sehr beunruhigende Zahl. Damit ist nicht nur der bisherige Wissensstand langfristig bedroht, sondern die Ansatzpunkte für eine Versöhnung von empirischem und nicht-empirischen Wissen werden noch schwerer.
6) Philosophie des Empirischen Wissens fehlt
Um die Problemstellung noch zu verschärfen, muss man auch auf den Sachverhalt hinweisen, dass es selbst innerhalb des empirischen Wissens große, ungelöste Probleme gibt. Dies resultiert aus der historischen Entwicklung, dass zwar mit Begeisterung immer mehr Phänomene der umgebenden Welt untersucht worden sind, das daraus resultierende empirische Wissen wurde aber nicht in allen Fällen systematisch zu einer vollen empirischen Theorie ausgebaut. Vielleicht muss man sogar sagen, dass die Physik aktuell die einzige empirische Disziplin zu sein scheint, die nicht nur vollständige empirische Theorien entwickelt hat, sondern die ihre eigene Entwicklung der Tatsache verdankt, dass ganze Theorien kritisiert und dadurch weiter entwickelt werden konnten.
Betrachtet man Gebiete wie z.B. die Gehirnwissenschaft, die Psychologie, die Soziologie, die Wirtschaftswissenschaften, die Biologie, dann muss man allerdings berücksichtigen, dass der wissenschaftliche Gegenstand dieser Disziplinen (sofern sie sich als empirische Disziplinen verstehen wollen), ungleich komplexer ist als die Physik. Der wissenschaftliche Gegenstand der Physik erscheint komplex, da wir hier bislang die meisten vollen Theorien haben, aber tatsächlich ist das Gegenstandsgebiet der anderen genannten Disziplinen unendlich viel komplexer. Dies resultiert aus der unfassbaren Komplexität des Phänomens biologisches Leben, das sowohl in den Grundformen der einzelnen biologischen Zellen, wie dann erst recht in der Interaktion von Billionen (10^12) von Zellen in einem einzelnen Organismus wie einem homo sapiens vorliegt; dazu kommen die Wechselwirkungen zwischen allen biologischen Lebensformen, nicht nur beim homo sapiens, der die Erde zur Zeit auf vielfache Weise mit sekundären komplexen Artefakten überzieht, die dynamisch sind.
7) Empirisches Wissen und Gott
Wenn man all dies weiß, wenn man sowohl um die Begrenztheit des empirischen Wissens weiß und um die Problematik der rechten Verwendung der Wortmarke ‚Gott‘, dann stellt sich die Frage, wie kann ein Mensch in der heutigen Welt noch an ein — wie auch immer geartetes — ‚höheres Wesen in und hinter allem‘ glauben? Kann man es überhaupt noch? Und falls ja, wie?
Hält man sich die Vielfalt der religiösen Anschauungen und Praktiken vor Augen, die es im Laufe der letzten Jahrtausende gegeben hat und ganz offensichtlich immer noch gibt, dann könnte man im ersten Moment völlig entmutigt werden angesichts dieser Fülle: was davon soll jetzt sinnvoll und richtig sein?
Die modernen Religionswissenschaften und vergleichenden Kulturwissenschaften haben einiges getan, um Ähnlichkeiten und Unterschiede in diesem Meer der Phänomene heraus zu arbeiten. Sehr beeindruckend fand ich das Buch von Stace (1960), der auf der Basis von vielen vergleichenden Untersuchungen eine sehr detaillierte philosophische Analyse durchgeführt hat, die sich auf den Kern religiöser Überzeugungen fokussiert hat, auf die religiösen Erfahrungen.[Anmerkung: Siehe dazu die Diskussion dieses Buches, Teil 3]
Seine Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass es bei aller Verschiedenheit der religiösen Ausdrucksformen und Formulierungen durch alle Zeiten hindurch und quer zu allen religiösen Formen so etwas wie einen gemeinsamen Erfahrungskern zu geben scheint, der für den Menschen als Menschen charakteristisch scheint, und der nicht an irgendwelche Texte oder lokale Traditionen gebunden ist. Dass es dennoch zu unterschiedlichen Formulierungen und unterschiedlichen Interpretationen kommen konnte liegt in der Analyse von Stace (und auch im Lichte dieses Textes; siehe die vorausgehenden Abschnitte), einzig daran, dass der Mensch nicht nur konkrete Sinneserfahrungen hat, sondern zugleich immer auch von seinem angelernten Wissen aus diese Sinneserfahrungen interpretiert. Unser Gehirn arbeitet so, dass es uns (was eigentlich sehr gut ist) alle unsere sinnlichen Erfahrungen sofort im Lichte der gespeicherten Erfahrungen interpretiert. Da die Menschen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Dinge gelernt haben, dazu verpackt in eine der vielen zehntausenden (oder mehr) Sprachen, erscheinen die gleichen Grunderfahrungen als tausende unterschiedliche Erfahrungen, obgleich sie — so scheint es — letztlich eine gleiche Grundstruktur haben.
Sollten diese Untersuchungen und Überlegungen stimmen, dann wären sogenannte religiöse Erfahrungen keine erfundene Spezialitäten von irgendwelchen abnormen Menschen, sondern gehören zur Grundstruktur, wie ein homo sapiens sich selbst und die ganze Welt erfährt. Einen grundsätzlichen Widerspruch zu empirischen Wissenschaften kann es dann nicht geben, da ja die empirischen Wissenschaften nicht grundsätzlich die Erfahrungen von Menschen verneinen, sondern sich nur für bestimmte — nämlich die empirischen — Untersuchungen auf einen Teilbereich der verfügbaren virtuellen Phänomene des Bewusstseins beschränken.
Interessant ist, dass die empirischen Wissenschaften, obwohl sie sich methodisch beschränken, indirekt einen fundamentalen Beitrag zur Möglichkeit von trans-empirischen Erfahrungen geleistet haben. Die fortschreitenden Erkenntnisse im Bereich der Struktur der Materie (Atomphysik, Kernphysik, Quantenphysik, …) führen uns vor Augen, dass der alltägliche Eindruck der Abgeschlossenheit und Endlichkeit der menschlichen Körper ein — womöglich schwerwiegender — Trugschluss ist. Die scheinbar so abgeschlossenen endlichen menschlichen Körper bestehen ja nicht nur aus Billionen von eigenständigen Zellen, die eigenständig miteinander kommunizieren, sondern diese Zellen bestehen ja aus chemischen Molekülen, diese aus Atomen, und diese — wie die Physik uns lehrt — aus komplexen subatomaren Teilchen und Interaktionsverhältnissen, die permanent in Wechselwirkung stehen zu allem, was sich in einem Umfeld befindet, das viele Lichtjahre betragen kann. Hier stellen sich viele — weitgehend ungeklärte — Fragen.
Eine dieser ungeklärten Fragen betrifft das Verhältnis von Bewusstsein und diesen subatomar vorhandenen Ereignissen. Wieweit können sich diese Ereignisse direkt im Bewusstsein niederschlagen?
Eine andere Frage betrifft die Erfahrbarkeit von etwas, das wir ‚Gott‘ nennen. Durch alle Zeiten und Kulturen berichten Menschen von spezifischen Erfahrungen, die für diese Menschen über die Erfahrungen des Alltags hinaus weisen, ohne dass sie dafür plausible Erklärungen liefern können. Fakt ist nur, dass im Prinzip jeder Mensch diese Erfahrungen anscheinend machen kann (auch Tiere?). Ein Widerspruch zu empirischen Wissen muss hier nicht bestehen, im Gegenteil, die empirischen Wissenschaften liefern bislang die stärksten Argumente, dass dies im Prinzip nicht auszuschließen ist. Es fehlen allerdings bislang jegliche neue Deutungsmodelle. Die alten Deutungsmodelle sollte man eventuell vorläufig mit einem Fragezeichen versehen; möglicherweise versperren sie den Weg zu dem mit der Wortmarke ‚Gott‘ Gemeintem.
ZITIERTE QUELLEN
[Fin17] Alexander Fink. Kosmologie und der Glaube an Gott. Brennpunkt Gemeinde, 19(1):1–15, 2017.
[Sta60] W.T. Stace. Mysticism and Philosophy. Jeremy P.Tarcher, Inc., Los Angeles, 1st. edition, 1960.
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Max Tegmark (2014), Our Mathematical Universe. My Quest of the Ultimate Nature of Reality, New York: Alfred A.Knopf
Nachtrag: 3.Okt.13:55h, Bild zum letzten Abschnitt
KONTEXT
1. Diesem Teil ging ein einleitender Teil 1 voraus. In ihm wird ein erster Horizont aufgespannt. Darin u.a. die These, dass das Universum sich nicht nur mathematisch beschreiben lässt, sondern selbst auch ein mathematisches Objekt sei.
2. Für die weitere Diskussion werden die Kapitel 2-8 zunächst übersprungen und die Aufmerksamkeit gilt den Kapiteln 9ff. In diesen werden die erkenntnistheoretischen und physik- methodischen Voraussetzungen besprochen, die Tegmark in der modernen Physik am Werke sieht.
SELBSTBESCHREIBUNG EINES PHYSIKERS
3. Wir erinnern uns aus Kapitel 1, dass Tegmark selbst ein Mensch ist, ein homo sapiens (sapiens), der für sich die Methoden der Physik in Anspruch nimmt.
4. Von daher macht es Sinn, dass er sich selbst mit seinen Erkenntnis ermöglichenden Fähigkeiten in den Blick nimmt.
5. In diesem Zusammenhang (vgl. Bild 1) macht er darauf aufmerksam, dass wir nach den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaften (und der Selbsterfahrung, die er in Beispielen in Form von Selbstexperimenten bemüht), davon ausgehen müssen, dass unsere bewusste Wahrnehmung einer Welt in unserem Körper, in unserem Gehirn stattfindet. Diese bewusste Wahrnehmung bildet für uns die primäre Realität, die man als interne Realität bezeichnen kann, wenn man außerhalb dieser inneren Realität eine externe Realität voraussetzt.
6. Nach allem, was wir heute wissen, übersetzen unsere Sinnesorgane Ereignisse der externen Realität (die in einer angenommenen externen Welt stattfinden), in komplexe Signalverarbeitungsprozesse in unserem Gehirn. Ein kleiner Teil dieser vom Gehirn automatisch – und daher nicht-bewusst – verarbeiteten Signale werden uns bewusst, bilden den Stoff unserer bewussten Wahrnehmung. Er nennt diese bewussten Signale auch Qualia. Sie werden automatisch so vom Gehirn aufbereitet, dass wir beständig z.B. ein konsistentes 3D-Model einer Wirklichkeit zur Verfügung haben, mittels dem wir uns im Raum des Bewusstseins orientieren. Wichtiges Detail: verschiedene Menschen können mit ihren Sinnesorganen u.U. unterschiedliche Signale von der gleichen Signalquelle empfangen (z.B. unterschiedliche Farbwahrnehmung). Trotzdem scheint das interne Modell zum Zwecke der Orientierung zu funktionieren.
7. Die wissenschaftlichen Untersuchungen zum Verhältnis zwischen messbaren externen Ereignissen und der Wahrnehmung dieser Ereignisse basierend auf den weitgehend nicht-bewussten sensorischen Prozessen im Körper deuten an, dass der Körper und das Gehirn keine 1-zu-1 Abbildung der externen Ereignisse liefern, sondern diese auf unterschiedliche Weise verändern: (i) hervorstechend ist, dass nur ein Bruchteil der (heute) messbaren externen Ereignisse erfasst und dann verarbeitet wird (z.B. nur ein kleiner Teil aus dem Wellenspektrum wird erfasst). Wir haben also den Sachverhalt der Auslassung (‚omission‘). (ii) Ferner liefert das Gehirn Eigenschaften in der bewussten Wahrnehmung (z.B. 3D-Modell), die in der auslösenden sensorischen Wahrnehmung (2D) nicht gegeben ist. Diesen Sachverhalt bezeichnet Tegmark als Illusion. (iii) Ferner kann das Gehirn eine Vielzahl von unterschiedlichen Halluzinationen erzeugen (z.B. Erinnerungen, Träume, Fantasien, Wahnvorstellungen …), die weder aktuell in der externen Realität vorkommen noch genau so, wie sie als halluziniertes Ereignis im Bewusstsein auftreten.
THEORIEN
8. Nach diesen vorbereitenden Überlegungen stellt sich die Frage, wo und wie in diesem Bild der Ort für physikalische Theorien ist?
9. Die große Mehrheit der Philosophen hatte in der Vergangenheit an dieser Stelle die interne Realität, das interne Weltmodell, als möglichen Ort weiterer Theoriebildung vermutet und dazu dann jeweils umfangreichste Überlegungen angestellt, wie man sich diese Maschinerie des bewussten Erkennens vorzustellen habe, damit man in diesem Rahmen das Denken einer physikalischen Theorie rekonstruieren könnte.
10. Tegmark klammert dieses Vorgehensweise vom Start weg aus. Bevor überhaupt ein Gedanke in diese Richtung aufscheinen kann erklärt er, dass der höchste Triumph der Physik darin bestehen würde, dass die Physik mit der externen Realität startet, diese mathematisch beschreibt, und zwar so, dass man innerhalb dieser Beschreibung dann die Entstehung und das Funktionieren der internen Realität ableiten (‚derive‘) kann. (vgl. S.237f)
11. Ihm ist schon bewusst, dass es für eine volle physikalische Theorie dieser Art notwendig wäre, eine vollständig detaillierte Beschreibung des Gehirns, speziell auch des Phänomens des Bewusstseins, mit zu liefern. (vgl. S.238) Aber er meint, man kann sich diese Aufgabe ersparen und den ganzen Komplex der subjektiven (und zugehörigen nicht-bewussten) Prozesse ausklammern (‚decouple‘), weil Menschen die Fähigkeit zeigen, sich trotz und mit ihrer individuellen Subjektivität auf eine Weise miteinander zu verständigen, die auf einer Sicht der externen Welt in der internen Welt beruht, die zwischen Menschen geteilt (‚shared‘) werden kann.
12. Diese zwischen Menschen in der Kommunikation gemeinschaftlichen Sicht der externen Welt (auf der Basis der internen Welt) nennt er Konsensus Realität (‚consensus reality‘).(vgl. S.238f)
13. Die Konsensus Realität verortet er zwischen der externen und der internen Realität.
14. Mit dieser begrifflichen Unterscheidung begründet er für sich, warum eine physikalische Theorie möglich ist, ohne dass man eine Theorie des Bewusstseins hat; er räumt aber ein, dass man natürlich für eine endgültige vollständige (physikalische) Theorie auch eine vollständige Theorie des Bewusstseins samt allen zugehörigen Aspekten bräuchte.
15. Während man sich als Leser noch fragt, wie denn die Physik diese nicht ganz leichte Aufgabe angehen will, erklärt Tegmark ohne weitere Begründung, dass diese delikate Aufgabe nicht von der Physik geleistet werden solle, sondern von der Kognitionswissenschaft (‚cognitive science‘). (vgl. S.238f)
16. Obwohl Tegmark selbst viele Beispiele bringt, die illustrieren sollen, dass es aus Sicht der Physik gerade die Wechselwirkung zwischen der externen und internen Realität war, um auf dem Weg zu einer umfassenden physikalischen Theorie voran zu schreiten (vgl. SS.240ff), delegiert er nun diese delikate Aufgabe an die Kognitionswissenschaft. Warum soll die Kognitionswissenschaft diese delikate Aufgabe lösen können und die Physik nicht? Bedeutet dies, dass die Kognitionswissenschaft ein Teil der Physik ist oder hat sie etwas Besonderes über die Physik hinaus? Letzteres würde seinem Anspruch widersprechen, dass die Physik das Ganze erklärt.
17. Tegmark lässt diese Fragen schlicht offen. Er meint nur, die Physik habe hier noch einen sehr langen Weg zu gehen. (vgl. S.242)
18. Er fällt einfach die Entscheidung, den Aspekt der ersten Realität innerhalb der allgemeinen Theoriebildung in seinem Buch auszuklammern und sich auf die Frage der Rolle der Mathematik in physikalischen Theorien zu beschränken, sofern sie sich mit der externen und der Konsensus Realität beschäftigen.(vgl. S.240)
DISKURS
EIN BISSCHEN ENTTÄUSCHT ….
19. Ich muss gestehen, dass ich als Leser an dieser Stelle des Buches irgendwie enttäuscht bin. Nachdem das Buch mit so viel Elan gestartet ist, so viel wunderbares Wissen aufbietet, um diese Fragen zu erhellen, kommt es an einer entscheidenden Stelle zu einer Art gedanklichen Totalverweigerung. Natürlich kann jeder verstehen – und ich besonders –, dass man aus Zeitgründen eine komplexe Fragestellung vorläufig ausklammert, deren Behandlung ‚nach hinten schiebt‘, aber es ist dennoch schade, nicht als Vorwurf, sondern als Erlebnis.
20. Trotz dieser Einschränkung der Perspektive des weiteren Vorgehens bleiben natürlich noch viele interessante Fragen im Raum, insbesondere das Hauptthema der Rolle der Mathematik in einer physikalischen Theorie verbunden mit der These von Tegmark, dass die externe Realität selbst ein mathematisches Objekt sei.
21. Bevor dieser Aspekt im Blog weiter untersucht wird, soll aber noch ein wenig an dieser Umschaltstelle in der Darstellung von Tegmark verweilt werden. Diese ist zu wichtig, als dass man sein Vorgehen einfach unkommentiert lassen sollte.
INNEHALTEN: EXTERN – INTERN
22. Tegmark geht davon aus, dass eine physikalische Theorie die externe und die Konsensus Realität beschreibt, und dies mit Hilfe der Mathematik.
23. Er stellt einleitend fest, dass wir direkt von der externen Realität aber nichts wissen. Unser Gehirn liefert uns ein Weltmodell W0, das uns als Basis des Verstehens und Verhaltens dient, das aber nicht die Welt ist, wie sie vielleicht jenseits dieses Modells W0 existiert. Die Geschichte des menschlichen Erkennens und die Untersuchungen zum modernen Alltagsverstehen belegen, dass die Erkenntnis, dass unser individuelles Welterleben auf Basis von W0 nicht die Welt sein kann, die jenseits des Gehirns existiert, nicht nur erst wenige tausend Jahre alt ist, sondern es in der Regel nur wenigen Menschen gelingt, dies explizit zu denken, selbst heute (die meisten – alle? – Naturwissenschaftler z.B. sind nicht in der Lage, die mögliche Welt jenseits von W0 unter expliziten Berücksichtigung von W0 zu denken!). Tegmark selbst demonstriert diese Unfähigkeit vor den Augen des Lesers.
24. Er beschreibt zwar empirische (und nicht-empirische) Fakten, die die Annahme der Unterscheidung von W0 und etwas jenseits von W0 nahelegen, aber er macht keine Anstalten, darüber nach zu denken, was dies für empirische Theorien über die Welt jenseits von W0 bedeutet.
25. Wie kann es sein, dass unser Denken in W0 verankert ist, aber doch über eine Welt jenseits von W0 redet, als ob es W0 nicht gibt?
26. Die Evolutionsbiologen sagen uns, dass im Laufe der Evolution von biologischen Systemen deren Gehirne in diesen Systemen so optimiert wurden, dass das jeweilige System nicht durch die internen (automatischen) Berechnungsprozesse des Gehirns abgelenkt wird, sondern nur mit jenen Aspekten versorgt wird, die für das Überleben in der umgebenden Welt (jenseits des Gehirns) wichtig sind; nur diese wurden dem System bewusst. Alles andere blieb im Verborgen, war nicht bewusst. Dies heißt, es war (und ist?) ein Überlebensvorteil, eine Identität von internem Weltmodell W0 und der jeweils umgebenden Welt zu ermöglichen. Hunderttausende von Jahren, Millionen von Jahren war dies überlebensförderlich.
27. In diesem Überlebenskampf war es natürlich auch wichtig, dass Menschen in vielen Situationen und Aufgaben kooperieren. Voraussetzung dafür war eine minimale Kommunikation und dafür eine hinreichend strukturell ähnliche Wahrnehmung von umgebender Welt und deren Aufbereitung in einem internen Modell W0.
28. Kommunikation in einer geteilten Handlungswelt benötigt Signale, die ausgetauscht werden können, die sich mit gemeinsamen wichtigen Sachverhalten assoziieren lassen, die sowohl Teil der äußeren Welt sind wie auch zugleich Teil des internen Modells. Nur durch diese Verbindung zwischen Signalen und signalverbundenen Sachverhalten einerseits und deren hinreichend ähnlichen Verankerung in den individuellen Weltmodellen W0 boten die Voraussetzungen, dass zwei verschiedene Weltmodelle – nämlich eines von einem biologischen System A mit W0_a und eines von einem biologischen System B mit W0_b – miteinander durch kommunikative Akte ausgetauscht, abgestimmt, verstärkt, verändert … werden konnten.
29. Dies ist der mögliche Ort der Konsensus Realität, von der Tegmark spricht.
30. Weil die individuellen Gehirne unterschiedlicher biologischer Systeme der Art homo sapiens (sapiens) eine hinreichend ähnliche Struktur von Signalverarbeitung und Modellgenerierung haben ist es ihnen möglich, Teile ihres Modells W0 mittels Kommunikation auszutauschen. Kommunikativ können sie austauschen, Ob etwas der Fall ist. Kommunikativ können sie sich zu bestimmten Handlungen koordinieren.
31. Die Zuordnung zwischen den benutzten Signalereignissen und den damit assoziierten Sachverhalten ist zu Beginn offen: sie müssen von Fall zu Fall im Bereich von möglichen Alternativen entschieden werden. Dies begründet arbiträre Konventionen, die dann – nach ihrer Einführung – zu pragmatischen Regeln werden können.
32. Die von Tegmark angesprochene Konsensus Realität ist von daher ein hybrides Konstrukt: primär ist es ein Produkt der internen Realität, Teil des internen Weltmodells W0, aber durch die Beziehung zwischen dem internen Modell W0 mit einer unterstellten externen Welt Wx (also z.B. wm0: Wx –→ W0, wm1:W0 –→ Wx*) und der Hypothese, dass diese Abbildungsprozesse bei unterschiedlichen Individuen A und B der gleichen Art homo sapiens (sapiens) hinreichend strukturell ähnlich sind, kann man annehmen, dass W0_a und W0_b strukturell hinreichend ähnlich sind – EQ(W0_a, W0_b) – und eine arbiträre Zuordnung von beliebigen Signalereignissen zu diesen unterstellten Gemeinsamkeiten damit synchronisierbar ist.
33. Man kann an dieser Stelle den fundamentalen Begriff der Zeichenrelation derart einführen, dass man sagt, dass diese grundlegenden Fähigkeit der Assoziierung von Signalereignissen S und zeitgleich auftretenden anderen Ereignissen O in der unterstellten äußeren Welt Wx sich über die Wahrnehmung dann im internen Weltmodell W0 eines biologischen Systems als S‘-O‘-Beziehung repräsentieren lässt. Diese interne Repräsentation einer in der Außenwelt Wx auftretenden Korrelation von Ereignissen S und O ist dann eine Zeichenrelation SR(S‘,O‘). Die an sich arbiträren Signalereignisse S und die davon unabhängigen zeitgleichen Ereignisse O können auf diese Weise in einer internen Beziehung miteinander verknüpft werden. Über diese intern vorgenommene Verknüpfung sind sie dann nicht mehr arbiträr. Ein Signalereignis s aus S und ein anderes Ereignis o aus O erklären sich dann gegenseitig: SR(s‘,o‘) liest sich dann so: das Signalereignis s‘ ist ein Zeichen für das andere Ereignis o‘ und das andere Ereignis o‘ ist die Bedeutung für das Zeichen s‘. Insofern verschiedene Systeme ihre Zeichenrelationen koordinieren entsteht ein Kode, ein Zeichensystem, eine Sprache, mittels deren sie sich auf Basis ihrer internen Weltmodelle W0 über mögliche äußere Welten verständigen können.
34. Die Konsensus Realität wäre demnach jener Teil des Bewusstseins eines biologischen Systems, dessen Phänomene (Qualia) sich über eine hinreichende Korrespondenz mit einer unterstellten Außenwelt Wx mit den internen Modellen W0 anderer Systeme koordinieren lassen.
35. Dass die beteiligten Signalereignisse als Zeichen mittels Symbolen realisiert werden, mittels Ausdrücken über einem Alphabet, später dann mit einem Alphabet, das man einer mengentheoretischen Sprache zuschreiben kann, die zur Grundsprache der modernen Mathematik geworden ist, ist für den Gesamtvorgang zunächst unwesentlich. Entscheidend ist die biologische Maschinerie, die dies ermöglicht, der ‚Trick‘ mit dem Bewusstsein, das das System von der unfassbaren Komplexität der beteiligten automatischen Prozessen befreit, von der Fähigkeit zu Abstraktionen (was hier noch nicht erklärt wurde), von dem fantastischen Mechanismus eines Gedächtnisses (was hier auch noch nicht erklärt wurde), und manchem mehr.
36. Dass Tegmark das Konzept der Konsensus Realität einführt, sich aber die Details dieser Realität ausspart, ist eine Schwachstelle in seiner Theoriebildung, die sich im weiteren Verlauf erheblich auswirken wird. Man kann schon an dieser Stelle ahnen, warum seine These von der äußeren Welt Wx als mathematischem Objekt möglicherweise schon im Ansatz scheitert.
SEMIOTIK GRUNDLEGENDER ALS PHYSIK?
37. Ohne diesen Punkt hier voll zu diskutieren möchte ich an dieser Stelle zu überlegen geben, dass der Erklärungsanspruch der Physik in weiten Teilen sicher berechtigt und unverzichtbar ist. Doch bei der Reflexion auf die Grundlagen einer physikalischen Theorie (die letztlich auch Teil einer wissenschaftlichen Erklärung sein sollte) müssen wir offensichtlich die Physik verlassen. Die klassische und die moderne Physik hat für ihre Existenz und ihr Funktionieren eine Reihe von Voraussetzungen, die nicht zuletzt den Physiker selbst mit einschließen. Sofern dieser Physiker als biologisches System ein Zeichenbenutzer ist, gehen die Gesetzmäßigkeiten eines Zeichenbenutzers als Voraussetzungen in die Physik ein. Sie hinterlassen nachhaltige Spuren in jeder physikalischen Theorie qua Zeichensystem. Diejenige Wissenschaft, die für Zeichen allgemein zuständig war und ist, ist die Semiotik. Bis heute hat die Semiotik zwar noch keine einheitliche, systematische Gestalt, aber dies muss nicht so sein. Man kann die Semiotik genauso wissenschaftlich und voll mathematisiert betreiben wie die moderne Physik. Es hat halt nur noch niemand getan. Aber die Physik hat ja auch noch niemals ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen vollständig reflektiert. Vielleicht können sich eine neue Semiotik und eine neue Physik die Hand geben für ein gemeinsames Abenteuer des Geistes, was die Denkhemmungen der Vergangenheit vergessen macht. Das Beharren auf tradierten Vorurteilen war schon immer das größte Hindernis für eine tiefere Erkenntnis.
NACHTRAG
In Ergänzung zum vorausgehenden Text kann es hilfreich sein, sich klar zu machen, dass Tegmark als Physiker ein biologisches System der Art homo sapiens (sapiens) ist, dessen primäre Wirklichkeit in einem internen Modell der Art W0 zu suchen ist. Um sich mit seinen Physikkollegen zu verständigen benutzt er mathematische Texte, die mit bestimmten Messwerten korreliert werden können, die ebenfalls als Zeichen von Messprozeduren generiert werden. Der Zusammenhang der Messwerte mit den mathematischen Texten wird intern (!!!) kodiert. Insofern spielt die Art und Weise der internen Modelle, ihre Beschaffenheit, ihre Entstehung, ihre Abgleichung etc. eine fundamentale Rolle in der Einschätzung der potentiellen Bedeutung einer Theorie. Physikalische Theorien sind von daher grundlegend nicht anders als alle anderen Theorien (sofern diese mathematische Ausdrücke benutzen, was jeder Disziplin freisteht). Sie unterscheiden sich höchstens durch die Art der Messwerte, die zugelassen werden. Sofern eine moderne philosophische Theorie physikalische Messwerte akzeptiert — und warum sollte sie dies nicht tun? — überlappt sich eine philosophische Theorie mit der Physik. Sofern eine moderne philosophische Theorie die Voraussetzungen einer physikalischen Theorie in ihree Theoriebildung einbezieht, geht sie transparent nachvollziehbar über die Physik hinaus. Semiotik sehe ich als Teilaspekt der Philosophie.
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Max Tegmark (2014), Our Mathematical Universe. My Quest of the Ultimate Nature of Reality, New York: Alfred A.Knopf
KONTEXT
Das Interesse an dem Buch resultiert aus der Einsicht der letzten Jahre, dass eine Beschäftigung mit den entwickelteren empirischen Theorien, hier insbesondere mit der Physik, ohne ein angemessenes Verständnis der benutzten mathematischen Strukturen und Modellen nur von begrenzter Reichweite ist. Ohne die mathematischen Ausdrücke geht heute nichts mehr in der Physik.
Wie sich aber in vielen philosophischen Analysen zur Funktion von Sprache im Kontext von Wissens gezeigt hat, ist das benutzte Mittel, die jeweilige Sprache, nicht neutral: jede Sprache hat ihre eigene Struktur (Logik, Syntax, Semantik,…), die darüber entscheidet, was man wie mit einer Sprache ausdrücken kann. Dazu kommt unser Gehirn, das sowohl die erfassbaren Ereignisse wie auch die Sprache selbst (die auch eine bestimmte Ereignismenge darstellt) auch in einer sehr spezifischen Weise verarbeitet.
[Anmerkung: ein Beispiel im Block zur Reflexion über die Funktion von logischer Sprache sind die Blogeinträge zur Logik von Avicenna. ]
Es kann also von Interesse sein, sich die Funktionsweise der mathematischen Sprache im Kontext moderner physikalischer Theorien anzuschauen.
BUCH VON TEGMARK
Als Einstieg zu dieser Frage bietet sich das Buch von Tegmark (2014) an. Denn hier beschreibt ein Vollblutphysiker seine Suche nach den richtigen Antworten auf Grundsatzfragen wie „Woher kam Alles? Wie wir alles enden? Wie groß ist alles?“ (S.7) oder „Was ist wirklich?“ (S.8) aus der Perspektive der modernen Physik, die sich der Sprache der Mathematik bedient.
PHYSIK PLUS
Dabei lässt er mehrfach durchblicken, dass seine Art die Fragen zu stellen und zu beantworten ein wenig abweicht von dem Stil, der in den offiziellen physikalischen Publikationen üblich ist, und dass dies auch der Grund ist, warum er viele Jahre (mehr als 25) quasi ein Doppelleben führen musst: einerseits als Physiker, der in der üblichen Weise publiziert und denkt, und andererseits als philosophierender Physiker, der sich auch Gedanken über die Methode selbst und deren Auswirkungen macht.
In Kapitel 1 deutet er den allgemeinen Rahmen an, in dem er sich in seinem Buch bewegt. (Siehe dazu das Schaubild)
FRAGEN UND METHODEN ZU ANTWORTEN
Ausgehend von der verbreiteten zweifelnden Frage ob das, was wir real erleben, nicht vielleicht doch nur ein Traum oder eine Simulation sei, deutet er an, mit welchen Mitteln die Physik sich diesen Fragen stellt.
Nach Tegmark geht die Physik von der Annahme der externen Realität eines Universums aus, in dem auch die biologische Evolution stattgefunden hat. Unser Körper mit dem Gehirn ist ein Ergebnis davon.
Zu früheren Zeiten (vor der modernen Physik) haben Menschen auch schon die Fragen nach dem Ganzen, dem Woher, dem Wohin gehabt und auf ihre Weise zu beantworten versucht, in Form von Mythen, Legenden oder religiösen Lehren.
Mit der modernen Physik wurde dies anders. In Wechselwirkung zwischen immer differenzierteren Messgeräten und immer komplexeren mathematischen Ausdrücken konnte die atomare Struktur des Universums enthüllt werden, man entdeckte die Unendlichkeit des Universums, schwarze Löcher und vieles mehr.
Parallel zu den Makrostrukturen enthüllte man schrittweise auch die Mikrostrukturen der biologischen Systeme: Atome, die Synapsen einer Gehirnzelle beeinflussen können, diese wiederum können Prozesse im präfrontalen Cortex stimulieren, von dem aus es dann zu bestimmten Entscheidungen kommen kann, die zu konkreten Aktionen führen können.
Das Gehirn im Körper hat seine eigene Wirklichkeit, die er interne Realität bezeichnet im Gegensatz zur äußeren Realität außerhalb des Gehirns.
Was Tegmark von den anderen unterscheidet, ist vielleicht seine Fokussierung auf die Rolle der mathematischen Sprache und die – in den folgenden Kapiteln – erläuterte These, dass die Natur als Objekt der mathematischen Sprache selbst ein mathematisches Objekt sei.
Ob sich diese These durchhalten lässt, wird sich zeigen.
Von diesem Diskurs darf man eine weitere Klärung der Rolle der Mathematik im physikalischen Denken erhoffen.
Obwohl ich in diesem Blog schon sehr viel geschrieben habe, habe ich noch niemals über das Verhältnis von Mathematik und Philosophie geschrieben. Dies ist umso erstaunlicher, als für mich das mathematische Denken einen roten Faden bildet, einen Rahmen, eine implizite Struktur, die eigentlich allem meinem Denken zugrunde liegt.
Eine Schwierigkeit des Redens über Mathematik liegt natürlich darin, dass die Mathematik mindestens eine Geschichte von 4000 Jahren umfasst und in dieser Zeit viele Formen durchlaufen hat. Für die meisten Menschen beschränkt sich das Wissen um Mathematik auf verschiedene Rechenpraktiken in der Schule; die einen fanden das interessant, die anderen (die meisten?) fanden diese Praktiken fremdartig, schwierig, ohne klaren Zusammenhang. Und in der Tat, das, was in den Schulen vermittelt wurde (heutige Praxis kenne ich nicht), waren eher ‚Praktiken‘, Rechenverfahren, aber nicht eigentlich das, was die moderne Mathematik kennzeichnet: Strukturen.
Eine gute Blitzübersicht der Formengeschichte der Mathematik von praktischen Alltagsproblemen (Landvermessung, Finanzwesen, Astronomie, …) zu immer abstrakteren Konzepten findet sich in den Artikeln zur Geometrie (Mainzer 1995)und zur Algebra (Parshall 2008). Dies ist eine sehr beeindruckende Geschichte. Wer zunächst nur die Konkretheit und Vielfalt der praktischen Probleme kennt, und dann die vielen unterschiedlichen mathematischen Vorgehensweisen betrachtet, kann sich kaum vorstellen, dass diese Vielfalt dann im 20.Jahrhundert in dem endet, was so schmucklos einfach Algebra genannt wird (noch erweitert um den modernen Kategorienbegriff (vgl. Cheng (2008)).
Der Vollblutmathematiker als solcher ist natürlich nicht interessiert an der Form als solcher, sondern an jenen Größen, Objekten, Strukturen, an und mittels deren sich mathematische Sachverhalte manifestieren. Andererseits, ohne darüber zu sprechen, wird er keinen Konsens mit anderen herstellen können. Also wird eine irgendwie geartete mathematische Sprache notwendig sein, die syntaktischen und semantischen Regeln folgt. Dies ist die Domäne der mathematischen Logik, die einen Anwendungsfall der allgemeinen formalen Logik darstellt (vgl. Marker (2008).
Ein philosophischer Aspekt kommt ins Spiel insofern Mathematiker ja Exemplare biologischer Systeme der Gattung homo sapiens darstellen. Deren Denkleistungen werden zwar von Gehirnen erbracht, die man empirisch untersuchen kann, aber für den handelnden (= denkenden) Mathematiker ist diese Denkleistung nur insofern erfahrbar, als diese sich im Raum seines Bewusstseins als Phänomen manifestiert. Das Gehirn legt zwar die Spielregeln fest, wann und wie etwas sich im Bewusstsein in Gestalt von Phänomenen manifestieren kann, aber ohne diese sich ereignenden Phänomene kann kein Mathematiker denken.
Es stellt sich damit die spannende Frage, wie die Inhalte und Strukturen der Mathematik mit dem Phänomenraum des Bewusstseins korrelieren?
Wenn ein Mathematiker reale Worte ausspricht oder Zeichen hinschreibt, dann sind diese konkrete empirische Ereignisse S, die als solche mit konkreten Phänomenen des Bewusstseins S* korrelieren. Diese konkrete Ereignisse S* korrespondieren dann (meistens) mit allgemeineren Strukturen, abstrakten Einheiten S**, von denen die konkreten Instanzen, Beispiele sind. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob den sprachlichen Ausdrücken, die mathematische Objekte/ Sachverhalte repräsentieren sollen, jenseits der Ausdrücke noch etwas anderes (eine Bedeutung) entspricht oder nicht. Ist das Zahlzeichen schon die Zahl selbst oder nur ein symbolisches Mittel, um auf die Zahl, die unabhängig vom symbolischen Zeichen existiert, hinzuweisen? Würde man letztere Auffassung teilen, würden sich ernsthafte Probleme stellen: in welcher Form können mathematische Objekte/ Sachverhalte jenseits ihrer sprachlichen Form existieren? Man bräuchte eine spzielle Ontologie oder gar Metaphysik.
In der mathematischen Modelltheorie (vgl. Marker (2008)) ist die Sachlage klar: es gibt einerseits symbolisch repräsentierte mathematische Strukturen und andererseits eine mathematische Sprache, die über die Strukturen sprechen kann. Mit Bezug auf die separaten symbolisch repräsentierten Strukturen bekommen mathematische Ausdrücke dann nicht nur eine Bedeutung, sondern auch eine Wahrheit oder Falschheit. Doch dann bleibt das Problem, wie man mit endlich vielen Zeichen über unendliche mathematische Größen sprechen kann.
Courant und Robbins nehmen in ihrer Einleitung (1941) eine ambivalente Position ein: einerseits sehen sie in der zunehmenden Formalisierung eine Gefahr für das mathematische Denken. Andererseits sehen sie in der ‚Entsubstantalisierung‚ (‚dissubstantiation‘) des mathematischen Denkens einen entscheidenden Fortschritt: mathematische Objekte haben keine metaphysische Bedeutung in irgendwelchen Substanzen an sich, sondern Punkte, Linien etc. sind Elemente einer Struktur, in der nur die Beziehungen und Strukturen zählen.
Hier wäre viel Arbeit zu leisten (und es gibt ja auch eine umfangreiche Literatur zum Thema).
Ein Ansatzpunkt könnte sein, diese philosophischen Fragen zur Mathematik im Rahmen des Emerging-Mind Projektes mit zu verfolgen. Dort geht es ja darum, anhand von definierten Aufgabenstellung systematisch künstliche kognitive Strukturen aufzubauen, die mindestens den menschlichen kognitiven Leistungen entsprechen. Der primäre Ansatzpunkt wird das Erlernen und die Benutzung der normalen Sprache sein. Die Einbeziehung mathematischer Strukturen bietet sich an.
QUELLEN
Eugenia Cheng. Categories. In Timothy Gowers, Editor THE PRINCETON COMPANION TO MATHEMATICS. Princeton University Press, Princeton (NJ), USA, 2008.
Richard Courant und Herbert Robbins. What is Mathematics? An Elementary Approach to Ideas and Methods. Oxford University Press, Oxford – New York, 1941, rev.ed. 1969.
Karen Hunger Parshall. The development of abstract algebra. In Timothy Gowers, Editor THE PRINCETON COMPANION TO MATHEMATICS, Kap. II.3, SS. 95–106. Princeton University Press, Princeton (NJ), USA, 2008.
Klaus Mainzer. Geometrie. In Jürgen Mittelstrass, Editor ENZYKLOPÄDIE PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSTHEORIE, Bd. 1: A-G, Kap. Geometrie, SS. 737–739. Verlag J.B.Metzler, Stuttgart – Weimar (DE), 1995.
David Marker. Logic and Model Theory. In Timothy Gowers, editor, THE PRINCETON COMPANION TO MATHEMATICS, Kap. IV.23, SS.1 635–646. Princeton University Press, Princeton (NJ), USA, 2008.
N. N. Kategorie. In Guido Walz, Editor Lexikon der Mathematik, Bd. Inp-Mon, Kap. Kategorie, SS. 92–93. Spectrum Akademischer Verlag, Heidelberg – Berlin (DE), 2001.
M. Schlichenmaier. Algebra. In Guido Walz, Editor Lexikon der Mathematik, Bd. A-Eif, Kap. Algebra, SS. 40–42. Spectrum Akademischer Verlag, Heidelberg – Berlin (DE), 2001.
Christian Thiel. Algebra. In Jürgen Mittelstrass, Editor ENZYKLOPÄDIE PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSTHEORIE, Bd. 1: A-G, Kap. Algebra, SS. 79-80. Verlag J.B.Metzler, Stuttgart – Weimar (DE), 1995.
Gereon Wolters. Kategorie. In Jürgen Mittelstrass:, Editor ENZYKLOPÄDIE PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSTHEORIE, Bd. 2:H-O, Kap. Kategorie, SS. 368–369. Verlag J.B.Metzler, Stuttgart – Weimar (DE), 1995.
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In dem Beitrag Digitalisierung und die Religionen vom 9.März 2016 gibt es neben vielen anderen Motiven zwei Motive, die besonders hervortreten: einmal das Momentum (i) kombinatorischer Räume, die gefüllt werden können, und zum anderen (ii) das Momentum der Auswahl, welche Teilräume wie gefüllt werden sollen.
KOMBINATORISCHER RAUM BIOLOGISCHE ZELLE
Im Rahmen der biologischen Evolution auf Zellebene z.B. eröffnet sich der kombinatorische Raum an verschiedenen Stellen. Eine ist jene, wo das Übersetzungsmolekül (das Ribosom) von den gespeicherten potentiellen Informationen (DNA mit ihren Abwandlungen) eine Transformation in andere Moleküle (Proteine) überleitet , mit denen sich neue Zellstrukturen aufbauen lassen. Die Verfügbarkeit dieser Proteine, ihre chemischen Eigenschaften und die Umgebungseigenschaften definieren einen potentiellen kombinatorischen Raum, von dem im konkreten Übersetzungsprozess dann ein bestimmter Teilraum ausgewählt wird.
Aber auch schon der potentielle Informationsspeicher (realisiert mittels DNA-Molekülen) selbst, wie auch seine verschiedenen Transformationsprozesse bis zum Übersetzungsprozess in Proteine repräsentieren ebenfalls kombinatorische Räume, deren Realisierung viel Spielraum zulässt.
Man könnte diese molekülbasierte Informationsspeicherung, diese Transformationen der Moleküle, als eine Urform des Denkens ansehen: Moleküle fungieren als Repräsentanten möglicher Konstruktionsprozesse, und diese Repräsentanten können verändert, rekombiniert werden zu neuen Strukturen, die dann zu neuen Konstruktionsprozessen führen. Man hat also – vereinfacht – ein Funktion der Art repr: M_inf x M_tr x MMprot —> Z, d.h. die Reproduktionsfunktion repr die mittels Molekülen, die als Informationsträger fungieren (M_inf), mittels Molekülen (M_tr), die als Übersetzer fungieren und Molekülen (MM_prot), die als Proteine fungieren können, daraus neue Zellstrukturen entstehen lassen kann.
GELIEHENE PRÄFERENZEN
So wundersam diese Urform des Denkens immer neue kombinatorische Räume strukturell aufspannen und dann im Reproduktionsprozess als reales Strukturen konkretisieren kann, so hilflos und arm ist dieser Mechanismus bei der Beurteilung, Bewertung, welche der möglichen Teilräume denn bevorzugt vor anderen realisiert werden sollten. Soll das Fell weiß oder schwarz sein? Benötigt man überhaupt Zähne? Wozu so komplizierte Hand- und Fingergelenke? Warum tausende Kilometer reisen, um zu brüten? … Die Urform des Denkens ist unfähig, ihre potentielle innere Vielfalt selbständig zu bewerten. Man kann auch sagen, die Urform des Denkens kann zwar kombinieren, ist aber blind wenn es darum geht, gezielt Teilräume auszuwählen, die sich als interessante Kandidaten für das Leben anbieten.
Dabei ist schon die Wortwahl ‚interessante Kandidaten für das Leben‘ problematisch, da der Begriff Leben eine Schöpfung von Lebewesen ist, die viele Milliarden Jahre später erst auftreten und die versuchen im Nachhinein, von außen, durchtränkt von neuen Bedingungen, die zunächst bedeutungsleere Wortmarke Leben mit Bedeutung zu füllen. Die Urform des Denkens verfügt über keinen externen Begriff von Leben und es gibt keine Ingenieure, die der Urform des Denkens zuflüstern können, was sie tun sollen.
MOLEKÜLE ALS INFORMATIONSSPEICHER IMPLIZITE PRÄFERENZEN
Allerdings beinhaltet schon die Urform des Denkens über ein Moment, das außerordentlich ist: jene Moleküle (DNA), die als Speicher potentieller Informationen dienen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt repräsentieren diese Informations-Moleküle einen eng umgrenzten Teilraum eines kombinatorischen Raumes und wirken für den Übersetzungsprozess wie eine Art Anweisung in Form eines Bauplans. Gemessen an dem theoretisch möglichen kombinatorischen Raum stellt der Plan des Informationsmoleküls eine Auswahl dar, eine Selektion und damit zeigt sich hier eine indirekte Präferenz für die Informationen auf dem Molekül vor allen anderen möglichen Informationen. Die Urform des Denkens kann zwar im Prinzip einen riesigen potentiellen kombinatorischen Raum repräsentieren und transformieren, die konkrete Zelle aber repräsentiert in diesem riesigen Raum einen winzigen Teilbereich, mit einem aktuellen Ausgangspunkt – gegeben durch die aktuellen Informationen auf dem Informationsmolekül M_inf – und potentiellen Veränderungsrichtungen – gegeben durch die Transformationsprozesse einschließlich der verfügbaren Materialien und Pannen im Prozess. Anders formuliert, die Informationsmoleküle repräsentieren eine komplexe Koordinate (KK) im kombinatorischen Raum und die Transformationsprozesse (einschließlich Pannen und Materialien) repräsentieren eine Menge von möglichen Veränderungsrichtungen (DD), an deren Endpunkten dann jeweils neue komplexe Koordinaten KK_neu_1, …, KK_neu_n liegen.
Wichtig: eine Zelle enthält über die Informationsmoleküle zwar implizite Präferenzen/ Werte, die die Urform des Denkens steuern, diese Präferenzen werden aber nicht von der Zelle selbst generiert, sondern entstehen aus einem Wechselspiel/ aus einer Interaktion mit der Umgebung! Biologische Strukturen (bis heute nur bekannt auf dem Planeten Erde in unserem Sonnensystem in einem geschützten Bereich der Galaxie Milchstraße des uns bekannten Universums) kommen nie isoliert vor, sondern als Teil einer Umgebung, die über sogenannte freie Energie verfügt.
OHNE ENERGIE GEHT NICHTS
Biologische Zellen sind Gebilde, die für ihre Konstruktion und für ihr Funktionieren solche freie Energie brauchen. Der Umfang ihrer Strukturen wie auch die Dauer ihres Funktionierens hängt direkt und ausschließlich von der Verfügbarkeit solcher freien Energie ab. Bezogen auf den kombinatorischen Raum, der durch die Kombination (Informationsmoleküle, Transformationsmolekül, Bausteine) potentiell gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der notwendigen Fähigkeit zum Finden und Verarbeiten von freier Energie nicht neutral! Definieren wir den potentiellen kombinatorischen Raum PKK für biologische Zellen als Raum für mögliche komplexe Koordination KK (also KK in PKK), dann sind im potentiellen kombinatorischen Raum nur jene Teilräume von Interesse, in denen die biologische Zelle über hinreichende Fähigkeiten verfügt, freie Energie zu finden und zu nutzen. Nennen wir die Gesamtheit dieser interessanten Teilräume PKK+, mit PKK+ subset PKK.
GEBORGTE PRÄFERENZEN
Da die individuelle biologische Zelle selbst über keinerlei explizite Informationen verfügt, wo überall im potentiell kombinatorischen Raum PKK die interessanten Teilräume PKK+ liegen, stellt sie – trotz ihrer eigenen Reproduktionstätigkeit – eher ein passives Element dar, das sich mit geborgten Präferenzen im potentiellen kombinatorischen Raum PKK bewegt, ohne explizit wissen zu können, ob es auf seinem Weg durch den potentiellen kombinatorischen Raum PKK auch tatsächlich auf solche komplexen Koordinaten KK+ stößt, die ihr eine minimale Lebensfähigkeit erlauben.
Da wir vom Jahr 2016 rückwärts blickend wissen, dass diese passiven Elemente es in ca. 4 Mrd Jahren geschafft haben, komplexe Strukturen unvorstellbaren Ausmaßes zu generieren (ein Exemplar des homo sapiens soll z.B. ca. 37 Billionen Körperzellen haben (davon ca. 100 Mrd als Gehirnzellen), dazu ca. 200 Billionen Bakterien in seinem Körper plus ca. 220 Milliarden auf seiner Haut (siehe dazu Kegel-Review Doeben-Henisch), muss man konstatieren, dass die permanente Interaktion zwischen biologischer Zelle und ihrer Umgebung offensichtlich in der Lage war, all diese wichtigen Informationen PKK+ im potentiellen kombinatorischen Raum PKK zu finden und zu nutzen!
Für die Frage der potentiellen Präferenzen/ Werte gilt für diesen gesamten Zeitraum, dass sich die implizit gespeicherten Präferenzen nur dadurch bilden konnten, dass bestimmte generierte Strukturen (M_inf, M_tr, MM_prot) sich immer von einer positiven komplexen Koordinate zur nächsten positiven Koordinate bewegen konnten. Dadurch konnten die gespeicherten Informationen kumulieren. Aus der Evolutionsgeschichte wissen wir, dass ein Exemplar des homo sapiens im Jahr 2016 eine Erfolgsspur von fast 4 Mrd Jahren repräsentiert, während in diesem Zeitraum eine unfassbar große Zahl von zig Mrd anderen generierte Strukturen (M_inf, M_tr, MM_prot) irgendwann auf eine negative komplexe Koordinate KK- geraten sind. Das war ihr Ende.
ERHÖHUNG DER ERFOLGSWAHRSCHEINLICHKEIT
Für den Zeitraum bis zum Auftreten des homo sapiens müssen wir konstatieren, dass es Präferenzen/ Werte für ein biologisches System nur implizit geben konnte, als Erinnerung an einen erreichten Erfolg im Kampf um freie Energie. Unter Voraussetzung, dass die umgebende Erde einigermaßen konstant war, war die Wahrscheinlichkeit, von einer positiven Koordinate KK+ zu einer weiteren komplexen Koordinate KK+ zu kommen um ein Vielfaches höher als wenn das biologische System nur rein zufällig hätte suchen müssen. Die gespeicherten Informationen in den Informationsmolekülen M_inf stellen somit sowohl erste Abstraktionen von potentiellen Eigenschaften wie auch von Prozessen dar. Damit war es Anfangshaft möglich, die impliziten Gesetzmäßigkeiten der umgebenden Welt zu erkennen und zu nutzen.
URSPRUNG VON WERTEN
Es fragt sich, ob man damit einen ersten Ort, einen ersten Ursprung potentieller Werte identifizieren kann.
Vom Ergebnis her, von den überlebensfähigen biologischen Strukturen her, repräsentieren diese einen partiellen Erfolg von Energienutzung entgegen der Entropie, ein Erfolg, der sich in der Existenz von Populationen von solchen erfolgreichen Strukturen als eine Erfolgsspur darstellt. Aber sie alleine bilden nur die halbe Geschichte. Ohne die umgebende Erde (im Sonnensystem, in der Galaxie…), wäre dieser Erfolg nicht möglich. Andererseits, die umgebende Erde ohne die biologischen Strukturen lässt aus sich heraus nicht erkennen, dass solche biologische Strukturen möglich noch wahrscheinlich sind. Bis heute ist die Physik mehr oder weniger sprachlos, wirkt sie wie paralysiert, da sie mit ihren bisherigen (trotz aller mathematischen Komplexität weitgehend naiven) Modellen nicht einmal ansatzweise in der Lage ist, die Entstehung dieser biologischen Strukturen zu erklären. Von daher müssen wir fordern, dass die umgebende Erde — letztlich aber das gesamte bekannte Universum — die andere Hälfte des Erfolgs darstellt; nur beide zusammen geben das ganze Phänomen. In diesem Fall würde ein reduktiver Ansatz nicht vereinfachen, sondern das Phänomen selbst zerstören!
ONTOLOGISCHE GELTUNG VON BEZIEHUNGEN
Dies führt zu einem bis heute ungeklärten philosophischen Problem der ontologischen Geltung von Funktionen. In der Mathematik sind Funktionen die Grundbausteine von allem, und alle Naturwissenschaften wären ohne den Funktionsbegriff aufgeschmissen. Eine Funktion beschreibt eine Beziehung zwischen unterschiedlichen Elementen. In der Mathematik gehören diese Elemente in der Regel irgendwelchen Mengen an, die einfach unterstellt werden. Wendet man das mathematische Konzept Funktion auf die empirische Wirklichkeit an, dann kann man damit wunderbar Beziehungen beschreiben, hat aber ein Problem, die in der Mathematik unterstellten Mengen in der Realität direkt erkennen zu können; man muss sie hypothetisch unterstellen. Was man direkt beobachten und messen kann sind nicht die funktionalen Beziehungen selbst, sondern nur isolierte Ereignisse in der Zeit, die der Beobachter in seinem Kopf (Gehirn, Gehirnzellen…) verknüpft zu potentiellen Beziehungen, die dann, wenn sie sich hinreichend oft wiederholen, als gegebener empirischer Zusammenhang angenommen werden. Was ist jetzt empirisch real: nur die auslösenden konkreten individuellen Ereignisse oder das in der Zeitgeordnete Nacheinander dieser Ereignisse? Da wir ja die einzelnen Ereignisse protokollieren können, können wir sagen, dass auch das Auftreten in der Zeit selbst empirisch ist. Nicht empirisch ist die Zuordnung dieser protokollierten Ereignisse zu einem bestimmten gedachten Muster/ Schema/ Modell, das wir zur gedanklichen Interpretation benutzen. Die gleichen Ereignisse lassen in der Regel eine Vielzahl von unterschiedlichen Mustern zu. Einigen wir uns kurzfristig mal auf ein bestimmtes Muster, auf den Zusammenhang R(X, …, Z), d.h. zwischen den Ereignissen X, …, Z gibt es eine Beziehung R.
Biologische Systeme ohne Gehirn konnten solche Relationen in ihrem Informations-Moleküle zwar speichern, aber nicht gedanklich variieren. Wenn die Beziehung R stimmen würde, dann würde sie zur nächsten positiven komplexen Koordinate KK+ führen, was R im Nachhinein bestätigen würde; wenn R aber zu einer negativen komplexen Koordinate KK- führen würde, dann war dies im Nachhinein eine Widerlegung, die nicht mehr korrigierbar ist, weil das System selbst verschwunden (ausgestorben) ist.
Im Gehirn des homo sapiens können wir ein Beziehungsmuster R(X, …, Z) denken und können es praktisch ausprobieren. In vielen Fällen kann solch ein Interpretationsversuch scheitern, weil das Muster sich nicht reproduzieren lässt, und in den meisten solchen Fällen stirbt der Beobachter nicht, sondern hat die Chance, andere Muster R‘ auszuprobieren. Über Versuch und Irrtum kann er so – möglicherweise irgendwann – jene Beziehung R+ finden, die sich hinreichend bestätigt.
Wenn wir solch ein positiv bestätigtes Beziehungsmuster R+ haben, was ist dann? Können wir dann sagen, dass nicht nur die beteiligten empirischen Ereignisse empirisch real sind, sondern auch das Beziehungsmuster R+ selbst? Tatsächlich ist es ja so, dass es nicht die einzelnen empirischen Ereignisse als solche sind, die wir interessant finden, sondern nur und ausschließlich die Beziehungsmuster R+, innerhalb deren sie uns erscheinen.
In der Wechselwirkung zwischen umgebender Erde und den Molekülen ergab sich ein Beziehungsmuster R+_zelle, das wir biologische Zelle nennen. Die einzelnen Elemente des Musters sind nicht uninteressant, aber das wirklich frappierende ist das Beziehungsmuster selbst, die Art und Weise, wie die Elemente kooperieren. Will man dieses Beziehungsmuster nicht wegreden, dann manifestiert sich in diesem Beziehungsmuster R+_zelle ein Stück möglicher und realer empirisches Wirklichkeit, das sich nicht auf seine Bestandteile reduzieren lässt. Es ist genau umgekehrt, man versteht die Bestandteile (die vielen Milliarden Moleküle) eigentlich nur dadurch, dass man sieht, in welchen Beziehungsmustern sie auftreten können.
Vor diesem Hintergrund plädiere ich hier dafür, die empirisch validierten Beziehungsmuster als eigenständige empirische Objekte zu betrachten, sozusagen Objekte einer höheren Ordnung, denen damit eine ontologische Geltung zukommt und die damit etwas über die Struktur der Welt aussagen.
Zurück zur Frage der Präferenzen/ Werte bedeutet dies, dass man weder an der Welt als solcher ohne die biologischen Systeme noch an den biologischen Strukturen als solche ohne die Welt irgendwelche Präferenzen erkennen kann. In der Wechselwirkung zwischen Erde und biologischen Strukturen unter Einbeziehung einer Irreversibilität (Zeit) werden aber indirekt Präferenzen sichtbar als jener Pfad im potentiellen Möglichkeitsraum der komplexen Koordinaten KK, der die Existenz biologischer Systeme bislang gesichert hat.
Dieser Sachverhalt ist für einen potentiellen Beobachter unaufdringlich. Wenn der Beobachter nicht hinschauen will, wenn er wegschaut, kann er diesen Zusammenhang nicht erkennen. Wenn der Beobachter aber hinschaut und anfängt, die einzelnen Ereignisse zu sortieren und versucht, aktiv Beziehungsmuster am Beispiel der beobachteten Ereignispunkte auszuprobieren (was z.B. die Evolutionsbiologie tut), dann kann man diese Strukturen und Prozesse erkennen, und dann kann man als Beobachter Anfangshaft begreifen, dass hier ein Beziehungsmuster R+_zelle vorliegt, das etwas ganz Außerordentliches, ja Einzigartiges im ganzen bekannten Universum darstellt.
Keine direkte, aber eine indirekte, Fortsetzung könnte man in diesem Beitrag sehen.
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