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MEMO: AUGE IN AUGE MIT DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ. PHILOSOPHIESOMMER 2016 IN DER DENKBAR – Sitzung vom 12.Juni 2016

Entsprechend den vielfachen Wünschen der Teilnehmer war für die Sitzung am 12.Juni 2016 ein Experte für intelligente Maschinen eingeladen worden, eine kleine Einführung in die aktuelle Situation zu geben.

Ziel des Beitrags sollte es sein, anhand konkreter Beispiele ein wenig mehr zu verdeutlichen, was intelligente Maschinen wirklich leisten können. Im anschließenden Diskurs sollte es wieder darum gehen, diesen Beitrag als Ausgangspunkt zu nehmen, um die Fragen der anwesenden Teilnehmer und ihre Gedanken zu Worte kommen zu lassen.

Gedankenskizze von der Sitzung des Philosophiesommers 2016 in der DENKBAR vom 12.Juni 2016
Gedankenskizze von der Sitzung des Philosophiesommers 2016 in der DENKBAR vom 12.Juni 2016

Das Diagramm gibt einen ersten Überblick über die Struktur der Sitzung. Im Einstieg wurden in lockerer Form verschiedene Videos vorgestellt, immer wieder unterbrochen durch ad hoc Erläuterungen, die sehr konkrete Eindrücke von den agierenden Forschern und ihren Algorithmen vermittelten. Danach gab es ein sehr lebhaftes Gespräch, in dem weniger die Details der Algorithmen diskutiert wurden, sondern mehr die Gefühle, Befürchtungen und Fragen, die das Ganze bei allen auslöste.

KI DIREKT

Das Gebiet der KI ist ziemlich groß. An diesem Tag wurde von einem kleinen Ausschnitt berichtet, er sich aber zur Zeit im Zentrum größten Interesses befindet. Es ging vornehmlich um Bilderkennung und ein bisschen um Methoden des anfangshaften Verstehens von Sprache.

Bei der Bilderkennung wurden Beispiel gezeigt, wie Rechner heute Szenen analysieren und darin dann einzelne Objekte erkennen könne; wie dann in einer Folge von Szenen die erkannten Objekte räumliche Strukturen bilden können (Räume, Straßen, …), in denen man dann nach Pfaden/ Wegen suchen kann. Unter den Videos war auch eine künstlerische Anwendung, die zeigte, dass man diese Technologien auch ganz anders einsetzen kann. (Ergänzend kann man z.B. auch hinweisen auf Bereiche wie die Musik, in der KI mittlerweile komplexe Musikstücke analysieren und neu arrangieren kann, und sogar als eigenständiger Musiker in einer Band mitspielen kann, z.B. „Wunder der Technik Musikalische Drohnen ersetzen das Orchester „, oder „Neue Jobs für Roboter„).

Bei dem anfangshaften Verstehen von Sprache wurden Methoden vorgestellt, die aus den Verteilungen von Worten und Wortverbindungen zu Bedeutungsschätzungen kommen können, und auch hier wieder alltagspraktische Anwendungen wie jene, bei der Texte eines Politikers künstlerisch so abgewandelt werden konnten, dass sie wie die Texte dieses Politikers aussahen, aber vom Algorithmus produziert worden waren. Aber auch hier gilt, dass dies nur ein kleiner Ausschnitt von dem war, was heute schon im Einsatz ist (man denke an den sogenannten Roboter-Journalismus, wo die Nachrichten und Artikel ganzer Webseiten mittlerweile komplett durch Algorithmen erstellt werden, z.B. „Roboterjournalismus: Maschinen ohne Moral“ oder „Automatisierter Journalismus: Nehmen Roboter Journalisten den Job weg?)

GESPRÄCH : WIDERHALL IN UNS

Bei den Teilnehmern überwog die Skepsis die Faszination.

KI AKTEURE

Auffällig war den meisten, wie jung die Akteure in der Szene waren, selbst die Chefs und CEOs von milliardenschweren Unternehmen. Wie diese (scheinbar) unbekümmert die Vorzüge ihrer Technik priesen, begeistert, enthusiastisch; Nachdenklichkeiten, kritische Überlegungen sah man nicht (im Kontrast dazu vielleicht die Eindrücke, die man von deutschen Konzernen hat mit ihren schwerfälligen autoritären Strukturen, mit ihren zementierten Abläufen, der großen Risikoaversion…). Der Geist der KI-Akteure hingegen erzeugt Neues, Innovatives, bewegt die Welt. In Erinnerungen an den Bau der Atombombe mit den begeisterten Forschern für das technische faszinierend Machbare stellte sich mancher aber auch die Frage, ob diese Unbekümmertheit, diese emotionslose Technik, nicht auch gefährlich ist (je mehr Bilderkennung z.B. im öffentlichen Bereich, dann auch mehr umfassende Kontrolle, Überwachung. Das ‚System‘ weiß dann immer, wo man gerade ist und mit wem er zusammen ist (immerhin hat sich das US-Verteidigungsministerium den Chef von Alphabet (dazu gehört google) mittlerweile offiziell als Berater geholt)). Andere fragten sich, ob es in Zukunft eigentlich nur noch Informatiker gibt (quasi als allfällige Diener der KI), während alle anderen überflüssig werden.

OFFENE ZIELE

Sieht man die aktuelle Techniksituation als Momentaufnahme eines Prozesses mit einer Geschichte und möglichen Zukünften, dann kann (und muss?) man die Frage, nach dem darin wirkenden Fortschrittsbegriff stellen, nach den wirkenden Kriterien.

WAS IST INTELLIGENZ?

Ein Teilaspekt ist der Begriff der Künstlichen Intelligenz mit dem Teilbegriff Intelligenz. Was ist damit eigentlich gemeint? Auf welche Intelligenz bezieht man sich? In der Psychologie benutzt man seit ca. 100 Jahren einen operationalisierten Intelligenzbegriff zur Messung der Intelligenz (Binet). Doch diese Betrachtungsweise ist sehr quantifizierend und wird vielfach kritisiert, auch mit Verweis auf kulturelle Unterschiede. Im Unterschied zur Pschologie findet man im Bereich der KI selbst bzw. in der Informatik keine einheitliche Definition von Intelligenz (siehe z.B. KI ). Während die KI im klassischen Sinne sich an der Intelligenz von biologischen Systemen orientiert, die nachempfunden werden soll, findet sich heute vielfach ein engeres, ingenieurmäßiges Verstehen von KI als Maschinelles Lernen. Hier wird die Frage nach Intelligenz im allgemeinen gar nicht mehr gestellt. Stattdessen gibt es immer konkrete, spezielle Aufgabenstellungen, die technisch gelöst werden sollen, und die Lösung konzentriert sich dann ausschließlich auf diese eingeschränkten Aspekte.

SELBSTBESCHREIBUNG DES MENSCHEN ALS MASCHINE

Die Diskussion um den Intelligenzbegriff streift auch das Phänomen, dass die Menschen in nahezu allen Epochen dahin tendieren, sich selbst immer im Licht der neuesten Erkenntnisse und Techniken zu beschreiben, sozusagen auf der Suche nach sich selbst. Eigentlich weiß kein Mensch so richtig, wer er ist und ist dankbar für jedes Bild, was man ihm anbietet. So vergleichen sich Kinder heute häufig mit einem PC: ‚mein Kopf ist wie ein Computer‘; ‚ich habe das nicht abgespeichert‘; ‚meine Festplatte ist leer’…. Zu Zeiten eines La Mettrie (1709 – 1751)  wurde der Geist der Dualisten (vor allem repräseniert duch Descartes) aus dem Körper des Menschen verbannt; der Körper war nur noch eine Maschine (im damaligen Verständnis) ohne Geist.

VIRTUALITÄT ALS GEFAHR?

Mit Blick auf die KI und die enorme Zunahme an digitalen Räumen als virtuelle Welten wurde auch die Frage aufgeworfen, wieweit dies eine Gefahr darstellt? Verzetteln wir uns nicht? Wissen wir noch Virtuelles und Reales auseinander zu halten? Dazu sei angemerkt, dass sich das Erleben und Denken des Menschen ja primär in seinem Gehirn abspielt, das als Gehirn im Körper sitzt ohne direkten Weltbezug. D.h. schon das normale Denken des Menschen hat das Problem, dass es dem einzelnen zwar real erscheint, inhaltlich aber – bezogen auf eine unterstellte Außenwelt – mit der Außenwelt nicht automatisch übereinstimmen muss. Es gehört ja gerade zur Kulturgeschichte des Menschen, dass er mühsam lernen musste, dass die meisten Gedanken der Vergangenheit eben nur Gedanken waren und nicht die Welt beschrieben haben, wie sie wirklich (=empirisch überprüfbar) ist. Insofern stellen die neuen virtuellen Welten nichts wirklich Neues dar, wohl aber eine Modifikation der Situation, die neu verstanden und gelernt werden muss.

BRAUCHEN WIR NOCH MEHR EVOLUTION?

Greift man nochmals den Gedanken auf, dass die aktuelle Techniksituation als Momentaufnahme eines Prozesses mit einer Geschichte und möglichen Zukünften Teil der Evolution ist, wurde gefragt, ob wir noch mehr Evolution brauchen? Außerdem, welches Ziel hat diese Evolution?

Mit Blick auf den Blogeintrag vom 11.Juni 2016 wurde eingeblendet, dass sich die Frage nach der Evolution möglicherweise anders stellt. Schliesslich sind wir selbst, alle Menschen, alle Lebewesen, Produkt der Evolution, wir sind Teilnehmer, aber bislang nicht als Herren des Geschehens. Und vieles spricht dafür, dass alle Phänomene im Umfeld des Menschen auch nicht los lösbar sind von der Evolution. Sie gehören quasi dazu, wenn auch vielleicht in einem neuen qualitativen Sinn. Soweit wir heute erkennen können, ist es seit dem Auftreten des homo sapiens sapiens (hss) zum ersten Mal seit dem Auftreten des Lebens auf der Erde möglich, dass das Leben als Ganzes sich in Gestalt des hss sich quasi selbst anschauen kann, es kann sich mehr und mehr verstehen, es kann seine eigenen Baupläne lesen und mehr und mehr abändern. Dies eröffnet für das Leben auf der Erde (und damit im ganzen bekannten Universum) eine völlig neue und radikale Autonomie. Die allgemeine physikalische Entropie wird bislang dadurch zwar nur lokal aufgehoben, aber immerhin, dass es überhaupt möglich ist, über die bekannten Naturgesetze hinaus durch bestimmte Prozesse Strukturen zu erzeugen, die der Entropie zuwider laufen, ist ein bemerkenswertes Faktum, das bislang von der Physik so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen wird (und auch nicht von den Akteuren selbst, dem hss).

RADIKALE AUTONOMIE

Möglicherweise ist die fundamentale Tragweite der neuen radikalen Autonomie des Lebens auch deshalb noch nicht so recht ins Bewusstsein getreten, weil im Alltag, im konkreten Dasein, die körperlichen Grenzen sehr deutlich sind, die ganze Trieb-, Bedürfnis-, und Emotionsstruktur des Menschen in ihrer Konkretheit und Intensität vielfach als so stark empfunden wird, dass man die großen Linien, die geradezu kosmologische Dimension dieser radikalen Autonomie noch kaum wahrnimmt.

Dazu kommt, dass die Tatsache, dass sich fast alle interessanten Prozesse im Innern des Menschen abspielen, es notwendig macht, dass diese inneren Prozesse über Kommunikation miteinander koordiniert werden müssten. Dies ist aufwendig und schwierig. Viele (die meisten) Menschen scheitern hier, kapitulieren. So verharren sie – und damit ganze Generationen – in bestimmten Empfindungs-, Denk- und Handlungsmustern, die nicht weiter führen, die eher Rückschritt bedeuten.

Aktuell erscheint es offen, in welche der vielen möglichen Zukünfte wir uns bewegen werden. Werden demnächst die intelligenten Maschinen alles übernehmen, weil der hss ausgedient hat? Oder wird es doch bei einer Symbiose auf hohem Niveau bleiben, in der der hss die intelligenten Maschinen für sich nutzt und die intelligenten Maschinen durch den Menschen Räume erobern können, die ihnen sonst verschlossen wären? Oder – und diese dritte Möglichkeit sieht aktuell – soweit ich sehe – eigentlich noch niemand – wird er Mensch in den nächsten Jahren neu erwachen und begreifen, dass diese radikale Autonomie etwas radikal Neues darstellt, etwas, das es so noch nie zuvor in den 13.8 Mrd Jahren gegeben hatte?

Um die radikale Autonomie nutzen zu können, muss der Mensch erstmalig in der Geschichte des Lebens die Frage nach den Werten, nach den Zielen, wohin die Reise eigentlich gehen soll, selber stellen … und beantworten. Bis zum hss gab es keine Wertediskussion. Die Evolution stellte einen Prozess dar, in dem bestimmte Lebensformen im Kontext der Erde überlebt hatten; das waren die einzigen Werte im Nachhinein. Vor der Neuwerdung im Reproduktionsprozess gab es keine expliziten Werte. Es gab bisherige Erfolge und viel Zufall.

Einen Überblick über alle Beiträge zum Philosophiesommer/ zur Philosophiewerkstatt nach Titeln findet sich HIER.

EIN EVOLUTIONSSPRUNG PASSIERT – JETZT – UND NIEMAND BEMERKT ES?

FANTASIE ALLÜBERALL

  1. Die Geschichte der Menschheit ist voll von Fantasien, Träumen, Mythen, Utopien, Science Fiction. Heutzutage wird die Bilderflut noch verstärkt durch die vielen medialen Kanälen, in denen das Gehirn überschwemmt wird mit Bildern, die sich kaum noch einordnen lassen lassen als real, oder als fantastisch oder was genau?

WUNDERBARES GEHIRN

  1. Diese Bilderflut ist möglich durch ein Gehirn, das in der Lage ist, aktuell Gegebenes, das Jetzt, durch Erinnerungen, Abstraktionen, freie Kombinationen hinter sich zu lassen. Das Jetzt kann darin zu einem Moment in einer Folge werden, und die Folge wird zu einem Ist, das zwar passiert, aber beeinflussbar ist. Der hss lernt, dass er selbst kein rein passives Etwas ist, sondern auf vielfältige Weise Einfluss nehmen kann auf das Jetzt, auf die Folgen von Momenten. Er lernt, dass er den Gang der Dinge verändern kann.

JENSEITS DES JETZT

  1. Dieses Wissen um das Mehr jenseits des Jetzt ist uns vertraut, ist uns so vertraut, dass es uns gar nicht mehr auffällt. Aber es sollte uns auffallen, es sollte uns geradezu elektrisieren, denn fast 13.8 Mrd Jahre lang gab es – nach aktuellem Wissen – keine aktuelle Lebensform im gesamten Universum, die über diese Fähigkeit verfügte.
Evolution durchbricht mit dem hss den objektivn Gang der Dinge: hss kann auch ohne Tod Innovationen herbeiführen. Der Prozess hat ein 'Selbst' bekommen
Evolution durchbricht mit dem hss den objektivn Gang der Dinge: hss kann auch ohne Tod Innovationen herbeiführen. Der Prozess hat ein ‚Selbst‘ bekommen

DAS LEBEN VOR DEM MENSCHEN

EINE KETTE AN INNOVATIVEN EXPLOSIONEN

  1. Das Leben vor dem hss war ein Getriebenes: nach ca. 10 Mrd Jahren universalem kosmischen Geschehen, das u.a. unser Sonnensystem mit unserer Erde hervorgebracht hatte, entstanden auf der Erde, in den Tiefen der Ozeane, jene chemischen Strukturen, die wir heute als erste Zellen bezeichnen. Schon diese erste – einfache – Zellen sind ein Wunderwerk molekularer Strukturen und chemischer Prozessketten. Mit diesen ersten Zellen war es erstmalig möglich, selbständig Energie in Form von freien Ladungen aus der Umgebung über eine Membranoberfläche in das Innere der Zelle zu transportieren und diese Energie für unterschiedliche chemische Prozesse zu nutzen. Dies war eine Sensation. Entgegen der allgemeinen Entropie gab es hier physikalische Prozesse, die freie Energie aus der Umgebung abzapften und sie – entgegen der Entropie – für den Aufbau lokaler Strukturen, also lokaler Ordnungen, nutzten. In der allgemeinen Physik sind solche Prozesse nicht vorgesehen und bis heute nicht erklärbar.
  2. Diese ersten Wunderwerke des Lebens konnten sich auch schon selbst reproduzieren. Schon da gab es spezielle Moleküle – heute DNA Moleküle genannt –, die von anderen Molekülen so benutzt wurden, als ob sie eine Bauanleitung darstellten. Die einzelnen Elemente dieser Bauanleitungsmoleküle wurden als Elemente eines Kodes interpretiert, aus dem man entnehmen konnte, wie man eine neue Zelle bauen kann. Wie es zu dieser originellen Arbeitsteilung – von Informationsspeicher hier und Informationen lesen und übersetzen dort — kam ist bis heute noch eher im Dunkeln. Mit dem heutigen Wissen können wir aber in dieser Struktur der Interpretation eines Kodes und darauf aufbauend die Aktivität einer Konstruktion als strukturidentisch mit dem Konzept einer Turingmaschine erkennen. Die Turingmaschine, das zentrale philosophisch-mathematische Konzept unserer Tage für das, was ein Computer sein kann, ist in diesen ersten einfachen Zellen schon realisiert. Jede Zelle ist in dem Sinne ein Computer! Mit dem Computer haben wir so gesehen nichts Neues erfunden, nur etwas sehr, sehr Altes auf neuer Ebene wieder endeckt.
  3. Und noch etwas Grundlegendes ist zu beachten: der Reproduktionsprozess war nie ein 1-zu-1 Prozess. Die neuen Strukturen wichen von den vorausgehenden immer irgendwie ab, mal weniger, mal mehr. Dies hatte zur Folge, dass die nachfolgenden Generationen neue Formen (Phänotypen) ausbildeten, die darin über neue Fähigkeiten verfügten, die andere Organismen nicht besaßen. Wenn diese neuen Fähigkeiten das Überleben verbesserten, erhöhten sich die Chancen auf Nachkommen; andernfalls wurden sie geringer. Der stillschweigende Maßstab für Erfolg/ Misserfolg war jeweils die Passung zur vorhandenen Erde samt ihren Gegebenheiten. Einem Lebewesen vor dem hss war es nicht möglich, ein eigenes Wertesystem unabhängig von den Vorgaben der Erde zu entwickeln. Dies bedeutet, dass es in der Zeit von ca. -3.8 Mrd Jahren bis ca. -200.000 (oder etwas früher, wenn man die früheren menschenähnlichen Wesen mit einbeziehen will) einem Lebewesen nicht möglich war, ein eigenständiges Ziel-/ Wertesystem über die realen Lebenserfordernisse hinaus auszubilden.
  4. Verschärft wird diese Situation auch noch dadurch, dass bei dieser beschränkten Innovationsfähigkeit der Lebewesen (nur bei Reproduktion) die Notwendigkeit eines Todes, also einer beschränkten Lebenszeit, unausweichlich war. Durch die beständige Veränderung der Erde sowie durch die parallele dynamische Entwicklung aller Lebensformen bestand zwischen allen Lebensformen und der Lebenssituation eine kontinuierliche Konkurrenzsituation. Ohne häufige Reproduktionen und durch Sterben wäre jene Innovationsrate gefährdet gewesen, die zum Überleben notwendig war.
  5. Bis zur Lebensform eines hss waren aber aus Sicht er ersten einfachen Zellen noch viele Hürden zu nehmen. So waren die ersten Zellen in ihrer potentiellen Größe massiv beschränkt: solange Energie nur über die Membranen in den Zellkörper kam war durch das Missverhältnis zwischen Oberflächenzunahme (quadratisch) und Volumenzunahmen (kubisch) eine Wachstumsgrenze eingebaut. Es hat etwa 1.7 Mrd Jahre gedauert, bis das Leben einen Weg gefunden hat, durch Einbau vieler einzelner Zellen – später Mitochondrien genannt – in eine Gastzelle die Membranoberfläche zu vervielfachen.
  6. Viele weitere Details sind hier wichtig (sehr schön erklärt u.a. in dem Buch von Nick Lane (2009) Life Ascending).
  7. Im Endeffekt führte die Fähigkeit zu immer komplexeren Prozessen mit immer komplexeren Kooperationen dazu, dass (nach dem großen Sauerstoffereignis) Lebensformen auf dem Land Fuß fassen konnten und nach einer weiter langen Zeit von fast 500 Mio Jahren dann jene Lebensform möglich wurde, die wir als hss kennen.

DAS AUFTRETEN DES MENSCHEN IST EINE ZÄSUR

  1. Der hss verkörperte dann genau diese Lebensform die zum ersten Mal Erstaunliches vermochte.
  2. Der hss konnte durch sein Gedächtnis, seine Abstraktionsfähigkeiten, seine gedanklichen Kombinationen mit einem Male — nach ca. 13.8 Mrd Jahren – als erste Lebensform auf der Erde aus dem Jetzt ausbrechen und mögliche Zukünfte versuchsweise denken.
  3. Der hss konnte durch sein Denken, Kommunizieren, seine Technologie, seine Organisationsformen, seine Wissenskulturen erstmalig die Fähigkeit erlangen, die Baupläne des Lebens zu lesen, sie Anfangshaft zu verstehen. Prinzipiell könnte er jetzt strukturelle Innovationen während des Lebens einer Generation einleiten, ohne dafür zuerst sterben zu müssen. Der Tod des Körpers wäre nicht mehr notwendig.
  4. Durch diese neue Autonomie des Erkennens, Handelns und Gestaltens hat der hss aber ein ganz neuartiges Problem: zum ersten Mal steht er selbst vor der Frage, wohin die Reise eigentlich gehen soll? Zuvor wurde die Frage indirekt durch das Faktum des Überlebens beantwortet. Jetzt muss er sich selbst die Frage stellen, welche der vielen möglichen erkennbaren Zukünfte sind Lebenswert?

ZWISCHENSPIEL: RELIGIONEN

  1. Viele Jahrtausende haben Menschen in Gestalt sogenannter Religionen Antworten hergeleitet, die heutigen Erkenntnisansprüchen nicht mehr genügen, die aber die Menschen in diesen Zeiten benutzt haben, um sich das Unerklärliche zu erklären. Und auch heute scheint es so zu sein, dass eine sehr große Anzahl der Menschen diese alten Religionen immer noch als Hilfsmittel benutzen, um Antworten auf Fragen zu finden, die die Wissenschaften bislang nicht gegeben haben.
  2. Im Kern von Religionen – nicht allen: der Buddhismus kann anders interpretiert werden – steht gewöhnlich ein zentraler Begriff Gott. Aber, was man leicht übersieht, alles, was über Gott bislang gesagt wurde, haben letztlich Menschen gesagt, die von sich behaupten, sie haben mit Gott geredet bzw. er mit ihnen. Da alle diese Menschen unterschiedliche Sprachen sprechen, dann noch zu Zeiten, die tausende Jahre her sind, haben wir nicht nur ein Sprachproblem (Sanskrit, Hebräisch, Griechisch, Arabisch, …), sondern auch ein Verstehensproblem (wer weiß schon, welche Vorstellungen Menschen vor tausenden von Jahren mit bestimmten Ausdrücken verbunden haben). Dazu haben wir ein Überlieferungproblem: wer hat eigentlich wann was von wem aufgeschrieben? Welche Texte sind überhaupt original erhalten? Wie oft wurden Texte aus einer Zeit von Menschen in einer nachfolgenden Zeit überarbeitet und dabei verändert?
  3. Schon allein der Versuch, aus der Vielfalt dieser Texte (und dazu noch aus der ungeheuren Fülle nachfolgender Kommentare und Interpretationen) heute ein zuverlässiges und einheitliches Bild von Gott zu gewinnen, muss scheitern. Es ist vollständig unmöglich, nicht nur rein faktisch aufgrund der Vielzahl und Fülle, aber auch inhaltlich methodisch: die geistigen und begrifflichen Voraussetzungen der vielen Texte sind derart verschieden, dass Worte, die gleich klingen, von ihrem begrifflich-methodischen Kontext her etwas vollständig Verschiedenes bedeuten können.
  4. Angesichts dieser Sachlage mutet es merkwürdig an, wie manchmal Naturwissenschaftler sich berufen fühlen, die Erkenntnisse der Naturwissenschaften gegen ein falsches Gottesbild zu verteidigen und dabei selber bizarre Gottesvorstellungen als Feindbilder benutzen, wo man sich nur fragen kann, wo sie die hergezaubert haben. Natürlich gab es Zeiten (und sie sind noch nicht überwunden), da unterschiedlichste Religionsvertreter versucht haben (und versuchen) neueste Erkenntnisse der Naturwissenschaften mit ihrem spezifischen religiösen Weltbild zu versöhnen. Ein Beispiel sind die sogenannten kreationistischen Deutungen der Evolution. Aber die Ausgangslage einer religiös motivierten Argumentation ist in sich so verworren und schwammig, dass jeglicher Gesprächsversuch hier im Ansatz sinnlos ist. Die Vertreter der Religionen sind ja nicht einmal in der Lage, sich untereinander zu verständigen; warum sollte man sich mit diesen Positionen dann überhaupt auseinandersetzen? Worin besteht diese Position überhaupt? Es ist ein bisschen wie mit dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: jeder tut so, als ob die Sache mit Gott doch klar sei, aber keiner will zugeben, dass er eigentlich nichts Genaues weiß…

ZURÜCK IN DIE REALE ZUKUNFT

  1. Kommen wir zurück zur realen Welt, in der wir uns mit unseren Körpern vorfinden. Von dieser Welt haben wir gelernt, wie sie eine unfassbare Fülle an Lebensformen hervorgebracht hat bis zu jener, dem hss, der über erstaunlich neue Fähigkeiten verfügt. Bricht schon das Phänomen der Evolution bis zum hss die bekannten Denkmodelle der Physik, so ist dies neue Phänomen hss mit seinem Gedächtnis, seinem Denken, seiner Zukunftsfähigkeit, seiner Veränderungsfähigkeit, seiner autonomen Frage nach der richtigen Zukunft ein radikaler Systembruch. Das Erscheinen des hss markiert das Ende der klassischen empirischen Wissenschaften. Alles, was die empirischen Wissenschaften bislang entdeckt haben, ist richtig, aber das, was die Physik bislang gedacht hat, ist schlicht zu wenig (auch schon für den engeren Bereich der unbelebten Materie (dunkle Materie, dunkle Energie), wie wir lernen durften).
  2. Sollte es tatsächlich so etwas wie einen Gott geben (was niemand letztlich ganz ausschließen kann, genauso wenig wie man es beweisen kann), dann wäre er in allem anwesend und würde sich darin zeigen. Wir müssten ihn nicht erfinden. Egal was wir tun, er wäre da. Wäre er hingegen nicht da, wäre es auch egal, was wir tun. Wir könnten ihn nicht herbei zaubern.
  3. Schon eine christliche Theologie hat ja (wenngleich rein spekulativ) angenommen, dass Gott sich aus der Transzendenz in die Immanenz bewegen könne (Inkarnation), und dass es in der Immanenz (also in unserer Körperwelt) eine erfahrbare Gegenwart Gottes geben könne. Nahezu alle christlichen Ordensgründer und Ordensgründerinnen berichten von ihren persönlichen Erfahrungen mit Gott, bis dahin, dass ein Ignatius von Loyola, der Mitbegründer des Jesuitenordens, geradezu lehrt, dass Gott sine causa in den Menschen direkt wirken könne. Entsprechende Berichte finden sich auch bei Mitgliedern von anderen Religionen. Zur Überzeugung der Religionen gehört auch, dass die Menschen die Welt gestalten sollen. Die Überzeugungen aller Religionen ist auch, dass das Leben nach dem körperlichen Tod nicht endet, sondern irgendwo (man nennt es Himmel) weiter geht, dann sogar viel besser und schöner.
  4. Wie gesagt, gäbe es so etwas wie Gott, dann müssten wir ihn nicht erfinden, allerdings müssten wir ihn entdecken, so wie wir alle Wirklichkeit, in der wir uns vorfinden, vermittelt durch unseren Körper entdecken, sortieren, verbinden, interpretieren müssen, um zu wissen, wer wir tatsächlich sind, die anderen, die Erde, das Leben, wie sich alles bewegt. So gesehen wäre Alles Theologie, aber nur, wenn wir Gott voraussetzen. Tun wir dies nicht (und es ist methodisch erlaubt, dies nicht zu tun), ist das Gleiche, was vorher Theologie heißt, einfach Wissenschaft vom Leben im Universum, und möglicherweise darüber hinaus. Die Worte mögen verschieden sein, die Sache ist die gleiche.
  5. Ein möglicher Gott stellt für eine radikale Wissenschaft keine Bedrohung dar, wohl aber pseudoreligiöse Ansprüche, die im Namen eines unbekannten Gottes vorgebracht werden, die aber letztlich nur jene Wahrheit verweigern wollen, die uns alle frei macht, die die unfassbare neue Autonomie des hss freilegt.

Einen Überblick über alle Blogeinträge von cagent nach Titeln findet sich HIER.

DIE ZUKUNFT STIRBT ZUERST IN DEN KÖPFEN …

LETZTER BLOGEINTRAG

  1. Angeregt durch die Lektüre von Matt Ridleys Buch sind im vorausgehenden Blogeintrag einige sehr grundlegende Prinzipien herausgearbeitet worden, die allgemein wirken, denen jedes einzelne individuelle System unterworfen ist, auch jeder einzelne Mensch.

DIE BESONDERHEIT DES MENSCHEN IM BIOLOGISCHEN

  1. Unter anderem wurde auf die Besonderheiten der Menschen (der homo sapiens sapiens als Vertreter der hss-Population) hingewiesen, durch die sich die Menschen tatsächlich von der allgemeinen biologischen Umgebung abheben. Nicht in dem Sinne abheben, dass der Mensch jetzt plötzlich etwas anderes wäre als das allgemein Biologische, sondern so, dass der Mensch innerhalb des Biologischen neue, markante Eigenschaften an seinem Körper zeigt, die – verglichen mit allem anderen Biologischen – ihn in die Lage versetzen, seine eigene Struktur, seine eigene Entwicklung, sein Wechselspiel mit der jeweiligen Umgebung und mit der gesamten Umwelt anschauen und bewerten zu können, ja, er kann bis zu einem gewissen Grad mit diesen neuen Verstehensmöglichkeiten sich selbst und die ganze Welt probeweise spielerisch verändern, und sein Verhalten danach neu orientieren.

MENSCH ALS GEWOHNHEITSTIER

  1. Wenn wir den konkreten Alltag von Menschen anschauen, heute und in der Vergangenheit, sofern diese uns noch zugänglich ist, könnten wir den Eindruck gewinnen, dass der Mensch eher ein ‚Gewohnheitstier‘ ist, da er im Zweifelsfall eher das vorzieht, was er schon kennt, was ihm vertraut ist, von dem er glaubt, dass er es zu seinen Gunsten beeinflussen kann, von dem er glaubt, dass es ihm die meisten Vorteile bringt.

GEWOHNHEIT ALS ZUKUNFTSVERHINDERUNG

  1. So kann man im Bereich der Wirtschaft mit schöner Regelmäßigkeit beobachten, wie erfolgreiche Konzepte dazu führen, dass Firmen, ganze Wirtschaftsbereiche, sich in ihren Erfolgen einrichten, sie gegen Konkurrenten und Neuerungen abzusichern versuchen, sich von der Politik alle mögliche Unterstützungen sichern (das berühmte Lobbytum, das aus demokratisch gewählten Volksvertretern verkappte Interessenvertreter solcher zukunftsfeindlichen Industriepolitik macht), und dass diese Firmen dann sehr häufig übersehen, dass es alternative, bessere Ideen, Technologien und Vermarktungsmöglichkeiten gibt, die dann ‚über Nacht‘ auftreten und ganze Industriebereiche – bildlich gesprochen – in Schutt und Asche legen. Neben den vielen Beispielen aus der Vergangenheit erleben wir gerade, wie moderne, flexible, kundennahe Bezahldienst den angestammten Finanzdienstleister die Kunden Millionenweise abspenstig machen, oder wie eine selbst-verliebte Automobilindustrie feststellen muss, dass wichtige Schlüsseltechnologien für die Zukunft schon längst von anderen entwickelt und besetzt wurden.
  2. Sind diese Entwicklungen für die jeweiligen Industrie selbst verheerend, so sind sie natürlich auch für die jeweiligen Standorte, Regionen und Volkswirtschaften verheerend. Ganze Regionen können veröden (Stichworte Stahlindustrie in der Vergangenheit, Textilindustrie, Automatisierung, Schiffbau, Agrarindustrie, usw.). Leider ist es so, dass die lokalen und regionalen kommunalen Vertreter sich in allen Fällen blindlings den aktuellen Erfolgen verschrieben haben, anstatt im aktuellen Erfolg den Blick auch auf mögliche Alternativen zu richten, erweiternde Szenarien, so dass eine Region eben nicht nur von einer einzigen Technologie abhängig ist. Statt dass die Politik das kritische Korrektiv zu herrschenden Industrien bildet, diese zu Erneuerungen, Weiterentwicklungen, Alternativen anregt, haben sie ihr eigenes Denken weitgehend ausgeschaltet und spielen das Spiel der Selbstverliebtheit einfach mit. Der unausweichliche Technologie-Crash wird damit auch zu einem gesellschaftlichen Crash, den man hätte verhindern können, aber nicht verhindert hat (aktuell in Deutschland z.B. die Automobilstandorte, die Braunkohle, die Kohle, … ).

PRINZIP DER EVOLUTION WIRKT

  1. Betrachtet man die vielen Aufstiege und Abstürze verschiedener Technologien und gesellschaftlicher Systeme weltweit und im historischen Maßstab, dann kann man das Prinzip der Evolution am Wirken sehen, das Alternativen, wenn sie möglich sind, auch zum Tragen kommen; nicht immer sofort oder schnell, aber irgendwann dann doch, weil Effizienz sich letztlich durchsetzt. … oder weil das Leid und die Unzufriedenheit von großen Teilen einer Bevölkerung sich gegen ein herrschendes System aufgelehnt hat: einseitige Verteilung von Reichtum, einseitige Verteilung von Macht, unwürdige Lebensverhältnisse für Viele,  haben in der Vergangenheit oft zu  umstürzende Veränderungen geführt. Nicht immer war es danach besser.

NADELÖHR MENSCH

  1. Sofern der Mensch bei diesen Entwicklungen beteiligt ist, können  wir zwei gegensätzliche Tendenzen beobachten.
  2. Einerseits verfügt der Mensch über ein großes Potential im Erkunden neuer Möglichkeiten und deren technologischer und gesellschaftlicher Nutzung. Andererseits ist der Mensch durch sein biologisches Erbe als Individuum vielfach begrenzt und stark bedürfnis- und triebgesteuert; seine kognitiven Fähigkeiten sind einerseits außerordentlich, wenn es darum geht, sich mit seinem Körper in einer realen Umgebung zurecht zu finden, er hat aber Probleme, komplexe Zusammenhänge zu erfassen, und seine Kommunikationsfähigkeit ist primär für den Nahbereich ausgelegt, für einfache, alltägliche Sachverhalte. Zwar haben Erfindungen wie Schrift, Rechtssysteme, Handwerk, Technologie, Landwirtschaft, Städtebau usw. die Fähigkeit erhöht, dass Menschen im Zusammenwirken mit anderen auch komplexere Aufgaben lösen können, aber der einzelne individuelle Mensch hat sich bislang biologisch nicht wesentlich verändert. Der endliche, triebgesteuerte, am Nahbereich orientierte einzelne Mensch findet sich in immer komplexeren gesellschaftlichen und technologischen Zusammenhängen vor, die seine individuellen Fähigkeiten real übersteigen. Diese Differenz ist schwer erträglich und ist ein großer Motor für Entlastungsstrategien vielfältigster Art. Die einen erleben sich als krank; andere blenden ganze Bereiche der Wirklichkeit einfach aus; andere propagieren vereinfachte Modelle von der Wirklichkeit, die schön klingen und ein gutes Gefühl vermitteln, aber letztlich zu kurz greifen; usw. Religiöser Fanatismus, nationalistische Tendenzen, Abbau von Demokratie durch scheinbar starke Männer, Korruption, Lobbyismus, Zunahme von Kontrolle und Überwachung, dies sind Symptome von großen Ängsten, Tendenzen zur Vereinfachung, die in der Regel nur wenigen nutzen und vielen schaden.

WISSEN NICHT ANGEBOREN

WELT ALS MODELL IM KOPF

  1. Damit kommen wir zu einem zentralen Punkt. Sofern ein Mensch als Akteur an einem Prozess beteiligt ist, kann er neben den an sich ‚blinden‘ Bedürfnissen, Trieben und dem Bauchgefühl auch sein aktuell verfügbares Wissen zu Rate ziehen. Das Wissen ist nicht angeboren, sondern muss in lang andauernden Prozessen der Interaktion mit der Umgebung erworben, gelernt werden. Dieses Wissen ist etwas ‚in seinem Kopf‘, ‚in seinem Gehirn‘. Es ist das menschliche Gehirn, das aufgrund seiner Bau- und Funktionsweise in der Lage ist, die Vielzahl der sensorischen Eindrücke von der Umgebung zugleich mit der eigenen Körperwahrnehmung zu einem komplexen Puzzle zusammen zu setzen, das ‚im Kopf‘, ‚im Gehirn‘ als eine Art ‚virtuelle Welt‚ existiert, ein vom Gehirn konstruiertes Modell der Welt, das nicht die Welt selbst ist. Für jeden einzelnen aber, der solch ein Modell der Welt im Kopf hat, erscheint dieses Modell der Welt als die Welt selbst!
  2. Je nachdem, wie gut dieses Modell im Kopf ist, kann es im Alltag helfen, sich schnell zu orientieren. Man weiß in etwa, wo man sich befindet, wer die Person ist, die mit einem im Raum ist, wie die vielen Gegenstände benannt werden, welche Verhaltensweisen man von den Dingen und Menschen erwarten darf (meistens), usw. Und solange die Welt im Kopf mit der realen Situation harmoniert, solange erscheint die Welt im Kopf ganz natürlich als die Welt selbst. Wenn ich aber mein Fahrrad holen will und feststelle, es ist nicht mehr da; oder ich sehe ein Handy, das aussieht wie ein anderes, aber dieses Handy dann doch anders funktioniert, wie ich es gewohnt bin; oder die Landwirte in den USA in weiten Gebieten plötzlich Wildpflanzen nicht mehr bekämpfen können, weil das die Wildpflanzen gelernt haben, sich gegenüber den Umweltgiften der Landwirte zu erwehren; … dann fällt einem auf, dass das Modell im Kopf nicht die reale Welt ist. Wenn ganze Volkswirtschaften nur noch Arbeitslosigkeit und Schulden produzieren, dann fällt auf, dass unser Modell einer Volkswirtschaft in den Köpfen der Akteure vielleicht falsch ist; oder Menschen in meiner Umgebung verhalten sich plötzlich anders, als ich es jahrelang gewohnt war – was war das für ein Modell, das ich im Kopf von diesen Menschen hatte?
  3. Kurzum, den wenigstens Menschen ist bewusst, dass die Welt, die sie täglich voraussetzen, nicht einfach die Welt ist, wie sie ist, sondern auch die Welt, wie sie sich die Welt in ihrem Kopf vorstellen. Die klassische (Griechische) Philosophie konnte das Lebendige nicht erklären, erfand aber ein Wort (Pneuma von pneuein, atmen), um es zumindest zu benennen. Viele Jahrhunderte (eigentlich mehr als 2000 Jahre) war es der Fantasie der Menschen überlassen, sich vorzustellen, was dieses Pneuma, dieses Lebensprinzip, sein konnte. Erst seit ca. 100 Jahre konnte die Wissenschaft genügend Wissen erarbeiten, um ein mögliches empirisch motiviertes Modell dieses Pneuma-Lebensprinzips zu gewinnen. Und selbst heute ist vieles noch offen.
  4. Das Modell im Kopf, die Welt als explizite Hypothese, fällt nicht vom Himmel; das Modell muss mühsam von vielen 100.000enden jeden Tag neu erarbeitet, überprüft, modifiziert werden. Es ist ein unfassbarer Schatz an Wissen ohne den wir weitgehend blind sind und Spielbälle von an sich blinden Bedürfnissen, Trieben und Bauchgefühlen jeglicher Art. Dieser globale Prozess wissenschaftlicher Erkenntnis ist eingebettet in ein gesellschaftliches Umfeld, das in der Regel kaum an wirklichem Wissen interessiert ist. In der Gesellschaft geht es wie eh und je primär um Macht, Reichtum, Kontrolle, Befriedigung der primären Bedürfnisse, und die Wissenschaft, die Wissenschaftler, sind davon nicht abgeschottet: selten dürfen sie einfach forschen, was man erforschen könnte, sondern können nur forschen, wofür sie Geld bekommen oder was ‚politisch gewollt‘ ist. Die Kurzsichtigkeit der Politik ist aber ein aktuelles Problem. Es gäbe Wissenschaften, die uns allen helfen könnten, aktuelle Tendenzen besser zu bewerten, aber für solche Wissenschaften gibt es kein Geld; sie würden ja die Politik in ihrer Kurzsichtigkeit kritisieren. Davor scheut man zurück.

ZUKUNFT IST KEIN NORMALES OBJEKT

  1. Und hier sei nochmals an den fundamentalen Gedanken aus einem vorausgehenden Blogeintrag erinnert , dass die Zukunft ja nicht als ein Objekt existiert wie irgend ein anderes Objekt in unserer Umgebung. In der Wahrnehmung haben wir streng genommen nur ein Jetzt, das wir nur insoweit überwinden, übersteigen können, als die Fähigkeit unseres Gedächtnisses uns durch die Erinnerung von vergangenen Jetzt-Momenten und verschiedenen Abstraktions- und Vergleichsprozessen überhaupt Anhaltspunkte für Veränderungen in der realen Welt liefert, Ansatzpunkte für Beziehungen, Regelhaftigkeiten, anhand deren wir dann in die Lage versetzt werden, Ideen von möglichen Zuständen in der Zukunft zu denken, als Hypothesen, als Vermutungen. Zukunft ist von daher immer ein Konstrukt im Bereich der virtuellen Welt unseres Gehirns. Wer nicht nachdenkt, hat keine gedachte mögliche Zukunft. Wer nachdenkt, kann Hypothesen entwickeln, die die eine oder andere mögliche Entwicklung vorweg nehmen können, aber insgesamt sind dies Variationen von Themen der Vergangenheit. Die echte Zukunft lässt sich nur sehr angenähert denken.

DIE ZUKUNFT STIRB IM KOPF

  1. Ist das Denken, das Wissen also schon grundsätzlich für unser Verhalten, für unser alltägliches Leben, für Politik und Wirtschaft wichtig, so ist es fundamental für eine mögliche Zukunft. In einer wissensfeindlichen Gesellschaft wird also nicht nur ein Alltag in der Gegenwart schwer, sondern die Keime einer möglichen für alle guten Zukunft werden schon im Ansatz erstickt. Die Zukunft stirbt dann schon im Kopf bevor eine mögliche Zukunft überhaupt stattfinden konnte. Real wird die Welt dann zwar trotzdem voranschreiten, es werden sich Dinge ereignen, ob die Menschen wollen oder nicht, aber diese Dinge können verheerend sein, zerstörerisch, viele Menschen mit Leid versorgen, Leid, das man möglicherweise hätte verhindern können. Die Demagogen der Gegenwart werden dann aber nicht mehr da sein oder, sollten sie es erleben, haben die Demagogen selbst selten die Schuld auf sich genommen. Es waren dann ihre dummen Anhänger, die ihre wunderbare (Schrott)Ideen nicht gut genug verstanden haben. Lieben die Menschen die Unwahrheit tatsächlich mehr als die Wahrheit? Falls Ja, was könnte ein Mensch dagegen tun, sich davor zu schützen?

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NICK LANE – LIFE ASCENDING – BESPRECHUNG – Teil 1b – Nachtrag zu Teil 1

Nick Lane, „Life Ascending“, London: Profile Books Ltd, 2009 (Paperback 2010)

  1. Hir ein paar weitere Nachbemerkungen zum Teil 1 der Besprechung von Nick Lane’s Buch

GESPALTENE WELT IM KOPF

  1. Viele (die meisten?) Menschen haben in ihrem Kopf ein Bild von der Welt, in der die Welt mindestens zweigeteilt ist: hier sie selbst als Menschen, als Wesen mit Gefühlen, Geist, Seele, Werten usw., dort die restliche, unbelebte, materielle Welt, so anders, ganz anders. Wenn man diese Menschen fragt, warum sie die Welt so sehen, wissen sie oft keine Antwort. Es ist halt so; so wurde es ihnen erzählt, das sagen die Religionen. Sonst wäre ja alles so sinnlos, leer. Selbst Menschen mit Studium, mit Doktortitel, Menschen die selber wissenschaftlich arbeiten, haben solche (naiven?) Anschauungen.

WO SIND DIE HELFER?

  1. Umgekehrt bieten die Naturwissenschaftler oft (sehr oft? meistens?) wenig Hilfestellungen, Verstehensbrücken zu schlagen zwischen naturwissenschaftlichen Konzepten und den alten Bildern vom Menschen als Krone der Schöpfung, mit Gefühlen, Seele und Geist. Eigentlich wäre hier die Philosophie zuständig. Die zerfällt aber in zwei große Lager: jene, die die alten Menschenbilder konservieren und sich selbst den neuen Entwicklungen im Denken verweigern, und jene, die sich voll auf die Seite der neueren Wissenschaften geschlagen haben und die Vermittlung mit den alten Weltbildern gar nicht erst versuchen. Eine sehr missliche Lage. Ein anderer Parteigänger des alten Menschenbildes sind alle großen Religionen (Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam, …). Aber diese sind ihren eigenen sehr speziellen Glaubensgrundlagen und gewachsenen Traditionen so sehr verpflichtet, dass sie sich in ihrem Wahrnehmen und Denken selbst gefesselt haben. Wehe jemand denkt anders als man es bislang gewohnt ist zu denken; ein solcher macht sich verdächtig, fällt aus dem Rahmen, wird möglicherweise zum Ungläubigen, und – wie wir wissen – kann massiv bestraft werden, bis hin zum Tod.
  2. Und dann die empirischen Wissenschaften selbst: schon die Physik hat ihre Probleme mit der Biologie, die Biologie mit der Psychologie und Soziologie und all den anderen komplexen Wissenschaften vom menschlichen Leben.
  3. Auch ein Detail wie die Sprache der Wissenschaften hält viele Überraschungen bereit: es gibt viele Sprachen in der Wissenschaft. Zentral ist eigentlich die Mathematik. Aber auch diese zerfällt in viele Teilgebiete, die sich erst im 20.Jahrhundert im Umfeld der Algebra zu einer allgemeinen Strukturwissenschaft geformt hat, mit einer eigenen Metamathematik, die allerdings auch eher nur ein Randdasein führt, ein Exotenfach. (siehe Corry 1996 (2.Aufl. 2004)).

AUS DER GESCHICHTE LERNEN?

  1. Aus der Geschichte können wir wissen, dass Änderungen im Denken von Menschen weitgehend über die umgebende Gesellschaft gesteuert wurden. Änderungen konnten hunderte von Jahren dauern. Im Falle der Rezeption der griechischen Philosophie und Wissenschaft im westlichen Europa (in dem durch die katholische Kirche Wissen, Bildung, Wissenschaft – entgegen vielfacher Meinung – mehrere Jahrhunderte fast ausgerottet worden ist) hat es fast 1000 Jahre gedauert, bis Teile dieses Wissens dank der (damals) hochstehenden islamischen Kultur über großartige und umfassende Übersetzungstätigkeiten wieder zurückfanden in die Köpfe von Westeuropäern.

ENGSTELLE INDIVIDUELLE LEISTUNGSFÄHIGKEIT

  1. Heute werden wir Dank Computer und Internet (und speziellen Unternehmen) von Wissen überflutet. Aber was nützt dies, wenn wir pro Tag vielleicht nur 10-20 Seiten komplexe Texte verarbeiten können? Was nützen Terabytes von Daten, wenn wir in unserem individuellen Denken zusätzlich zur Kapazitätsbegrenzung Voreinstellungen besitzen, die uns dazu bringen, nur ganz bestimmte Dingen wahrnehmen und denken zu wollen, alles andere aber nicht? Und dazu die Algorithmen vieler Inhaltsanbieter: man bekommt mehr und mehr nur noch die Dinge zu sehen, die man am häufigsten anklickt: genau das Gegenteil wäre hilfreich, auch mal etwas anderes zu sehen, was es auch noch gibt, um sich aus seiner eigenen kleinen Welt zu befreien. Oder, in lichten Momenten, wollen wir vielleicht doch mal etwas anderes wahrnehmen und denken und müssen dann feststellen, dass uns viele Voraussetzungen fehlen, das Andere zu verstehen; wir sinken mutlos in uns zurück und kapitulieren, bevor wir angefangen haben, Neues wahrzunehmen. Das Neue, das Andere ist sehr wohl da, aber wir sind in uns selbst gefangen; die Schwerkraft des eigenen Nichtwissens hält uns quasi fest, bindet uns, lähmt uns, macht uns mutlos.
  2. Wie also können wir uns aus dieser Sackgasse befreien? In Computerspielen haben die Programmierer meistens einen Ausweg eingebaut, für den es Belohnungspunkte gibt. Wie sieht es im realen Leben aus?

GEHEIMNIS DES ERFOLGS BISHER

  1. Schauen wir auf die Entwicklung des biologischen Lebens, dann können wir ein sonderbares Schauspiel beobachten: seit dem Auftreten der ersten Bakterien (ca. zwischen -4 Mrd und -3.4 Mrd Jahren vor unserer Zeit) und dann speziell seit dem ersten Auftreten der ersten komplexen Zellen (vor ca. -1.0 Mrd Jahren) können wir beobachten, wie ein Selbstreproduktionsmechanismus, der als solcher blind war (und ist) für seine Umgebung und für das was kommen wird, so viele geniale neue Lebensformen hervorgebracht hat, dass es irgendwann dann auch Wesen gab wie den homo sapiens sapiens (heute meist nur homo sapiens, weil der postulierte homo sapiens als Bindeglied zum homo sapiens sapiens keine rechte Funktion besitzt), dessen Körper von ca. 34 Billionen (10^12) Zellen gebildet wird, lauter Individuen, die miteinander kooperieren (und noch mehr Bakterien, die wiederum mit den Körperzellen kooperieren). Das Geheimnis des Erfolgs ist, dass trotz lokaler Unwissenheit, lokaler Blindheit, eine Population bei der Selbstreproduktion so viele Varianten erzeugt hat, so viele kreative Abweichungen, dass immer dann, wenn die Umwelt sich geändert hatte und die bisherigen Lebensformen ein Problem bekamen, genügend andere Formen verfügbar waren (glücklicherweise), dass die Geschichte des Lebens bis heute anhält (unter den Problemen der Umgebungen gab es alleine 5 große Eiszeiten von 2×20 Mio, ca. 60 Mio, ca. 100 Mio und sogar ca. 300 Mio Jahren Dauer!!!!! Den homo sapiens – also uns – gibt es gerade mal ca. 200.000 Jahre).

WO DER ERFOLG WOHNEN KANN

  1. In der Kunst lebt die Bereitschaft zum kreativen Denken und Verhalten ansatzweise weiter. Die gesamte Wissenschaft ist eigentlich dem Prinzip der kontrollierten Änderung des aktuellen Wissens verpflichtet; jedes Unternehmen lebt eigentlich von der Innovation seiner Produkte. Jeder einzelne Mensch erlebt heute schmerzhaft, dass die Planung einer Ausbildung oder die Ausübung eines Berufes immer kurzlebiger, immer unsicherer wird. Und doch, wir tun uns mit den Weltbildern in unseren Köpfen schwer. Sie haben ein großes Beharrungsvermögen, können die Festigkeit von Beton besitzen.
  2. Im Kern haben wir also das Problem, dass wir zu jedem Zeitpunkt, an dem wir gerade leben, ein Wissen haben, das als solches zwar begrenzt wertvoll ist, das aber gemessen an dem, was wir noch nicht wissen, nur begrenzt hilfreich ist. Es gänzlich außer Acht zu lassen wäre sicher falsch, da es ja bisherige Erfolgsrezepte (im positiven Fall) beinhaltet; aber es ausschließlich zu benutzen, wäre auch falsch, sehr wahrscheinlich tödlich. Wir brauchen zu jedem Zeitpunkt ein schwer bestimmbares Maß an Neuem, das insoweit neu ist, als es wirklich anders ist als das, was wir bislang kennen. Damit verbindet sich unausweichlich ein Risiko, dass das so gewählte Neue nicht zum Ziel führen muss. Dieses Risiko ist quasi der Preis des möglichen Überlebens. Genauso wenig wie aus dem Nichts irgendetwas entstehen kann, genauso wenig können wir kostenlos die Zukunft gewinnen.
  3. Ich kritisiere ja – wie leicht zu sehen – die bestehenden Religionen oft und stark. Aber es ist interessant, dass sich in den überlieferten Worten eines Jesus von Nazareth (sofern man sie ihm wirklich zuordnen kann), das Bild von einer je größeren Zukunft sehr deutlich findet; dass das Weizenkorn sterben muss, um dem je größeren Leben Raum zu geben; dass das, was er selber getan hat, jeder andere nicht nur auch tun kann, sondern dass jeder andere sogar noch viel mehr tun kann; dass man über andere nicht urteilen sollte, weil das eigene Wissen grundsätzlich falsch sein kann (und oft falsch ist), usw. Dies sind Gedanken, die nicht notwendigerweise etwas mit Religion zu tun haben müssen; es sind grundsätzliche Sachverhalte, die sich dem zeigen, der das biologische Leben betrachtet, wie es sich nun mal manifestiert.

Es gibt eine weitere Fortsetzung als Teil 2.

WEITERE QUELLEN/ LINKS (Selektiv)

  • Text des Neuen Testaments: https://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/novum-testamentum-graece-na-28/lesen-im-bibeltext/ //* Das ist der griechische Urtext. Wir sind daran gewöhnt, immer irgendwelche Übersetzungen zu lesen und dabei zu vergessen, dass jede Übersetzung eine Interpretation ist. Zudem hat jeder Text eine Überlieferungsgeschichte, d.h. es gibt in der Regel nicht nur einen Text, sondern viele Handschriften, aus denen dann der ‚plausibelste‘ Text zusammengestellt wird/ wurde (was auf dieser Webseite leider nicht angezeigt wird). Und wenn man den Urtext liest, wird man fast über jedes Wort stolpern und sich fragen, was soll dieses Wort eigentlich bedeuten? Woher wissen wir, was die schwarzen Zeichen auf dem weißen Papier bedeuten können/ sollen? Meist ist ja bei alten Texten gar nicht klar, wer sie verfasst hat. Letztlich kann jeder sie geschrieben haben, oder viele verschiedene, oder verschiedene hintereinander, und jeder hat seine Änderungen angebracht….
  • Leo Corry, Modern Algebra and the Rise of Mathematical Structures, Basel – Boston – Berlin: Birkhäuser Verlag, 1996 (2.rev.Aufl. 2004)
  • Harold Morowitz: https://en.wikipedia.org/wiki/Harold_J._Morowitz (ein großes Thema: Wechselwirkung von Thermodynamik und Leben)
  • Michael J.Russel et al: http://www.gla.ac.uk/projects/originoflife/html/2001/pdf_articles.htm: The Origin of Life research project by Michael J. Russell & Allan J. Hall , University of Glasgow, May 2011
  • Krebs-Zyklus: https://en.wikipedia.org/wiki/Citric_acid_cycle
  • Martin W, Russell MJ., On the origin of biochemistry at an alkaline hydrothermal vent. , Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci. 2007 Oct 29; 362(1486):1887-925.
  • Martin W, Baross J, Kelley D, Russell MJ., Hydrothermal vents and the origin of life., Nat Rev Microbiol. 2008 Nov; 6(11):805-14.
  • Harold Morowitz und Eric Smith , Energy flow and the organization of life , Journal Complexity archive, Vol. 13, Issue 1, September 2007, SS. 51 – 59 ,John Wiley & Sons, Inc. New York, NY, USA

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START DES PHILOSOPHIESOMMERS 2016 IN DER DENKBAR FRANKFURT – Nachhall zum 14.Februar 2016

START GELUNGEN

Nach einer Unterbrechung von mittlerweile fast 6 Monaten hat sich die Philosophie in der DENKBAR zurückgemeldet.  Aufgrund der Einladung vom 9.Februar 2016 hatte sich eine sehr interessante Gruppe  zum Re-Start versammelt. Und der gedankliche Austausch nahm seinen Lauf.

EIN HAUCH VON PHILOSOPHY-IN-CONCERT

Wie angekündigt wurde ein kleines Hörstück vom PHILOSOPHY-IN-CONERT Experiment eingespielt, dazu ein Bild von der – noch – leeren virtuellen Insel aus einer virtuellen Welt.

cagent vor leerer PiC-Insel 14.Februar 2016
cagent vor leerer PiC-Insel 14.Februar 2016

PHILOSOPHY-IN-CONCERT versteht sich als Versuch, die Fragestellung von der Zukunft des Menschen in Wechselwirkung mit der neuen Technologie der intelligenten Maschinen aus philosophischer und wissenschaftlicher Sicht künstlerischer erlebbar zu machen. Wie das genau geschehen wird, ist Teil des laufenden Experimentes. Erste Gehversuche fanden in öffentlichen Veranstaltungen am 1.Dez. 2015 und am 12.Dez. 2015 statt. Daraus stammt das Hörstück, das an diesem Abend gespielt wurde.

 

Dieses Stück kann uns daran erinnern, dass wir uns ohne Gebrauchsanleitung vorfinden und seit vielen tausend Jahren auf der Suche nach uns selbst, nach dem inneren Drehbuch von allem sind. Alle Kulturen haben ihre eigene Version erzählt, die vielen Religionen, die Philosophen, die moderne Wissenschaft liefern ständig neue Varianten. Welche ist nun die richtige? Woran können wir die richtige erkennen?

Zwei der Stimmen im Hörstück sind vom Computer generiert. Die gesamte Musik ist vom Computer generiert. Wir erleben einen realen Klang, der von Algorithmen erzeugt wurde. Auch das Bild, das in der Live-Schaltung sehr realistisch wirkte (z.B. mit Wellenbewegungen und Lichtreflexen) war komplett vom Computer generiert, ein Virtuelles als Reales, Virealität …

DIE AUSGANGSLAGE

Damit waren wir bei der Ausgangslage angekommen.

In unserem Alltag erfahren die, die Arbeit haben, oft (meistens?), dass sie zu viel Arbeit haben. Sie drehen in ihrem Rad und schaffen es kaum noch, jenseits der beruflichen Routine andere Aspekte des Lebens breit und differenziert aufzunehmen. Zugleich hat man das subjektive Gefühl, die Ereignismenge nimmt beständig zu, die Änderungen werden schneller. In all dem ist eine Entwicklung unübersehbar: die fortschreitende, mittlerweile umfassende, Digitalisierung des gesamten Lebens. Im Beruf, in der Freizeit, öffentlich und im Privaten, überall begleiten uns mittlerweile Computer, die mit Netzwerken verbunden sind. Vielfach sind sie schon nicht mehr erkennbar, da sie die Gestalt von Alltagsgegenständen angenommen haben, sie Teil von Wohnungen und Gebäuden sind, überall in den Verkehrsmitteln eingebaut sind, Teil von öffentlichen Räumen …. noch weniger kann man die Aktivitäten in den Netzwerken und Datenbanken wahrnehmen. Das globale Geschäft mit den privaten (und kommerziellen und institutionellen) Daten brummt; einige wenige werden immer reicher, viele andere werden jeden Tag schleichend entwertet. Der Staat scheint zu versagen; es wirkt, als ob er seine Bürger den Datenkraken und den außer Rand geratenen Geheimdiensten überlässt. Privatheit war einmal. Industriespionage scheint mittlerweile der Standard sein, vorpraktiziert von den staatlichen Geheimdiensten selbst, wenn man den Quellen trauen kann.

Erleben wir einen epochalen Umbruch? Was ist mit den traditionellen Wertelieferanten, den bekannten Religionen? Was ist mit den Wissenschaften? Sind Menschen nur ein zufälliges Ereignis der Evolution, eine biochemische Masse, die alsbald wieder vergeht? Sind die Menschenrechte nur noch gut für Sonntagsreden, aber ansonsten im Alltag blutleer, wert-los? Warten alle nur noch auf die Erlösung durch die Roboterfabriken und intelligente Maschinen, die dann alles lösen werden, was der Mensch nicht lösen konnte?

Was ist mit den globalen Konzernen, die ihr Geschäft auf Algorithmen basieren, die die globalen Datenmengen auswerten und hochrechnen: sind sie morgen bankrott, weil sie ihre eigenen Algorithmen nicht mehr unter Kontrolle haben? Lassen die anwachsenden Bot-Armeen die Daten von twitter, facebook, google und Co zu Schrott werden?

GEDANKENSTURM

Dies sind einige der Gedanken, die eingangs geäußert wurden, und die dann zu einem intensiven Gedankenaustausch führten.

Gedankensturm vom 14Febr2016 - ungeordnet
Gedankensturm vom 14Febr2016 – ungeordnet

Im Gegensatz zu sonst fiel es dem Protokollanten schwer, diese vielen Aspekte sofort in eine Struktur einzupassen. Dies kann auch ein Anzeichen dafür sein, dass wir es hier mit einem qualitativ neuem Gesamtphänomen zu tun haben. Alle bisher benutzten Muster greifen nicht mehr so richtig.

Am erfolgversprechendsten erschien dann die Perspektive, dass wir den Menschen, uns, viel radikaler als bislang als Teil eines evolutionären Prozesses sehen müssen, der uns dorthin gebracht hat, wo wie heute stehen. Dies intensiviert die Rückfragen an diesen Prozess. Welche Rolle spielt dann der berühmte Zufall bei der Entstehung des bekannten Universums und der bekannten Lebensformen. Ist alles nur Zufall oder ist Zufall nur ein Moment an einem komplexeren Geschehen? In der Wissenschaft haben einige gemerkt, dass der Zufall insofern nur ein – wenngleich sehr wichtiges – Moment des Geschehens ist, da bei der Entwicklung des biologischen Lebens die Speicherung bisheriger Erfolge im DNA-Molekül wesentlich ist. Nur durch diese Speicherung (Erinnerung, Gedächtnis) wurde eine Zunahme von Komplexität möglich. Der Zufall variiert, das DNA-Gedächtnis gibt eine Richtung. Dieser Prozess ist sehr langsam. Erst mit dem Auftreten des homo sapiens als Teil dieses Prozesses gab es eine Revolution: die Gehirne des homo sapiens können mit ihren elektrischen Zuständen Eigenschaften der Umgebung und sich selbst zu Modellen formen, mit diesen virtuellen Modellen elektrisch spielen und auf diese Weise in sehr kurzer Zeit hochkomplexe Alternativen erkunden, verwerfen oder ausprobieren. Dies führt zu einer extremen potentiellen Beschleunigung der Evolution. Veränderungen, die zuvor vielleicht tausende, zehntausende von Generationen gebraucht haben, können nun innerhalb von Jahren, Monaten, Tagen … gedacht und gestartet werden. Die Erfindung des Computers (eine 1-zu-1 Kopie der Struktur, die dem Kopiervorgang von biologischen Zellen zugrunde liegt!) erscheint in diesem Kontext folgerichtig, dazu Netzwerke und Datenbanken. Aus Sicht der Evolution ist es die Befreiung der Materie in frei konfigurierbare Zustände mit extremer Beschleunigung.

Für die agierenden Menschen, Mitglieder der Gattung homo sapiens, scheint dies aber zu einer Zerreißprobe zu werden, zur Krise der alten Weltbilder die – stimmt das neue Bild – sowieso falsch waren. Wer sind wir wirklich? Was soll das Ganze? Kann es in diesem kosmischen Gesamtgeschehen überhaupt so etwas wie einen Sinn für einzelne Individuen, für einzelne Generationen geben? Wie können wir in all dem, was diese neue Entwicklung mit uns macht, ein Muster erkennen, irgendetwas, was über puren Zufall hinausweist? Oder brauchen wir das alles nicht, ist es sowieso egal? Soll jeder halt die Zeit seines Lebens nutzen so gut es geht, ohne Rücksicht auf Verluste? Sind die Menschen, nachdem sie die Evolution durch Computer, Netzwerke und Datenbanken neu entfesselt haben, sowieso überflüssig geworden? Homo sapiens hat seinen Job gemacht; die Zukunft liegt jetzt nur noch in Hand der intelligenten Maschinen?

WIE GEHT ES WEITER?

Am 13.März 2016 treffen wir uns zur weiteren Verhandlung in Sachen homo sapiens.

  • Was macht das alles mit uns?
  • Hat der homo sapiens noch eine Chance?
  • Ist er überflüssig geworden?
  • Gibt es die intelligenten Maschinen, die den homo sapiens ersetzen sollen, wirklich?
  • Ist dies aller nur ein Propagandatrick der Medien und einiger globaler Konzerne?
  • Sind google, facebook und Co morgen schon pleite, weil sie ihre eigenen Algorithmen nicht mehr unter Kontrolle haben?
  • Was wird uns PHILOSOPHY-IN-CONCERT zum Nachdenken geben?
  • Könnten uns intelligente Maschinen sogar helfen?
  • Was ist mit der Maschine als Therapeut und Partner?
  • Was ist mit den technischen Erweiterungen des Körpers?
  • Was ist mit den möglichen genetischen Veränderungen: warum wollen wir sie nicht?
  • Wo liegt unsere Zukunft? In der bloßen Wiederholung des Alten oder in einem real Neuem? Wie kommen wir dahin? Wer sind unsere Ratgeber? Müssen wir auf unsere Enkel hoffen, dass die es dann schon richten, weil wir zu dumm und träge sind?

Einen Überblick über alle vorausgehenden Sitzungen der Philosophiewerkstatt findet sich HIER.

DECHER – HANDBUCH PHILOSOPHIE DES GEISTES – EINLEITUNG – DISKURS

Decher, Friedhelm, Handbuch der Philosophie des Geistes, Darmstadt: WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2015 (Im Folgenden abgekürzt: HPG)

KONTEXT

  1. Im Laufe der letzten Jahre tauchte der Begriff Geist im Kontext der Blogeinträge immer wieder auf. Ja, er mündete sogar in ein eigenes großes öffentliches Forschungsprojekt, das den Namen Geist im Titel trägt, wenngleich in der englischen Variante Mind. Es ist die Rede vom Emerging Mind Projekt. In diesem Projekt wird ein Bogen gespannt zwischen den geistesgeschichtlichen (inklusive theologischen) Traditionen Europas zu den Errungenschaften der modernen empirischen Wissenschaften – insbesondere der evolutionären Biologie – inklusive der modernen Mathematik und Ingenieurskunst in Form von selbstlernenden intelligenten Maschinen. Die Arbeitshypothese bisher lautet, dass das, was geisteswissenschaftliche unter dem Begriff Geist abgehandelt wird, eine inhärente Eigenschaft der Energie-Materie ist.
  2. Vor diesem Hintergrund ist das Buch von Friedhelm Decher von Interesse. Er entwickelt in der Art eines Lese-Leitfadens den Gebrauch des Begriffs Geist entlang bedeutender Autoren von den ersten griechischen Denkern bis in die Gegenwart. Im Folgenden soll den Gedanken dieses Buches gefolgt werden und im einzelnen überprüft werden, wo und wieweit es sich mit der Arbeitshypothese des Emerging Mind Projektes überdeckt und wo es davon abweicht; im letzteren Fall interessiert natürlich speziell, wo und warum es eine Abweichung gibt.
  3. Die Arbeitshypothese des Emerging Mind Projektes ist ambivalent. Angenommen, sie trifft zu (wobei zu klären wäre, an welchen empirischen Kriterien man dies verifizieren könnte), dann könnte man das Ergebnis entweder (i) so deuten, dass die Besonderheit des Phänomens Geist sich in die Allgemeinheit einer Energie-Materie auflösen würde, oder (ii) die Besonderheiten der Eigenschaften des Geist-Phänomens lassen die Energie-Materie in einem neuen Licht erscheinen. Die aktuelle Aufspaltung der empirischen Phänomene in physikalische, chemische, biologische usw. Aspekte ist auf jeden Fall wissenschaftsphilosophisch unbefriedigend. Die vielfachen Reduktionsversuche von empirischen Phänomenen aus nicht-physikalischen Disziplinen auf das Begriffsrepertoire der Physik ist wissenschaftsphilosophisch ebenfalls weitgehend nicht überzeugend. Vor diesem Hintergrund wäre ein Vorgehen im Stile von (ii) sehr wohl interessant.
  4. Anmerkung: Die folgende Diskussion des Buches ersetzt in keiner Weise die eigene Lektüre. Der Autor dieser Zeilen diskutiert das Buch aus seinem Erkenntnisinteresse heraus, das verschieden sein kann sowohl von dem eines potentiellen Lesers wie auch möglicherweise (und sehr wahrscheinlich) von Friedhelm Decher selbst. Wer sich also eine eigene Meinung bilden will, kommt um die eigene Lektüre und eigene Urteilsbildung nicht herum.

EINLEITUNG (SS.9-15)

Diagramm zur Einleitung von Handbuch der Philosophie des Geistes (Decher 2015)
Diagramm zur Einleitung von Handbuch der Philosophie des Geistes (Decher 2015)
  1. Einleitungen in Bücher sind immer schwierig. Im Fall des HPG werden einerseits die verschiedenen sprachlichen Manifestationen des Begriffs Geist anhand diverser Wörterbücher und der aktuellen Alltagssprache illustrierend aufgelistet, andererseits gibt es den Versuch einer Fokussierung und einer ersten Strukturierung aus der Sicht des Autors Decher.
  2. Decher geht davon aus, dass Begriffe wie Geist, Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Ich beim Menschen sowohl im Rahmen seiner Selbsterfahrung vorliegen, wie auch sich im menschlichen Verhalten manifestieren. Am Verhalten kann man viele Fähigkeiten ablesen wie z.B. sich Erinnern können, Sprechen können, vorausschauend Planen usw.
  3. Decher geht ferner davon aus, dass diese Phänomene jedem vertraut sind; sie sind offensichtlich.
  4. Es stellt sich damit die Frage, wo diese Phänomene herkommen. Mit Blick auf die Naturgeschichte folgt er einem einzigen Autor Ian Tattersall (1998), nach dem die Geschichte des Menschen vor 200.000 Jahren beginnt, und dieser Beginn sei u.a. dadurch charakterisiert, dass schon bei dieser Entstehung der Mensch kognitive Fähigkeiten gezeigt hat, die ihn von allen anderen Lebensformen abhoben. (vgl. S.14) Dies wertet Decher als erste Manifestationen von Geist, die sich dann im weiteren Verlauf in vielerlei Weise ergänzen. Er erwähnt besonders die Höhlenmalereien von vor 35.000 Jahren oder dann später mit Beginn der Hochkulturen in Ägypten und in Griechenland die sprachlichen Manifestationen.
  5. Zu erwähnen ist auch noch die Nennung des Begriffs Seele. (vgl. S.13) Dieser Begriff kommt nahezu parallel zum Begriff Geist vor. Hier bleibt noch offen, wie das Verhältnis dieser beiden Begriffe zu klären ist.

DISKURS

  1. So vorläufig und kryptisch, wie Gedanken in einer Einleitung nun mal sein müssen, so lassen diese Seiten doch schon – wenn man will – eine erste Positionierung von Autor Decher erkennen. Trotz Parallelisierung mit der Naturgeschichte des Menschen hebt er die Phänomene von Geist (und Seele) doch deutlich hervor und baut damit – dramaturgisch? – eine erste Spannung auf, wie sich das Verhältnis von Geist-Seele zum Übrigen von Geist-Seele weiter bestimmen lässt.
  2. Da wir heute aufgrund der modernen Wissenschaften über Erkenntnisse zum Gehirn sowie zu mathematischen Modellen verfügen, mittels deren wir alle bekannten geistig-seelischen Phänomene mittels nicht-geistig-seelischer Mittel als Verhaltensereignisse realisieren können, wird die Frage nach der möglichen Besonderheit des Geistes nicht minder spannend.
  3. Die heute vielfach festzustellende Euphorie in der Einschätzung intelligenter Maschinen und die stark einseitige Einschätzung einer möglichen Zukunft des Menschen im Vergleich zu den intelligenten Maschinen zugunsten der intelligenten Maschinen kann ein Motiv sein, die Spurensuche nach der Besonderheit des Geistigen mit Interesse zu verfolgen. Auf Seiten der Technikgläubigen kann man vielfach eine gewisse Naivität in der Einschätzung der Möglichkeiten von intelligenten Maschinen beobachten gepaart mit einer erschreckend großen Unwissenheit über die biologische Komplexität des Phänomens homo sapiens als Teil eines gigantischen Ökosystems. Eine solche Mischung aus technischer Naivität und Biologischer Unwissenheit kann sehr gefährlich sein, zumindest dann, wenn sie den Leitfaden abgibt für die Gestaltung der Zukunft menschlicher Gesellschaften.
  4. Es bleibt spannend zu sehen, ob und wie die Lektüre von Dechers Buch in dieser Fragestellung konstruktive Anregungen bringen kann.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

Einen Überblick aller Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

EINLADUNG URAUFFÜHRUNG NEUES PERFORMANCE-FORMAT PHILOSOPHY-IN-CONCERT, Konzert Nr.1, EVANGELISCHE AKADEMIE FRANKFURT IN KOOPERATION MIT DEM INM FRANKFURT

Di, 1.Dez.2015, 19:00 – 21:00h

Im INM – Institut für Neue Medien Frankfurt
Schmickstrasse 18 (Kein Aufzug!)
Parken direkt hinter dem Haus oder im Umfeld begrenzt möglich

Ausführende Künstler:

cagentARTIST (G.Doeben-Henisch)
acrylnimbus (T.Schmitt)

Facebook-Link dazu von der Evangelischen Akademie

Facebook-Link des INM zum Ereignis

Info Seite der Philosophy-in-Konzert Gruppe des Emerging Mind Projektes.

NOTIZ ZU DEN UNWISSENSCHAFTLICHEN VORAUSSETZUNGEN DER WISSENSCHAFTEN

  1. Als ich gestern weiter im Buch ‚An Inventive Universe‘ von Denbigh las, diskutierte er dort u.a. die verschiedenen Positionen, die in der Physik und in der Philosophie zum Thema Determinismus eingenommen werden. Er arbeitete heraus, dass jede physikalische Theorie einen nicht unwesentlichen nicht-wissenschaftlichen Anteil besitzt, nämlich diejenigen Interessen, Fragen und Grundannahmen, die der Bildung einer wissenschaftlichen Theorie voraus liegen. Ohne diese Annahmen und vorauseilenden Interessen gibt es keine wissenschaftliche Aktivitäten.
  2. Moderne Wissenschaft versteht sich zwar so, dass sie ihr Vorgehen transparent machen will, wiederholbar, unabhängig (invariant) von individuelle Gefühle und Fantasien, aber die nicht-wissenschaftlichen vorausgehenden Annahmen sind unausweichlich individuell bedingt, aus allen möglichen Quellen (auch individuellen Interessen, Fantasien, Erinnerungen, Vorstellungen) gespeist. Etwas anderes hat auch ein Wissenschaftler nicht zur Verfügung.
  3. Im Fall des Determinismus ist z.B. die Vorstellung, dass die Ereignisse in der Natur nicht zufällig sind, sondern bestimmten Regeln, Gesetzen folgen, dass sie damit berechenbar sind, dass damit Voraussagen möglich sind, eine solche Grundannahme.
  4. Diese Annahmen kommen nicht aus der Welt jenseits des Kopfes, sondern sie entstehen im individuellen Gehirn eines potentiellen Forschers. Sie werden ihm bewusst, prägen seine Sehweise, wie er die Welt betrachtet und interpretiert. Als solche sind sie weder wahr noch falsch. Es sind Formen der Wahrnehmung von Welt.
  5. Die Mechanik von Newton passte sehr gut in diese Erwartung: plötzlich konnte man scheinbar alle Bewegungen damit berechnen. Sowohl die Bewegung der Sterne wie auch die der Körper auf der Erde.
  6. Der weitere Gang der Forschung zeigte dann aber, dass diese Wahrnehmung der Natur unvollständig, wenn nicht gar in einem tiefen Sinne falsch ist. Beim immer weiter Vordringen in das ‚Innere der Natur‘ lernten die Wissenschaftler, dass die Natur alles andere als determiniert ist; ganz im Gegenteil, sie ist radikal probabilistisch, nicht ausrechenbar im Detail, auch nicht ausrechenbar in ihren komplexesten Erscheinungen, den biologischen Lebensformen. Die Annahme einer deterministischen, Gesetzen folgenden Natur erwies sich als Fiktion des individuellen Denkens. Das, was man für objektive Wissenschaft gehalten hatte zeigte sich plötzlich als überaus subjektives Gebilde mit hohem metaphysischen Unterhaltungswert.
  7. Die Einstellung, dass Wissenschaft um so objektiver sei, umso weniger man den Anteil des erkennenden Subjektes in den Erklärungsprozess einbezieht, erweist sich immer mehr als falsch. Gerade diese Verweigerung, den handelnden Wissenschaftler mit seinen spezifischen biologischen Voraussetzungen als konstitutives Element des Erkennens nicht kritisch in die Reflexion einzubeziehen, macht Wissenschaft ideologieanfällig, lässt sie unbewusst in das Schlepptau einer verdeckten Metaphysik geraten, die umso schlimmer wütet, als man so tut, als ob es so etwas doch gar nicht gibt [Anmerkung: Eine solche Wissenschaftskritik ist nicht neu. Die Wissenschaftsphilosophie bzw. Wissenschaftstheorie ist voll von diesen kritischen Überlegungen seit mehr als 100 Jahren].
  8. Für das wissenschaftliche Denken hat dies weitreichende Konsequenzen, vorausgesetzt, man nimmt diese Erkenntnisse ernst.
  9. Streng genommen dürfte es keine einzige wissenschaftliche Disziplin mehr geben, die in ihrem Alltagsbetrieb nicht eine Theorie-kritische, sprich wissenschaftsphilosophische Abteilung besitzt, die sich kontinuierlich aktiv mit den ganzen nichtwissenschaftlichen Annahmen auseinandersetzt, die in jeden Wissenschaftsbetrieb eingehen. Insofern die Verantwortlichen eines solchen wissenschaftskritischen Unterfangens natürlich selbst von den jeweiligen Annahmen infiziert sind, gibt es keine Garantie, dass der nicht-wissenschaftliche Anteil tatsächlich immer angemessen erkannt und behandelt wird.
  10. Das heute oft so beklagte Auseinanderdriften von naturwissenschaftlichem Denken einerseits und und sozialem-kulturellem-geisteswissenschaftlichem Denken andererseits könnte durch die direkte philosophische Aufbereitung des naturwissenschaftlichen Denkens möglicherweise vermindert werden. Doch trotz aller Einsichten in die metaphysischen Schwachstellen des naturwissenschaftlichen Wissenschaftsbetriebs sieht es momentan nicht so aus, dass der Mainstream naturwissenschaftlichen Forschens sich solchen Maßnahmen öffnen würde.
  11. Man könnte sich jetzt einfach vom Geschehen abwenden und sagen, dann lass sie halt (die Naturwissenschaftler). Das Problem ist nur, dass diese Art von eingeschränktem Denken vielfache Fernwirkungen hat, die – für viele unmerkbar – grundlegende Anschauungen über die Welt und die Menschen beeinflussen.
  12. Wichtige Themen hier sind (i) das Bild vom Menschen generell, (ii) davon abhängig die Auffassung möglicher Werte, Grundwerte, Menschenrechte und Verfassungstexte, u.a. auch (iii) die Vorstellungen vom Sinn des Lebens im Kontext von religiösen Vorstellungen.
  13. Diese Überlegungen sind weiter zu führen.

Literaturhinweis:

Kenneth George Denbigh (1965 – 2004), Mitglied der Royal Society London seit 1965 (siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Fellows_of_the_Royal_Society_D,E,F). Er war Professor an verschiedenen Universitäten (Cambridge, Edinbugh, London); sein Hauptgebet war die Thermodynamik. Neben vielen Fachartikeln u.a. Bücher mit den Themen ‚Principles of Chemical Equilibrium, ‚Thermodynamics of th Steady State‘ sowie ‚An Inventive Universe‘.

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Buch: Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab? – Kapitel 0

VORBEMERKUNG: Der folgende Text ist ein Vorabdruck zu dem Buch Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab?, das im November 2015 erscheinen soll

Letzte Änderung: 28.Juli 2015

Zuruf an den Leser

Lieber Leser,

während ich diesen Text schreibe, kenne ich Dich nicht, nicht direkt.

Vermutlich haben wir noch nie direkt miteinander gesprochen (… mit den berühmten Ausnahmen).

Du bist älter, oder jünger als ich;
Mann oder Frau oder irgendetwas anderes, was nicht Mann oder Frau ist.

Du bist hochspezialisiert oder vom Leben gebildet,
lebst in Deutschland oder irgendwo in Europa oder fern ab (von mir aus gesehen).

Du hast dein Auskommen, bist Millionär, Milliardär oder bettelarm;
du musst hungern, hast kein sauberes Wasser, kein eigenes Zuhause.

Du verstehst meine Sprache direkt oder nur in Übersetzungen.
Du hast Hoffnung in Dir oder Verzweiflung, ein Lächeln auf den Lippen oder bist depressiv, tief betrübt; alles hat keinen Sinn mehr für Dich.

Du freust Dich an den Farben und Landschaften, oder bist blind, lauscht den Geräuschen der Welt um Dich herum.

Du liegst im Bett, schwach, mit Schmerzen, bist auf andere angewiesen, wirst aus diesem Bett nie wieder aufstehen.

Dein Rücken schmerzt hoch auf dem Sitz deines Trucks, mit Klimaanlage und Stereosound; vor und hinter Dir nur Straßen mit Autos; vielen Autos.

Deine elektrische Säge schneidet tief in das Fleisch von Tieren, die gerade noch lebendig waren, jeden Tag, Du mittendrin; nur blutiges Fleisch.

In Bergen von Müll stapfst Du herum, um verwertbare Reste zu finden, giftiger Müll aus Europa; die wollen ihn nicht.

Dein Chauffeur fährt Dich in einen Palast aus Glas und Beton; deine Schuhe kosten 3000 Euro.

Diese Liste lässt sich endlos verlängern.

Die Leser sind so verschieden, und haben doch etwas gemeinsam: Sie sind Menschen auf dieser Erde, jetzt, in diesem Augenblick in dem jemand diesen Text liest. Sie finden sich in diesem Leben vor, weil sie ohne eigenes Zutun in diese Welt hineingeboren wurden. Sie gehören zu einer Gattung homo sapiens, die vor ca. 200.000 Jahren aus Afrika ausgewandert ist; ihre Spuren verlieren sich im Dickicht der phylogenetischen Erzeugungslinien. Je weiter zurück umso mehr wird ein dramatischer Verwandlungs- und Entwicklungsprozess deutlich, auf dem Land, aus dem Meer aufs Land, in der Luft, im Meer, viele Jahrmillionen unter Eis, auf driftenden Erdteilen, seit mindestens 3.8 Milliarden Jahren.

Ja, das sind wir, Boten eines Lebensereignis auf diesem Planeten Erde, den sich niemand selbst ausgesucht hat.

Und dann sitzen wir heute im Bus, in der Bahn, im Klassenraum, im Großraumbüro, arbeiten in der Fabrikhalle, auf dem Mähdrescher, lauschen im Konzertsaal, laufen täglich in unserem Rad, und niemand fragt sich mehr ernsthaft: Warum bin ich hier? Wozu? Was soll das alles? Was ist mit all dem anderen?

Im ganzen bekannten Universum haben wir bislang nichts gefunden, was auch nur annähernd dem gleicht, was wir auf dieser Erde ‚Leben‘ nennen; nichts, radikal nichts, obwohl so viele davon träumen und fantasieren, dass es doch ‚da draußen‘ auch noch anderes ‚Leben‘ geben müsste. Vielleicht gibt es das tatsächlich. Das bekannte Universum ist so groß, dass es ‚rein theoretisch‘ so sein könnte …

Bis dahin sind wir die einzigen Lebenden im ganzen bekannten Universum. … und dieses Leben ist weiterhin fleißig dabei, die Erde zu ‚kolonisieren‘; Leben beutet Leben aus, ohne Gnade.

Wir pflügen die Erde um, buchstäblich,
reißen und brennen Jahrtausende alte Wälder nieder,
vergiften die Böden und das wenige kostbare Trinkwasser,
bauen nicht erneuerbare Bodenschätze ab,
betonieren kostbare Böden zu,
türmen Steine und Stahl aufeinander,
starren zunehmend auf Bildschirme anstatt auf die reale Welt.
rotten täglich neue Arten aus, unwiederbringlich…
rotten selbst Menschen aus, die einen Menschen die anderen…

Es gibt nicht wenige Wissenschaftler, für die steht der Mensch biologisch auf der Abschussliste; er wird an sich selbst untergehen, meinen sie.
Sie diskutieren gar nicht mehr darüber. Für sie ist das klar. Wir erleben nur noch ein paar Restzuckungen.

Viele andere vertreiben ihre Zeit, andere auszubeuten, andere zu bekriegen, zu verfolgen, zu foltern, zu vergewaltigen, … sie machen anderen Vorschriften, was sie tun und was sie nicht tun dürfen; die Regierungen von immer mehr Staaten gefallen sich darin, die Privatheit jedes einzelnen — wenn es diese überhaupt je gab — immer weiter zu kontrollieren, einzuschränken, aufzulösen; auch in den sogenannten demokratischen Staaten…

Und es gibt da die Technikgläubigen: der Mensch ist nichts, die Maschine alles. Für diese ist die Frage der Intelligenz bei Maschinen klar; die Maschinen werden intelligenter sein als die Menschen und den Menschen ablösen als Herren der Welt. Das wird dann noch mal spannend; der Mensch, der alte, endliche, schwache, dumme, vergessliche, lahme Sack, dem ist sowieso nicht mehr zu helfen. Was soll man sich da noch anstrengen? Schade nur, dass man selber nur ein Mensch ist und keine smarte Maschine ….

Tja,
sehe ich, der ich diesen Text schreibe, das auch so?
Ist für mich der Mensch, mein Menschsein, auch so sinnlos am ausgeistern?
Glaube auch ich an die Zukunft der intelligenten Maschinen?

Nach vielen Jahren, in denen ich versucht habe, Maschinen zu bauen, die mindestens so intelligent sind wie der Mensch, begann in mir die Einsicht zu wachsen, dass die wahre Superintelligenz vielleicht eher dort zu finden ist, wo wir sie momentan am allerwenigsten suchen: im Phänomen des biologischen Lebens. Wir sind ein Teil davon, möglicherweise ein viel wichtigerer Teil, als die einschlägigen empirischen Wissenschaftler es bislang wahrhaben wollen.

In dieser Situation habe ich das Gefühl, es ist an der Zeit, diese neue Form der Menschenvergessenheit in Worte zu fassen, ohne zum Beginn dieses Projektes schon klar sagen zu können, was alles geschrieben werden muss, und wie.

Auch weiß ich nicht, wieweit ich kommen werde. Vielleicht breche ich, wie schon oft in den letzten 20 Jahren, einfach wieder ab.
Man wird sehen.
Ich fange zumindest mal an.

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Buch: Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab? – Kapitel 1

VORBEMERKUNG: Der folgende Text ist ein Vorabdruck zu dem Buch Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab?, das im November 2015 erscheinen soll

Kapitel 1

(Letzte Änderung 28.Juli 2015)

Einkapselung und Abschaffung

Start in den Tag

Eine leise Musik ruft mich in den Tag zurück. Der Weckcomputer kennt meine Vorlieben für Musik; er hat meinen Schlaf beobachtet, er misst regelmäßig meine aktuellen Körperdaten, und er schätzt meine mögliche Stimmung ab. Zur rechten Zeit erklingt die Weckmusik. Wenn sie zu leise ist, rufe ich ‚lauter‘; und wenn sie mir nicht passt vielleicht ‚lass das‘. Im Bad starre ich verschlafen in einen Spiegel, der sich um gute Laune bemüht, dumme Sprüche drauf hat, Bilder einblenden kann, andere Musik, oder der auch nur redet. Anhand meines Gesichtsausdrucks und meiner Stimmlage erfasst er ziemlich gut, wie ich drauf bin; besser als viele Menschen. Ich fühle mich verstanden … Unterdessen wird die Küche für ein Frühstück präpariert und das Ankleidungsprogramm erstellt anhand der Termine aus dem Kalender und meiner aktuellen Stimmungslage einen Ankleidungsvorschlag … Während dem ernährungsbewussten Frühstück aus zertifizierten Lebensmitteln höre und schaue ich mir ein paar vorsortierte Nachrichten an (es gibt stündlich mehrere hunderttausend neue Meldungen, aus denen das System die ‚wichtigen‘ herausfiltert). Nach dem Frühstück erscheint auf dem Bildschirm eine Liste der Dinge, die für die Küche nachbestellt werden müssten. Ich bestätige, verneine, oder erweitere die Liste und schicke den Auftrag ab. Sobald ich Anstalten treffe, das Haus zu verlassen, wird der Aufzug schon in die entsprechende Etage gesteuert und ein Transport-eMobil aktiviert. Wenn ich einsteige weiß dieses Transport-eMobil anhand meines Kalenders schon, welches Ziel anzufahren ist. Ich entspanne mich, lasse mir wichtige Dokumente anzeigen oder stelle eine Kommunikationsverbindung zu einem Geschäftspartner her…

Diese Vision mag den einen erschrecken, die andere begeistern; sie ist auf jeden Fall nicht mehr weit weg vom technisch Möglichen. Es sind weniger technische Gründe, die solch ein Szenario bislang noch verhindern, sondern eher Fragen der Abstimmung der technischen Systeme untereinander, Fragen der Investitions- und Betriebskosten, der Wartung, der Sicherheit, der Privatheit, und der Denk- und Lebensgewohnheiten.

Auch ist interessant, was ‚hinter den Kulissen‘ alles passiert bzw. passieren kann.

Hinter allem das Netz

Alle Daten laufen durch Netzwerke, über Server und werden von Programmen verwaltet. Technisch könnte man von jedem Punkt im Netzwerk aus alle Daten beobachten, sammeln, auswerten und darauf Entscheidungen aufbauen. Damit dies nicht ungehindert geschieht, werden die Daten partiell ‚kodiert‘ und/ oder ‚verpackt‘, so dass ein anderer als der intendierte Empfänger, die Daten nicht so ohne weiteres ‚lesen‘ kann. Aber letztlich ist es nur eine Frage des Rechenaufwandes, um alle Varianten abzuprüfen, um die ‚versteckte‘ Botschaft zu identifizieren, sie zu ‚dekodieren‘. (Oder, einfacher, man verschafft sich Zugang zu den Verschlüssungsprogrammen, oder über die Mikroprogramme in der Hardware selbst). Während die einen ein solches unautorisiertes Mitlesen direkt gegen Geld als ‚Cyberkriminelle‘ tun, gibt es die staatlich subventionierten ‚Geheimdienste‘, die ‚für sich legal‘ sind, für alle anderen aber sind sie auch nichts anderes als ‚Cyberkriminelle‘, ‚Staatsterroristen‘. In der Regel müssen sie nichts befürchten, wenn sie die Rechte anderer verletzen. Schließlich gibt es noch die Grauzone der privaten Wirtschaft, die sich auf vielen Wegen formal die Zustimmung der Benutzer erhandeln, ohne dass diese in der Regel überschauen, was alles mit ihren Daten geschieht oder geschehen kann. Dass jede Klickaktion im Web dazu führt, dass man kurz darauf tage- und wochenlang nervige Anzeigen eingeblendet bekommt, ist ärgerlich und störend, jedoch nicht notwendigerweise gefährlich. Dass die eigenen Daten über Wochen, Monate und Jahre systematisch gesammelt werden, für viel Geld an verschiedene Firmen (auch Geheimdienste) verkauft werden, und mittels dieser Daten neue Dienstleistungen, Produkte und Firmen generiert werden, das kann sehr gefährlich sein, kann den einzelnen massiv schädigen und kann ganze Märkte und Volkswirtschaften zerstören.

Datenschmarotzer

Banken und Versicherungen könnten sich auf diese Weise Kunden vorsortieren und entsprechend behandeln. Krankenversicherungen könnten z.B. vorschreiben, was man isst und wie man sich bewegen muss. Personalabteilungen von Firmen könnten (und manche tun dies schon real) die Bewerber nach ihrer Vorgeschichte im verborgenen Netz sortieren. Selbst kleinste Vergehen aus der Vergangenheit, Krankheiten, Ereignisse aus der Freizeit, Unwahre Behauptungen im Netz, sie alle können dazu führen, dass man keinen Job mehr bekommt – oder, ja, man bekommt zwar ein Angebot, aber man wird durch die Blume erpresst: man weiß ja, dass; man könnte vielleicht darüber hinwegsehen, wenn …
Diejenigen, die hinter den Oberflächen Informationen sammeln können, die gewinnen Einblicke in Marktsituationen, in potentielle Märkte und in private Aktivitäten. Sie können Dienstleistungen und Firmen anbieten, bevor jeder andere ahnt, dass dies möglich ist; die Datenmonopolisten können auf diese Weise zu Marktmonopolisten werden, und andere Firmen schleichend ‚erdrücken’… Globale Firmen im Katz und Maus Spiel mit nationalen Regierungen, oder Regierungen mit ihrer Bevölkerung.

(Anmerkung: Das Beispiel der andauernden Geheimverhandlungen zu TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) wird von vielen als Beleg genau für diesen Trend gesehen. Bis heute werden diese Verhandlungen an den nationalen Parlamenten der USA und Europas vorbei geführt, selbst nach eindeutigen Interventionen verschiedener Parlamente. Wenige EU-Bürokraten verhandeln unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit Vertretern globaler Kapitalvertreter über die Zukunft von ca. 320 Mio US-Amerikanern und ca. 500 Mio Europäern. Die Vermutung, dass hier eine ausgewählte Schar von Firmen versucht, die Einflussmöglichkeiten der nationalen gewählten Parlamente zu ’neutralisieren‘, wurde bisher nicht widerlegt. Im Gegenteil, alle Informationen, die bekannt werden, stützen diese Vermutung und alle wichtigen deutschen Politiker geben bislang nur allgemeine Floskeln zum Besten, warum dies gut sein soll. Was unterscheidet diese Situation noch von einem Staatsstreich, in diesem Fall ein Staatsstreich von oben?)

Vom Verschwinden der Welt

Das Voranschreiten der Digitalisierung bringt es mit sich, dass der einzelne menschliche Akteur immer weniger mit realen Umweltausschnitten zu tun hat, dafür immer mehr mit digitalen Repräsentationen. Realität verwandelt sich in digitale Dateien unterschiedlichster Formate. Das Wetter erscheint als Landkarte mit Piktogrammen. Reale Unternehmen verwandeln sich in Zahlen und Kurven in einem Diagramm. Ressourcen aller Art sind nur noch einfache Zahlen. Reale Produktionsprozesse werden zu mathematischen Funktionen in Rechenblättern oder anderen Computerprogrammen. Die anderen Menschen verschwinden hinter SMS-Texten, standardisierten Bildern, werden als Videoplots formatiert; sie werden zur Stimme aus dem Kopfhörer; man kann sie hinter einem Avatar in einem Computerspiel vermuten; sie sind numerische IDs mit einer Liste von Attributen im ASCII-Format. Nahrungsmittel sind losgelöst von ihren Herstellungsprozessen; sie treten uns vor Augen in bunten Verpackungen, wo wir das sehen, was aufgedruckt ist, nicht das, was wirklich drin ist. So kann ein bestimmtes Siegel der Händlerkette riesige Gewinne bringen, obgleich das reale Produkt dahinter dem Siegel gar nicht entspricht… Die Fabrik wird zu einem Schaltplan; die Produktion erscheint als Zahlenkolonne, als Säulendiagramm. Mit Robotern wird die Produktion zuverlässiger und billiger, und die potentiellen Käufer, die durch Arbeit ihr Geld verdienen, werden abgeschafft, weil sie zu anfällig und zu teuer sind. Wer denkt darüber nach, dass die Arbeitenden mit den potentiellen Käufern korrespondieren? Wer soll noch konsumieren, wenn keiner mehr verdient? Die Umverteilung des verfügbaren Reichtums auf immer weniger Menschen ist aktenkundig. Schaffen sich die Gesellschaften selber ab?

Digitale Sklaverei

Hatte man früher ein Produkt gekauft, ging man in ein Geschäft, zahlte bar, nahm das Produkt in Empfang und ging nach Hause. Zum Händler musste man bestenfalls zurück, wenn es sich um einen Garantiefall handelte, das Produkt Mängel aufwies, die es in der Garantiezeit nicht aufweisen sollte.

Will man heute ein Produkt kaufen, bekommt man dieses vielfach gar nicht mehr direkt und ausschließlich, sondern man erwirbt im Falle von softwarebasierten Produkten eine Art Nutzungsrecht auf Zeit, das an vielerlei Bedingungen geknüpft wird. Man muss seine Adresse preisgeben, seine Kontodaten, man muss seine Nutzung über einen fremden Server registrieren und permanent kontrollieren lassen; man muss zusätzlich oft fremden Programmen erlauben, das Gerät ‚bewohnen‘ und ‚benutzen‘ zu dürfen, ohne dass man dies kontrollieren oder ändern könnte. Über Kameras und sonstige eingebaute Sensoren kann das fremde Programm jederzeit Daten aus der nächsten Umgebung messen und weiter leiten. Während ich an meinem Computer sitze und schreibe können die Bilder meines Gesichts (klar, wen interessiert dies schon; und doch, warum überhaupt?) in Bruchteilen von Sekunden über das Netz irgendwohin in die Welt reisen.

Die Frage ist, ob man noch ein Alternative hat? Könnte ich auf diese Programme verzichten? Im Berufsleben gibt es immer weniger Alternativen; allein, um die normale Arbeit machen zu können, benötige ich heute ein ganzes Bündel von Programmen, und jedes Mal muss ich mich an ein fremdes Programm auf einem fremden Server ‚verkaufen‘. Ich habe keine Alternative (Anmerkung: Ja, es gibt auch freie Programme, ich benutze solche Programme von Anbeginn an. Doch können diese Programme — von glücklichen Ausnahmen abgesehen — mit der Industrie sehr oft nicht Schritt halten, speziell nicht dort, wo Programme spezielle Hardware steuern. Hersteller von Hardware können den Entwicklern von freien Programmen die notwendigen Daten vorenthalten, z.B. weil sie sonst von den Anbietern industrieller Betriebssysteme nicht berücksichtigt würden … )

Tritt man einen Schritt zurück und schaut sich aus einer gewissen Distanz an, was hier geschieht, kann man auffällige strukturelle Ähnlichkeiten entdecken mit dem Jahrtausende alten Phänomen der Sklaverei (siehe dazu den aufschlussreichen Text des Zusatzübereinkommens über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken abgeschlossen in Genf am 7. September 1956, genehmigt von der Schweizer Bundesversammlung am 17. Juni 1964.

In Artikel 1 dieses Zusatzabkommens wird als ein der Sklaverei zugeordnetes Phänomen die ‚Schuldknechtschaft‘ erwähnt. Eine Schuldknechtschaft entsteht, wenn “… ein Schuldner als Sicherheit für eine Schuld seine persönlichen Dienstleistungen oder diejenigen einer von ihm abhängigen Person verpfändet, wenn der in angemessener Weise festgesetzte Wert dieser Dienstleistungen nicht zur Tilgung der Schuld dient oder wenn diese Dienstleistungen nicht sowohl nach ihrer Dauer wie auch nach ihrer Art begrenzt und bestimmt sind … “.

Im Falle der Softwarenutzung würde ich es bevorzugen, einen Betrag X zu zahlen um diese Programme nutzen zu können, ohne weitere Abhängigkeiten. Einen Betrag X muss ich in der Regel tatsächlich zahlen, dieser Betrag X reicht jedoch nicht aus; ich werde zusätzlich gezwungen, sehr viele Daten von mir ‚abzugeben‘, über die ich auf unbeschränkte Zeit jegliche Kontrolle verliere. Und nicht nur das, meine tatsächliche Nutzung wird fortwährend kontrolliert, protokolliert und könnte jederzeit vom Hersteller beendet werden, mit entsprechend schlimmen Folgen für die Arbeitsprozesse, die mit dem Programm verknüpft sind.

Rein formal versichern Hersteller auf dem Papier, dass sie die Daten ausschließlich zum Zwecke des störungsfreien Betriebes der Programme benutzen, faktisch hat jedoch der Kunde keine Kontrolle über die tatsächliche Verwendung der Daten. Außerdem berührt dies nicht die faktische ‚Schuldknechtschaft‘ der andauernden Abhängigkeit vom Hersteller.

Für diese heute gängige Form der Schuldknechtschaft könnte man den Begriff der digitalen Schuldknechtschaft einführen.

Man kann sich auch fragen, ob die ‚Leibeigenschaft‘ nicht auch noch zutrifft. Im Text heißt es unter Art.1.b “Leibeigenschaft, d. h. die Stellung einer Person, die durch Gesetz, Gewohnheitsrecht oder Vereinbarung verpflichtet ist, auf einem einer anderen Person gehörenden Grundstück zu leben und zu arbeiten und dieser Person bestimmte entgeltliche oder unentgeltliche Dienste zu leisten, ohne seine Stellung selbständig ändern zu können“. Im Fall der Programmebeziehung gibt es zwar keine Grundstücke, aber der Programmebenutzer geht mit dem Kauf eine Beziehung zum Hersteller ein, die ihn in vielfacher Weise über die Nutzung im engeren Sinne bindet: so ist die Übergabe von vielen persönlichen Daten samt der damit einhergehenden anhaltenden kontinuierlichen Kontrolle der Aktivitäten ein ‚Dienst‘ an dem Hersteller, der ‚unentgeltlich‘ geleistet wird, ohne dass man diese Beziehung (‚Stellung‘) verändern kann; würde man dies einseitig tun, bekäme man die Daten, Momente des eigenen Selbst, nicht zurück.

Auch hier bietet es sich an, den Begriff der digitalen Leibeigenschaft einzuführen.

In Art. 7.b heißt es, dass “eine Person in sklavereiähnlicher Stellung“ eine solche Person ist, die sich “in einer Rechtsstellung oder Lage [befindet], die auf einer der in Artikel 1 erwähnten Einrichtungen oder Praktiken beruht;“. Die “in Artikel 1 erwähnten Einrichtungen oder Praktiken“ sind z.B. die Schuldknechtschaft und die Leibeigenschaft.

Da mit diesem Text sowohl die ‚Schuldknechtschaft‘ wie auch ‚Leibeigenschaften‘ als Formen der Sklaverei gewertet werden, könnte man analog von der Existenz einer digitalen Schuldknechtschaft und einer digitalen Leibeigenschaft auf die Existenz digitaler Sklaverei schließen.

Nach Art 6.1 1. soll gelten, dass die „Versklavung einer Person oder die Anstiftung einer Person, sich oder eine von ihr abhängige Person durch Aufgabe der Freiheit in Sklaverei zu geben, oder der Versuch dazu oder die Teilnahme daran oder die Beteiligung an einer Verabredung zur Durchführung solcher Handlungen … eine strafbare Handlung nach den Gesetzen der Vertragsstaaten dieses Übereinkommens sein [soll]; …“.

Zu den vielen Unterzeichnerstaaten gehört auch Deutschland (1959). Bislang haben die neuen digitalen Versionen von Sklaverei die Wahrnehmungsschwelle der deutschen Justiz (auch nicht die Justiz anderer Länder) noch nicht überwunden.

Sind wir mittlerweile so an Unrecht gewöhnt, dass wir die alltägliche Praxis der digitale Versklavung einfach so hinnehmen, oder sind diese Überlegungen ‚überzogen‘?

Mensch als Restproblem

Lässt man die Faszination der Oberfläche der neuen digitalen Welt für einen Moment mal weg, und lässt die verdeckten Aushorch- und Gewaltstrukturen auf sich wirken, die neue Unübersichtlichkeit, die neue schier grenzenlosen Manipulierbarkeit, die ungeheure Ausdehnung von Kontrolle und digitaler Sklaverei, dann kann schon einmal ein Gefühl von Hilfslosigkeit entstehen, von Verratensein, von schwacher Endlichkeit. Während die Geräte immer schneller werden, immer mehr Daten mit höchster Geschwindigkeit hin und her bewegen, immer kompliziertere Rechnungen in Sekundenbruchteilen vollziehen, immer ‚gescheiter‘ daherkommen in Spielen, im Quiz, in der Diagnose, in der Beratung …. hat man das Gefühl, man ist lahm wie eine Ente; vergisst so oft so viel; ist streckenweise von Stimmungen, Gefühlen und Emotionen getrieben, fast paralysiert. Hat einen endlichen langsamen Körper; so unförmig, so wenig glanzvoll … Wie soll das enden? Werden die Maschinen in Zukunft alles machen und wir nichts mehr? Wo und wie soll ich morgen noch arbeiten, wenn Kollege Computer schrittweise alles zu übernehmen scheint?

Für Unternehmer scheint es sich allemal zu rechnen: Roboter können preisgünstiger, zuverlässiger und qualitativ besser produzieren. Sie sind viel schneller, sie meckern nicht, sie streiken nicht, sie brauchen keine krankheitsbedingten Auszeiten ….

Künftig werden sich alle Autos, Busse, Straßenbahnen, Züge, Flugzeuge ohne menschliche Fahrer und Piloten bewegen. Riesige Schiffe werden keine menschliche Besatzung haben.

Kriege werden nicht mehr von Soldaten geführt, sondern von Automaten, von Robotern, von Drohnen. Maschinen kämpfen gegen Maschinen. Computerprogramme gegen Computerprogramme. Mit einem Knopfdruck kann ein General eine ganze Armee gegen seine eigene Regierung in Bewegung setzen. Wird irgendwann dann ein durch ein Programm selbständig ausgelöster Befehl ausreichen, dass sich eine automatisierte Roboterarmee gegen ihren eigenen General wendet?

Wozu brauchen wir weiter Menschen in der digitalisierten Welt? Für die Arbeit? Nein. Für den Konsum? Menschen als Konsumenten sterben mangels Einkommen aus, da sie keine Arbeit mehr haben werden. Als Soldaten, Beamte, Verwalter, Manager wurden sie schrittweise ersetzt. Die Künstler leben schon jetzt nur noch als dreidimensionale Kunstfiguren in animierten Filmen und Computerspielen. Kompositionen und Malerei beherrschen die Software-Programme besser als die Menschen. Architektur findet nur noch im Computer statt. Neue Produkte und Pflanzen konzipiert der Computer. Menschen sind zu langsam, zu unzuverlässig, verbrauchen große Ressourcen, erzeugen Abfall, sie sind aggressiv, emotional labil, … sie kosten und sie stören.

Wird der Mensch in der digitalen Welt aussterben? Haben wir uns schon ergeben? Sind wir nicht schon längst eine willenlose meinungslose Masse, die von Regierungen und globalen Konzernen nach Belieben vor sich hergetrieben wird?

Fortsetzung mit Teil 2.

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