Vortrag am 19.Mai 2015 im Literaturhaus Frankfurt in der Veranstaltung PR-Slam & Ham 2015
In meiner Präsentation hatte ich eine Reihe von Schaubildern gezeigt, die ich dann mündlich kommentiert habe. Einen geschriebenen Text gab es nicht. Ich habe aber die Erläuterung nochmals ’nachgesprochen‘. Aus den 20 Min sind dann ca. 70 Min geworden. Die Bilder unten bilden das Rückgrat der Geschichte; sie sind nummeriert. Im gesprochenen Text nehme ich auf diese Bilder Bezug.
Das Ganze endet in einem glühenden Plädoyer für die Zukunft des Lebens in Symbiose mit einer angemessenen Technik. Wir sind nicht das ‚Endprodukt‘ der Evolution, sondern nur eine Durchgangsstation hin zu etwas ganz anderem!
Die Vision, die in dem Audiobeitrag gegen Ende entwickelt wird, soll in dem Emerging-Mind Projekt konkret umgesetzt werden, als Impuls, als Anstoß, als Provokation, als Community, die sich mit dem Thema philosophisch, wissenschaftlich, künstlerisch und theologisch auseinandersetzt.
Eine Übersicht über alle Einträge von cagent in diesem Blog nach Titeln findet sich HIER.
1. Während der Begriff ‚Endspiel‘ durch seine sportliche Konnotationen noch keinen letzten Schrecken verbreiten muss, klingt ‚Endkampf‘ biblisch-apokalyptisch: Endzeitstimmung; das Böse kämpft gegen das Gute; alles steht auf dem Spiel. ‚Evolutionsschub‘ deutet die Perspektive der Naturwissenschaften an, eine methodische Objektivität eines ‚Strukturwandels‘, der sich ’natürlich‘ aus der ‚Vorgeschichte‘ ergibt. Obwohl ich grundsätzlich der naturwissenschaftlichen Sicht zuneige als Grundlage aller Argumentationen über unsere empirisch erfahrbare Welt und damit bei weitreichenden Veränderungen eher einen ’natürlichen Strukturwandel‘ unterstelle, haben wir es bei dem aktuellen Strukturwandel mit Phänomenen zu tun, in die ’subjektive Anteile‘ von beteiligten Menschen, Gruppierungen, Parteien, Firmen usw. mit eingehen. Die ‚Natur‘ hat zwar aufgrund der Gesamtheit aller beteiligten physikalischen Eigenschaften ‚von sich aus‘ eine — möglicherweise ’spezifische‘ — ‚Tendenz‘ sich zu verändern, aber der weltweite Einfluss biologischer Systeme auf den weiteren Gang mit der ‚biologischen Eigendynamik, die – wir wir wissen – gegen grundlegende physikalische Gesetze (z.B. 2.Hauptsatz der Thermodynamik) gerichtet zu sein scheint, erscheint mittlerweile so stark, dass der biologische Faktor neben den physikalischen Prinzipien ein Gewicht gewonnen hat, welches es verbietet, rein ‚technisch‘ von einem Evolutionsschub als ‚ausrechenbarem Strukturwandel‘ zu sprechen.
2. In diesem globalen Kontext erscheint ein Thema wie Informatik & Gesellschaft auf den ersten Blick eher speziell; auf den zweiten Blick zeigt sich aber gerade in diesem Thema eine der globalen Verwerfungslinien zwischen dem ‚Zustand bisher‘ und dem ‚Zustand, der neu beginnt‘. Das Thema ‚Informatik‘ bzw. ‚Computertechnologie‘ galt eher als Teil der Technologie, die nicht eigentlich der ‚Natur‘ zugeordnet wurde. Wie überhaupt seit Aufkommen der ‚Maschinen‘ die Maschinen als Leitmuster der Technologie immer als Gegensatz zur ‚chemischen und biologischen Evolution‘ gesehen wurden. Neben vielen kulturellen Denkmustern, die solch eine ‚Trennung‘ begünstigten, war es sicher auch die mindestens von der antiken Philosophie herrührenden Trennung von ‚unbelebt‘ (die ‚Stoffe‘, ‚Subtsanzen‘, die ‚Materie‘ als solche sind ‚unbelebt‘) und ‚belebt‘ (‚atmend‘ (pneo), Atem als universelles Lebensprinzip (pneuma)), das seinen Ausdruck im ‚Geist‘ (pneuma‘) findet. Da dieser Gegensatz von ‚unbelebt‘ und ‚belebt‘ mehr als 2000 Jahre nicht wirklich aufgelöst werden konnte, konnte sich eine Art ‚Dualismus‘ ausbilden und durchhalten, der wie eine unsichtbare Trennlinie durch die gesamte Wirklichkeit verlief: alles, was nicht ‚atmete‘ war unbelebt, materiell, un-geistig; alles was atmete, belebt war, befand sich in einer Nähe zum universellen Geistigen, ohne dass man eigentlich näher beschreiben konnte, was ‚Geist‘ denn nun genau war. Nicht verwunderlich, dass sich alle großen Religionen wie ‚Hinduismus‘, ‚Judentum‘, ‚Buddhismus‘, ‚Christentum‘, ‚Islam‘ (trotz z.T. erheblicher Differenzen in den Details), diesem Dualismus ’nachbarschaftlich verbunden fühlten‘. Der intellektuell-begriffliche ‚Ringkampf‘ der christlichen Theologie und Philosophie (und streckenweise des Islam, Avicenna und andere!) mit diesem dualistischen Erbe hat jedenfalls tiefe Spuren in allen theologischen Systemen hinterlassen, ohne allerdings dieses ‚Rätsel des Geistes‘ auch nur ansatzweise aufzulösen.
3. Diesen historischen Kontext muss man sich bewusst machen, um zu verstehen, warum für viele (die meisten? Alle?) die plötzliche ‚Nähe‘ der Technologie im alltäglichen Leben, eine sich immer mehr ‚anschmiegende‘ und zugleich ‚verdrängende‘ Technologie an diesem im Alltagsdenken ‚historisch eingebrannten‘ Dualismus‘ zu kratzen beginnt, zu wachsenden Irritationen führt (andere Technologien wie Nanotechnologie und Gentechnik gehören auch in diesen Kontext, wenn auch anders).
4. Im Ankündigungstext zur erwähnten Veranstaltung Informatik & Gesellschaft (siehe auch den Kurzbericht) wurde bewusst herausgestellt, dass seit den ersten Computern eines Konrad Zuse und dem Eniac-Computer von John Presper Eckert und John William Mauchly (1946) die Computertechnologie mittlerweile nahezu alle Bereiche der Gesellschaft in einer Weise durchdrungen hat, wie wohl bislang keine andere Technologie; dass diese Technologie realer Teil unseres Alltags geworden ist, sowohl im Arbeitsleben wie auch in der Freizeit. Man kann sogar sagen, dass diese Technologie die menschliche Lebensweise schon jetzt (nach ca. 60 Jahren) real und nachhaltig verändert hat. Neue Formen der Kommunikation wurden ermöglicht, Veränderungen der Mobilität, automatisierte flexible Produktion, Computermusik, computergenerierte Bildwelten…
5. Aber diese Durchdringung von nahezu allem – was heißt das? Die neue historische Qualität dieser Technologie besteht darin, dass diese Technologie – bislang immer noch klar erkennbar als ‚Maschinen‘, bislang nicht als ‚biologische‘ Strukturen – ‚Verhaltensweisen‘ zeigt, die denen der Menschen als Prototypen von ‚geistigen‘ Wesen ähneln. Aufgrund dieser ‚Ähnlichkeit‘ werden sie Teil von ‚typisch menschlichen‘ Handlungsabläufen (Kommunizieren, Wissen verwalten, Sport und Kunst machen, Spielen, komplexe Modelle und Prozesse entwerfen und simulieren, dann auch steuern, usw.). Seit den 80iger Jahren des 20.Jahrhunderts – also nach nicht mal ca. 30-40 Jahren — hat sich diese Technologie so mit dem menschlichen Alltag verwoben, dass eine moderne industrielle Gesellschaft komplett zusammenbrechen würde, würde man diese Technologie von jetzt auf gleich abschalten.
6. Befürworter eines noch intensiveren Einsatz dieser neuen Computertechnologien z.B. im Bereich der Industrie unter dem Schlagwort ‚Industrie 4.0‘ (so z.B. Prof. Schocke in seinem Beitrag auf der Veranstaltung Informatik & Gesellschaft – Kurzbericht oder die Autoren Thomas Klein und Daniel Schleidt in der gleichnamigen FAZ Beilage vom 18.Nov.2014 auf den Seiten V2 (Klein) und V6 (Schleidt)) sehen vor allem das Potential zu noch mehr Produktionssteigerungen bei gleichzeitiger Verbesserung der Qualität und besserer Ressourcennutzung. Gleichzeitig betonen die drei Autoren die Notwendigkeit von mehr Computertechnologie in der Industrie wegen des internationalen Wettbewerbs. Von den drei genannten Autoren spricht einzig Thomas Klein auch die Kehrseite des vermehrt ‚menschenähnlichen‘ Einsatzes dieser Maschinen im Kontext von Industrie 4.0 an: das damit möglicherweise auch viele Arbeitsplätze wegfallen werden, die bislang für Menschen Arbeitsmöglichkeiten geboten haben. Klein zitiert Untersuchungen, nach denen 47% der bisherigen Arbeitsplätze in den USA in den nächsten 10 Jahren Kandidaten für eine Substitution durch Computergestützte Technologien sind. Dies sind massive Zahlen. Dalia Marin, Professorin für Volkswirtschaft, versucht diese kommende Arbeitsmarktproblematik weiter zu differenzieren. Ausgehend von der Annahme, dass mehr Automatisierung kommen wird, sieht sie neben dem Rückzug von Hochtechnologieproduktionen in die angestammten Industrieländer dort aber die grundsätzliche Entwicklung zur Vergrößerung der Kapitalquote und zur Verringerung der Lohnquote. Diese Verringerung soll vor allem den Akademikersektor treffen; teure menschliche Arbeitskräfte werden bevorzugt von billigen computerbasierten Technologien ersetzt (FAZ 21.Nov.2014, S.16). Sowohl Klein wie auch Marin betonen aber auch, dass solche Zukunftseinschätzungen problematisch sind; der Prozess ist zu komplex, als dass man ihn einfach hochrechnen könnte.
7. Was bei allen vier genannten Autoren auffällt – auch bei den Autoren der Beilage ‚Innovation‘ (FAZ 20.Nov.2014) – ist, dass sie die ‚intelligente‘ und ’smarte‘ Technologie überwiegend aus einer ‚Außensicht‘ behandeln. Sie lassen die Wirkmechanismen dieser neuen Technologien, ihre maschinelle Logik, das, was sie so leistungsfähig macht, mehr oder weniger im Dunkeln. Smarte, intelligente Technologie erscheint dadurch – ich pointiere jetzt ein wenig — wie ein Naturereignis, das geradezu mystisch über uns hereinbricht, das einfach passiert, das so ist wie es ist, das man einfach hinnehmen muss. Auch fehlt eine historische Einordnung dieser Prozesse in das große Ganze einer Evolution des Lebens im Universum. Die sehr differenzierten Sichten von Daniel Schleidt enthalten zwar ein eigenes Schaubild zur industriellen Entwicklung, aber dieses greift – nach meiner Einschätzung – zu kurz. Es zementiert nur eher den opaken Blick auf das Phänomen, macht es begrifflich unzugänglich, schottet es für die Reflexion ab. Auch die volkswirtschaftliche Ausweitung des Blicks durch Marin geht – nach meiner Einschätzung – nicht weit genug. Sie betrachtet das Problem einer möglichen und wahrscheinlichen Substitution von menschlicher Arbeit durch computerbasierte Technologien in gegebenen historischen Kontexten und hier auch nur in einer kurzen Zeitspanne. Sie thematisiert aber nicht die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als solche. Sehr wohl kann man die Frage nach dem aktuellen Gesellschaftsmodell stellen. Sehr wohl kann man die Frage aufwerfen, ob es ein gutes Modell ist, wenn einige wenige GFinanz- und Machteliten mit dem Rest der Menschheit nach Belieben spielen. In der Frankfurter Rundschau wird seit vielen Wochen das Thema ‚Gerechtigkeit‘ diskutiert (siehe zuletzt z.B. Mohssen Massarat, Prof. für Wirtschaft und Politik mit seiner Übersicht verschiedener Gerechtigkeitsmodelle, FR 15./16.Nov.2014, S.9) und die Lektüre eines Buches wie ‚Die Abwicklung‘ von George Packer zeigt, dass eine reflexionsfreie oligopolistische Gesellschaft wie die US-Amerikanische mehr Fragen aufwirft als sie befriedigende Antworten liefert.
8. Sieht man nur die bisherigen Diskussionsbeiträge, dann kann einen schon die klamme Frage beschleichen, warum so viele Autoren in den Spiegeln der Gegenwart immer nur noch ‚das Andere‘ sehen, die ‚Maschine‘, während der ‚Mensch‘, die ‚Menschheit‘ als Hervorbringer dieser Technologien in diesem Sichtfeld gar nicht mehr vorkommt. Es ist wie ein intellektueller blinder Fleck, der die leisesten Zuckungen von Maschinen wie eine Neugeburt feiert während das ungeheuerliche Wunder der Entstehung komplexer Lebensstrukturen auf der Erde (das bis heute in keiner Weise wirklich verstanden ist!) nicht einmal eine Randnotiz wert ist. Fokussierung auf spezifische Fragestellung hat seinen Sinn und ist und war ein Erfolgsrezept, aber in einer Zeit, in der disziplinenübergreifend komplexe Phänomene alles mit allem verzahnen, in einer solchen Zeit erscheint diese selbstgenügsame Tugend nicht mehr nur nicht angebracht, sondern geradezu kontraproduktiv zu sein. Eine falsche Fokussierung führt bei komplexen Phänomenen notwendigerweise zu Verzerrungen, zu Verfälschungen, zu falschen Bildern von der Gegenwart und einer sich daraus ergebenden Zukunft (es sei auch an die lange Diskussion in der FAZ erinnert zu den Schwachstellen moderner Betriebs- und Volkswirtschaftstheorien, die nicht nur die letzten Finanzkatastrophen nicht vorhergesehen haben, sondern auch mit ihrem Paradigma des ‚homo oeconomicus‘ empirisch weitgehend gescheitert sind.)
9. Wenn nun also Menschen selbst das Andere ihrer selbst anpreisen und sich selbst dabei ‚wegschweigen‘, ist damit die Geschichte des biologischen Lebens im Universum automatisch zu Ende oder unterliegen wir als menschlich Denkende hier nicht wieder einmal einem grundlegenden Denkfehler über die Wirklichkeit, wie andere Generationen vor uns auch schon in anderen Fragen?
10. Die Verabschiedung der UN-Menschenrechtskonvention von 1948, damals als ein Lichtblick angesichts der systematischen Greueltaten gegen die Juden (aber aber nicht nur dieser!) und der Beginn vieler anderer daran anknüpfenden Erklärungen und Initiativen erscheint vor den aktuellen gesellschaftlichen Prozessen weltweit fast schon seltsam. Dass ein totalitäres Regime wie das chinesische die Menschenrechte grundsätzlich nicht anerkennt (wohl aber chinesische Bürger, siehe die Charta 2008) ist offiziell gewollt, dass aber selbst demokratische Länder – allen voran die USA – mit den Menschenrechten scheinbar ’nach Belieben‘ umgehen, sozusagen, wie es ihnen gerade passt, dass wirkt wenig ermutigend und gibt Nahrung für Spekulationen, ob die Menschenrechte und die Mitgliedschaft in der UN nur davon ablenken sollen, was die Finanz- und Machteliten tatsächlich wollen. Die Zerstörung ganzer Gesellschaftsbereiche, die Marginalisierung großer Teile der Bevölkerung, die unbeschränkte Aufhebung der Privatsphäre ohne alle Kontrollen, die globale Ausbeutung der Schwachen durch Handelsabkommen … nur wenige Beispiele die eine andere Sprache sprechen, als jene, die in den Menschenrechten vorgezeichnet ist.
11. Noch einmal, was auffällt, ist die ‚Oberflächlichkeit‘ all dieser Bilder im wahrsten Sinn des Wortes: die schier unfassbare Geschichte der Evolution des Lebens im Universum existiert eigentlich nicht; das Wunder des Geistes inmitten materiell erscheinender Strukturen ist weitgehend unsichtbar oder ist eingesperrt in eine gesellschaftliche Enklave genannt ‚Kultur‘, die nahezu kontaktlos ist mit dem Rest des Wirtschaftens, Produzierens und Denkens; eine ‚Kultur der Sonntagsreden‘ und der ‚Belustigungen‘, ein Medium für die Eitelkeit der Reichen und der Unterhaltungsindustrie.
12. Innovation entsteht nie nur aus der Wiederholung des Alten, sondern immer auch aus der Veränderung des Alten, entsteht aus dem gezielt herbeigeführten ‚Risiko‘ von etwas ‚tatsächlich Neuem‘, dessen Eigenschaften und Wirkungen per se nicht vollständig vorher bekannt sein können.
13. Die, die aktuell neue Technologien hervorbringen und einsetzen wollen, erscheinen ‚innovativ‘ darin, dass sie diese hervorbringen, aber in der Art und Weise, wie sie das biologische Leben – speziell die Menschen – damit ‚arrangieren‘, wirken die meisten sehr ‚alt‘, ‚rückwärtsgewandt‘, …. Innovationen für das Menschliche stehen ersichtlich auf keiner Tagesordnung. Das Menschliche wird offiziell ‚konserviert‘ oder schlicht wegrationalisiert, weggeworfen, ‚entsorgt‘; hier manifestiert sich ein seltsamer Zug dazu, sich selbst zu entsorgen, sich selbst zu vernichten. Die Quelle aller Innovationen, das biologische Leben, hat in Gestalt der Menschheit einen ‚blinden Fleck‘: sie selbst als Quelle.
14. Der Mangel an Wissen war zu allen Zeiten ein Riesenproblem und Quelle vieler Notlagen und Gräueltaten. Dennoch hat die Menschheit trotz massiver Beschränkungen im Wissen neues Wissen und neue Strukturen entwickelt, die mehr Teilhabe ermöglichen, mehr Einsichten vermitteln, mehr Technologie hervorgebracht haben, ohne dass ein ‚externer Lehrer‘ gesagt hat, was zu tun ist… wie ja auch alle Kinder nicht lernen, weil wir auf sie einreden, sondern weil sie durch den bisherigen Gang der Evolution für ein kontinuierliches Lernen ausgestattet sind. … Der Geist geht dem Denken voraus, die Logik der Entwicklung liegt ‚in‘ der Materie-Energie.
15. So großartig Innovationen sein können, das größte Mirakel bleibt die Quelle selbst. Wunderbar und unheimlich zugleich.
QUELLEN
George Packer (3.Aufl. 2014), Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika. Frankfurt am Main: S.Fischer Verlag GmbH (die engl. Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel ‚The Unwinding. An Inner History of the New America‘. New York: Farrar, Strauss and Giroux).
Einen Überblic über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.
1. Die folgenden Überlegungen müsste man eigentlich mit viel Mathematik und Empirie untermauert hinschreiben. Da ich aber auf Wochen absehbar dazu nicht die Zeit haben werde, ich den Gedanken trotzdem wichtig finde, notiere ich ihn so, wie er mir jetzt in die Finger und Tasten fließt …
PARADOX MENSCH Mai 2012
2. Am 4.Mai 2012 – also vor mehr als 2 Jahren – hatte ich einen Blogeintrag geschrieben (PARADOX MENSCH), in dem ich versucht hatte, anzudeuten, wie der eine Mensch in ganz unterschiedlichen ’sozialen Rollen‘, in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten vorkommt und dort, je nach Handlungs-, Wissens- und Werteraum ganz verschiedene Dinge tun kann. Derselbe Mensch kann hundert Tausende für sich bis zum umfallen Arbeiten lassen und selbst dabei ‚reich‘ und ‚genussvoll‘ in den Tag hinein leben oder er kann als genau dieser einzelner in einer Werkhalle stehen und für einen Hungerlohn bei miserablen Bedingungen sein Leben aufarbeiten, ohne viel darüber nachdenken zu können, wie er sein Leben ändern könnte. Der Mensch in der Werkhalle kann viel intelligenter, viel begabter sein als der, der die hundert Tausende befehligt, aber der in der Werkhalle hat keine sozialen Räume, um diese seine Begabungen ausleben zu können. Vielleicht wäre er ein mathematisches Genie, ein großer Pianist, ein begnadeter Architekt, eine wunderbare Krankenschwester, ein(e) …. wir werden es in der aktuellen Situation nicht wissen, es sei denn …
3. Was sich in dem Blogeintrag von 2012 andeutet, aber nicht explizit ausgeführt wird, das ist diese ‚doppelte Sicht‘ auf die Wirklichkeit:
4. als Individuen, als einzelne ‚erleben‘ wir die Welt aus unserer subjektiven Perspektive, mit unserem einzelnen Körper, finden uns vor in einem gesellschaftlichen Kontext, der uns als Kinder ‚empfängt‘ und der von Anfang an ‚mit uns umgeht‘. Als Kinder können wir fast nichts machen; wir sind ‚Gegenstand‘ dieser Prozesse‘, sehr oft einfach nur ‚Opfer‘; der Prozess ‚macht mit uns‘ etwas. Wie wir wissen können, gibt es hier die volle Bandbreite zwischen Hunger, Quälereien, Missbrauch, Folter, Arbeit bis hin zu friedlicher Umgebung, umsorgt werden, genügend (zu viel) zu Essen haben, spielen können, lernen können usw.
5. Wir erleben die Welt aus dieser EGO-Perspektive mit dem individuellen Körper, seinem Aussehen, seiner Motorik, seinen Eigenheiten in einer Umgebung, die ihre Spielregeln hat, unabhängig von uns. Wir gewinnen ein BILD von uns, das sich über die Umgebung formt, bildet, zu unserem Bild über uns wird, eine Rückspiegelung von uns unter den Bedingungen der Umgebung. Jemand hat die Begabung zu einem Ingenieure, wird aber immer nur belohnt und unterstützt, wenn er etwas ganz anderes macht, also wird er normalerweise nie Ingenieure werden. … Wer nur überlebt, wenn er lernt sich anzupassen oder andere mit Gewalt niederhält, permanent Angst um sich verbreitet, der wird selten zu einem ‚friedlichen‘, ‚umgänglichen‘ Gegenüber …
6. Aus Sicht ‚der Welt‘, der sozialen Struktur, der Firma, der Behörde, kurz, aus Sicht ‚des Systems‘ ist ein einzelner immer dasjenige ‚Element‘, das ‚im Sinne des Systems‘ ‚funktioniert‘! Wer Lehrer in einer Schule geworden ist, wurde dies nur, weil es das ‚System Schule‘ gibt und der einzelne bestimmte ‚Anforderung‘ ‚erfüllt‘ hat. Solange er diese Anforderungen erfüllt, kann er in dem ‚System Schule‘ das Element genannt ‚Lehrer‘ sein.
7. Das System interessiert sich nicht dafür, ob und wie das einzelne Element Lehrer auf seiner subjektiven Seite die alltäglichen Ereignisse, Erlebnisse, Anforderungen verarbeitet, verarbeiten kann; wenn das Element ‚Lehrer‘ im Sinne des Systems ‚Schwächen‘ zeigt, Anforderungen länger nicht erfüllen kann, dann muss das System dieses ’schwächelnde Element‘ ‚entfernen‘, da es ansonsten sich selbst schwächen würde. Das ‚System Schule‘ als gesellschaftliches System bezieht seine Berechtigung aus der Systemleistung. Wird diese nicht erbracht, dann gerät es – je nach Gesellschaft – unter Druck; dieser Druck wird auf jedes einzelne Element weiter gegeben.
8. Solange ein einzelnes Element die Systemanforderungen gut erfüllen kann bekommt es gute Rückmeldungen und fühlt sich ‚wohl‘. Kommt es zu Konflikten, Störungen innerhalb des Systems oder hat das individuelle Element auf seiner ’subjektiven Seite‘ Veränderungen, die es ihm schwer machen, die Systemanforderungen zu erfüllen, dann gerät es individuell unter ‚Druck‘, ‚Stress‘.
9. Kann dieser Druck auf Dauer nicht ‚gemildert‘ bzw. ganz aufgelöst werden, wird der Druck das individuelle Element (also jeden einzelnen von uns) ‚krank‘ machen, ‚arbeitsunfähig‘, ‚depressiv‘, oder was es noch an schönen Worten gibt.
MENSCHENFREUNDLICHE SYSTEME
10. In ‚menschenfreundlichen‘ Systemen gibt es Mechanismen, die einzelnen, wenn Sie in solche Stresssituationen kommen, Hilfen anbieten, wie der Druck eventuell aufgelöst werden kann, so dass das individuelle Element mit seinen Fähigkeiten, Erfahrungen und seinem Engagement mindestens erhalten bleibt. In anderen – den meisten ? — Systemen, wird ein gestresstes Element, das Ausfälle zeigt, ‚ausgesondert‘; es erfüllt nicht mehr seinen ’systemischen Zweck‘. Welche der beiden Strategien letztlich ’nachhaltiger‘ ist, mehr Qualität im System erzeugt, ist offiziell nicht entschieden.
11. In ‚menschenfreundlichen Gesellschaftssystemen‘ ist für wichtige ‚Notsituationen = Stresssituationen‘ ‚vorgesorgt‘, es gibt systemische ‚Hilfen‘, um im Falle von z.B. Arbeitslosigkeit oder Krankheit oder finanzieller Unterversorgung unterschiedlich stark unterstützt zu werden. In weniger menschenfreundlichen Systemen bekommt das einzelne Element, wenn es vom ‚System‘ ‚ausgesondert‘ wird, keinerlei Unterstützung; wer dann keinen zusätzlichen Kontext hat, fällt ins ‚gesellschaftliche Nichts‘.
12. Unabhängig von ökonomischen und gesellschaftlichen Systemen bleiben dann nur ‚individuell basierte Systeme‘ (Freundschaften, Familien, Vereine, private Vereinigungen, …), die einen ‚Puffer‘ bilden, eine ‚Lebenszone‘ für all das, was die anderen Systeme nicht bieten.
INDIVIDUELLE GRATWANDERUNG
13. Ein einzelner Mensch, der sein Leben sehr weitgehend darüber definiert, dass er ‚Systemelement‘ ist, d.h. dass er/sie als Element in einem System S bestimmte Leistungen erbringen muss, um ‚mitspielen‘ zu können, und der für dieses ‚Mitspielen‘ einen ‚vollen Einsatz‘ bringen muss, ein solcher Mensch vollzieht eine permanente ‚Gratwanderung‘.
14. Da jeder einzelne Mensch ein biologisches System ist, das einerseits fantastisch ist (im Kontext des biologischen Lebens), andererseits aber natürliche ‚Grenzwerte‘ hat, die eingehalten werden müssen, damit es auf Dauer funktionieren kann, kann ein einzelner Mensch auf Dauer als ‚Element im System‘ nicht ‚absolut‘ funktionieren; es braucht Pausen, Ruhezonen, hat auch mal ’schwächere Phasen‘, kann nicht über Jahre vollidentisch 100% liefern. Dazu kommen gelegentliche Krankheiten, Ereignisse im ‚privaten Umfeld, die für die ‚Stabilisierung‘ des einzelnen wichtig sind, die aber nicht immer mit dem ‚System‘ voll kompatibel sind. Je nach ‚Menschenunfreundlichkeit‘ des Systems lassen sich die privaten Bedürfnisse mit dem System in Einklang bringen oder aber nicht. Diese zunächst vielleicht kleinen Störungen können sich dann bei einem menschenunfreundlichem System auf Dauer zu immer größeren Störungen auswachsen bis dahin, dass das einzelne individuelle Element nicht mehr im System funktionieren kann.
15. Solange ein einzelnes Element nur seine ’subjektive Perspektive‘ anlegt und seine eigene Situation nur aus seiner individuellen Betroffenheit, seinem individuellen Stress betrachtet, kann es schnell in eine Stimmung der individuellen Ohnmacht geraten, der individuellen Kraftlosigkeit, des individuellen Versagens verknüpft mit Ängsten (eingebildeten oder real begründet), und damit mit seinen negativen Gefühlen die negative Situation weiter verstärken. Das kann dann zu einem negativen ‚Abwärtsstrudel‘ führen, gibt es nicht irgendwelche Faktoren in dem privaten Umfeld, die dieses ‚auffangen‘ können, das Ganze zum ‚Stillstand‘ bringen, ‚Besinnung‘ und ’neue Kraft‘ ermöglichen und damit die Voraussetzung für eine mögliche ‚Auflösung der Stresssituation‘ schaffen.
16. Menschen, die annähernd 100% in ihr ‚Element in einem System‘ Sein investieren und annähernd 0% in ihr privates Umfeld, sind ideale Kandidaten für den individuellen Totalcrash.
17. ‚Plazebos‘ wie Alkohol, Drogen, punktuelle Befriedigungs-Beziehungen, bezahlte Sonderevents und dergleichen sind erfahrungsgemäß keine nachhaltige Hilfe; sie verstärken eher noch die individuelle Hilflosigkeit für den Fall, dass es ernst wird mit dem Stress. Denn dann helfen alle diese Plazebos nichts mehr.
WAS WIRKLICH ZÄHLT
18. Das einzige, was wirklich zählt, das sind auf allen Ebenen solche Beziehungen zu anderen, die von ‚tatsächlichem‘ menschlichen Respekt, Anerkennung, Vertrautheit, Zuverlässigkeit, und Wertschätzung getragen sind, dann und gerade dann, wenn man phasenweise seine ‚vermeintliche Stärke‘ zu verlieren scheint. Das umfasst private Wohnbereiche zusammen mit anderen sowie ‚echte‘ Freundschaften, ‚echte‘ Beziehungen, ‚gelebte‘ Beziehungsgruppen, ‚Gefühlter Sinn‘, und dergleichen mehr.
LOGIK DES SYSTEMS
19. Die ‚Logik der Systeme‘ ist als solche ’neutral‘: sie kann menschenrelevante Aspekte entweder ausklammern oder einbeziehen. Solange es ein ‚Überangebot‘ an ‚fähigen Menschen‘ für ein System gibt, kann es vielleicht menschenrelevante Aspekte ‚ausklammern‘, solange das ‚gesellschaftliche Umfeld‘ eines Systems die ‚Störungen absorbiert‘. Wie man weiß, kann aber die ‚Qualität‘ eines Systems erheblich leiden, wenn es die ‚menschenrelevanten‘ Aspekte zu stark ausklammert; auch wird ein gesellschaftliches Umfeld – wie uns die Geschichte lehrt – auf Dauer ab einem bestimmten Ausmaß an zu absorbierenden Störungen instabil, so dass auch die für sich scheinbar funktionierenden Systeme ins Schwanken geraten. Die Stabilität eines Systems ist niemals unabhängig von seiner Umgebung. So führte historisch eine auftretende krasse Vermögens- und Arbeits-Ungleichverteilung immer wieder zu starken Turbulenzen, Revolutionen, in denen Menschen sich wehren. Denn letztlich sind alle absolut gleich, jeder hat die gleichen Rechte. Das einseitige Vorenthalten von Rechten bei den einen und die einseitige Privilegierung für wenige andere hat nahezu keine Begründung in einem persönlichen Besser sein, sondern ist fast ausschließlich systemisch-historisch bedingt. Da ‚Privilegieninhaber‘ von sich aus fast nie freiwillig auf ihre Privilegien verzichten wollen und alles tun, um diese ‚abzusichern‘, wird ein systemisches Ungleichgewicht in der Regel immer schlechter; dies ist nicht nachhaltig; letztendlich führt es zur De-Stabilisierung und damit in chaotische Zustände, in der es nicht notwendig ‚Gewinner‘ geben muss, aber auf jeden Fall viele Verlierer.
20. Ein ganz anderer Aspekt ist die globale Verarmung aller Systeme, die die individuellen Potentiale systemisch unterdrücken. Da fast jeder Mensch gut ist für etwas Besonderes, führt die ‚Einkastelung‘ der Individuen in ‚tote Elemente‘ eines Systems zwangsläufig zu einer ungeheuren Ressourcenverschwendung und Verarmung, die dem System selbst wertvollste Ressourcen entzieht. Der ‚Tod des Individuums‘ ist daher auf Dauer auch über die ‚Verarmung‘ des Systems auch ein ‚Tod des Systems‘. Jedes System, das nachhaltig die Potentiale seiner Individuen samt ihrer Privatheit besser fördert und entwickelt als ein Konkurrenzsystem, wird auf Dauer besser und stabiler sein.
Einen Überblick über alle bisherige Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.
1. Bei den folgenden ‚Nachgedanken‘ orientiere ich mich an dem Text Der High-Tech-Frieden braucht eine neue Art von Humanismus, der die offizielle deutsche Übersetzung darstellt. Die Laudatio von Martin Schulz, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments,findet sich HIER.
2. Eine Rede an so einem besonderen Ort vor solch einem selektiertem Publikum zu halten, ist nicht einfach. Bedenkt man ferner, wie unsere Zeit geprägt ist von einer totalen Informationsüberflutung, die wiederum eingebettet ist in krasse Ungleichzeitigkeiten von Kulturen und gesellschaftlichen Gruppen, dann wird es nicht einfacher. Andererseits hatte Lanier ein Publikum vor sich, das aufgrund seiner Auswahl eine minimale kulturelle Homogenität aufwies, eines, das irgendwo dem Muster westlicher Demokratien und vom Internet geprägten Hochleistungsgesellschaften nahestand.
VIELZAHL VON IMPRESSIONEN
3. Die Rede war nun nicht von der klassischen Art, dass ein bestimmter Gedanke sich einfach und klar mit Wucht Ausdruck verschaffte, nein es war eher eine Vielzahl von Impressionen, die alle ihren Ort in unserem Alltag haben, und es waren verschiedene Themenansätze, die anklangen, aber nicht zu Ende durchkomponiert waren (siehe Stichwortsammlung auf folgendem Schaubild).
4. Was als erstes auffällt, es fehlt praktisch – bis auf eine kleine Ausnahme — jede historische Dimension: die Welt erscheint nicht als gewordene, als von bestimmten Kräften getrieben, angetrieben, sondern wir tauchen unmittelbar ein in eine Momentaufnahme, ein Kaleidoskop von vielen Bildern, Bilder einer ‚entwickelten Welt‘ eingespannt zwischen ‚Überfluss‘ und ‚Rand eines Abgrunds‘.
5. Er selbst sieht sich als ‚Realist‘ mit einer Familiengeschichte (das ist die kleine Ausnahme in der Geschichtslosigkeit), die zurückreicht in die Gräuel des Naziregimes, das in großer Perfektion ganze Völker manipuliert und gequält hat. Treue gegenüber dem System und Gehorsam sind in einer Nazigesellschaft missbraucht worden für Zwecke, die zwar einigen wenigen nützten, aber sehr vielen anderen Leid und Tod gebracht haben.
INDIVIDUELLER HUMANIST ALS MITVERURSACHER
6. Lanier selbst ist einerseits Mitverursacher der modernen Informationstechnologien und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen, andererseits ist er individueller Humanist und leidet an ihren negativen Auswüchsen: er kann ein breites Spektrum von Phänomenen an den neuen Informationstechnologien benennen, die sich zwar soziale psychische ‚Grundtriebe‘ des Menschen zu Nutze machen, die aber diese Menschen letztlich doch entrechten und verachten, indem alles, was man an Daten von diesen Menschen bekommen kann, an fremden, entlegenen, anonymen Orten speichert und in eigener Regie nutzt, ausnutzt, oft gegen die Interessen des Datenspenders.
ÄHNLICHKEITEN MIT NAZIREGIME ZUFÄLLIG?
7. Das Naziregime knüpfte auch am ‚gesunden Volksempfinden‘ an, schaffte auf den ersten Blick Erleichterungen, Wohltaten, Komfort, neue soziale Netze; Google, Facebook und Co weisen starke Ähnlichkeiten auf: sie bieten kostenlos allerlei persönlichen Komfort, neue Formen sozialer Vernetzungen, nehmen sich dafür aber alles, was sie von den Menschen bekomme können, treten deren Rechte mit Füßen, und bauen globale wirtschaftliche Nutzungszusammenhänge auf, die immer mehr Menschen ihre Arbeit nehmen, selbst aber Gewinne erzielen für noch mehr global-elitäre Geschäftstätigkeiten. In sich sind sie völlig intransparent, elitär, erscheinen menschenverachtend. Der Mensch wird so behandelt, als ob er keinen eigenen Wert hat, sondern nur insoweit, als er der globalen elitären Geschäftsidee nutzt.
UNSICHTBARE MONSTER?
8. Die Schwierigkeit bei dem Reden über diese neue Formen von Ausbeutung ist, dass vieles nicht direkt sichtbar wird, dass die Mechanismen ‚dahinter‘ verborgen sind in Netzwerken, in Serverfarmen, im Code der Software. Konnte man sich früher schon mal bei einem Menschen beschweren, wenn Verwaltungsabläufe Kritik hervorriefen, werden diese Verwaltungsabläufe heute von undurchschaubaren Engineeringverfahren erzeugt, in Software eingekleidet, für Politik, Recht und Öffentlichkeit ‚unsichtbar‘, absolut wie die mythischen Götter der Vorzeit. Öffentlichkeit und Politik sitzen vor diesen neuen Monster andächtig, wie das Kaninchen vor der Schlage; Arbeitsverluste, Steuerausfälle, Manipulation, Totalüberwachung erleidet und erduldet man, aber niemand handelt. So erzieht man sich immer größere Monster.
PARALLELE PHÄNOMENE, ÜBER DIE LANIER NICHTS SAGTE
9. Sind die Bilder, die Lanier in seiner Rede mit Blick auf die digitale Wirtschaft schon bedrückend genug, sollte man im Hinterkopf behalten, dass wir in anderen Bereichen (Rohstoffe, Chemie, Pharma, Landwirtschaft …) ganz ähnliche Globalisierungseffekte erleben, die immer mehr auf Kosten der Menschen ‚vor Ort‘ den Reichtum weniger elitärer Gruppen ‚im Hintergrund‘ mehren, alles auf Kosten der Verwahrlosung der restlichen Welt (so scheint z.B. die WHO über die Finanzierung sich in den Händen weniger Großkonzerne zu befinden, die die Zertifizierungen von Produkten anderer Firmen verhindern bzw. das Ausbrechen bzw. Nichtausbrechen von medizinischen Katastrophen steuern können, ein einträgliches Milliardengeschäft, wie es scheint).
MENSCHENVERACHTENDE ELITEN?
10. Es ist dann möglicherweise kein Zufall, dass es genau die Wirtschafts- und Technologieeliten sind, die der Abschaffung des Menschen das Wort reden, transhumanistische Visionen begünstigen, Gehirn-Uploads und Unsterblickeitstechnologien favorisieren. So bizarr die hier einschlägigen Theorien momentan auch sein mögen, reflektieren sie auf jeden Fall einen Wertekosmos, der grundlegend menschenverachtend ist. Die rosigen Werbeslogans wirken vor diesem Hintergrund zynisch: man hätschelt den Konsumenten, den man grundlegend verachtet, rechtlich missbraucht und ökonomisch ausnimmt, um daraus den eigenen Wohlstand zu bauen; gleichzeitig bastelt man an Visionen, wie man sich von diesen lästigen Menschen befreien kann. Waren Hitler, Stalin, Mao (oder deren heutigen Nachfahren) so viel schlechter, weil sie keine Probleme hatten, viele Millionen Menschen zu opfern, weil sie einfach mal so nicht ins Konzept passten?
DIE PASSIVITÄT DER UNTERDRÜCKTEN
11. Man kann sich wundern, warum die Menschen, wir (!), dies alles mit uns machen lassen. Warum lassen wir die wenigen gewähren, die alle anderen ‚ausbeuten‘, ‚missbrauchen‘? Lanier hat dazu nicht viel zu sagen. Er zitiert das Wort vom ‚Rudelverhalten‘, das wir Menschen einen inneren Schalter haben, der, einmal umgelegt, uns dazu bringt, uns als ‚Rudel‘ zu verhalten, das auch vor größten Dummheiten und Ungeheuerlichkeiten nicht zurückschrecke.
12. Diese Rudelverhalten korreliert nach Lanier auf Seiten der Manipulierten stark mit Phänomenen wie Stammesverhalten, blinder Gefolgschaft, autoritären Strukturen, Gewalt, Terror, Nationalitäten. Auf Seiten der Eliten finden wir eine entsprechende Ethik und Gedanken wie den ‚Transhumanismus‘.
DER GESCHICHTSLOSE, VERLORENE MENSCH
13. Bei diesem düsteren – und durchgehend geschichtslosem und unökologischem – Bild der menschlichen Gesellschaft kann man sich fragen, wo denn hier irgendein Lichtschimmer der Hoffnung herkommen kann? Der Mensch, ein blasses rudelhaftes, von dunklen Trieben geleitetes Wesen – warum, wieso, weshalb sollte dieses Wesen eine Zukunft haben?
14. Lanier beruft sich mehrfach auf die Menschenrechte, optiert für eine breite Mitte, für Pluralismus und Nachhaltigkeit, lobt eine neue Sensitivität und Kreativität, preist die traditionellen Familienwerte, glaubt an den Menschen, schließt den Glauben an einen Gott nicht aus, aber diese optimistischen Ansätze bleiben seltsam matt, kraftlos, da nicht so recht zu sehen ist, worin diese Ansätze wirklich gründen sollen, warum diese stärker, wichtiger sein sollen als die dunklen Seiten der Mächte, die den einzelnen, das Rudel, die Menge der Konsumenten, die elitären Nutzer einer globalen Ausbeutung anzutreiben scheinen.
DAS BUCH ALS EINZELNER HEROISCHER AKT
15. Als eine gewisse Referenz an den Ort und an den Anlass der Rede schenkt er dem Publikum auch noch ein paar Bemerkungen zur Rolle und Bedeutung des Buches. Aus der Innensicht eines Autors weiß er zu berichten, dass der Akt des Buch Schreibens Lebenszeit konsumiert, ein minimales Engagement verlangt, dass ein Autor sich damit bis zu einem gewissen Grade verwundbar macht, dass dies aber unumgänglich erscheint, um individuelle Erfahrungen allgemein zugänglich zu machen. Diese Individualität sei notwendig, meint Lanier, und sieht hier auch einen gewissen Widerspruch zur monumentalen Internetenzyklopädie Wikipedia, die eher zur Nivellierung tendiert, zur Vereinheitlichung, zu einer Monopolisierung dessen, was und wie etwas gesagt werden darf.
16. Aktuelle Konflikte wie z.B. die zwischen Internet-Großhändlern wie amazon einerseits und klassischen Verlagen (die allerdings auch Internet nutzen) anderseits, oder die zwischen klassischen Zeitungen einerseits und neuen Webredaktionen andererseits kamen nicht direkt zur Sprache.
17. Auch die grundsätzliche Rolle einer funktionierenden Öffentlichkeit in einer Demokratie und deren potentielle Gefährdung durch die neuen Entwicklungen blieb unberührt. Genau sowenig thematisierte Lanier das Grundproblem des Wissens heute als Medium des globalen Denkens und Handelns.
WENN LANIER RECHT HAT …
18. Wenn Lanier Recht hat – und in vielen Punkten hat er Recht; die Phänomene, die er beschreibt gibt es wirklich, sie sind sehr real – dann ist der Gesamteindruck vordringlich eher düster. Die Macht der schmarotzenden Eliten auf Kosten der vielen ist da, wird täglich praktiziert. Die bislang eher passiv-abwartende Reaktion der betroffenen gesellschaftlichen Systeme und Subsysteme wirkt nicht sehr ermutigend. Das Fehlen eines gemeinsam geteilten Wertekanons als Gegenpol zu den globalen Ausbeutungstendenzen ist in der praktischen, gelebten Realität der Politik da; Menschenrechte stehen auf dem Papier, aber Länder wie z.B. die USA, Russland, China und Saudiarabien passen sie kompromisslos der aktuellen Machtpolitik an. In den USA heißt die Zauberformel ‚Staatsicherheit‘ und ‚wirtschaftlicher Erfolg der Eliten‘, in China ist es der Führungsanspruch der kommunistischen Partei, in Russland ist es der Führungsanspruch eines Putin, in Saudiarabien ist es eine theologisch verbrämte Autokratie. Als ‚Fremder‘ hat man in diesen Ländern keinerlei Rechtsanspruch, außer, er wird aus irgendwelchem Anlass auf Abruf eigens ‚gewährt‘ (und diese vier Länder sind keine Ausnahmen).
19. Die Rede von Lanier hinterlässt daher mehr offene Fragen als nützliche Antworten. Es gibt natürlich viele ermutigende gesellschaftliche Institutionen, Bewegungen und gelebte Wertmodelle, aus denen eine alternative, bessere Zukunft wachsen könnte, es gibt in Europa Länder die trotz allem wachsenden Lobbyismus und wachsender Korruption institutionalisierte Werteansätze leben, aber man kann nicht behaupten, dass wir aktuell einen weltweiten Konsens haben, der die von Lanier geschilderten negativen Auswüchse mit Leichtigkeit überwinden könnte. Die Menschen, die Menschheit steht hier – sicher nicht zum ersten Mal – vor einer Herausforderung, sich für die nächste Phase auf eine Weise ’neu erfinden zu müssen‘, die die aktuellen Probleme konstruktiv und nachhaltig löst. Woher nehmen wir das dazu notwendige Wissen? Was sind die leitenden Kriterien? Woher können wir wissen, was wir vielleicht aktuell noch nicht wissen? Gibt es gute Lösungen ohne vorausgehende Irrtümer, ohne vorausgehende Katastrophen, aus denen wir lernen können? Alle sind gefragt, jeder ist aufgerufen, keiner kann sich entschuldigen. Sterben müssen wir zwar alle, aber wie nutzen wir die kurze Zeit vor dem Tod?
Einen Überblick über alle bisherige Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.
1. Wer die Einträge in diesem Blog verfolgt, wird bemerkt haben, dass für den Autor dieses Blogs die vielfältigen Erscheinungsweisen des Computers keine ‚rein technischen Phänome‘ repräsentieren, sondern ein tieferliegendes Prinzip sichtbar machen, das mit der ‚Geistigkeit des Menschen‘ und der ‚Lebendigkeit‘ des ‚Biologischen‘ in einem wichtigen Zusammenhang steht.
2. In dem Maße wie das ‚Prinzip Computer‘ in seinen technischen Realisierungen immer mehr unseren Alltag durchdringt, Fähigkeiten und Eigenschaften des Menschen ‚kopiert‘, Menschen in Teilbereichen ersetzt, wird es immer wichtiger, dass wir uns ‚als Menschen‘ bewusst werden, was hier geschieht.
3. Ein ungebremster, auf reinen individuellen Profit ausgerichteter Kapitalismus, der in globalen Dimensionen operiert — verknüpft mit diesem mächtigen Prinzip des Computers — (und in Zusammenarbeit mit einer unkontrollierten Gentechnik, die schon jetzt jährlich allein in Deutschland viele Millionen Tiere gentechnisch verstümmelt, in die Abfalltonne wirft, um ‚patentierte Tiere‘ zu bekommen, die dann bestimmten Firmen als ‚Eigentum‘ gehören), kann immanent nur das Ziel haben, durch eine immer weiter voranschreitende Automatisierung und Datensammlung möglichst viel von der Welt unter seine Kontrolle zu bringen. Kurzfristig maximiert dies die individuellen Gewinne über alle bekannten Maßen.
4. Auf die Zukunft hochgerechnet versinkt der Rest der Gesellschaft in Bedeutungslosigkeit, wird zu einer Randbemerkung, eine Heerschar von Lobbyisten dient in Anbetung vor dem globalen Egoismus, Ausverkauf der Politik in Raten.
5. Wenn immer mehr arbeitslos werden und verarmen, dann wird der Mensch in einem ungeregelten Kapitalismus zur Belastung, zum Störfaktor, der Ressourcen verbraucht, aber scheinbar keine neuen erzeugt.
6. Man kann sich fragen, wer dann noch die Produkte der automatisierten Fabriken und die gentechnischen Biokreaturen ‚kaufen‘ soll/ will/ kann, wenn niemand mehr Geld hat außer denen, die egoistisch global produzieren; aber diese Frage scheint sich niemand zu stellen.
7. In dieses Szenario eines egoistischen globalen ‚menschenfreien‘ Kapitalismus fügt sich die Position der radikalen ‚Transhumanisten‘ wunderbar ein: sie gehen davon aus, dass die ‚Maschinen‘ das Prinzip des Computers irgendwann ‚von selbst‘ in die Hand nehmen und sich schneller und besser als die Menschen entwickeln werden. Die Frage nach dem ‚Wert‘ und dem ‚Sinn‘ des Menschlichen und dem Biologischen stellt sich für diese Position nicht mehr. Die Evolution wird sich künftig ohne Menschen (und überhaupt ohne biologisches Leben?) weiter entwickeln.
8. In der Vergangenheit haben sich Menschen immer wieder aufgelehnt, wenn die Ungleichheiten zwischen ‚egoistischem und kurzsichtigem Kapital‘ einerseits und den ‚Bürgern‘ zu groß wurden. Das kann sich prinzipiell jederzeit wiederholen. In sogenannten Demokratien sollte das Problem prinzipiell nicht auftreten. Aber die modernen Kommunikations- und Überwachungstechniken, die Kontrolle der Medien, die Unterwanderung der Politik durch Lobbyismus, die Militarisierung der Polizei (z.B. in den USA!) — um nur einige Punkte zu nennen – nimmt ein Ausmaß an, dass sich sogenannte ‚demokratische‘ Staaten und sogenannte ‚Diktaturen‘ immer weniger unterscheiden.
9. Im Zentrum steht die Frage, ob wir Menschen – bislang als Teil des Biologischen das einzig bekannte ‚Wunder‘ im gesamten bekannten Universum – für uns selbst ein Verständnis, eine Wertschätzung, einen Sinn, eine Zukunftsperspektive finden, die uns ‚Wert genug‘ erscheint, um uns gegenseitig hinreichend Wert zu schätzen und die uns hilft, gemeinsam eine Zukunft zu gestalten, in der Menschen mehr sind als bloße ‚Ressourcenverbaucher‘, als bloße ‚Konsumenten‘, als bloße ‚billige Arbeitskräfte‘, als bloßer ‚Kostenfaktor‘.
10. Eine Rückbesinnung auf die ‚klassischen Religionen‘ in ihrem ‚klassischen Format‘ reicht nach meiner Einschätzung für eine solche Zukunft in keiner Weise aus. Die ‚klassischen Religionen‘ sind nicht wahr genug, nicht offen genug, lassen es letztlich zu, Menschen, die anders sind, zu töten, einfach so, weil es jemandem gerade mal gefällt. Wie kann jemand an Gott glauben, wenn er es zulässt, dass es das wunderbarste, was das bekannte Universum bislang hervorgebracht hat, das ‚Leben‘, einfach so zu unterdrücken, zu zerstören und zu töten?
11. Die Veranstaltung INFORMATIK & GESELLSCHAFT, Sa 8.Nov.2014 (Hier ausführliche Informationen zu den Beiträgen, den Referenten und Künstlern: IuG-Zusatzinformationen-1-10-2014-1Okt2014) kann natürlich nur einen winzigen Bruchteil von diesem Spektrum thematisieren, sie kann nur ein weiterer kleiner Baustein sein, um uns gegenseitig zu helfen, uns unserer Verantwortung für das Leben bewusst zu werden. Vorträge mit ausführlichen Diskussionen, musikalische Experimente und ein Videowettbewerb bieten Raum, um mit zu machen. Alle sind eingeladen, diese Veranstaltung zu unterstützen. Es muss ja nicht die letzte dieser Art sein …
1. In einem ersten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 1 hatte ich geschildert, wie ich zur Lektüre des Textes von Avicenna gekommen bin und wie der Text grob einzuordnen ist.
2. In einem zweiten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 2 ging es um die Frage, warum überhaupt Logik? Avicenna führt erste Unterscheidungen zu verschiedenen Wissensformen ein, lässt aber alle Detailfragen noch weitgehend im Dunkeln.
3. Im Teil AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 3 ging es um einfache und zusammengesetzte Begriffe, und bei den einfachen Begriffen um ‚individuelle‘ und ‚universelle‘. Schon hier zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen der antiken und der modernen-formalen Logik. In der antiken Logik wird die Ausdrucksebene E – und einer sich daran manifestierenden Folgerungslogik – immer in Verbindung mit einer zugehörigen Bedeutungsstruktur gesehen, die sich an einer Objektstruktur O festmacht. Die moderne formale Logik kennt zwar auch ‚Semantiken‘ und ‚Ontologien‘, diese sind aber ’sekundär‘, d.h. es werden nur solche ‚formalen Semantiken‘ betrachtet, die zum vorausgesetzten syntaktischen Folgerungsbegriff ‚passen‘. Dies sollte dann später an konkreten Beispielen diskutiert werden. Hier liegt der Fokus auf der antiken Logik im Sinne Avicennas.
4. Im nächsten Abschnitt VICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 4 knüpft Avicenna an den zuvor eingeführten Begriff des ‚universellen‘ Begriffs an und betrachtet jetzt solche als ‚universell‘ bezeichneten Ausdrücke in einem Ausdruckskontext von aufeinanderfolgenden Ausdrücken . Alle diese Ausdrücke könnte man im Sinne der antiken Logik auch als ‚Urteile‘ bezeichnen, durch die einem bestimmten Ausdruck durch andere Ausdrücke bestimmte Bedeutungen (Eigenschaften) zu- oder abgesprochen werden. Hier unterscheidet er die Fälle eines ‚wesentlichen‘ Zusammenhanges zwischen zwei Begriffen und eines ’nicht wesentlichen‘ – sprich ‚akzidentellen‘ – Zusammenhangs.
BEGRIFFSINFLATION
5. Im nächsten Abschnitt führt er mindestens fünf neue technische Begriffe ein, deren Erklärung partiell unvollständig bleibt. Dies ist sehr schade. Aber, versuchen wir zu verstehen, was noch verstehbar ist.
6. Es sind die Begriffe ‚Genus‘ (Gattung?), ‚Spezies‘ (Art?), Differenz, allgemeine und spezielle Akzidens, und den Begriff ‚Kategorie(n)‘.
7. Er beginnt die Diskussion mit der ‚universellen Bedeutung‘, von der er behauptet, man könne hier 5 Typen unterscheiden (ohne sie direkt anzugeben). Drei Typen von universellen Bedeutungen seien ‚wesentlich‘ und zwei ’nicht-wesentlich‘, also ‚akzidentell‘.
8. Seine Erklärungen zu den ‚wesentlich universellen‘ Bedeutungen wiederholt in gewisser Weise das bislang Gesagte, indem er das Klassifizierungsmerkmal als Frage formuliert: ‚Zu welcher Art Y von Dingen gehört eine Entität X‘? Die Antwort wäre allgemein: ‚X ist ein Y‘, eventuell noch ergänzt um charakteristische Eigenschaften wie ‚Y ist/ hat/kann … Z‘. Letztlich ist dies, wie Avicenna feststellt, eine Definition, bei der etwas Neues (das X) durch Bezugnahme auf etwas schon Bekanntes (Y) erklärt wird. Y ist eine notwendige Voraussetzung für X.
9. Als Beispiel führt er u.a. an, Frage: ‚Was ist ein X=Mensch?‘, Antwort: ‚X=Mensch ist ein Y=Lebewesen‘ (‚animal‘).
10. Allerdings benutzt er auch Beispiele, die von dem ‚üblichen‘ Konzept eines Dings (einer ‚Entität‘ (engl.: ‚entity‘)) abweichen. Statt von ‚Mensch‘, ‚Kuh‘ und ‚Pferd‘ spricht er auch von ‚Schwarzheit‘, ‚Rotheit‘ und ‚Weisheit‘ bzw. auch von ‚Drei‘, ‚Fünf‘ und ‚Zehn‘.
11. Bedeutungen X = {‚Schwarzheit‘, ‚Rotheit‘, ‚Weisheit‘} beantwortet er mit Y=Qualitäten. Bedeutungen X = {‚Drei‘, ‚Fünf‘, ‚Zehn‘} beantwortet er mit Y=Zahlen.
12. Etwas später benutzt der die Bedeutungen ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘ als universelle Begriffe für die ersten Beispiele, so dass man lesen kann/ muss Wenn X= {‚Mensch‘, ‚Kuh‘ und ‚Pferd‘}, dann Y= ‚Substanz‘, wenn X = {‚Schwarzheit‘, ‚Rotheit‘, ‚Weisheit‘} dann Y=Qualität, wenn X = {‚Drei‘, ‚Fünf‘, ‚Zehn‘} dann Y=Quantität.
13. Von den ‚wesentlichen universellen‘ Begriffen ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘ sagt Avicenna, dass sie sich nicht weiter verallgemeinern lassen, d.h. wenn X=Substanz, dann gibt es kein allgemeineres Y, auf das sich dieser universelle Begriff zurückführen lässt (und entsprechend für X=Qualität‘ und X=Quantität). Deshalb nennt Avicenna diese universellen Begriffe, die wesentlich keinen anderen universellen Begriff mehr ‚über sich‘ haben, ‚Kategorien‘, ohne dass er diesen Zusammenhang explizit benennt; er tut es einfach.
14. Als Beispiele für ‚akzidentelle universelle‘ Begriffe führt er an, dass ‚fest‘ (engl.: ’solid‘) allgemeiner sei als ‚Lebewesen‘, aber spezieller als ‚Substanz‘; entsprechend sei ‚Zahl‘ allgemeiner als ‚gleich‘ (engl.: ‚even‘), aber spezieller als ‚Quantität‘. ‚Gleichheit (engl.: ‚eveness‘) sei allgemeiner als ‚vier‘, doch spezieller als ‚Quantität‘.
15. Dann führt er die Begriffe ‚Genus‘ und ‚Spezies‘ ein mit der Formulierung, dass dasjenige, das allgemeiner ist, die speziellere Spezies sei, und umgekehrt, dass dasjenige, was das speziellere Universelle ist, ist die allgemeinere Spezies. Diese Formulierungen sind nicht eindeutig.
16. Später sagt er noch, dass es Dinge gibt, die sowohl Genus und Spezies sein können oder Dinge, die nur Genus sind, und nicht unter irgendeiner Spezies sind.
17. Dann folgt die Feststellung, dass die Begriffe ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘ kein Genus einer Spezies seien; unter ihnen befinden sich nur Instanzen wie ‚Mensch‘, ‚Schwarzheit‘ und ‚vier‘.
18. Aus diesen Beispielen folge die Natur einer Spezies, die kein Genus sein kann, sondern nur Spezies von allen Spezies, die ‚unter‘ ihr kommen.
19. Instanzen eines wesentlichen universellen Begriffs können sich durch akzidentelle Eigenschaften unterscheiden (z.B. angenommen {X1, X2} sind beide Y und X1 ist ’schwarz‘ und X2 ‚weiß‘ und ’schwarz‘. Dann ist die Eigenschaft ’schwarz‘ allgemeiner als X1 und X2, ’schwarz‘ kommt X1 und X2 nicht wesentlich, sondern akzidentell zu, kann aber differenzierend wirken.
20. Abschließend führt Avicenna noch folgende Beispiele an: Jeder universelle Begriff ist entweder Genus, so wie ‚Lebewesen‘, oder Spezies, so wie ‚Mensch‘, oder Differenz, so wie ‚die Fähigkeit zu Sprechen‘, oder ‚allgemein akzidentell‘ so wie ‚Bewegung‘, ‚Schwarzheit‘, ‚Weisheit‘.
INTERPRETATION- ANMERKUNGEN
21. War die Re-Lektüre und einsetzende Interpretation von Avicennas Text bis zu dieser Stelle relativ einfach, so zeigen sich jetzt erste Problemstellungen, die man nicht mehr so einfach ‚verworten‘ kann.
22. Einmal gibt es das Phänomen, dass er Begriffe einführt und benutzt, die nicht – zumindest auf einen ersten Blick – direkt erklärbar sind. Dann werden Zusammenhänge thematisiert, wo man sich die Frage stellen kann, ob er dies wirklich ‚gemeint‘ haben kann oder, falls ja, wie man damit umgehen will.
23. Dies gibt Gelegenheit, kurz ein paar Worte zum ‚Interpretieren‘ zu sagen. Ich werde dabei nicht auf die sehr umfangreiche Literatur zu diesem Thema eingehen (im Bereich Philosophie, Literatur und wissenschaftliche Bibelauslegung gibt es dazu nicht hunderte, sondern sicher tausende von Artikeln und Büchern. Einiges davon musste ich zu früheren Zeiten durcharbeiten). Ich beschränke mich hier auf jene Grundprinzipien, die ich hier anwenden möchte.
24. Die philologischen Fragen, ob die englische Übersetzung hier den arabischen Text korrekt wiedergibt, oder ob gar der arabische Text Überlieferungsfehler aufweist, kann ich hier nicht behandeln. Ich muss den Text nehmen, wie ich ihn vorfinde, und wenn sich für mich Unklarheiten ergeben, kann ich sie nur benennen und versuchen sie zu interpretieren.
25. Was die ‚Interpretation‘ (Auslegung, Deutung, …) des Textes angeht, so gibt es ja mindestens zwei verschiedene Ansprüche: (i) man will die ‚Bedeutung‘ rekonstruieren, die der Autor selbst mit dem verknüpft hatte (also eine Art ‚konservierende‘ Interpretation), oder (ii) man will die Bedeutung des Autors (des Textes) in einem anderen/ neuen Bedeutungsrahmen ‚rekonstruieren‘, ihn quasi von Bedeutungsraum R_Autor in den Bedeutungsraum R_Leser ‚übersetzen‘.
26. Beide Vorgehensweisen haben ihr Recht. Die ‚konservierende‘ Rekonstruktion ist idealerweise eigentlich der erste Schritt und die Voraussetzung für die ‚Neuinterpretation‘. Es ist aber eine offene Frage, ob ein Leser immer und überall über genau die Voraussetzungen in seinem Denken verfügt, dass er den ursprünglichen Bedeutungsraum R_Autor überhaupt eins-zu-eins rekonstruieren kann. Nach ca. 1000 Jahren, die uns von Avicenna trennen, ist es sogar ziemlich unwahrscheinlich, dass wir dies überhaupt noch können.
27. Hier, in dieser Rekonstruktion, werde ich erst gar nicht versuchen, den ursprünglichen Bedeutungsraum R_Autor zu rekonstruieren, da ich niemals wüsste, ob ich mit meinen Überlegungen ‚richtig‘ liege oder nicht. Dies Referenzproblem haben alle wissenschaftlichen Rekonstruktionen alter Texte (dies gilt natürlich auch für das hebräische Alte Testament, das griechische Neue Testament und den arabischen Koran).
28. Im weiteren Verlauf werde ich also die bisherigen Rekonstruktionsannahmen weiter verfolgen. Letztlich ist es eine Art ‚Test‘, ob und wie sich der Text von Avicenna in einem modernen erkenntnistheoretischen Modell ’neu lesen‘ lässt.
DISKUSSION
29. Bisher haben wir folgende allgemeine Annahmen bei der Rekonstruktion des Textes von Avicenna getroffen:
30. Die Ausdruckselemente E einer Sprache L sind nur ‚Zeiger‘, die auf irgendwelche kognitiven Objekte O hindeuten, die im Rahmen der generierten Zeigebeziehung M für die Ausdruckselemente E zu dem werden, was wir ihre Bedeutung nennen.
31. Die kognitiven Objekte O entstehen in einem Erzeugungsprozess, der Eigenschaften X der umgebenden Welt W über sinnliche Wahrnehmungsprozesse perc() und interne Abstraktionsprozesse $latex \alpha$ als irgendwelche Objekte O klassifiziert. Man könnte von daher auch sagen $latex \kappa = perc \otimes \alpha$, oder $latex \kappa(X, O) = O$.
32. Wir hatten ferner noch unterschieden zwischen ‚echten‘ Objekten, d.h. solchen Bündelungen von Objekten, die als solche in der umgebenden Welt W ‚vorkommen‘ und und solchen ‚unechten‘ Objekten, die zwar gebildet werden können, die aber immer nur ‚als Teil anderer Objekte‘ auftreten können. Die Definition von ‚wesentlich universellen Objekten‘ von Avicenna deckt sich mit dem Konzept ‚echter Objekte‘ und Avcennas Definition von ‚akzidentellen universellen‘ Objekten deckt sich mit den unechten Objekten, die anderen Objekten zukommen können, aber nicht müssen.
DISKUSSION – KATEGORIEN
33. Avicenna führt dann indirekt das Konzept von ‚(wesentlichen universellen) Kategorien‘ ein, die ich indirekt rekonstruiert habe als solche ‚wesentlich universellen Objekte‘, ‚über die‘ es keine weiteren Verallgemeinerungen mehr gibt. Da er es nur bei einzelnen Beispielen belässt ohne wirkliche Argumentationen bleibt hier einiges offen.
34. Die genannten drei Kategorien erscheinen wie eine Art ‚Meta-Klassifikation‘ über allen möglichen Objekten, so eine Art ‚Typisierung‘ der verschiedenen möglichen Objektbildungen. Versucht man im Bereich der Objektklassifikationen kriterien zu finden, welches Objekt zu welcher Kategorie gehört, wird es aber schnell schwierig.
35. Kategorie ‚Substanz‘: Wann ist ein Objekt eine ‚Substanz‘ und wann ‚Qualität‘ oder ‚Quantität‘? Ein erster Ansatzpunkt wäre zu sagen, dass alle ‚echten‘ Objekte ‚Substanzen‘ sind und alle ‚unechten‘ Objekte ‚Qualitäten‘. Was aber wäre dann mit den ‚Quantitäten‘? Die ‚Anzahl‘ von Objekten (echten wie unechten) ist ja keine ‚Eigenschaft an sich‘, sondern ist eher eine ‚Metaeigenschaft‘, die man vorhandenen (real oder gedachten) Objekten zuordnen kann. Im Vergleich zu Farben, Formen, Tönen usw., die auf Sinneseigenschaften aufsetzen, ist ‚Quantität‘ als Metaeigenschaft eine abgeleitete, sekundäre, abstrakte Eigenschaft, so wie z.B. auch ‚größer/ kleiner‘, ‚vorher/ nachher‘, ‚vorne/ hinten, ‚oben/ unten‘, usw. In allen genannten Fällen gibt es schon irgendwelche Objekte, zwischen denen räumliche, zeitliche – oder sonstige – allgemeine Beziehungen erkennbar sind. Diese indirekten, sekundären, abgeleiteten Beziehungen bilden dann eine eigene Klasse von ‚abstrakten‘ Eigenschaften, von denen die ‚Quantitäten‘ nur eine Teilmenge wären. Wenn also Avicenna schon die Kategorie ‚Quantität‘ bemüht, warum nicht auch ‚Raum‘ und ‚Zeit‘?
36. Alle diese Überlegungen zu ‚Kategorien‘ als zusätzliche Meta-Klassifikationen der generierbaren Objekte setzen allerdings voraus, dass es möglich ist, im Bereich der Objekthierarchie für alle Objekte O solche ‚Kontexte‘ annehmen zu können, durch die sie bzgl. ‚Substanz‘, ‚Qualität‘, ‚Quantität‘, ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ charakterisierbar werden. Im bisher verfolgten Modell würde dies bedeuten, dass Objekte nicht nur über ihre ‚direkten‘ sensorischen Eigenschaften $latex K_{s}$ generiert werden, sondern sie werden von vornherein auch mit minimalen ‚Raumanteilen‘ bzw. in bestimmten ‚Abfolgen‘ ‚gespeichert‘ bzw. sind sensitiv bzgl. Abfolgen ‚erinnerbar‘.
DENKEN ALS KOGNITIVE EVOLUTION
37. Oder, wenn schon, dann noch allgemeiner: der gesamte Objekterzeugungsprozess $latex \kappa$ mus so beschaffen sein, dass er die fundamentalen Eigenschaften X der umgebenden Welt so in die Objekthierarchie übersetzt, dass (i) echte und unechte Objekteigenschaften hinreichend erhalten bleiben können, dass (ii) räumliche und zeitliche Verhältnisse hinreichend repräsentiert werden können, dass (iii) quantitative Verhältnisse erzeugt werden können (z.B. Aufzählungen und Äquivalenzklassen), dass (iv) neben den Eigenschaften, die ‚gegeben‘ sind (IST, real), auch ’neue‘ Kombinationen erzeugt werden können (Möglichkeit, Potenz, kombinatorischer Raum), und dass (v) neue Kombinationen (Möglichkeiten) mit dem ‚realen Raum‘ verglichen werden können.
38. Sofern dies möglich ist (und alles, was wir über das menschliche Denken heute wissen, bestätigt dies), kann man dann diese Art von Denken als Fortsetzung der biologischen Evolution im Bereich des Denkens (quasi als kognitive Evolution) betrachten, d.h. die biologische Evolution hat – mit ihrem kombinatorischen genetischen Mechanismus – Strukturen geschaffen (Körper mit Gehirn), die in der Lage sind, die an die materiellen Strukturen gebundene Kombinatorik neuer Lebensformen über die Neuronennetze zu dynamisieren, zu beschleunigen, zu flexibilisieren. Mit der Kombinatorik des neuronalen Denkens konnte die biologische Evolution der Entwicklung neuer, leistungsfähigerer Lebensformen einen gewaltigen Schub im einzelnen Organismus verleihen; durch die Möglichkeit symbolischer Kombination können sich die neurologisch erzeugbaren neuen Denkräume zusätzlich direkt miteinander verschränken und die Entwicklung neuer Lebensformen in bis dahin ungeahnte Dimensionen katapultieren.
39. Doch zurück zur vorliegenden Interpretationsaufgabe.
GENUS – SPEZIES
40. Bislang haben wir ansatzweise eine Rekonstruktion des Konzeptes von ‚Kategorien‘ als Meta-Klassifikationen im Bereich der dynamischen Objekthierarchie.
41. Unklar, da widersprüchlich, bleibt bei Avicenna die Verwendung der Begriffe ‚Genus‘ und Spezies‘. Eine erste, einfache, und nachvollziehbare Interpretation wäre die, jedes Objekt als ein ‚Genus‘ zu bezeichnen, das ‚Instanzen‘ besitzt, denen ‚differenzierende‘ Eigenschaften zukommen (wie auch die verschiedenen Genus-Objekte sich voneinander durch Eigenschaften unterscheiden). ‚Spezies‘ wären dann jene voneinander abgrenzbaren Instanzen (vgl. auch Carl von Linné (1707 – 1778), sein Werk ‚Systema Naturae‘), die einem Genus ‚untergeordnet‘ wären. Allerdings kommen die Begriffe ‚Genus‘ und ‚Spezies‘ im Text mehrfach in Verwendungen vor (z.B. auch als ‚Spezies der Spezies‘), die sich – aus meiner Sicht – einer schlüssigen Interpretation entziehen.
ALLGEMEINE UND SPEZIELLE AKZIDENZ
42. Mit den Begriffen ‚allgemeine‘ und ’speziellen‘ Akzidenzien verhält es sich ähnlich: es gäbe eine einfache, nachvollziehbare Interpretation, aber diese deckt nicht alle Verwendungsweisen dieser Begriffe ab.
43. Ausgangspunkt sind ja nicht-zusammengesetzte Ausdrücke mit einer universellen Bedeutung, bei der zwischen ‚wesentlichen‘ und ‚akzidentellen‘ unterschieden wurde. Die ‚akzidentellen universellen Begriffe wurden zuvor schon als ‚unechte Objekte‘ rekonstruiert, die niemals isoliert auftreten können, sondern immer nur als Teile von echten (wesentlichen universellen) Objekten. Insofern sind sie ‚akzidentell‘ und eine informelle abkürzende Redeweise könnte sie als ‚Akzidentien‘ bezeichnen, verstanden als Eigenschaften, die bei einem Objekt auftreten können, aber nicht müssen.
44. Wäre zu klären, was ‚allgemeine‘ von ’speziellen‘ Akzidenzien unterscheidet. Hier nochmals die Beispiele aus dem Text, wonach ‚fest‘ (engl.: ’solid‘) allgemeiner sei als ‚Lebewesen‘, aber spezieller als ‚Substanz‘; entsprechend dass ‚Zahl‘ allgemeiner sei als ‚gleich‘ (engl.: ‚even‘), aber spezieller als ‚Quantität‘, und schließlich dass ‚Gleichheit (engl.: ‚eveness‘) allgemeiner sei als ‚vier‘, doch spezieller als ‚Quantität‘.
45. Die Eigenschaft ‚fest‘ ist nach bisheriger Rekonstruktion klar ein unechtes Objekt, d.h. eine akzidentelle Eigenschaft, die als Teil von echten Objekten auftreten kann. Zu sagen, dass diese akzidentelle Eigenschaft allgemeiner sei als ‚Lebewesen‘, aber spezieller als ‚Substanz‘, macht nicht unbedingt Sinn, genauso wenig wie es Sinn machen würde, Hühner mit Grashalmen zu vergleichen. Es sei denn, es gäbe einen ‚übergreifenden Aspekt‘, auf den sich beide, die Hühner und die Grashalme, beziehen lassen würden.
46. Ich kann in diesem Zusammenhang keinen solchen übergreifenden Gesichtspunkt erkennen. Bestimmte akzidentelle Eigenschaften können bei Objekten auf verschiedenen Stufen der Objekthierarchie auftreten. Hier ein Beziehungsgeflecht zwischen den Eigenschaften konstruieren zu wollen überzeugt mich nicht.
ALLGEMEINE EINSCHÄTZUNG
47. Schon an dieser Stelle der Relektüre von Avicennas Logik deutet es sich an, dass Avicenna viele seiner technischen Begriffe nur unzulänglich erklärt und voneinander abgrenzt. Ein Grund dafür kann sein, dass er die das Konzept der Objekterstehung und der Objekthierarchie als Gegenpol zu den Ausdrücken offenbar nicht als eigenständiges System systematisch entwickelt. In anderen Interpretationsprojekten (z.B. bei Nicolai Hartmann) musste ich die Rekonstruktion irgendwann einfach abbrechen, da der Text in sich irgendwann so widersprüchlich war, dass ein sinnvolles Weiterlesen nicht mehr möglich erschien.
Fortsetzung folgt …
QUELLEN
Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7
Eine Übersicht über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.
1. Seit kurzem (vgl. die letzten beiden Beiträge: das Böse in demokratischen Systemen am Beispiel USA sowie das Böse in Religionen) tritt vermehrt das Phänomen des ‚Bösen‘ in den Fokus der Betrachtungen. Nicht dass das Phänomen des ‚Bösen‘ neu wäre. Fängt man an, sich umzuschauen, dann findet man nahezu zu allen Zeiten, in denen es Menschen gab, Handlungen von Menschen, die man als ‚böse‘ bezeichnen könnte (angefangen von alltäglichen Unterdrückungen und Quälereien über direkte Gewalttaten, Vergewaltigungen, Folter, Mord und Totschlag, bis hin zur Tötung ganzer Familien, von Dörfern, Städten oder ganzer Völker (Völkermord). Und dies, wie gesagt zu allen Zeiten, auf allen Kontinenten, in allen Ethnien. Die fürchterlichen Weltkriege 1 und 2, die Morde von Stalin, die systematische Vernichtung der Juden in Nazi-Deutschland, von Mao, die Roten Khmer in Kambodscha, die grausigen Kriege in Vietnam, Afghanistan und Irak seitdem, diese sind nur die Spitze des Eisbergs.
2. Betrachtet man die Vielfalt dieser Phänomene von Gewalt von Menschen gegen Menschen, dann wird einem bewusst, dass eine klare Definition des Bösen kaum möglich ist; erst recht nicht, weil ‚Gewalt‘ an anderen nicht nur ’schlecht‘ ist, ‚böse‘, wenn sie unter ‚Gleichen‘ verübt wird, sondern plötzlich ‚gut‘ erscheint, wenn sie gegen ‚Andere‘ verübt wird, gegen ‚Feinde‘, gegen die ‚Bösen‘. Im Südafrika der Apartheid galt es für viele Weiße als ‚gut‘ die ‚Schwarzen‘ zu unterdrücken oder gar zu töten; in den Zeiten der Sklaverei war ‚Gewalt gegen Schwarze‘ ’normal‘; bei der Kolonisierung fremder Länder und Völker durch die europäischen Staaten war Gewalt und Tötung ’normal‘; in den vielen Wanderungsbewegungen in Europa war das Überfallen, Töten und Plündern der ‚Anderen‘ ’normal‘. Eroberungsfeldzüge galten als ehrenvoll. Der sogenannte Dreißigjährige Krieg (1618 bis 1648 ) mit seinen Gräueltaten war keine Ausnahme.
3. Das Erschreckende an diesen Aufzählungen ist, dass man plötzlich merkt, dass diese Listen immer länger werden, je weiter man schaut. Fast kann man den Eindruck kriegen, dass der Mensch die Quelle des Bösen schlechthin ist.
FILM: PLANET DER AFFEN – REVOLUTION
4. Der aktuell in den Kinos laufende Film Planet der Affen – Revolution wirkt dagegen fast brav, wie eine nette Märchenstunde. Mit exzellenten Bildern in Szene gesetzt, fokussiert er auf die Grundtendenzen von allen Gruppen, den/ die ‚Anderen‘ zunächst mal mit Misstrauen zu betrachten (was angesichts der Gräueltaten der Geschichte tatsächlich auch angebracht erscheint) und im Anderen zunächst mal eher eine Bedrohung zu sehen, einen potentiellen Feind, als einen Freund. Dass sowohl bei den Affen wie bei den Menschen Protagonisten auftreten, die gegen diese Automatismen von Misstrauen und Hass immun erscheinen und ‚gegen den Strom‘ die Verständigung suchen, fällt auf, ist aber genau so wenig ‚erklärbar‘ in seinem Warum wie das Gegenteil. Dass man den/ die Anderen reflexhaft erst einmal zum ‚Bösen‘ stempelt, dem man alles zutraut, und den man bereit ist, zu bekämpfen, sitzt offensichtlich sehr tief drin in unseren Genen, in unseren basalen Verhaltensmustern, nah benachbart zur Bereitschaft von Gewaltanwendung, zum Töten. Die Gegenüberstellung von Menschen und Affen mag zwar kinowirksam sein, aber die Gegenüberstellung von Mensch zu Mensch würde den gleichen Stoff hergeben. Wir Menschen als homo sapiens haben tief drin in uns das genetische Arsenal zur Feindbildung und zum Töten; die Auslöser dieses Arsenals sind offensichtlich sehr niedrigschwellig (was jeder in seiner Umgebung leicht ausprobieren kann, wenn er/ sie dies nicht sowieso schon als tägliche Bedrohung, als tägliches Leid erfahren muss).
CHODORKOWSKI
5. Für viele ist der russische Milliardär Michail Chodorkowski auch einer, den man aufgrund seines schnellen Reichtums in einer kritischen Periode Russlands geneigt ist, vielleicht eher den ‚Bösen‘ zuzuordnen als den ‚Guten‘. Durch umstrittene Prozesse war er mehrfach in Haft. Als ehemaliger Oligarch eine schillernde Person, der aber in der Zeit der Haft gelernt hat, in den Schicksalen seiner Mitgefangenen zu lesen und ihre Welt literarisch ’sichtbar‘ zu machen. Seine Briefe und Bücher erschließen eine ‚Mikrowelt‘ des Bösen, durchtränkt mit Gutem, wo einfache Zuordnungen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ versagen. Zugleich werden die ‚Bosheiten‘ jenes staatlichen Systems sichtbar, das das ‚Gute‘ vertreten soll.
6. Dieses schillernde Wechselspiel von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ in den literarischen Darstellungen eines Chodorkoski finden sich auch in der Gegenwart vielfältig wieder.
ISLAMISCHER STAAT
7. Während ein Leon de Winter in der FAZ vom 20.Aug.2014 auf S.9 im Wirken der Kämpfer des Islamischen Staates das Böse schlechthin am Werke sieht, die totale Enthemmung von allem, was wir im Laufe des Zivilisationsprozesses gelernt haben, findet sich in der gleichen Zeitung am 21.Aug.2014 auf S.9 ein Interview von Souad Mekhennet mit einem Kämpfer aus dem inneren Kreis von Abu Bakr al Bagdadis, der sich zum Kalifen des ‚Islamischen Staates‘ [IS] hat ausrufen lassen. In diesem Interview erscheinen die USA als unglaubwürdig, aufgrund ihrer vorausgehenden Unterstützung genau der radikalen islamischen Kämpfer, solange sie den Interessen der US-Regierung gedient hatten, und den europäischen Staaten wird Heuchelei vorgeworfen, da sie zwar von Religionsfreiheit reden würden, aber die Ausübung des Islams nicht so zulassen würden, wie es die radiale Bewegung des IS versteht.
8. Und wenn man sich die Mühe macht, sich all der Gräueltaten bewusst zu werden, denen sich die USA und die europäischen Staaten in der Vergangenheit schuldig gemacht haben, dann werden die Gräueltaten der IS-Kämpfer in der Gegenwart dadurch nicht besser, aber man wird vielleicht vorsichtiger in der Zuordnung von ‚Guten‘ und ‚Bösen‘. Die Art und Weise, wie alleine die US-Regierung nach dem zweiten Weltkrieg einen Krieg nach dem anderen führt, wie die US-Regierung öffentlich für sich alles Recht in Anspruch nimmt und niemandem anderen auch nur ein Minimum an Recht zugesteht, wie sie seit Jahren massiert einen unerlaubten Dronenkrieg führt, der schon vielen tausend Zivilisten den Tod gebracht hat, dann werden aus den mörderischen Taten der IS-kämpfer immer noch keine guten Taten, aber man kann vielleicht erahnen, dass es Menschen auf unser Erde gibt, die angesichts dieses anhaltenden ‚Unrechts im Namen der Freiheit‘ für sich auch das Recht auf Töten reklamieren können.
ISRAEL
9. Schauen wir nach Israel und den Konflikt um den Gaza-Streifen. Angesichts des Leides, das Juden in der Vergangenheit erlebt haben, besonders in der Zeit von Nazi-Deutschland, dann würde man erwarten, dass der jüdische Staat ein besonderes Bewusstsein für Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit ausgeprägt hat. Dem ist aber – allem Anschein nach – nicht so. Schon die Gründung begann mit Gewalt; und all die folgenden Jahrzehnten spielte der Kampf gegen und die Unterdrückung der vertriebenen Palästinenser eine Dauerrolle. Etgar Keret, ein jüdischer Schriftsteller, beschreibt am 22.Juli in der FAZ (S.10) von der zukunftslosen Logik der israelischen Regierung, die im Krieg gegen die Hamas und deren Unterwerfung ihre Zukunft sieht aber keinerlei Einsichten/ Reflexionen erkennen lässt, wie es denn nach einem (End-)Sieg über die Hamas weitergehen soll (vorausgesetzt, man könne die Hamas überhaupt besiegen)? Wie kann eine friedliche Zukunft von Israel aussehen, wenn man dies nur in Kategorien der Vernichtung der Nachbarn denkt? Ist es nur ein Zufall, dass die Radikalisierung der israelischen Öffentlichkeit sich auch messbar darin ausdrückt, dass rechte Krawallmacher über die Siedler und den orthodoxen hinaus mittlerweile in Israel einen solchen Einfluss genommen haben, dass Menschen mit abweichenden Meinungen öffentlich zusammengeschlagen und öffentlich verfolgt werden? Ein Hauptakteur scheint der Rapper Yoav HaZel zu sein, der über seine Facebook-Seite offen zu Gewalt aufruft, sie organisiert und bislang unbehelligt bleibt (siehe den eindringlichen Bericht von Alexander Belopolsky in der FAZ vom 28.Juli 2014 (S.14). Es ist richtig, dass die jüdischen Botschaften und Einrichtungen in den Ländern Europas Kritik üben, wenn radikale Gruppen bei Demonstrationen den Tod Israels fordern, aber es ist erstaunlich, dass die gleichen jüdischen Gruppen sich nur dann mit Kritik melden, und darüberhinaus kaum erkennen lassen, dass sie an einer friedlichen Zukunft Israels aktiv interessiert sind. Sich darauf zu beschränken, die Entwaffnung der Hamas zu fordern bei gleichzeitig aktiver Unterdrückung der Palästinenser erscheint zu wenig. Wo bleibt die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle, jetzt, heute?
10. Aus Sicht von Israel ist die Hamas ‚böse‘, weil Sie Raketen abschießen und morden. Und die Hamas erscheint in keinem besseren Licht, wenn sie sich (so der Berichte von Hans-Christian Rößler in der FAZ vom 21.Aug.2014, S.2) von Quatar finanzieren (und politisch erpressen?) lässt. Stellt man sich für einen Moment auf die Seite der Hamas, dann haben die natürlich auch ihre Gründe und Motive; auch sie fühlen sich im Recht, auch sie wollen leben, auch sie wollen Freiheit, auch sie wollen Frieden. Aus ihrer Sicht ist die anhaltende Unterdrückung durch Israel die Ursache allen Übels. Wer also hat Recht?
WO DAS UNHEIL BEGINNT
11. Das Unheil beginnt in den Herzen und Köpfen der beteiligten Menschen. Das Unheil beginnt in den (falschen?) Bildern von der Welt, in der man lebt. Das Unheil beginnt dort, wo man die Entscheidung fällt, den ‚Anderen‘ nicht als gleichwertigen Menschen zu sehen, anzuerkennen. Das Unheil beginnt dort, wo ich dem ‚Anderen‘ grundsätzlich das Recht abspreche, soviel Anerkennung zu bekommen wie man selbst gerne haben möchte.
(ORIENTALISCHE) CHRISTEN
12. Seit den Tagen, an denen die IS-Kämpfer begannen, andere Religionen brutal zu töten und deren religiöse Stätten zu schänden wird bewusst (vgl. Rainer Herman in der FAZ 31.7.2014 S.11), welche Vielfalt an religiösen – insbesondere orientalisch-christliche – Gruppierungen im Irak und Syrien seit Jahrhunderten gelebt haben. Deren Niedermetzelung ist brutal und ‚böse‘. Doch sollte man nicht übersehen, dass in den vorausgehenden Jahrhunderten die christlichen Gruppierungen auch immer wieder im Namen von Religion und Wahrheit andere verfolgt und getötet haben. Und wenn man sieht, wie heutzutage insbesondere US-amerikanische Freikirchen radikal gegen Andersgläubige, insbesondere gegen Homosexuelle, vorgehen und ganze Staaten zur Verfolgung von Homosexuellen bis hin zum Tod aufrufen (vgl. den Bericht von Thomas Scheen in der FAZ vom 21.8.2014, S.3), dann sollten wir vorsichtig sein mit vorschnellen Schuldzuweisungen.
VERGEBLICHE LEHRSTUNDEN DES TODES?
13. Von seiner biologischen Natur her, von seiner genetischen Ausstattung her, hat der Mensch – glücklicherweise – einen starken Überlebenstrieb, und in der Vergangenheit hatte Überleben sehr viel mit Kampf und Töten zu tun, ein Verhalten, das sich auf Gruppen, Stämme, ganze Völker und Staaten übertragen kann und übertragen hat. Kampf und Töten setzt das Freund-Feind Schema voraus: sobald jemand nicht als Freund klassifiziert wird, wird er zu einem Kandidaten für Angriff und Tot. Die Unzahl der Kriege in der Vergangenheit belegen dies nachdrücklich und noch in den letzten beiden großen Weltkriegen wurde dieses Schema bis zum Exzess ausgelebt mit einem unvorstellbarem Ausmaß an Leid und Tod. Eigentlich hätten diese Lehrstunden des Todes ausreichen können, um uns zur Besinnung zu bringen. Aber offensichtlich ist dies nicht der Fall. Allen voran der ‚weiße Ritter‘ USA begann wieder in unvorstellbarem Ausmaß zu Rüsten und mit schwarz-weiß-Kategorien die Welt in ‚Gute‘ und ‚Böse‘ einzuteilen; viele andere folgten, freiwillig, oft gezwungen, auch in Opposition zum ‚weißen Ritter‘, auch, weil es im Menschen so tief drinsitzt.
UNSERE VERANLAGUNG ZUM BÖSEN
14. Zusätzlich zu unserer genetischen Erblast des ‚inhärenten Bösen‘ haben wir eine kognitive Ausstattung, durch die wir das ‚jeweilige Bild von der Welt‘ immer wieder neu mühsam, Schritt für Schritt, konstruieren müssen. Dieses Bild ist im einzelnen verortet, primär Ich-orientiert, notorisch begrenzt und fehleranfällig. Um ‚gemeinsam‘ zu handeln müssen wir uns ‚koordinieren‘, durch ‚Sprache‘. Diese ist noch fehleranfälliger, dennoch ist sie die einzige Verbindung zwischen unseren individuellen Gehirnen; ohne Sprache sind wir individuelle ‚Zombies‘, verfangen in unseren individuell zufälligen Bilder einer Welt, in der wir vorkommen. Differenzierte Bilder der Welt zu erarbeiten ist sehr schwierig, aufwendig, benötigt viel Zeit, benötigt komplexe Infrastrukturen, benötigt spezifische Rahmenbedingungen. Nicht von ungefähr hat der homo sapiens mehr al 100.000 Jahre gebraucht, um Ansätze von Wissenschaft und Technologie zu entwickeln, die ein Zusammenleben von vielen Millionen Menschen in einer Stadt möglich machen, mit all dem, was dazu gehört: Ernährung, Entsorgungen, Verkehr, Gesundheitswesen, Ausbildung, Wirtschaft, ….
15. Die Geschichte zeigt uns, dass solche diffizilen zivilisatorischen Strukturen durch ‚barbarisches Verhalten‘ oder auch Naturereignisse sehr schnell wieder ‚ausgelöscht‘ werden können (z.B. die Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha, Maos Kulturrevolution, die Sezessionskriege im ehemaligen Jugoslawien, der Zerfall des römischen Reiches, der Untergang der Mayas, … viele, viele Beispiele).
KÖNNEN WIR ETWAS LERNEN?
16. Können wir daraus irgendetwas lernen? Können wir Menschen als homo sapiens irgendeine sinnvolle ‚Strategie‘ finden, das ‚inhärent Böse‘ in uns so zu überwinden, dass es eine gemeinsame friedvolle Zukunft für ALLE Menschen gibt? Das ist die einzig wirklich wichtige Frage, und es wäre die Frage, ob aktuelle Regierungen wie die US-Regierung, die russische Regierung, die chinesische Regierung, die israelische Regierung, die … alle anderen auch … es schaffen könnten, die klassisch-traditionellen Machtmuster zu überwinden und einen Weg finden könnten, der grundsätzlich allen einen Raum gibt. Eine Zukunft auf Kosten der anderen war gestern und wird in keiner wirklichen Zukunft funktionieren.
17. Das alte biblische Gleichnis vom Weizenkorn, das sterben muss, um zu leben, hat hier möglicherweise eine interessante Anwendung: wer morgen friedlich leben will, der muss sich heute mit seinen Nachbarn aussöhnen. Und das Leben im friedlichen Miteinander ist allemal schöner und produktiver als mit altertümlichen Freund-Feind-Kategorien sich selbst in andauernden Angtsträumen zu quälen und von einer Krise in die andere zu rutschen. Was kann uns helfen, unsere genetische Drift zum Bösen zu überwinden? Den Teufel zu beschwören, wie es in der Vergangenheit gerne getan wurde, hilft nicht weiter; der Teufel sind wir selbst. Wie werden wir weniger ‚Teufel‘?
Eine Übersicht über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.
1. Bevor ich gleich ein wenig auf die wichtigsten Beiträge der Mitgliederzeitschrift ‚Schrägstrich‘ (Ausgabe Juli 2014) der Grünen eingehe, hier einige Vorüberlegungen zu den gedanklichen Koordinaten, innerhalb deren ich diese Beiträge rezipiere. Im wesentlichen handelt es sich bei diesen gedanklichen Koordinaten um jene, die ich hier im Blog bislang ansatzweise skizziert habe. Hier in einer komprimierten Form wichtige Elemente, die dann im weiteren Verlauf nach Bedarf präzisiert werden:
2. Ausgangspunkt des Koordinatensystem ist jeder einzelne von uns, der sich täglich konkret die Frage stellen muss, was an diesem Tag zu tun ist. Die Frage, woher man selbst kommt spielt bei den meisten in der Regel keine Rolle, höchstens soweit, dass aus der unmittelbaren Vergangenheit irgendwelche ‚Verpflichtungen‘ erwachsen sind, die in die Gegenwart hineinwirken (negatives oder positives Vermögen, erlernte Fähigkeiten, erworbenes Wissen, gewachsene Beziehungen, …). Wohin wir gehen wollen ist bei den meisten auch nur schwach ausgeprägt (Die Alltagsnotwendigkeiten stehen im Vordergrund: seine Verpflichtungen erfüllen, die Arbeitsanforderungen, den Unterhalt für das tägliche Leben, persönliche und soziale Erwartungen durch Beziehungen und Zugehörigkeiten, ein Ausbildungsziel erreichen, eine höhere Position in der Karriereleiter, …..). Übergreifende Ziele wie Erhaltung bestimmter Systeme (Ausbildung, Gesundheit, Infrastrukturen, …) sind meistens ‚delegiert‘ an Institutionen, die dafür ‚zuständig‘ sind, auf die man nur sehr begrenzt Einfluss nehmen kann. Dennoch gibt es nicht wenige, die sich in Vereinigungen engagieren, die spezifische soziale Räume aufspannen (Sport, Kleingärtner, Chöre, Parteien, Gewerkschaften, …), in denen sie ihr individuelles Handeln mit anderen verbünden.
3. Beginnt man seine eigene Situation zu analysieren, dann wird man nicht umhin kommen, festzustellen, dass man als einzelner als Mitglied einer größeren Population von Menschen vorkommt, die über unterschiedlichste Kommunikationsereignisse miteinander koordiniert sind. Das tägliche Leben erweist sich als eingebettet in einen gigantischen realen Raum, von dem man unter normalen Umständen nur einen winzigen Ausschnitt wahrnimmt. Schaut man genauer hin, dann sind wir das Produkt einer komplexen Geschichte von Werden im Laufe von vielen Milliarden Jahren. Eingeleitet durch die chemische Evolution kam es vor ca. 3.8 Milliarden Jahren zur biologischen Evolution, die dann vor – schwierig zu definieren, wann Kultur und Technik genau anfing – sagen wir ca. 160.000 Jahren mit einer kulturellen Evolution erweitert wurde. Technik sehe ich hier als Teil der kulturellen Leistungen. Eine Erfolgskategorie ist die des schieren Überlebens. Innerhalb dieser Kategorie macht es einen Unterschied wie ‚lange‘ eine Population überhaupt lebt (‚kurz‘ oder ‚lang‘). Die Frage ist nur, welche ‚Zeiteiheiten‘ man hier anlegen will, um ‚kurz‘ oder ‚lang‘ zu definieren. Aus der Perspektive eines einzelnen Menschen können ‚Jahre‘ schon sehr lang sein und ‚Jahrzehnte‘ können wie eine Ewigkeit wirken. Aus Sicht einer ‚Generation‘ sind 30 Jahre ’normal‘, 10 Generationen (also ca. 300 Jahre) sind eine Zeiteinheit, die für einzelne schon unvorstellbar sein mögen, die aber gemessen an dem Alter so mancher Arten von Lebewesen mit vielen Millionen oder gar hunderten von Millionen Jahren (die Dinosaurier beherrschten das Ökosystem von -235 bis -65 Mio, also 170 Mio Jahre lang!) nahezu nichts sind.
4. Das komplexeste bis heute bekannte Lebewesen, der homo sapiens, jene Art, zu der wir gehören, ist bislang ca. 160.000 Jahre alt (natürlich mit langer Vorgeschichte). Biologisch betrachtet ist diese Zeitspanne nahezu ein ‚Nichts‘. Insofern sollte man nicht zu früh sagen ‚Wer‘ bzw. ‚Was‘ der ‚Mensch‘ als ‚homo sapiens‘ ist. Wir leben in einem Wimpernschlag der Geschichte und wenn wir sehen, welche Veränderungen die Art homo sapiens in kürzester Zeit über die Erde gebracht hat, dann sollten wir genügend biologische Fantasie entwickeln, um uns klar zu machen, dass wir eher ganz am Anfang einer Entwicklung stehen und nicht an deren Ende.
5. Der homo sapiens ist ganz wesentlich Teil eines größeren komplexen biologischen Systems von unfassbarer ‚Tiefe‘, wo alles ineinander greift, und wo der homo sapiens aufgrund seiner Leistungsfähigkeit aktuell dabei zu sein scheint, trotz seiner kognitiven Möglichkeiten seine eigenen biologischen Voraussetzungen zu zerstören, ohne die er eigentlich nicht leben kann (Umweltverschmutzung, Ausrottung vieler wichtiger Arten, Vernichtung der genetischen Vielfalt, …).
6. Die erst langsame, dann immer schneller werdende Entwicklung von leistungsfähigen und immer ‚effizienteren‘ Technologien eingebettet in einen ‚kulturellen Raum‘ von Zeichen, Formen, Interpretationen, Normen, Regelsystemen und vielerlei Artefakten zeigt eine immense Vielfalt z.T. ‚arbiträrer‘ Setzungen, aber auch einen harten Kern von ‚generischen‘ Strukturen. ‚Generisch‘ wäre hier die Ausbildung von gesprochenen und geschriebenen Sprachen; ‚arbiträr‘ wäre die konkrete Ausgestaltung solcher Sprachen: welche Zeichensysteme, welche Laute, welche Anordnung von Lauten oder Zeichen, usw. So sind ‚Deutsch‘, ‚Arabisch‘, ‚Russisch‘ und ‚Chinesisch‘ alles Sprachen, mithilfe deren sich Menschen über die Welt verständigen können, ihre gesprochene und geschriebene Formen weichen aber extrem voneinander ab, ihre Akzent- und Intonationsstrukturen, die Art und Weise, wie die Zeichen zu Worten, Sätzen und größeren sprachlichen Strukturen verbunden werden, sind so verschieden, dass der Sprecher der einen Sprache in keiner Weise in der Lage ist, ohne größere Lernprozesse die andere Sprache zu verstehen.
7. Bei der Entwicklung der Technologie kann man die Frage stellen, ob eine Technologie ‚effizienter‘ ist als eine andere. Nimmt man den ‚Output‘ einer Technologie als Bezugspunkt, dann kann man verschiedene Entwürfe dahingehend vergleichen, dass man z.B. fragt, wie viele Materialien (erneuerbar, nicht erneuerbar) sie benötigt haben, wie viel Energie und Arbeitsaufwand in welcher Zeit notwendig war, und ob und in welchem Umfang die Umwelt belastet worden ist. Im Bereich der Transporttechnologie wäre der Output z.B. die Menge an Personen oder Gütern, die in einer bestimmten Zeit von A nach B gebracht würden. Bei der Technologie Dampfeisenbahn mussten Locks und Wagen hergestellt werden, Gleise mussten hergestellt und verlegt werden; dazu mussten zuvor geeignete Trassen angelegt werden; ein System von Signalen und Überfahrtregelungen muss für den reibungslosen Ablauf sorgen; dazu benötigt man geeignet ausgebildetes Personal; zum Betrieb der Locks benötigte man geeignete Brennstoffe und Wasser; die Züge selbst erzeugten deutliche Emissionen in die Luft (auch Lärm); durch den Betrieb wurden die Locks, die Wagen und die Schienen abgenutzt. usw.
8. Ein anderes Beispiel wäre die ‚Technologie des Zusammenwohnens auf engem Raum‘, immer mehr Menschen können heute auf immer kleineren Räumen nicht nur ‚überleben‘, sondern sogar mit einem gewissen ‚Lebensstandard‘ ‚leben‘. Das ist auch eine Effizienzsteigerung, die voraussetzt, dass die Menschen immer komplexere Systeme der Koordinierung und Interaktion beherrschen können.
9. Im Rahmen der kulturellen Entwicklung kam es seit ca. 250 Jahren vermehrt zur Entstehung von sogenannten ‚demokratischen‘ Staatsformen (siehe auch die z.T. abweichenden Formulierungen der englischen Wikipedia zu Democracy). Wenngleich es nicht ‚die‘ Norm für Demokratie gibt, so gehört es doch zum Grundbestand, dass es als primäre Voraussetzung eine garantierte ‚Öffentlichkeit‘ gibt, in der Meinungen frei ausgetauscht und gebildet werden können. Dazu regelmäßige freie und allgemeine Wahlen für eine ‚Legislative‘ [L], die über alle geltenden Rechte abstimmt. Die Ausführung wird normalerweise an eine ‚Exekutive‘ [E] übertragen, und die Überwachung der Einhaltung der Regeln obliegt der ‚Judikative‘ [J]. Die Exekutive gewinnt in den letzten Jahrzehnten immer mehr Gewicht im Umfang der Einrichtungen/ Behörden/ Institutionen und Firmen, die im Auftrag der Exekutive Aufgaben ausführen. Besonderes kritisch waren und sind immer Sicherheitsbehörden [SICH] und das Militär [MIL]. Es bleibt eine beständige Herausforderung, das Handeln der jeweiligen Exekutive parlamentarisch hinreichend zu kontrollieren.
10. Wie es in vielen vorausgehenden Blogeinträgen angesprochen worden ist, erweckt das Beispiel USA den Eindruck, dass dort die parlamentarische Kontrolle der Exekutive weitgehend außer Kraft gesetzt erscheint. Spätestens seit 9/11 2001 hat sich die Exekutive durch Gesetzesänderungen und Verordnungen weitgehend von jeglicher Kontrolle unabhängig gemacht und benutzt das Schlagwort von der ’nationalen Sicherheit‘ überall, um sowohl ihr Verhalten zu rechtfertigen wie auch die Abschottung des Regierungshandelns durch das Mittel der auswuchernden ‚Geheimhaltung‘. Es entsteht dadurch der Eindruck, dass die Erhaltung der nationalen Sicherheit, die als solche ja etwas Positives ist, mittlerweile dazu missbraucht wird, das eigene Volk mehr und mehr vollständig zu überwachen, zu kontrollieren und die Vorgänge in der Gesellschaft nach eigenen machtinternen Interessen (auf undemokratische Weise) zu manipulieren. Geheimdienstaktionen gegen normale Bürger, sogar gegen Mitglieder der Legislative, sind mittlerweile möglich und kommen vor. Der oberste Wert in einer Demokratie kann niemals die ‚Sicherheit‘ als solche sein, sondern immer nur die parlamentarische Selbstkontrolle, die in einer funktionierenden Öffentlichkeit verankert ist.
GRÜNES GRUNDSATZPROGRAM VON 2002
11. Bei der Frage nach der genaueren Bestimmung des Freiheitsbegriffs verweist Bütikofer auf SS.7ff auf das Grüne Grundsatzprogramm von 2002, das in 3-jähriger Arbeit alle wichtigen Gremien durchlaufen hatte, über 1000 Änderungsanträge verarbeitet hat und einer ganzen Vielzahl von Strömungen Gehör geschenkt hat. Schon die Präambel verrät dem Leser, welch großes Spektrum an Gesichtspunkten und Werteinstellungen Berücksichtigung gefunden haben.
12. Im Mittelpunkt steht die Würde des Menschen, der sehr wohl auch als Teil einer umfassenderen Natur mit der daraus resultierenden Verantwortung gesehen wird; der Aspekt der Nachhaltigkeit allen Handelns wird gesehen. Grundwerte und Menschenrechte sollen Orientierungspunkte für eine demokratische Gesellschaft bilden, in der das Soziale neben dem Ökonomischen gleichberechtigt sein soll. Diese ungeheure Spannweite des Lebens impliziert ein Minimum an Liberalität, um der hier waltenden Vielfalt gerecht zu werden.
13. Die Freiheit des einzelnen soll einerseits so umfassend wie möglich unterstützt werden, indem die gesellschaftlichen Verhältnisse immer ein Maximum an Wahlmöglichkeiten bereit halten sollten, zugleich muss die Freiheit aber auch mit hinreichend viel Verantwortung gepaart sein, um die jeweiligen aktuellen Situationen so zu gestalten, dass Lebensqualität und Nachhaltigkeit sich steigern.
ENGAGIERTE POLITIK vs. LIBERALISMUS UND FREIHEIT?
14. Reinhard Loske wirft auf SS.10ff die Frage auf, ob und wie sich eine ökologisch verpflichtete Politik mit ‚Liberalismus‘ vereinbaren könnte. Natürlich wäre ein unbeschränkter ‚wertfreier‘ Liberalismus ungeeignet, da sich dann keinerlei Art von Verantwortung und einer daraus resultierenden nachhaltigen Gestaltung ableiten ließe. Doch muss man dem Begriff des Liberalismus historisch gerecht werden – was Loske im Beitrag nicht unbedingt tut – , denn in historischer Perspektive war ein liberales Denken gerade nicht wertfrei, sondern explizit orientiert am Wert des Individuums, der persönlichen Würde und Freiheit, das es gegenüber überbordenden staatlichen Ansprüchen zu schützen galt, wie auch übertragen auf das wirtschaftliche Handeln, das hinreichend stark zu schützen sei gegenüber ebenfalls überbordenden staatlichem Eingriffshandeln das tendenziell immer dazu neigt, unnötig viel zu reglementieren, zu kontrollieren, ineffizient zu sein, Verantwortung zu nivellieren, usw.
15. Zugleich ist bekannt, dass wirtschaftliches Verhalten ohne jegliche gesellschaftliche Bindung dazu tendiert, die Kapitaleigner zu bevorteilen und die abhängig Beschäftigten wie auch die umgebende Gesellschaft auszubeuten (man denke nur an das Steuerverhalten von Konzernen wie z.B. google, amazon und Ikea).
16. Es muss also in der Praxis ein ‚Gleichgewicht‘ gefunden werden zwischen maximaler (wertgebundener) Liberalität einerseits und gesellschaftlicher Bindung andererseits. Doch, wie gerade die hitzigen Debatten um die richtige Energiepolitik in Deutschland und Europa zeigen, sind die Argumente für oder gegen bestimmte Maßnahmen nicht völlig voraussetzungslos; je nach verfügbarem Fachwissen, je nach verfügbaren Erfahrungen, ja nach aktueller Interessenslage kommen die Beteiligten zu unterschiedlichen Schlüssen und Bewertungen.
17. Loske selbst erweckt in seinem Beitrag den Eindruck, als ob man so etwas wie einen ‚ökologisch wahren Preis‘ feststellen kann und demzufolge damit konkret Politik betreiben kann. Angesichts der komplexen Gemengelage erscheint mir dies aber als sehr optimistisch und nicht wirklich real zu sein. Wenn man in einer solch unübersichtlichen Situation unfertige Wahrheiten zu Slogans oder gar Handlungsmaximen erhebt und gar noch versucht, sie politische durchzudrücken, dann läuft man Gefahr, wie es im letzten Bundeswahlkampf geschehen ist, dass man vor dem Hintergrund einer an sich guten Idee konkrete Maßnahmen fordert, die nicht mehr gut sind, weil sie fachlich, sachlich noch nicht so abgeklärt und begründet sind, wie es der Fall sein müsste, um zu überzeugen. Dann besteht schnell die Gefahr, mit dem Klischee der ‚Ideologen‘, ‚Fundamentalisten‘, ‚Oberlehrer‘ assoziiert zu werden, obgleich man doch so hehre Ziele zu vertreten meint.
OBERLEHRER DER NATION – NEIN DANKE
18. Im Eingangsartikel SS.4ff stellt Katharina Wagner genau diese Frage, ob verschiedene während des Wahlkampfs angekündigten konkrete Maßnahmen nicht genau solch einen Eindruck des Oberlehrerhaften erweckt haben, als ob die Grüne Partei trotz ihrer großen Werte und Ziele letztlich grundsätzlich ‚anti-liberal‘ sei. Doch bleibt ihre Position unklar. Einerseits sagt sie sinngemäß, dass sich das grüne Programm auf Freiheit verpflichtet weiß, andererseits verbindet sie die ökologische Verantwortung mit der Notwendigkeit, auch entsprechend konkrete und verpflichtende Maßnahmen zu ergreifen. So hält sie z.B. Verbote im Kontext der Gentechnik für unumgänglich. Müssen die Verbote nur besser kommuniziert werden? Gibt es verschiedene ‚Formen‘ von Regeln in einer Skala von ‚gusseisern‘ bis ‚freundliche Einladung‘?
19. Ich finde diese Argumentation unvollständig. Ihr mangelt der Aspekt – genauso wie im Beitrag von Loske –, dass das Wissen um das ‚ökologisch Angemessene‘ in der Regel höchst komplex ist; unser Wissen um die Natur, die komplexen Technologien ist in der Regel unfertig, kaum von einzelnen alleine zu überschauen und in ständiger Weiterentwicklung. Absolut klare und endgültige Aussagen hier zu treffen ist in der Regel nicht möglich. Zwar ist es verständlich, dass das politische Tagesgeschäft griffige Formeln benötigt, um Abstimmungsmehrheiten zu erzeugen, aber dieser Artefakt unseres aktuellen politischen Systems steht im direkten Widerspruch zur Erkenntnissituation und zu den Erfordernissen einer seriösen Forschung ( Mittlerweile gibt es viele Fälle, wo die Politik erheblichen Druck auf die Wissenschaft ausgeübt hat und ausübt, damit auch genau die Ergebnisse geliefert werden, die politisch gewünscht sind; das ist dann nicht nur kontraproduktiv sondern sogar wissenschaftsfeindlich, anti-liberal und auf Dauer eine massive Gefährdung unser Wissensbasis von der Welt, in der wir leben).
20. Eine politische Partei wie die der Grünen, die sich der ökologischen Dimension unserer Existenz verpflichtet wissen will, muss meines Erachtens, um ihre Glaubwürdigkeit zu wahren, weniger darauf bedacht sein, umfassende Vereinfachung durchzudrücken, sondern gerade angesichts der Verpflichtung für das Ganze massiv die wissenschaftlichen Erforschung der Phänomene unterstützen und den sich daraus ergebenden Ansätzen in ihrer ganzen Breite und Vielfalt Raum geben. Dazu müssten viel mehr Anstrengungen unternommen werden, das relevante Wissen öffentlich transparent zu sammeln und so aufzubereiten, dass es öffentlich diskutiert werden könnte. Alle mir bekannten Texte greifen immer nur Teilaspekte auf, betrachten kurze Zeiträume, vernachlässigen Wechselwirkungen, geben sich zu wenig Rechenschaften über Unwägbarkeiten und Risiken. So vieles z.B. an den Argumenten gegen Kernenergie und Gentechnik richtig ist, so fatal ist es aber, dass damit oft ganze Gebiete tabuisiert werden, die als solche noch viele andere Bereiche enthalten, die für eine ökologische Zukunft der Menschheit möglicherweise überlebenswichtig sind.
21. Kurzum, das ‚Oberlehrerhafte‘ und ‚Anti-Liberale‘ erwächst nicht automatisch aus einer Maßnahme als solcher, sondern daraus, wie sie zustande kommt und wie sie sachlich, wissensmäßig begründet ist. In einer komplexen Welt wie der unsrigen, wo die Wissenschaften selbst momentan eine akute Krise der Konsistenz und Qualität durchlaufen, erscheint es nicht gut, mangelndes Wissen durch übertriebenen Dogmatismus ersetzen zu wollen.
FREIHEIT UND GERECHTIGKEIT
22. Die zuvor schon angesprochene Komplexität findet sich ungebremst auch in dem Gespräch zwischen Dieter Schnaas, Kerstin Andreae und Rasmus Andresen (vgl. SS.8f). Hier geht es um maximal komplexe Sachverhalte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, Beschäftigungsverhältnissen, Einkommensstrukturen, Besteuerungssystemen, Versorgungssystemen, Umverteilung, Bildungsprozessen, Wirtschaft im allgemeinen wie auch unterschiedlichen Unternehmensformen und Wirtschaftsbereichen. Diese komplexen Begriffe auf nur zwei Seiten zu diskutieren erscheint mir unangemessen. Schon eine einigermaßen Definition jedes einzelnen dieser Begriffe würde Seiten benötigen.
23. In diesem Bereich griffige Parolen zu formulieren ist zwar eine anhaltende Versuchung und Herausforderung für jeden Politiker, aber dies ist in meinen Augen zum Scheitern verurteilt. Was immer man parolenhaft vereinfachend propagieren möchte, man wird mehr Kollateralschäden anrichten als wenn man das System zunächst einmal sich selbst überlassen würde. Beteiligte Bürger sind in der Regel in der Lage, Schwachstellen des gesellschaftlichen Systems zu erkennen, vorausgesetzt, man lässt diese zu Wort kommen. Und in der Regel wissen auch alle Beteiligte recht gut, in welche Richtung Lösungsansätze gesucht werden müssten, vorausgesetzt, man führt einen realen Dialog, transparent, undogmatisch, mit den notwendigen unterstützenden wissenschaftlichen Exkursen. Die ‚herrschenden‘ Parteien zeichnen sich hingegen bislang überwiegend dadurch aus, dass sie im Kern Lobbypolitik machen, die sie nur notdürftig mit allgemeinen Floskeln kaschieren. Im Prinzip hat die Partei der Grünen sehr gute strukturelle – und motivationale – Voraussetzungen, eine solche transparente, basisdemokratische, wissenschaftlich unterstütze Lösungsfindung zu propagieren und zu praktizieren, wenn sie etwas weniger ‚Oberlehrer‘ sein würde und etwas mehr ‚passionierter Forscher‘ und ‚kreativer Lösungsfinder‘.
WIDER DIE KONTROLLGESELLSCAFT
24. Das Thema ‚Abhören‘ ist zwar seit dem Sommer 2013 mehr und mehr im Munde aller, aber selten übersteigt die Diskussion den rein technischen Charakter des Abhörens oder führt über das bloße Lamentieren hinaus. Selbst die Bundesregierung zusammen mit den einschlägigen Behörden hat bis zu den neuesten Äußerungen der Bundeskanzlerin zum Thema wenig Substanzielles gesagt; im Gegenteil, die politische Relevanz wurde extrem herunter gespielt, die Brisanz für eine zukünftige demokratische Gesellschaft in keiner Weise erkannt.
25. Vor diesem Hintergrund hebt sich der Beitrag von Jan Philipp Albrecht (vgl. SS.6f) wohltuend ab. Er legt den Finger sehr klar auf die Versäumnisse der Bundesregierung, macht den großen Schaden für die deutsche und europäische Industrie deutlich, und er macht u.a. auch auf das bundesweite Sicherheitsleck deutlich, dass durch die Verwendung von US-amerikanischer Software in allen wichtigen Behörden und Kommunen besteht, von der man mittlerweile weiß, dass diese Software schon beim Hersteller für die US-amerikanische Geheimdienste geschützte Zugänge bereit halten. Albrecht macht die Konsequenzen für die Idee einer demokratisch selbstbestimmten Gesellschaft deutlich.
26. Was auch Albrecht nicht tut, ist, einen Schritt weiter zu gehen, und den demokratischen Zustand jenes Landes zu befragen – die USA –, aus dem heraus weltweit solche massenhaft undemokratischen Handlungen bewusst und kontinuierlich geplant und ausgeführt werden. Sind die USA noch minimal demokratisch? Müssen wir uns in Deutschland (und Europa) als Demokraten nicht auch die Frage stellen, inwieweit wir eine Verantwortung für die US-Bevölkerung haben, wenn ihre Regierung sich anscheinend schrittweise von allem verabschiedet, was man eine demokratische Regierung nennen kann? Wie können wir über Demokratie in Deutschland nachdenken, wenn unsere Partner Demokratie mindestens anders auslegen, wie wir? Diese – und weitergehende – transnationale politische Überlegungen fehlen mir in der Debatte der Grünen völlig. Wir leben nicht auf einer Insel der Seeligen. Was heißt ökologische Verantwortung auf einem Planeten, der zu mehr als 50% aus Staaten besteht, die nicht als demokratisch gelten, wobei ja selbst die sogenannten demokratischen Staaten vielfache Mängel aufweisen. Wie sollen wir z.B. die Umwelt schützen, wenn die meisten anderen Staaten keinerlei Interesse haben? usw.
FAZIT
27. Klar, die vorausgehenden Überlegungen sind sehr kursorisch, fragmentarisch. Dennoch, so unvollkommen sie sind, will man sich heute in der kaum überschaubaren Welt als einzelner eine Meinung bilden, hat man keine andere Möglichkeit, als die verschiedenen Gesprächsangebote aufzugreifen und sie mit den eigenen unvollkommenen Mitteln für sich versuchen, durchzubuchstabieren. Am Ende steht gewöhnlich keine neue Supertheorie, sondern – vielleicht – ein paar zusätzliche Querbeziehungen, ein paar neue Eindrücke, der eine der andere neue Aspekt, an dem es sich vielleicht lohnt, weiter zu denken.
28. Jeder, der heute nicht alleine vor sich hin werkeln will, braucht Netzwerke, in denen er ‚Gleichgesinnte‘ findet. Ich selbst bin zwar seit vielen Jahren offizielles Mitglied der Grünen, habe aber bislang – aus Zeitgründen – nahezu nichts gemacht (außer dass ich viele meiner FreundeInnen bewundert habe, die auf kommunaler Ebene konkrete Arbeit leisten). In den nächsten Jahren kann ich mich möglicherweise politisch mehr bewegen. Dies sind erste Annäherungsversuche, um zu überprüfen, ob und wieweit die Partei der Grünen ein geeignetes Netzwerk sein könnte, um politisch ein klein wenig mehr ‚zu tun‘. Allerdings verstehe ich mich primär als Philosoph und Wissenschaftler und ich würde den Primat des Wissens niemals aufgeben, nur um ‚irgendetwas zu tun‘ ….
Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nch Titeln findet sich HIER.
1) Jede Woche denke ich, dass es jetzt mal genug ist mit diesem Demokratiethema; ich komme gar nicht mehr dazu, über meine ‚eigentlichen‘ philosophischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Themen zu schreiben, aber dann stelle ich fest, es gibt in Deutschland immer noch Zeitungen, die macht-kritische Artikel drucken, und dies geht nur, weil es immer noch Menschen gibt, die die Fähigkeit besitzen und den Mut haben, macht-kritische (und in diesen Fällen demokratie-freundliche) Artikel zu schreiben. Während wir weltweit viel zu viele Länder kennen, in denen es nur diktaturähnliche Verhältnisse gibt, keine Rechtsstaatlichkeit, keine Meinungsfreiheit, eine streng zensierte Presse und mittlerweile immer mehr auch ein streng zensiertes Internet, erscheint es fast irreal, dass man in einem Land lebt und in einem Länderverbund, in dem dies – zumindest äußerlich, formal – noch zu funktionieren scheint.
IN DEN USA …
2) Wenn die Fakten und Überlegungen aus dem vorausgehenden Blogeintrag stimmen (und dieser ist ja nur einer von vielen dieser Art in diesem Blog), dann dann ist die Demokratie in den USA mittlerweile ‚von innen‘ außer Kraft gesetzt. Formal gibt es noch eine Demokratie, aber faktisch haben Teile des Regierungsapparates (zu denen u.a. die verschiedenen geheimen Dienste gehören) die Maschinerie der Macht soweit zurecht getrimmt, dass eine tatsächliche demokratische Kontrolle zwar formal noch gegeben ist, aber nicht mehr real. Die noch immer mächtigste Machtmaschinerie unser aktuellen Welt agiert damit ‚von innen heraus‘, bar jeglicher Kontrolle, ohne Bindung an irgendwelche Gesetze. Und, wie wir aus den wenigen bekannten Fakten wissen, spielen Menschenleben hier keine Rolle. In diesem Spiel kann jeder von jetzt auf gleich zum ‚Feind‘ erklärt werden und niemand wird dagegen etwas tun. Aufgrund der umfassenden Geheimhaltung, die von den Akteuren selbst nach Belieben praktiziert werden kann, werden die offiziellen demokratischen (Feigenblatt-)Institutionen in der Regel gar nicht wissen, was die Dienste so tun. Aber auch die Dienste selbst wissen – nach Aussagen von Kontrolleuren der US-Geheimdienste – nicht einmal, was die verschiedenen Unterabteilungen oder vernetzten Kooperateure so alles treiben, einmal weil sie viel zu groß und zu vernetzt sind, zum anderen, weil sie sich untereinander auch durch ‚Geheimhaltung‘ abzublocken versuchen. Das Ganze erscheint wie ein Todesstern, der wild durch alle Gesellschaften rast, und völlig außer Kontrolle ist.
… ES GIBT KEINE GRENZEN
3) Constanze Kurz, die nicht nur wegen ihrer Kolumne in der FAZ zu einem wichtigen Sprachrohr gegen die voranschreitende Aufweichung und Zerstörung der Demokratie durch das unmäßige und demokratisch unkontrollierten Ausspäh- und Überwachungsaktivitäten der Geheimdienste geworden ist, hat in der FAZ vom 7.2.2014 (S.38) wieder einmal darauf hingewiesen, dass die Geheimdienste eben nicht ’nur Terroristen‘ attackieren, sondern (schon viele Jahre) auch jene, die sie kritisieren. Server für die Kommunikation von Kritikern werden durch gezielte Störmaßnahmen lahmgelegt. Parallel agieren geheimdienstnahe Politiker ungeniert in der Öffentlichkeit mit Verleumdungskampagnen zu solchen Personen, die sich öffentlich kritisch äußern. Dies zeigt, dass der ‚inneren Kompass‘ des unkontrollierten Todessterns schon lange seine demokratische Eichung verloren hat (wenn er sie jemals hatte). Aber hat denn überhaupt noch jemand eine ‚demokratische Eichung‘?
PARLAMENTARISCHE KONTROLLE IN DEUTSCHLAND?
4) Wolfgang-Dragi Willi Nešković, Politiker, ehemaliger Bundesrichter, zwischen 2005 und 2012 (mit Unterbrechung) Mitglied des parlamentarischen Kontrollgremiums, das die Arbeit der Exekutive überwachen soll (und damit indirekt die verschiedenen Geheimdienste), analysiert in einem Artikel in der FAZ vom 5.2. (S.28) die Situation der demokratischen Kontrolle der deutschen Geheimdienste. Sein Kernthese lautet, dass eine umfassende und effiziente Kontrolle der Dienste in Deutschland nicht existiere. Hätte er Recht, dann wäre die Situation in Deutschland nicht besser als in den USA, nur sind die deutschen Dienste im Vergleich zu den US-amerikanischen unvergleichlich viel kleiner und in ihren technischen Möglichkeiten eingeschränkter. Doch was besagt dies, wenn diese Dienste (wie man aus den bekannt gewordenen Details schließen muss), intim kooperieren? Interessant in seinem Beitrag ist der Hinweis (für Kenner trivial, für einen ’normalen‘ Bürger aber aufschlussreich), dass das parlamentarische Kontrollgremium ja die Dienste nicht direkt kontrolliert, sondern nur das Kontrollgremium der Regierung. Dies ist eine Konstruktion, die nicht nur faktisch viele Fragen aufwirft. In seiner Analyse ist aktuell eine seriöse demokratische Kontrolle der Aktivitäten der Dienste durch die gewählten Parlamentarier nahezu unmöglich.
KEIN KLARES BILD BEI DEN DEUTSCHEN POLITIKERN
5) Dieser beunruhigende Befund von Nešković – so er denn stimmt (davon gehe ich momentan aus) – wirkt umso beunruhigender, wenn man sieht, mit welcher Laxheit die wichtigen deutschen Politiker und zuständigen Behörden mit dem Thema umgehen: Verharmlosungen, Wegreden, explizit Leugnen, medienwirksame Aufregung ohne tatsächliche Maßnahmen, Inaktivität im Amt, Schlechtreden der Kritiker, usw. Von den Störgeräuschen, die kürzlich Mißfelder und De Maizière in Richtung der US-Partner ausgesandt haben, ist bislang nicht klar, wie ernsthaft diese gemeint sind. Man wird sehen.
AUFRUF DES PRÄSIDENTDEN DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS
6) Kein geringerer als Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, beschreibt in der FAZ vom 5.2.2014 (S.25), unter dem Titel ‚Warum wir jetzt kämpfen müssen‘, die Situation einer neuartigen schleichenden Entdemokratisierung aller freiheitlich-demokratische Grundordnungen. Auf der einen Seite beobachten wir die immer umfassendere ‚Digitalisierung‘ jedes einzelnen Menschen durch die Verlagerung der realen Existenz in die digitalen Netze (privat, beruflich, wirtschaftlich, politisch, …), auf der anderen Seite die ungehemmte und unkontrollierte Sammelwut diverser Geheimdienste. Er spricht von einem zunehmend ‚paranoiden Staatsverständnis‘, was sich breit macht, und wagt die Prognose, dass es wahrscheinlicher ist, dass wir eine Verschlechterung der Demokratien erleben werden als eine Verbesserung. Eine neue soziale Bewegung erscheint unausweichlich, um dem allseits zu konstatierendem Werte- und Politikverfall ein neues, den Zeiten angemessenes Werte und Politikverständnis entgegen zu setzen.
JENSEITS DER GRENZEN: VON MENSCH ZU MENSCH
7) Wenn ich an einer deutschen Universität unterrichte, die offiziell Studierende aus ungefähr 100 verschiedene Nationen umfasst (die genauen Zahlen schwanken jedes Semester), und ich in den englischsprachigen Studiengängen mit studentischen Projektgruppen konfrontiert bin, in denen einige wenige aus Deutschland kommen, alle anderen aus Marokko, Bangladesch, Indien, Türkei, Russland, China, Pakistan, Äthiopien, Iran, um nur einige zu nennen, und diese Studierenden wie selbstverständlich miteinander leben und arbeiten, dann sieht man, dass wir alle unter gleichen Rahmenbedingungen gut miteinander auskommen können. In der Realität werden aber politisch-soziale-wirtschaftliche-rechtliche-kulturelle Mauern eingezogen, die von kleineren Machtgruppen kontrolliert werden, die – so hat man den Eindruck – eher weniger die Interessen der Bevölkerung im Auge haben, dafür aber umso mehr ihre eigenen.
WIR SIND WEG UND HINDERNIS ZUGLEICH
8) Die Vision einer neuen, gemeinsamen Welt, so irreal sie angesichts der vielen nationalen Egoismen und des vielfachen Machtmissbrauchs auf den ersten Blick erscheinen mag, ist grundsätzlich möglich, weil wir Menschen sie leben könnten. Aber dazu müssten wir all jene Denkgewohnheiten ablegen, die allzu schnell andere verteufeln, zu Feinden erklären, Misstrauen sähen bevor überhaupt Vertrauen entstehen konnte, usw. Letztlich sind wir selbst sowohl der Weg wie das größte Hindernis. Der Weg in eine bessere Zukunft kann nur über und durch den Menschen selbst führen; wenn wir uns ‚verbessern‘, dann gibt es mehr menschliche Zukunft. Wo fängt Zukunft an, wenn jeder dem anderen den schwarzen Peter zuschiebt: Wir können nicht anders, weil ‚die anderen‘ doch so böse sind.
Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER
(1) In den politischen und journalistischen Auf- und Abwirbeln der letzten Monate, ausgelöst durch die Informationen von Edward Snowden, treten vermehrt US-Amerikaner in deutschen Talkshows auf, und zwar solche, die eine Affinität zur ‚politischen Macht‘ der US-Administration auszeichnet. In einer Talkshow mit Maybrit Illner am 30.01.2014 um 22:15h mit dem Thema „Geheimer Krieg um unsere Daten – sind die USA noch unsere Freunde?“, war es Fred(erick) Kempe gewesen, aktueller Präsident und Chief Executive Officer (CEO) des Atlantic Council. In einer früheren Talkshow mit Günther Jauch zur Ausstrahlung des ersten Fernsehinterviews mit Edward Snowden, trat als Gast John Kornblum auf. Mit seinen fast 40 Jahren im Dienst der US-amerikanischen Politik, immer in sehr wichtigen Rollen, davon die meiste Zeit in Europa, vor allem auch als Botschafter in Deutschland, ist er vielleicht der US-Amerikaner mit der zur Zeit größten politischen Erfahrung und dem größten Wissen über die US-amerikanische Politik in Europa und speziell auch Deutschland. Erwähnen sollte man hier auch Michael V.Hayden, der u.a. sowohl Direktor der NSA als auch der CIA war und der in einem Interview mit Maybrit Illner eingeblendet wurde.
IM AUFTRETEN VERBLÜFFEND ÄHNLICH
(2) So verschieden alle drei Persönlichkeiten sind, wo verblüffend ähnlich waren ihre Statements. Würde man einen Krimi im Fernsehen sehen und Kommissare auf der Suche nach dem Schuldigen begleiten, wären Zeugen, die nahezu identische Aussagen machen, als verdächtig einzustufen. Eine allzu große Übereinstimmung unterschiedlicher Person zu ein und derselben Sache gilt als ’nicht zufällig‘, d.h. man unterstellt automatisch eine Art von ‚Absprache‘. In den modernen Wissenschaften ist dies übrigens ähnlich. Wenn Astrophysiker feststellen, dass die Lichtstrahlen von beobachtbaren Himmelskörpern leicht verschoben sind gegenüber ihrem ‚theoretisch zu erwartenden Werten‘, dann beginnen sie eine ‚verborgene Ursache‘ anzunehmen, z.B. ein ’schwarzes Loch‘, das mit seiner ungeheuerlichen Gravitationskraft eine Abweichung im ’normalen Verhalten‘ der Lichtstrahlen bewirkt. Die Psychologen tun das gleiche. Wenn sie das Verhalten von Menschen beobachten und sie können ‚messen‘, wie ein Mensch die Batterie der Testaufgaben schneller und mit weniger Fehlern löst als der ‚Durchschnitt‘, dann unterstellen sie etwas , was sie ‚Intelligenz‘ nennen, und sagen, dieser Betreffende habe ‚mehr Intelligenz‘.
(3) Ein Punkt der sofort auffällt, ist die völlige Abwesenheit von Selbstkritik; Selbstkritik nicht bezogen auf ihre eigene Person sondern bezogen auf die politischen Institutionen, die sie vertreten. Wenn man sieht, was in den letzten mindestens 10 Jahren (und natürlich auch schon davor) an belegten Fakten über das Verhalten US-amerikanischer Regierungsinstitutionen oder von diesen beauftragten Firmen enthüllt worden ist, Fakten, die ganze Völker, Länder, Regionen, oder sogar uns alle betreffen, dann wirkt das kategorische Ausklammern dieser Dinge bzw. die aktive Ausschließung, schon von Fragen oder Vermutungen zu diesen Thema, zunächst einmal auffällig und dann – angesichts der ungeheuren Erfahrung und hohen Intelligenz der Personen – befremdlich, irritierend, beunruhigend.
(4) Diese Irritationen sind von Gewicht, weil die Personen, die durch ihre implizite kategorische Verweigerungshaltung gegenüber einer allen bekannten Realität zugleich um Vertrauen werben. Speziell Kornblum und Kempe betonen mehrfach, wie wichtig die transatlantische Beziehung zwischen den USA und Europa, speziell auch mit Deutschland, sei, und unterstreichen dabei persönliche biographische Details, die ihre Verbundenheit mit Deutschland ausdrücken. Doch gerade durch diese Beteuerungen und Werbung um Vertrauen wird die implizite Leugnung von vielen Realitäten umso bizarrer; wenn jemand um Vertrauen wirbt und sich gleichzeitig weigert, jene Fakten ernst zu nehmen, die den Gesprächspartner beunruhigen, dann hat dies eigentlich einen gegenteiligen Effekt, das Misstrauen wird größer.
FAKTEN WEG-REDEN
(5) Geradezu hervorstechend war die kategorische Einstufung von allen Dreien zu Edward Snowden als Verräter, als nicht glaubwürdig. Bedenkt man, dass mittlerweile selbst in den USA verschiedene Vereinigungen, verschiedene Zeitungen, der Kongress, einzelne Richter, ehemalige Mitglieder diverser Kontrollausschüsse, Firmenmitglieder usw. zumindest Teile von Snowdens Enthüllungen bestätigt haben, dazu Regierungen anderer Staaten (neben vielen vorausgehenden Blogeinträgen in diesem Blog siehe z.B. auch Zeitleiste beim Heise Verlag zum NSA-Abhörskandal), dann wirkt diese fast wortgleiche radikale Ablehnung und Vorverurteilung von Snowden zusätzlich beunruhigend. Da wirbt jemand um Vertrauen und während er dieses tut, zerstört er wesentliche Elemente, auf denen mögliches Vertrauen aufbaut. Festzuhalten ist, dass in der Runde mit Maybrit Illner ein aktiver Politiker, nämlich Philipp Mißfeler (auch private Homepage (Mißfelder, private Homepage), der vielfach eher ‚konservativ‘ auftritt und eher ‚US-Amerika freundlich‘ ist (er ist auch seit Juni 2013 im Vorstand des Vereins Atlantik Brücke (siehe auch: www.atlantik-bruecke.org)), live in der Talkshow Fred Kempe bzgl. der Einschätzung von Snowden widersprach. Während Kempe (wie Kornblum und Hayden) Snowden jegliche Ernsthaftigkeit und Seriosität rundweg absprachen, sagte Mißfelder klar und deutlich in der Sendung, dass alles (!), was bislang von Snowden bekannt gemacht worden ist, als tatsächlich zutreffend erwiesen worden ist. Das hat bislang noch kein deutscher Politiker (erst recht keiner von denen, die Kraft Amtes dafür eigentlich zuständig wären) in dieser Klarheit öffentlich gesagt. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und meinte, dass sich die US-Regierung in der Ausspähaffäre ‚bewegen müsse‘.
NIBELUNGENTREUE?
(6) Wenn also drei so hoch profilierte Personen aus dem US-amerikanischen Machtnetzwerk in einer Sache Aussagen machen, die von vielen anderen ernst zu nehmenden und profilierten Personen und Institutionen ‚anders‘ eingeschätzt werden, dann liegt es nahe, zu vermuten, dass alle drei aufgrund ihrer vielfachen Verbundenheit mit dem Machtnetzwerk zunächst mal die Position ‚der Macht‘ vertreten entgegen allen Fakten. In der deutschen Geschichte gibt es das Wort von der Nibelungentreue, das Festhalten an einer Position ‚rein aus Treue‘ unter Aufgabe der Dimension der ‚Wahrheit‘ und möglicher übergreifender ‚Werte‘.
MANDARINE – CHINESICHE BEAMTE
(7) China gilt in der Geschichte als eine Region großer Kultur. Und in der Tat, schaut man sich an, wie große chinesische Dynastien über viele Jahrhunderte ihr Riesenreich von innen her organisiert haben, dann kann man selbst von heute aus in Staunen und Bewunderung geraten. Kernstück war immer ein ausgeklügeltes System von Ausbildung und Organisation. Der zentrale Akteur darin waren die Beamten, in der westlichen Überlieferung als Mandarine bezeichnet. Der ‚chinesische Beamte‘ deckte dabei eine riesige Bandbreite an Fähigkeiten und Tätigkeiten ab. Hervorstechend ist ein ausgeklügeltes System von gestufter Ausbildung mit sehr differenzierten, regelmäßigen und effektiven Überprüfungen. In der chinesischen Verwaltungen konnten und wurden Beamte bei schlechten Leistungen und Fehlverhalten auch degradiert oder gar ganz entlassen; umgekehrt wurden sie auch belohnt und befördert. Auch Personen adliger Herkunft mussten sich im Normalfall diesen Prüfungen ebenfalls unterwerfen. Allen war klar, dass – in heutiger Sprache – Beziehungen alleine oder ein Parteibuch für die Effizienz der Verwaltung und des Staates unnütz und gefährlich sind. Dies alles war eingebettet und getränkt durch eine ‚Ethik‘, in der die Treue zur Gesellschaft, zum Staat, zum Kaiser zentral war. Historisch belegte Fälle zeigen, dass diese Treue durch ihre Koppelung an Kompetenz aber auch dazu führen konnte, dass hohe und höchste Beamte die Regierung sachlich kritisierten, was dann in manchen Fällen mit der Enthauptungen eben der Kritiker endete. Hätten die Mandarine die Wahrheit hinten angestellt und sich rein auf die Erhaltung Macht beschränkt (in diesem Sinne dann ’nur‘ ‚Mandarine der Macht‘), hätten Sie vielleicht individuell länger gelebt. Wäre damit der Lauf der Geschichte ‚besser‘ gewesen?
(8) Wieweit heutige Staaten (einschließlich China selbst) diese hohen Standards der ‚Qualitätssicherung‘ weiterhin praktizieren sei hier mal dahingestellt, im Falle von demokratischen Gesellschaften (wie die USA, wie Deutschland, wie Europa …) müsste das klassische chinesische Modell der Kompetenz (= Wahrheit und Werte) und Treue ergänzt werden um jene Aspekte, die sich aus dem Konzept einer Demokratie ergeben. Während in China der oberste Herrscher ein Machtmonopol besaß, das vom Prinzip her unangreifbar war, verstehen sich Demokratien als solche Gesellschaften, in denen das Machtmonopol von der gesamten Gesellschaft – natürlich mit bestimmten Spielregeln – kontrolliert werden soll. Demokratie endet dort, wo sich die demokratisch gewählten Institutionen von der Kontrolle faktisch abgekoppelt haben. Wann dies der Fall ist, ist von Fall zu Fall zu klären, da die Handlungsmöglichkeiten in einer Demokratie vielfältig sind; zudem sind die aktuellen Demokratien in der Regel sehr jung; es gibt noch nicht viele historische Erfahrungen. Einzig die USA haben bisher der Welt schon einige Lehrstücke von Machtmissbrauch und dann auch – glücklicherweise – deren Aufdeckung gezeigt. Darin waren und sind sie ein Vorbild für alle. Doch das Ringen um die Erhaltung des Machtgleichgewichts ist ein kontinuierlicher Prozess; es gibt keinen Endpunkt; eine demokratische Gesellschaft muss immer wieder neu ‚zu ihrem Recht finden‘; muss immer wieder neu aktuelle Entwicklungen kritisch beleuchten und ‚öffentlich diskutieren‘! In einer Demokratie muss daher permanent die ‚Treue‘ zum Staat begleitend werden von einem ‚funktionierenden öffentlichen Diskurs‘, in dem es letztlich keine Tabus (‚Geheimhaltung‘!) geben kann. Eine Demokratie mit Tabus ist keine Demokratie mehr.
FALSCHE TREUE KANN VERFEHLUNGEN DECKEN
(9) Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle Entwicklung in demokratischen Ländern (mit den USA als Vorreiter!), die darin besteht, immer mehr Bereiche des Regierungshandelns von der Öffentlichkeit abzukoppeln (durch Geheimhaltung, durch unkontrollierte Ausschüsse, durch Übertragung von staatlichen Aufgaben an private Dienstleister, durch politische Kontrolle der Justiz, durch Zensur, durch Verweigerung von Interviews, durch Verweigerung von fundierten öffentlichen Stellungnahmen, usw.) tendenziell gefährlich und kann, als schleichender ‚Umsturz von innen‘ eine Demokratie schrittweise in eine ‚Hülle‘ verwandeln, die faktisch von einem Machtmonopol betrieben wird, auf das niemand mehr einen effektiven Zugriff hat. Wenn man alle ideologischen Scheuklappen beiseite legt, dann muss man sagen, dass sich in den USA die Indizien häufen, die genau solch eine Entwicklung andeuten (aber nicht nur dort). Wenn in einer solchen Situation die Menschen, die dem Netzwerk der Macht nahe stehen, sich wie ‚Mandarine der reinen Macht‘ verhalten, indem sie bedingungslose Treue zeigen bei Ausklammerung des Aspekts der ‚Wahrheit‘ im Stile einer Demokratie, also durch Ausklammerung von bedingungsloser Öffentlichkeit und Aufklärung, dann ist der Abstand zu den bekannten Diktaturen und totalitären Regimen der Vergangenheit auf einen mikroskopisch kleinen Wert zusammengeschrumpft. Ein Machtnetzwerk, das alles tun kann ohne jegliche demokratische Kontrolle, ohne Bezug zur Wahrheit (schließt Öffentlichkeit ein) ist keine Demokratie mehr.
KEINE DEMOKRATIE OHNE WERTE
(10) Jetzt könnte man die Frage aufwerfen, ob die Zeit für Demokratien vielleicht vorbei ist; vielleicht wollen die Menschen gar keine Demokratien mehr. Vielleicht war dies ja nur so eine vorübergehende Mode und heute wollen diejenigen, die machtaffin sind lieber einen totalitären Staat, und diejenigen, denen alles zu kompliziert ist, die wollen ihr Brot-und-Spiele Dasein (mit ‚Dschungelcamp‘ am Abend, oder ‚Deutschland sucht den Superstar‘ oder ‚Wetten dass‘ oder das nächste Supermodel oder oder….) mit einem bekömmlichen Auskommen; die paar Intellektuellen, denen dies alles keinen Spaß macht, die grämen sich halt berufsmäßig, weil sie nichts Besseres können, als überall Haare in der Suppe zu suchen. Dies ist eine Frage der ‚Lebensentwürfe‘, der ‚gemeinsam geteilten Werte‘. Wo kommen diese Werte her? Wer propagiert in Deutschland (oder in den USA) aktiv Werte? Welche Werte? Das Wort ‚Wert‘ wirkt als solches eher sehr abstrakt, kühl, leer, nichtssagend. Dennoch, sobald wir konkret handeln, fällen wir implizit Entscheidungen. Wenn wir A tun, dann findet alles andere außerhalb von A nicht statt. Und wenn sehr viele A tun, finden überwiegend alles andere außer A nicht statt. Wenn sehr viele z.B. Dschungelcamp schauen und alles andere nicht tun, dann können Vertreter der Macht Dinge tun, die mit Demokratie nichts zu tun haben und keiner wird es merken?
(11) Eine Wertedebatte im Umfeld des Projektes ‚Demokratie’hätte sehr viele Aspekte. Ranga Yogeshwar (siehe auch die private Webseite von Ranga Yogeshwar) griff einen heraus, der sehr konkret ist, der alle Menschen dieser Erde betrifft, auch uns Deutsche. Es ist der Aspekt, der in vielen vorausgehenden Blogeinträgen dieses Blogs auch immer schon herausgestellt worden ist, nämlich die vollständige Rechtlosigkeit der US- und Nicht-US-Bürger aus Sicht des US-amerikanischen politischen Systems. Dies ist eigentlich an sich schon ein bizarrer Tatbestand, da die US-amerikanische Verfassung auf die Rechte aller Menschen abhebt ohne die Menschen jenseits der Landesgrenzen als Menschen anzuerkennen; dies wird aber umso bizarrer, wenn das US-amerikanische System um Vertrauen in Deutschland wirbt, zugleich aber keinem einzigen deutschen Bürger auch nur minimale Rechte vor einem US-amerikanischen Recht zugesteht. Das ist in etwa so, als ob ein ‚Menschenfresser‘ sein Opfer bitten würde, ihn doch zu lieben. Ein Vertreter der Mandarine der Macht antwortete zu dieser Feststellung Yogeshwars nur mit einem Schweigen.
(12) In diesem Zusammenhang machte Egon Bahr in der Runde mit Maybrit Illner auf einen anderen Umstand aufmerksam, der in den letzten sechs Monaten zwar immer wieder aufschien, aber in seinen politischen Verschränkungen bislang in der Öffentlichkeit noch nie so klar ausgesprochen wurde. Dass die amerikanischen Geheimdienste (vor allem die NSA) alle die Überwachungstätigkeiten, die ihnen selbst in den USA verboten sind, durch den kooperierenden englischen Geheimdienst GCHQ (Government Communications Headquarters, deutsch: Regierungskommunikationshauptquartier) (siehe auch http://www.gchq.gov.uk/Pages/homepage.aspx) ausführen lassen und umgekehrt, das ist langsam bekannt. Dass aber die britische Regierung innerhalb der EU ihre Sonderrolle möglicherweise dazu benutzt, die US-amerikanischen Interessen einzubringen, das ist in dieser Konkretheit neu. Bahr ging sogar soweit, zu unterstellen, dass die Briten ihre Sonderrolle benutzen, um europäische Maßnahmen zum Schutz gegen die Übergriffe US-amerikanischer Dienste und Firmen abzublocken.
EINE HANDELT
(13) Die deutsche Politik fällt bei all diesen Vorgängen bisher durch Schweigen auf, durch Inkompetenz, oder gar durch ‚Verniedlichung‘, die die Grenze zur Verantwortungsverweigerung bzw. Amtsmissbrauch möglicherweise schon längst überschritten hat. Dass die Bundeskanzlerin als Meisterin des ‚Nichtssagens im Sagen‘ in ihrer inhaltslosen Regierungserklärung den Bedarf an Klärung in dieser Sache überhaupt erwähnt hat, ist für ihre Verhältnisse möglicherweise viel, aber gemessen an der Schwere des Sachverhalts so etwas von Nichtssagend, dass auch hier eine Abgrenzung gegenüber einer Amtsverweigerung nicht leicht zu erklären ist.
(14) Vor diesem Hintergrund hebt sich Constanze Kurz, u.a. Sprecherin des Chaos Computer Clubs (CCC) geradezu wie ein Leuchtfeuer ab. Hochkompetent und engagiert hat sie eine Strafanzeige gegen die Bundesregierung vorbereitet (Unterstützt durch viele andere), in der namentlich Mitglieder der Bundesregierung und Chefs deutscher Geheimdienste wegen heimlicher Agententätigkeit und Beihilfe zur umfassenden Netzspionage der NSA angezeigt werden. Parallel hat sie (u.a. zusammen mit der Internationale Liga für Menschenrechte eine weitere Klage gegen den britischen Geheimdienst GCHQ beim europäischen Gerichtshof eingeleitet. Diese Klage hat in Straßburg sofort Priorität erhalten und die britische Regierung wird darin aufgefordert, die Überwachung aller Kommunikation zu rechtfertigen. Diese Klage vor dem europäischen Gerichtshof gewinnt ihre besondere Brisanz dadurch, dass drei Bürgerrechtsgruppen zuerst in Großbritannien versucht hatten, gerichtlich gegen die Überwachung vorzugehen. Doch die britische Regierung habe erklärt, britische Gerichte würden diesen Fall nicht bearbeiten. Zuständig sei stattdessen die parlamentarische Geheimdienstkontrolle. Doch weil diese Teil des Überwachungssystems sei und ihre Entscheidungen nicht gerichtlich anfechtbar ist, habe man sich stattdessen an Straßburg gewandt.
(15) Dieses Beispiel zeigt, dass die demokratische Kontrolle der Dienste nicht nur in den USA faktisch außer Kraft gesetzt worden ist, sondern dass dies auch schon in Großbritannien der Fall ist. Normale Bürger sind diesen System völlig schutzlos ausgeliefert.
DIE GESCHICHTE IST NICHT ZU ENDE
(16) Die Geschichte ist hier nicht zu Ende. Das Phänomen der ‚Macht‘, das sich in all diesen Verhaltensweisen und Ereignissen auswirkt, ist damit nicht einmal ansatzweise beschrieben. Das Fortbestehen der demokratischen Gesellschaftsformen in den USA und Europa ist offen. Die alles begründenden Wertfragen sind seit Jahrzehnten aus den Diskussionen verschwunden. Dass wir selbst in all dem das größte Problem sind, wir als Menschen, und wir auf vielfältige Weise demonstrieren, dass wir an den Grenzen unseres humanen Kapitals operieren, dass wir die Technik ungeahnt haben weiterentwickeln können, dass wir aber wertmäßig und psychologisch verglichen mit den alten Kulturen wenig oder gar nicht weiter sind, das sollte uns zu denken geben. Aber hier liegt auch das zentrale Problem: wie können wir uns selbst verbessern, wenn wir selbst so viele biologisch-psychologischen-kognitiven-seelischen-wertmäßigen Schwachstellen aufweisen? Vergessen wir die Ausrede mit Gott. Alles, was wir über den – ansonsten unbekannten – Gott wissen, wissen wir wiederum nur von Menschen, die behaupten, dass sie etwas von Gott wissen. Dementsprechend ‚allzu menschlich‘ klingt auch alles, was Menschen über Gott sagen. Möglicherweise gibt es sogar etwas, was wir mit ‚Gott‘ meinen; ich glaube sogar, dass dies wahrscheinlicher ist als das Gegenteil. Aber, das klingt paradox, wir werden Gott solange nicht verstehen, solange wir uns selbst nicht als Teil des gigantischen Weltprozesses verstehen lernen. Die Wahrheit ist allemal schon da, nur bräuchten wir dazu u.a. Mandarine der Macht, die die Wahrheit nicht verdrängen und die die übergreifenden Werte ernst nehmen.