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WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 9

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versuchte daraufhin eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4. Dieser ‚Umweg‘ über die Wortbedeutung wird in seiner Methodik nicht selbst problematisiert, liefert aber für den Fortgang der Untersuchung im Buch einen neuen Anknüpfungspunkt durch das Konzept des Werturteils. Es folgt dann der Versuch, einen absoluten Referenzpunkt für Werturteile zu identifizieren, mittels dem sich dann vielleicht das Werturteil als grundlegend erweisen lässt. Diesen absoluten Referenzpunkt findet P.Tiedemann in der ‘Identitätstheorie der Menschenwürde’: diese geht aus von einer grundsätzlichen Selbstbestimmungskompetenz des Menschen und enthält als ein Moment auch den Aufbau einer individuellen Identität (‘Ich’). Dann folgt eine Anzahl möglicher Einwände gruppiert nach vier Themen: Anderer, Determiniert, Böse, nichtpersonale Menschen. Dann betrachtet er in Kap.7, einem etwas längeren Kapitel, wichtige Konkretisierungen von Menschenwürde, wie sie uns im Alltag real begegnen. Sehr anschaulich führt er die verschiedenen Punkte aus, so dass man nachvollziehen kann, wie verschiedene Verhaltensweisen/ Lebensweisen tief in das Selbst- und Lebensgefühl eines Menschen eingreifen können, bis dahin, dass er in der Wurzel getroffen, verletzt oder gar nachhaltig zerstört wird. Es sind weniger die äußerlichen Dinge als solche, sondern ihre Wirkung auf das ‚Innere‘ eines Menschen, sein Fühlen, seine Fähigkeit zu vertrauen, sein Denken usw.

KAPITEL 8 (SS.149-162)

Stichworte aus Kap.8: Wertkonflikte und Präferenzregeln
Stichworte aus Kap.8: Wertkonflikte und Präferenzregeln

1. Die Grundidee in diesem Kapitel ist sehr einfach: unter der Voraussetzung, dass innerhalb der möglichen Werte die Menschenwürde den höchsten Rang einnimmt, kann es innerhalb des Raumes, den der Wert Menschenwürde aufspannt, zu Konkurrenzen zwischen verschiedenen Werten W_i und W_k kommen. Beide Werte verkörpern ‚Menschenwürde‘ (z.B. W_i := Menschen einer Stadt, die geschützt werden sollen, und W_i := Menschen, die gegen einen Angreifer mit feindlicher Absicht verteidigen sollen). Schickt man die Verteidiger, besteht die Gefahr, dass viele umkommen; schickt man die Verteidiger nicht, besteht die Gefahr, dass eine viel größere Anzahl von Menschen aus der Stadt zu Tode kommen. In beiden Fällen geht es um Menschen, denen Menschenwürde zukommt und deren Leben einen höchsten Wert repräsentiert.

2. In solch einem Fall (obiges Beispiel ist nicht von ihm) vertritt Paul Tiedemann die Auffassung, dass mit der Präferenzregel ‚Quantität‘ es ‚relativ besser‘ wäre, das Leben der Verteidiger zu riskieren als die vermutete größere Menge der Stadtbevölkerung. Als Formel etwa

3. PRÄFERENZ_quantität(W_i, W_k)= W_i

4. Dies bedeutet, dass die Präferenzregel unter Bezug auf das Kriterium Quantität von den beiden möglichen Werten W_i und W_k in diesem Fall W_i als ‚relativ größeren‘ Wert auswählt.

5. Analog erläutert und illustriert Paul Tiedemann die Kriterien ‚Schuldhaft‘ und ‚Eigene Existenz‘.

KRITISCHER DISKURS

6. Erinnern wir uns: Paul Tiedemann hatte die Menschenwürde wesentlich zurückgeführt auf die Selbstbestimmungsmöglichkeit eines Menschen. Diese wiederum wurde so identifiziert, dass sie von vielerlei konkreten Voraussetzungen abhängig ist, z.B. körperliche Unversehrtheit. Zu sagen, dass Menschenwürde im Sinne der Möglichkeit der ‚Selbstbestimmung‘ ein ‚Wert‘ ist, hängt in seiner Konkretisierung dann davon ab, welche konkreten ‚Realisierungsbedingungen von Selbstbestimmung‘ man identifiziert.

7. In einer historischen Perspektive kann man eindeutig sagen, dass das Verständnis das wir Menschen von uns selbst im Laufe der Zeiten hatten und haben nicht immer gleich war. Die Behandlung psychisch kranker Menschen z.B. war zu früheren Zeiten merklich anders als heute und würde von heute aus sicher als Verletzung der Menschenwürde betrachtet; desgleichen das Bild von Kindern und Frauen (wobei ja noch heute im Jahr 2015 in vielen Ländern dieser Erde Kinder und Frauen als minderwertig angesehen und entsprechend behandelt werden; aber auch in Deutschland: nach polizeilichen Erkenntnissen werden z.B. in jedem Jahr zehntausende von Frauen aus anderen Ländern unter Anwendung von brutalster Gewalt in Deutschland zur Prostitution gezwungen und die Gesellschaft schaut zu).

8. Daraus ergibt sich, dass die ‚Menschenwürde als Selbstbestimmung‘ zwar für eine bestimmte ‚kulturelle Sehweise‘ einen hohen oder gar höchsten Wert darstellen mag, dass aber die konkrete ‚Ausdeutung dieses Wertes‘ unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände stark zeit- und kulturabhängig ist. Dies bedeutet, man kann es nicht als selbstverständlich annehmen, dass alle Menschen zu allen Zeiten in Fragen der Menschenwürde immer die gleiche ‚Ausdeutung/ Interpretation‘ vornehmen bzw. vornehmen können. Die Interpretation ist ‚wissensabhängig‘, und dies führt zurück auf ‚Lernprozesse‘, die wiederum auf Faktoren des Lernens verweisen wie z.B. ‚beeinflussende Personen‘, ‚verfügbare Informationen‘, ‚gelebte Beispiele‘, usw.

9. Diese ‚Lernabhängigkeit‘ eines ‚interpretierenden Wissens‘ ist eine Grundkonstante aller biologischen Systeme (nicht nur der Menschen). Und aus diesem Sachverhalt folgt, dass die ‚Menschenwürde als Selbstbestimmung‘ zwar ein Grundwert sein kann, dass aber seine konkrete Ausgestaltung eine kulturelle Lernaufgabe einer ganzen Gesellschaft ist, einer Lernaufgabe, für die es historisch vielleicht irgendwo einen Anfangspunkt gibt, aber keinen zeitlichen Endpunkt! In dieser Perspektive ist ‚Menschenwürde‘ ein kulturelles ‚Projekt‘, wie wir heute vielleicht sagen würden.

10. Da alle Beteiligten des ‚kulturellen Projekts Menschenwürde‘ an der Endlichkeit eines mangelnden, unvollständigen, mühsam zu entwickelnden Wissens leiden, ist zu keinem Zeitpunkt klar, wo genau die Reise enden wird, wie lange sie dauern wird, was zwischendurch alles passieren kann. Die Geschichte kündet uns von den Trümmern großer Kulturen wie die des antiken Griechenlands, des römischen Reiches, des unfassbar hochstehenden arabisch-islamischen Reiches, und der vielen weiteren Auf- und Abstiege von politisch-wirtschaftlichen Machtzentren in Europa und weltweit.

11. Die von Paul Tiedemann erwähnten ‚Präferenzregeln‘ sind von daher weder ’selbstverständlich‘ noch nur ‚Beiwerk‘ zur großen Idee der Menschenwürde; nein, sie erscheinen eher als der ‚konkrete Körper‘, der der abstrakten blutleeren Idee der Menschenwürde als ‚Selbstbestimmung‘ überhaupt erst eine Bedeutung verleiht, und dieser Körper befindet sich in einem beständigen Wandel.

Fortsetzung folgt

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