Archiv der Kategorie: Messwerte

WAS IST DER MENSCH?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062 20.Juli 2020
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

AKTUALISIERUNGEN: Letzte Aktualisierung 21.7.2020 (Korrekturen; neue Links)

KONTEXT

In den vielen vorausgehenden Beiträgen in diesem Blog wurde die Frage nach dem Menschen, was das angemessene Bild vom Menschen sein könnte, schon oft gestellt. Möglicherweise wird diese Frage auch in der Zukunft sich immer wieder neu stellen, weil wir immer wieder auf neue Aspekte unseres Menschseins stoßen. Ich bin diese Tage auf einen Zusammenhang gestoßen, der mir persönlich in dieser Konkretheit neu ist (was nicht ausschließt, dass andere dies schon ganz lange so sehen). Hier einige weitere Gedanken dazu.

DER MENSCH IN FRAGMENTEN

In der evolutionsbiologischen Perspektive taucht der homo sapiens — also wir — sehr, sehr spät auf. Vom Jahr 2020 aus betrachtet, bilden wir den aktuellen Endpunkt der bisherigen Entwicklung wohl wissend, dass es nur ein Durchgangspunkt ist in einem Prozess, dessen Logik und mögliche Zielrichtung wir bislang nur bedingt verstehen.

Während man bei der Betrachtung der letzten Jahrtausende Menschheitsgeschichte bisweilen den Eindruck haben könnte, dass die Menschen sich als Menschen als etwas irgendwie Besonderes angesehen haben (was die Menschen aber nicht davon abgehalten hat, sich gegenseitig zu bekämpfen, sich zu bekriegen, sich regelrecht abzuschlachten), könnte man bei der Betrachtung der letzten 100 Jahre den Eindruck gewinnen, als ob die Wissenschaft die Besonderheit des Menschen — so es sie überhaupt gab — weitgehend aufgelöst hat: einmal durch die Einbettung in das größere Ganze der Evolution, dann durch einen vertieften Blick in die Details der Anatomie, des Gehirns, der Organe, der Mikro- und Zellbiologie, der Genetik, und schließlich heute durch das Aufkommen digitaler Technologien, der Computer, der sogenannten künstlichen Intelligenz (KI); dies alles lässt den Menschen auf den ersten Blick nicht mehr als etwas Besonders erscheinen.

Diese fortschreitende Fragmentierung des Menschen, des homo sapiens, findet aber nicht nur speziell beim Menschen statt. Die ganze Betrachtungsweise der Erde, des Universums, der realen Welt, ist stark durch die empirischen Wissenschaften der Gegenwart geprägt. In diesen empirischen Wissenschaften gibt es — schon von ihrem methodischen Ansatz her — keine Geheimnisse. Wenn ich nach vereinbarten Messmethoden Daten sammle, diese in ein — idealerweise — mathematisches Modell einbaue, um Zusammenhänge sichtbar zu machen, dann kann ich möglicherweise Ausschnitte der realen Welt als abgeschlossene Systeme beschreiben, bei denen der beschreibende Wissenschaftler außen vor bleibt. Diese partiellen Modelle bleiben notgedrungen Fragmente. Selbst die Physik, die für sich in Anspruch nimmt, das Ganze des Universums zu betrachten, fragmentiert die reale Welt, da sich die Wissenschaftler selbst, auch nicht die Besonderheiten biologischen Lebens generell, in die Analyse einbeziehen. Bislang interessiert das die meisten wenig. Je nach Betrachtungsweise kann dies aber ein fataler Fehler sein.

DER BEOBACHTER ALS BLINDE FLECK

Die Ausklammerung des Beobachters aus der Beschreibung des Beobachtungsgegenstands ist in den empirischen Wissenschaften Standard, da ja das Messverfahren idealerweise invariant sein soll bezüglich demjenigen, der misst. Bei Beobachtungen, in denen der Beobachter selbst das Messinstrument ist, geht dies natürlich nicht, da die Eigenschaften des Beobachters in den Messprozess eingehen (z.B. überall dort, wo wir Menschen unser eigenes Verhalten verstehen wollen, unser Fühlen und Denken, unser Verstehen, unser Entscheiden, usw.). Während es lange Zeit eine strenge Trennung gab zwischen echten (= harten) Wissenschaften, die strikt mit dem empirischen Messideal arbeiten, und jenen quasi (=weichen) Wissenschaften, bei denen irgendwie der Beobachter selbst Teil des Messprozesses ist und demzufolge das Messen mehr oder weniger intransparent erscheint, können wir in den letzten Jahrzehnten den Trend beobachten, dass die harten empirischen Messmethoden immer mehr ausgedehnt werden auch auf Untersuchungen des Verhaltens von Menschen, allerdings nur als Einbahnstraße: man macht Menschen zwar zu Beobachtungsgegenständen partieller empirischer Methoden, die untersuchenden Wissenschaftler bleiben aber weiterhin außen vor. Dieses Vorgehen ist per se nicht schlecht, liefert es doch partiell neue, interessante Einsichten. Aber es ist gefährlich in dem Moment, wo man von diesem — immer noch radikal fragmentiertem — Vorgehen auf das Ganze extrapoliert. Es entstehen dann beispielsweise Bücher mit vielen hundert Seiten zu einzelnen Aspekten der Zelle, der Organe, des Gehirns, aber diese Bücher versammeln nur Details, Fragmente, eine irgendwie geartete Zusammenschau bleibt aus.

Für diese anhaltende Fragmentierung gibt es sicher mehr als einen Grund. Einer liegt aber an der Wurzel des Theoriebegriffs, der Theoriebildung selbst. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Anschauung entstehen Theorien, Modelle, also jene begrifflichen Gebilde, mit denen wir einzelne Daten deuten, nicht aus einem Automatismus, sondern sie beruhen auf gedanklichen Entscheidungen in den Köpfen der Wissenschaftler selbst: grundsätzlich gibt es immer mehr als eine Option, wie ich etwas angehen will. Jede Option verlangt also eine Entscheidung, eine Wahl aus einem großen Bereich von Möglichkeiten. Die Generierung einer Theorie ist von daher immer ein komplexer Prozess. Interessanterweise gibt es in kaum einer der heutigen empirischen Disziplinen das Thema Wie generieren wir eine Theorie? als eigene Themenstellung. Obwohl hier viele Grundentscheidungen fallen, obwohl hier viel Komplexität rational aufgehellt werden müsste, betreiben die sogenannten harten Wissenschaften hier ein weitgehend irrationales Geschäft. Das Harte an den empirischen Wissenschaften gründet sich in diesem Sinne nicht einmal in einer weichen Reflexion; es gibt schlicht gar keine offizielle Reflexion. Die empirischen Wissenschaften sind in dieser Hinsicht fundamental irrational. Dass sie trotz ihrer fundamentalen Irrationalität interessante Detailergebnisse liefern kann diesen fundamentalen Fehler in der Wurzel nur bedingt ausgleichen. Die interessante Frage ist doch, was könnten die empirischen Wissenschaften noch viel mehr leisten, wenn sie ihre grundlegende Irrationalität an der Wurzel der Theoriebildung schrittweise mit Rationalität auffüllen würden?

HOMO SAPIENS – DER TRANSFORMER

(Ein kleiner Versuch, zu zeigen, was man sehen kann, wenn man die Grenzen der Disziplinen versuchsweise (und skizzenhaft) überschreitet)

Trotz ihrer Irrationalität an der Wurzel hat die Evolutionsbiologie viele interessante Tatbestände zum homo sapiens sichtbar gemacht, und andere Wissenschaften wie z.B. Psychologie, Sprachwissenschaften, und Gehirnwissenschaft haben weitere Details beigesteuert, die quasi ‚auf der Straße‘ herumliegen; jeder produziert für sich fleißig partielle Modelle, aber niemand ist zuständig dafür, diese zusammen zu bauen, sie versuchsweise zu integrieren, mutig und kreativ eine Synthese zu versuchen, die vielleicht neue Aspekte liefern kann, mittels deren wir viele andere Details auch neu deuten könnten. Was Not tut ist eine Wissenschaft der Wissenschaften, nicht als Privatvergnügen eines einzelnen Forschers, sondern als verpflichtender Standard für alle. In einer Wissenschaft der Wissenschaften wäre der Beobachter, der Forscher, die Forschergruppe, selbst Teil des Untersuchungsgegenstandes und damit in der zugehörigen Meta-Theorie aufzuhellen.

Anmerkung: Im Rahmen der Theorie des Engineering gibt es solche Ansätze schon länger, da das Scheitern eines Engineeringprozesses ziemlich direkt auf die Ingenieure zurück schlägt; von daher sind sie äußerst interessiert daran, auf welche Weise der Faktor Mensch — also auch sie selbst — zum Scheitern beigetragen hat. Hier könnte die Wissenschaft eine Menge von den Ingenieuren lernen.

Neben den vielen Eigenschaften, die man am homo sapiens entdecken kann, erscheinen mir drei von herausragender Bedeutung zu sein, was sich allerdings erst so richtig zeigt, wenn man sie im Zusammenspiel betrachtet.

Faktor 1: Dass ein homo sapiens einen Körper [B, body] mit eingebautem Gehirn [b, brain] hat, unterscheidet ihn nicht unbedingt von anderen Lebensformen, da es viele Lebensformen im Format Körper mit eingebautem Gehirn gibt. Dennoch ist schon mal festzuhalten, dass der Gehirn-Körper [b_B] eines homo sapiens einen Teil der Eigenschaften seiner Realwelt-Umgebung [RW] — und der eigene Körper gehört aus Sicht des Gehirns auch zu dieser Realwelt-Umgebung — ausnahmslos in neuronale Zustände [NN] im Gehirn verwandelt/ transformiert/ konvertiert und diese neuronale Zustände auf vielfältige Weise Prozesshaft bearbeitet (Wahrnehmen, Speichern, Erinnern, Abstrahieren, Assoziieren, bewerten, …). In dieser Hinsicht kann man den Gehirn-Körper als eine Abbildung, eine Funktion verstehen, die u.a. dieses leistet: b_B : RW —–> RW_NN. Will man berücksichtigen, dass diese Abbildung durch aktuell verfügbare Erfahrungen aus der Vergangenheit modifiziert werden kann, dann könnte man schreiben: b_B : RW x RW_NN —–> RW_NN. Dies trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass wir das, was wir aktuell neu erleben, automatisch mit schon vorhandenen Erfahrungen abgleichen und automatisch interpretieren und bewerten.

Faktor 2: Allein schon dieser Transformationsprozess ist hochinteressant, und er funktioniert bis zu einem gewissen Grad auch ganz ohne Sprache (was alle Kinder demonstrieren, wenn sie sich in der Welt bewegen, bevor sie sprechen können). Ein homo sapiens ohne Sprache ist aber letztlich nicht überlebensfähig. Zum Überleben braucht ein homo sapiens das Zusammenwirken mit anderen; dies verlangt ein Minimum an Kommunikation, an sprachlicher Kommunikation, und dies verlangt die Verfügbarkeit einer Sprache [L].

Wir wir heute wissen, ist die konkrete Form einer Sprache nicht angeboren, wohl aber die Fähigkeit, eine auszubilden. Davon zeugen die vielen tausend Sprachen, die auf dieser Erde gesprochen werden und das Phänomen, dass alle Kinder irgendwann anfangen, Sprachen zu lernen, aus sich heraus.

Was viele als unangenehm empfinden, das ist, wenn man als einzelner als Fremder, als Tourist in eine Situation gerät, wo alle Menschen um einen herum eine Sprache sprechen, die man selbst nicht versteht. Dem Laut der Worte oder dem Schriftzug eines Textes kann man nicht direkt entnehmen, was sie bedeuten. Dies liegt daran, dass die sogenannten natürlichen Sprachen (oft auch Alltagssprachen genannt), ihre Bedeutungszuweisungen im Gehirn bekommen, im Bereich der neuronalen Korrelate der realen Welt RW_NN. Dies ist auch der Grund, warum Kinder nicht von Geburt an eine Sprache lernen können: erst wenn sie minimale Strukturen in ihren neuronalen Korrelaten der Außenwelt ausbilden konnten, können die Ausdrücke der Sprache ihrer Umgebung solchen Strukturen zugeordnet werden. Und so beginnt dann ein paralleler Prozess der Ausdifferenzierung der nicht-sprachlichen Strukturen, die auf unterschiedliche Weise mit den sprachlichen Strukturen verknüpft werden. Vereinfachend kann man sagen, dass die Bedeutungsfunktion [M] eine Abbildung herstellt zwischen diesen beiden Bereichen: M : L <–?–> RW_NN, wobei die sprachlichen Ausdrücke letztlich ja auch Teil der neuronalen Korrelate der Außenwelt RW_NN sind, also eher M: RW_NN_L <–?–>RW_NN.

Während die grundsätzliche Fähigkeit zur Ausbildung einer bedeutungshaltigen Sprache [L_M] (L :_ Ausrucksseite, M := Bedeutungsanteil) nach heutigem Kenntnisstand angeboren zu sein scheint, muss die Bedeutungsrelation M individuell in einem langen, oft mühsamen Prozess, erlernt werden. Und das Erlernen der einen Sprache L_M hilft kaum bis gar nicht für das Erlernen einer anderen Sprache L’_M‘.

Faktor 3: Neben sehr vielen Eigenschaften im Kontext der menschlichen Sprachfähigkeit ist einer — in meiner Sicht — zusätzlich bemerkenswert. Im einfachen Fall kann man unterscheiden zwischen den sprachlichen Ausdrücken und jenen neuronalen Korrelaten, die mit Objekten der Außenwelt korrespondieren, also solche Objekte, die andere Menschen zeitgleich auch wahrnehmen können. So z.B. ‚die weiße Tasse dort auf dem Tisch‘, ‚die rote Blume neben deiner Treppe‘, ‚die Sonne am Himmel‘, usw. In diesen Beispielen haben wir auf der einen Seite sprachliche Ausdrücke, und auf der anderen Seite nicht-sprachliche Dinge. Ich kann mit meiner Sprache aber auch sagen „In dem Satz ‚die Sonne am Himmel‘ ist das zweite Wort dieses Satzes grammatisch ein Substantiv‘. In diesem Beispiel benutze ich Ausdrücke der Sprache um mich auf andere Ausdrücke einer Sprache zu beziehen. Dies bedeutet, dass ich Ausdrücke der Sprache zu Objekten für andere Ausdrücke der Sprache machen kann, die über (meta) diese Objekte sprechen. In der Wissenschaftsphilosophie spricht man hier von Objekt-Sprache und von Meta-Sprache. Letztlich sind es zwei verschiedenen Sprachebenen. Bei einer weiteren Analyse wird man feststellen können, dass eine natürliche/ normale Sprache L_M scheinbar unendlich viele Sprachebenen ausbilden kann, einfach so. Ein Wort wie Demokratie z.B. hat direkt kaum einen direkten Bezug zu einem Objekt der realen Welt, wohl aber sehr viele Beziehungen zu anderen Ausdrücken, die wiederum auf andere Ausdrücke verweisen können, bis irgendwann vielleicht ein Ausdruck dabei ist, der Objekte der realen Welt betrifft (z.B. der Stuhl, auf dem der Parlamentspräsident sitzt, oder eben dieser Parlamentspräsident, der zur Institution des Bundestages gehört, der wiederum … hier wird es schon schwierig).

Die Tatsache, dass also das Sprachvermögen eine potentiell unendlich erscheinende Hierarchie von Sprachebenen erlaubt, ist eine ungewöhnlich starke Eigenschaft, die bislang nur beim homo sapiens beobachtet werden kann. Im positiven Fall erlaubt eine solche Sprachhierarchie die Ausbildung von beliebig komplexen Strukturen, um damit beliebig viele Eigenschaften und Zusammenhänge der realen Welt sichtbar zu machen, aber nicht nur in Bezug auf die Gegenwart oder die Vergangenheit, sondern der homo sapiens kann dadurch auch Zustände in einer möglichen Zukunft andenken. Dies wiederum ermöglicht ein innovatives, gestalterisches Handeln, in dem Aspekte der gegenwärtigen Situation verändert werden. Damit kann dann real der Prozess der Evolution und des ganzen Universums verändert werden. Im negativen Fall kann der homo sapiens wilde Netzwerke von Ausdrücken produzieren, die auf den ersten Blick schön klingen, deren Bezug zur aktuellen, vergangenen oder möglichen zukünftigen realen Welt nur schwer bis gar nicht herstellbar ist.

Hat also ein entwickeltes Sprachsystem schon für das Denken selbst eine gewisse Relevanz, spielt es natürlich auch für die Kommunikation eine Rolle. Der Gehirn-Körper transformiert ja nicht nur reale Welt in neuronale Korrelate b_B : RW x RW_NN —–> RW_NN (mit der Sprache L_B_NN als Teil von RW_NN), sondern der Gehirn-Körper produziert auch sprachliche Ausdrücke nach außen b_B : RW_NN —–> L. Die sprachlichen Ausdrücke L bilden von daher die Schnittstelle zwischen den Gehirnen. Was nicht gesagt werden kann, das existiert zwischen Gehirnen nicht, obgleich es möglicherweise neuronale Korrelate gibt, die wichtig sind. Nennt man die Gesamtheit der nutzbaren neuronalen Korrelate Wissen dann benötigt es nicht nur eine angemessene Kultur des Wissens sondern auch eine angemessene Kultur der Sprache. Eine Wissenschaft, eine empirische Wissenschaft ohne eine angemessene (Meta-)Sprache ist z.B. schon im Ansatz unfähig, mit sich selbst rational umzugehen; sie ist schlicht sprachlos.

EIN NEUES UNIVERSUM ? !

Betrachtet man die kontinuierlichen Umformungen der Energie-Materie vom Big Bang über Gasnebel, Sterne, Sternenhaufen, Galaxien und vielem mehr bis hin zur Entstehung von biologischem Leben auf der Erde (ob auch woanders ist komplexitätstheoretisch extrem unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich), dort dann die Entwicklung zu Mehrzellern, zu komplexen Organismen, bis hin zum homo sapiens, dann kommt dem homo sapiens eine einzigartig, herausragende Rolle zu, der er sich bislang offensichtlich nicht richtig bewusst ist, u.a. möglicherweise auch, weil die Wissenschaften sich weigern, sich professionell mit ihrer eigenen Irrationalität zu beschäftigen.

Der homo sapiens ist bislang das einzig bekannte System im gesamten Universum, das in er Lage ist, die Energie-Materie Struktur in symbolische Konstrukte zu transformieren, in denen sich Teile der Strukturen des Universums repräsentieren lassen, die dann wiederum in einem Raum hoher Freiheitsgrade zu neue Zuständen transformiert werden können, und diese neuen — noch nicht realen — Strukturen können zum Orientierungspunkt für ein Verhalten werden, das die reale Welt real transformiert, sprich verändert. Dies bedeutet, dass die Energie-Materie, von der der homo sapiens ein Teil ist, ihr eigenes Universum auf neue Weise modifizieren kann, möglicherweise über die aktuellen sogenannten Naturgesetze hinaus.

Hier stellen sich viele weitere Fragen, auch alleine schon deswegen, weil der Wissens- und Sprachaspekt nur einen kleinen Teil des Potentials des homo sapiens thematisiert.

OBJEKTIVE WERTE? Diskussion von Stace’s ’Religion and the Modern Mind’ Teil 2: Kap.3

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
10.Juni 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

 

ÜBERBLICK

Der Philosoph W.T.Stace ist in diesem Blog bekannt durch die Besprechung seines Buches ’Mysticism and Philosophy’ [1]. Er hatte aber schon 1952 [2] ein interessantes Buch veröffentlicht, in dem er den Übergang vom mittelalterlich-religiösen Weltbild zum modernen, von der Wissenschaft geprägten Weltbild, skizziert hatte. Dies ist im Jahr 2018 von besonderem Interesse, da wir zur Zeit erleben, wie das wissenschaftliche Weltbild sich selbst in eine tiefe Krise stürzt und die ’unverdauten Reste’ vor- wissenschaftlicher Weltbilder wieder erstarken. Krisen können bedrohlich wirken, sie können zerstörerisch sein, sie können aber auch als Chance begriffen werden, die Mängel des bisherigen wissenschaftlichen Weltbildes besser zu verstehen. Letzteres kann möglicherweise der Ausgangspunkt für eine ’Erneuerung’ des wissenschaftlichen Denkens bilden, das seine Schwächen durch ein verbessertes Selbstverständnis überwinden kann. Im Teil 2 wird Kap.3 besprochen (In Teil 1 wird fehlerhaft von Kap.1-3 gesprochen; tatsächlich waren es Kap.1-2)

I. KAPITEL 3

Stace Kap.3 (1952), rekonstruiert als Mind-Map von G.Doeben-Henisch]{Stace Kap.3 (1952), rekonstruiert als Mind-Map von G.Doeben-Henisch
Stace Kap.3 (1952), rekonstruiert als Mind-Map von G.Doeben-Henisch

In diesem Kapitel 3 kontrastiert Stace das mittelalterliche (christliche) mit dem neuzeitlich- wissenschaftlichen Denken zu den Themen ’Gott als letzte Ursache’, ’Teleologisches Ziel der Welt’ und ’Moralische Ordnung (Werte)’ (vgl. das Schaubild 1).

Während das mittelalterlich-christliche Denken von einer bestehenden moralischen Ordnung ausgeht, die in einer alles umfassenden Absicht eingebettet ist, die letztlich auf einen alles ermöglichenden ’Gott’ zurückgeht, beginnt spätestens im 16.Jahrhundert eine neuzeitlich-wissenschaftliche Sicht der Welt Raum zu greifen. In dieser auf nachweisbaren kausalen Beziehungen gründenden Sicht relativieren sich alle Dinge zu überschaubaren kausalen Netzwerken; Aussagen über Eigenschaften und Beziehungen, die über das direkt Kausal-Nachweisbare hinausgehen verlieren ihre Akzeptanz. ’Werte’ werden zurück gebunden an konkrete Menschen und deren individuellen Befindlichkeiten, die man als ’relativ’ betrachtet, nicht mehr ’absolut’. Die Ausdehnung auf größere ’Gruppen’ (Stämme, Völker, …) hebt die grundlegende Relativität nicht auf.

Eine schwer kontrollierbare Wendung bringen Vorstellungen von einer ’kosmischen Absicht’, einem ’universellen Geist’, sofern diese sich nur ’indirekt (immanent)’ manifestieren, womöglich noch verschattet von unserem Un-Bewussten, das einen viel größeren Bereich unseres Körpers abdeckt als der bewusste.

II. DISKURS

Die klare Konturierung von mittelalterlich-christlichem und neuzeitlich-wissenschaftlichem Denken zu den genannten Themen geht – wie Stace selbst bemerkt – auf Kosten von Genauigkeit und vielen Details. Ohne die vielen Fragen, die sich hier stellen, schon zu diskutieren (siehe nachfolgende Teile), sei nur auf folgende Punkte hingewiesen.

A. Gefühle

Gefühle sind streng genommen nicht einfach ’subjektiv’, sondern haben in der Regel ’objektive Ursachen’, die auf objektive Prozesse verweisen. Manche dieser Prozesse sind komplexer Natur und erschließen sich erst bei der Analyse von ’Zeitreihen’.

In neueren Spielarten der christlichen Spiritualität und Mystik quasi parallel zum Entstehen des neuzeitlichen Denkens war eine solche Sicht üblich (z.B. in der Spiritualität des Jesuitenordens). Die Hintergrundannahme, dass es einen ’Gott’ gibt, war das mittelalterliche Erbe. Durch die Verknüpfung mit einem empirischen Erfahrungsansatz des eigenen Fühlens, wodurch Gott mit Menschen direkt interagieren kann, nicht ’kausal-deterministisch’, sondern ’kausal-nicht deterministisch’ (’sine cause’), in Abstimmung mit anderen Menschen und dem übrigen Weltwissen, veränderte sich aber der zuvor unnahbar transzendente Begriff Gottes zu einem nahbaren, partiell empirisch kontrollierbaren Begriff. Diese eigentlich revolutionäre Veränderung der christlichen Spiritualität wurde aber bis heute dadurch verdeckt, dass die kirchliche hierarchische Autorität mit ihrer papalen Verfassung die Anerkennung von individuellen Erfahrungen als ’heilsrelevant’ grundsätzlich verweigert. Dies ergibt sich nicht nur aus dem kirchenrechtlich fixierten Sachverhalt, dass alle offiziellen spirituellen Gemeinschaften dem jeweiligen Papst einen absoluten Gehorsam schulden, sondern grundlegend aus der kirchlichen Lehre, dass es nach dem Tod Jesu keine neuen öffentlichen Offenbarungen Gottes mehr geben wird.

(Anmerkung 2: Im offiziellen Text des II.Vatikanischen Konzils von 1965 lautet die Formel dazu ”… et nulla iam nova revelation publica expectanda est ante gloriosam manifestationem Domini nostri Iesu Christi”.(Siehe: [3], Kap.1, Nr.4) )

 

B. Kausale Erklärungen

Sosehr das neuzeitliche wissenschaftliche Denken mit der Vorstellung verknüpft wird, dass seit Galileo und Newton (um nur die prominentesten Namen zu nennen), das wissenschaftliche Denken ein ’kausales Denken’ sei, das sich in jedem Einzelfall empirisch bestätigen lassen können soll, so falsch, oder zumindest ’grob vereinfachend’ ist diese Ansicht.

Was die moderne empirischen Wissenschaften haben, das ist eine klare Trennung zwischen ’Messwerten’ und ’interpretierenden Modellen’. Damit einher geht aber auch die wachsende Einsicht, dass es keinen irgendwie gearteten Automatismus gibt, um von Messwerten zu einem geeigneten interpretierenden Modell zu kommen. Rein formal ist die Menge der möglichen Modelle quasi unendlich. Nur durch die Rückkopplung des unendlich formalen Raumes an ein konkretes, endliches Gehirn mit meist endlich vielen, sehr überschaubaren Vorstellungsmustern zum Zeitpunkt der Theoriebildung, verringert den Raum des ’Denkbaren’ dramatisch; doch ist dieser reduzierte Denkraum immer noch ’groß’.

Welches nun tatsächlich ein ’angemessenes Modell’ ist, das sich experimentell ’bestätigen’ lässt, dafür gibt es keine absolute Kriterien, sondern muss ’ausprobiert’ werden (’trial and error’). Dass es hier zu schweren Fehlern kommen kann, hat die Geschichte mehrfach eindrucksvoll gezeigt, und liegt auch in der Natur der Sache. Der einzige ’harte’ Referenzpunkt ist die ’erfahrbare Realität’, und diese ist, so wie wir sie vorfinden, inhärent ’unbekannt’, ’komplex’, ’mindestens endlich unendlich groß’. Kein menschlicher Forscher hat ’vorweg’ (’a priori’) ein irgendwie geartetes Wissen von dem großen Ganzen. Der Kampf um das ’Unbekannte’ erfordert höchsten Einsatz und ist ohne massiven und kreativen Einsatz von ’Fehlern’ (!) nicht zu gewinnen.

Wenn man also ein ’absolutes’ Wissen ablegt und sich auf das ’Objektive’ verlegen will, dann gerät man zunächst unweigerlich in das Fahrwasser von ’Relativität’. Andererseits, diese wissenschaftliche Relativität ist deutlich zu unterscheiden von ’Beliebigkeit’! Die Objektivität als primäre Form der Wirklichkeit für wissenschaftliche Erkenntnis wird letztlich als eine ’absolute Größe’ angenommen, die wir mit unseren beschränkten Mitteln aber nur häppchenweise erkenn können. Doch sind diese ’Häppchen’, sofern sie die unterstellte ’absolute Objektivität’ treffen, in diesem angenommenen Sinn auch ’absolut objektiv’, allerdings im Modus einer ’relativen Absolutheit’. Während man in einer allgemeinen Beliebigkeit nichts voraussagen kann, erlaubt eine ’relative Absolutheit’ (die wissenschaftliche Objektivität) weitreichende Voraussagen im Rahmen der Übereinstimmung mit der relativen Absolutheit und im Rahmen der Eigenart der erkannten Sachverhalte. Diese Bewegung von der relativen Absolutheit der aktuellen Erkenntnis zu einer immer ’absoluteren Absolutheit’ stellt keinen vollen Gegensatz dar zu  einem alles bestimmenden ’kosmischen Prinzip’.

Allerdings verwandelt die relative Absolutheit alle Menschen in gleicherweise Suchende. Grundsätzlich erlaubt diese Art der Erkenntnissituation keine ’absoluten Führer’, auch irgendwelche ’Klassen’ oder ’Kastenbildungen’ sind in diesem Kontext ’irrational’.

QUELLEN

[1] W. Stace, Mysticism and Philosophy, 1st ed. 2 Los Angeles (CA): Jeremy P.Tarcher, Inc., 1960.
——, Religion and the Modern Mind, 1st ed. Westport (Connecticut): Greenwood Press, Publishers, 1952, reprint 1980 from Lippincott and Crowell, Publishers.
[3] H. S. Brechter and et.al, Eds., II. Vatikanisches Konzil. Dogmatische Konstitution über die Göttliche Offenbarung, 2nd ed. Freiburg – Basel – Wien: Herder Verlag, 1967.

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ROBOTER IN DER PSYCHOANALYSE? Memo zur Sitzung vom 25.März 2018

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
26.März 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

INHALT

I Ausgangspunkt
II Wissensformat der Psychoanalyse
II-A Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  . .
II-B Moderne empirische Wissenschaft . . . . . . .
II-C Theoretische Psychoanalyse . . . . . . . . . . .
II-D Angewandte Psychoanalyse . . . . . . . . . . .
II-E Psychoanalyse und Psychologie . . . . . . . . .
II-F Psychoanalyse, Menschenbild, Wissenschaften
III Nächste Sitzung 29.April 2018

Kontext

In Fortsetzung der Sitzung vom 28.Januar 2018 wurden weitere Aspekte zusammen getragen, die die Position der Psychoanalyse, speziell auch ihre Wissensbasis, weiter erläutert haben.

I. AUSGANGSPUNKT
Der Ausgangspunkt der Sitzung vom 25.März 2018 war markiert durch das Memo der vorausgehenden Sitzung. Die Haupterkenntnis der vorausgehenden Sitzung bestand darin, dass die Frage, ob sich ein Robo-Psychoanalytiker bauen lässt oder nicht zunächst nicht von der ingenieurmäßigen ’Herstellung’ abhängt. Wenn die Ingenieure genügend Informationen haben, bauen sie einen Robo-Analytiker, der all das tut, was man von ihm erwartet (leicht idealisierende Annahme, da natürlich selbst bei optimalem Bauplan innerhalb der Umsetzung und der Produktion viele schwierige Detailfragen
gelöst werden müssen). Hält man diese idealisierende Annahme zunächst mal aufrecht, dann geht die Frage von den Ingenieuren zurück an die Psychoanalyse: Kann die Psychoanalyse im Umfang und in der Qualität eine Beschreibung dessen liefern, was ein Psychoanalytiker ist, wie er ausgebildet wird, wie er arbeitet, welche Rolle
dabei der spezielle Therapiekontext bildet, was ist wichtig für den Therapieprozess, usw.? Ist diese Beschreibung so, dass man daraus alle Informationen gewinnen kann, die man benötigt, um auf dieser Basis einen Robo-Analytiker zu bauen?

II. WISSENSFORMAT DER PSYCHOANALYSE

A. Überblick

Gedankenskizze von der Sitzung 25.März 2018
Gedankenskizze von der Sitzung 25.März 2018

Im Gespräch wurde schrittweise das gesamte Paradigma der Psychoanalyse umrissen, insbesondere auch die
Stellung der Psychoanalyse zu wichtigen anderen Wissenschaften.

B. Moderne empirische Wissenschaft

Aus der Sicht der Wissenschaftsphilosophie zeichnen sich moderne Wissenschaften dadurch aus, dass sie nach vereinbarten Methoden reproduzierbare ’Messwerte’ liefern, die dann mittels eines formalen (meist mathematischen)  Modells ’interpretiert’ werden. Ob solche eine modellbasierte Interpretation ’hilfreich’ ist entscheidet sich an der ’Vorhersagetauglichkeit’.

Das Ideal des ’Messens’ stößt allerdings dort an Grenzen, wo entweder das Messen selbst den Gegenstand verändert oder wenn die zu messenden Phänomene so selten oder speziell sind, dass sie nur schwer reproduzierbar sind. Aus solchen Messschwierigkeiten heraus abzuleiten, dass dann Messen ganz unmöglich sei, ist problematisch, da man damit möglicherweise wichtige Phänomene vorn vornherein (Zensur? Dogmatismus? …) ausklammern würde. Eine dem Geist empirischen Forschens eher angemessene Haltung wäre wohl doch so, dass man trotz
Messschwierigkeiten misst, aber die Rahmenbedingungen dieses Messens klar schildert. Irgendwann gibt es vielleicht verbesserte Messmethoden, die dann besser messen können. Außerdem, nur wenn allen Beteiligten bewusst ist, dass es für bestimmte interessante Phänomene noch keine guten Messmethoden gibt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Verbesserungen für die Messmethoden finden wird. Im übrigen sehen wir in der Quantenphysik (und in der Ethnologie, und …), dass Messprobleme kein absolutes Hindernis darstellen muss, um zur Bildung von interessanten Modellen zu kommen.

Die Ausklammerung wichtiger Aspekte der Wirklichkeit schadet in der Regel für das Gesamtbild der Wirklichkeit weit mehr als ungenau zu messen.

Auch wenn man in einer Disziplin formalisierte Modelle und die dafür notwendige formalisierte Sprache L_m benutzen will, gelingt dies nur unter Voraussetzung einer schon gegebenen Alltagssprache L_0 . Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass der ’Gegenstand’ der Untersuchung Alltagsphänomene sind einschließlich der Alltagssprache (z.B. in den Sprachwissenschaften, in der Ethnologie, in der Archäologie, usw.).

Vom Theoriemodell her macht es allerdings keinen Unterschied, ob man chemische Stoffe mit ihren Reaktionskette als Gegenstand untersucht oder alltagssprachliche Phänomene oder Alltagshandeln.

C. Theoretische Psychoanalyse

Wissenschaftsphilosophisch kann man Psychoanalyse als eine empirische Wissenschaft im zuvor beschriebene Sinn betrachten.

Ihr Datenbereich sind die unterschiedlichsten Äußerungen eines Analysanden, und ihr Ziel ist es, am Beispiel dieses konkreten Analysanden das allgemeine Modell eines handelnden Akteurs so weit zu spezifizieren, dass es mit dem Verhalten des Analysanden strukturell so übereinstimmt, dass es dem Analysanden erlaubt, sein Verhalten so einzustellen, dass sein ’Problemdruck’ sich so weit abmildert, dass er zufriedenstellend in seinem Alltag leben kann.

Das Interesse der Psychoanalyse ist also mindestens ein zweifaches: (i) ein ’theoretisches’ Interesse, am Beispiel vieler Analysanden ein ’allgemeines Modell’ eines Akteurs zu finden, das sich erfolgreich auf möglichst viele Akteure
(Menschen) so anwenden lässt, dass diese zu einem selbstbestimmten und erfolgreichen Leben befähigt werden; (ii) ein ’therapeutisches’ Interesse, nämlich unter Voraussetzung des bislang erarbeiteten Modells einem konkreten einzelnen Menschen zu helfen, dass dieser sich selbst soweit verstehen und sich selbst ’managen’ lernt, dass er in seinem Alltag zu einem selbstbestimmten und erfolgreichen Leben finden kann.

Aufgrund der ethisch eingeschränkten Möglichkeiten, mit Menschen ’Experimente zu machen’ (gilt entsprechend auch für die Psychologie, die Neurowissenschaften, usw.), kann die Psychoanalyse ihre theoretische Forschung bislang oft nur indirekt vollziehen oder aber – evtl. in der Zukunft – mit partiellen Computersimulationen ihrer
theoretischen Modelle.

D. Angewandte Psychoanalyse

In den empirischen Wissenschaften ist es üblich, das ’Messen’ unter sehr eingeschränkten Bedingungen vorzunehmen; in der Psychologie unterscheidet man z.B. explizit zwischen ’Labor-Experimenten’ und ’Feld-Experimenten’.

In der angewandten Psychoanalyse greift man zum Mittel der ’normierten Dyade’: eine Therapie findet nur im absolut diskreten Zweiergespräch statt, dessen räumliche Situation sowie auch die grundlegenden Verhaltensweisen durch klare Regeln ’normiert’ sind. Damit hat man einerseits den Raum möglicher Daten stark eingeschränkt (Laborsituation), zugleich lässt man aber die ganze Breite von Kommunikationssignalen (Sprache und Körper) zu.

Dies ist für die Ermöglichung der relevanten Phänomene wesentlich.

Während sich die Kommunikation innerhalb der Dyade ’Psychoanalytiker – Analysand’ primär in der Alltagssprache abspielt, muss er Psychoanalytiker alles Erleben zugleich in seine Fachsprache und in seine Modellwelt ’übersetzen’. Wieweit diese Übersetzung während des Prozesses stattfinden kann und ob und wieweit eine solche Übersetzung
das aktuelle reale Geschehen negativ beeinflussen kann, ist eine wichtige Frage. Klar ist allerdings, dass eine modellbasierte – und damit wissenschaftliche – Diagnose und Intervention nur dann vorliegt, wenn der Psychoanalytiker solch einen Modellbezug in der Therapiesituation explizit immer wieder herstellen kann.

Analog wie die Gedächtnispsychologie das weitgehend unbewusst arbeitende Konstrukt ’Gedächtnis’ voraussetzt und in ihren Experimenten Verhaltenseigenschaften zu erfassen sucht, die Hinweise auf das unterstellte Konstrukt Gedächtnis liefern, so unterstellt die angewandte Psychoanalyse generell einen unbewussten Bereich im
Menschen, dessen Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung eines Menschen und sein Verhalten entsprechend nur an äußerlich auftretenden Eigenschaften – wenn überhaupt – -erkannt werden können. Dies geschieht eben nicht nur in Form sprachlicher Äußerungen, sondern vor allem auch in der ’Art und Weise’ eines Sprechens oder Nicht-Sprechens, eines sich Bewegens, durch das Gesamtverhalten, was wann wie getan oder nicht getan wird, usw. Dies können sehr komplexe Phänomene sein, die sich im Erleben, im Fühlen, in der Somatik, im Erinnern,
im Träumen usw. ausdrücken können. Auch spielt Zeit eine Rolle, Wiederholungen; oder Konstellationen, die wieTrigger wirken, und vieles mehr.

Insofern das Unbewusste verschiedenen ’internen Logiken’ folgt und auch die ’Emotionen’ sich auswirken können, kann es für einen Psychoanalytiker unabdingbar sein, hinreichend ausgebildet zu sein, um seine eigenen internen Logiken und Emotionen soweit mobilisieren zu können, um eine hinreichende, das Unbewusste einbeziehende, Kommunikation mit dem Analysanden führen zu können. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Psychoanalytiker das ’Bedeutungsfeld’ der verschiedenen isoliert auftretenden Äußerungen des Analysanden nicht als das erkennen kann, als was sie auftreten, als Elemente einer unbewussten Dynamik, die sich in bestimmten Phänomenen manifestieren.

Ein ’Erfolg’ wird sich in solch einer dyadischen Analyse nur in dem Masse einstellen, wie der Analysand befähigt wird, sein eigenes Erleben und Agieren vor dem Hintergrund seiner eigenen unbewussten Dynamiken besser zu
Verstehen und in Folge davon vielleicht besser gestalten zu können.

E. Psychoanalyse und Psychologie

Im aktuellen Hochschulbetrieb ist die Psychoanalyse weitgehend ausgeschlossen. Auch grenzt sich die Psychologie weitgehend von der Psychoanalyse ab.  Wissenschaftsphilosophisch ist dies nicht nachvollziehbar. Die Psychoanalyse kann alle Anforderungen erfüllen, die die Wissenschaftsphilosophie für eine moderne
empirische Wissenschaft formuliert hat. Und wenn man sich die verschiedenen Spezialisierungen der Psychologie anschaut wie z.B. ’Sprachpsychologie’, ’Wahrnehmungspsychologie’, ’Wissenspsychologie’ oder ’Gedächtnispsychologie’ dann muss man sagen, dass alle diese Subdisziplinen nicht ohne die Annahme komplexer
theoretischer Konstrukte (’Wahrnehmung’, ’Wissen’, ’Gedächtnis’, ’Bedeutung’, …) auskommen. Die Besonderheit der Psychoanalyse mit der Annahme des Konstrukts ’Unbewusstes’ unterscheidet sich hier methodisch in keiner Weise.

Für die Ausgrenzung der Psychoanalyse aus der Psychologie gibt es daher keine harten wissenschaftsphilosophischen Argumente. Man Muss daher vermuten, dass hier allerlei nicht-wissenschaftliche Faktoren eine Rolle spielen. Unter diesen Faktoren mag jener der mangelnden wissenschaftsphilosophischen Kenntnis der Psychologie selbst
eine Rolle spielen. Aber auch banale Faktoren wie schlichte Angst darum, vorhandene Ressourcen mit noch anderen teilen zu müssen, kann man kaum ganz ausschließen.

Welche Faktoren man auch immer annehmen möchte, der aktuelle Ausgrenzungszustand ist wissenschaftsphilosophisch in keiner Weise gerechtfertigt.

F. Psychoanalyse, Menschenbild, Wissenschaften

Die Frage der ’Ausgrenzung’ von Disziplinen aus dem Wissenschaftsbetrieb spielen allerdings auch für das gesamte Menschenbild eine Rolle. Schaut man sich die Gegenstandsbereiche von Disziplinen an wie ’Physik’, ’Chemie’, ’Biologie’, ’Soziologie’, ’Psychologie’, ’Ingenieurwissenschaften’, und  ’Künstliche Intelligenz’ an, dann kann
man beobachten, dass in all diesen Disziplinen heute kein Menschenbild vermittelt wird, das den aktuell lebenden Menschen in irgendeiner interessanten Weise eine irgendwie geartete Perspektive für eine mögliche Zukunft anbieten würde. Der Mensch wird in allen Disziplinen weitgehend in ’Einzelteile’ zerlegt, ohne irgendwelche  Zusammenhänge.

Ob dem Menschen aus all dem eine irgendwie geartete Verantwortung erwächst, eine ’Perspektive für die Zukunft’, ist eine offene Frage mit Tendenz zum Nein.

Während die Biologie als Evolutionsbiologie ganz interessante Ansätze liefern könnte, werden diese Ansätze von der modernen Soziologie mehr oder weniger wieder ’pulverisiert’. Der systemtheoretische Ansatz eines Niklas Luhmann enthält zwar viele der wichtigen Zutaten für einen differenzierteren Blick auf die Dynamik von
Lebensphänomenen, aber die Art und Weise wie der Systembegriff verwendet wird, schließt gerade all jene Phänomene aus, die interessant sind. Die evolutionären Erkenntnisse der Evolutionsbiologie werden mit einer scholastisch anmutenden System-Arithmetik im semantischen Nichts versenkt.

Ob nun die Offenheit der Psychoanalyse für das weite Feld der unbewussten Strukturen und Dynamiken ein letztlich realistischeres Menschenbild ermöglichen würde als die Phänomen-Ausklammerer in den anderen Disziplinen ist keineswegs von vornherein sicher, aber es verhält sich wie mit dem Genpool: wenn die Ausgangsmenge zu
klein ist, dann ist der mögliche kombinatorische Raum schlicht zu klein, um der Vielfalt der umweltbedingten Herausforderungen gerecht werden zu können.

Haben wir Menschen Angst vor unserem eigenen Bild?

 

III. NÄCHSTE SITZUNG 29.APRIL 2018

Bei der Abschlussfrage, welches Thema wir für die nächste Sitzung am 29.April 2018 wählen wollen, fand das Stichwort von der ’adäquaten Beschreibung’ Interesse. Es wurde dann weiter ausdiskutiert in Richtung der Problematik, wie man von ’Messwerten’ zu einem ’Modell’ kommt? Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass
es auch in den empirischen Wissenschaften für den Weg von einzelnen Messwerten zu einem Modell keinen Automatismus gibt! Aus Messwerten folgt keine einzige Beziehung, erst recht kein Modell mit einem ganzen Netzwerk von Beziehungen. In allen empirischen Disziplinen braucht es Fantasie, Mut zum Denken, Mut zum Risiko, Kreativität und wie all diese schwer fassbaren Eigenschaften heißen, die im ’Dunkel des Nichtwissens’ mögliche Beziehungen, mögliche Muster, mögliche Faktorennetzwerke ’imaginieren’ können, die sich dann in der Anwendung auf Messwerte dann tatsächlich (manchmal!) als ’brauchbar’ erweisen. Und, ja, persönliche Vorlieben und Interessen (unbewusste Dynamiken) können sehr wohl dazu beitragen, dass bestimmte mögliche ’interessante Beziehungs-Hypothesen’ von vornherein ausgeschlossen oder eben gerade gefunden werden (so wie das Unbewusste die Psychologie daran
hindert, die Psychoanalyse als potentiellen Lösungsgenerator zu akzeptieren? 🙂

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

KONTEXTE

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WAHRHEIT CONTRA WAHRHEIT. Notiz

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Worum es geht

Im Zeitalter von Fake News (manche sprechen schon vom postfaktischen Zeitalter ) scheint der Begriff der Wahrheit abhanden gekommen zu sein. Dies trifft aber nicht zu. Die folgenden Zeilen kann man als Fortsetzung des vorausgehenden Beitrags lesen.

I. ARBEITSDEFINITION VON WAHRHEIT

1) In dem vorausgehenden Beitrag wurde angenommen, dass Wahrheit zunächst einmal die Gesamtheit des Wissens, der Erfahrungen und der Emotionen ist, die einer einzelnen Person zum aktuellen Zeitpunkt zur Verfügung steht. Was immer geschrieben, gedacht, gesagt usw. wird, jeder einzelne versteht und handelt auf
der Basis dessen, was er zu diesem Zeitpunkt in sich angesammelt hat.

2) Eine zentrale Einsicht ist dabei, dass unser Gehirn die aktuellen sensorischen Daten – externe wie interne– sofort, und automatisch, mit dem abgleicht, was bisher zu diesem Zeitpunkt im Gedächtnis verfügbar ist. Dadurch erleben wir alles, was uns begegnet, im Lichte des bislang Bekannten. Unsere Wahrnehmung ist eine unausweichlich interpretierte Wahrnehmung.

3) Ein Beispiel: Wenn jemand gefragt wird, ’ist dies dein Kugelschreiber?’, und dieser jemand antwortet mit ’Ja’, dann nimmt er einen Gegenstand wahr (als Ereignis seines Bewusstseins) und dieser jemand stellt zugleich fest, dass sein Gedächtnis in ihm eine Konzept aktiviert hat, bezogen auf das er diesen Gegenstand als seinen Kugelschreiber interpretieren kann. Für diesen jemand ist Wahrheit dann die Übereinstimmung zwischen (i) einer Wahrnehmung als einem Ereignis ’Kugelschreiber’ in seinem Bewusstsein, (ii) einem zugleich aktivierten Konstrukt aus dem Gedächtnis  ’mein Kugelschreiber’, sowie (iii) der Fähigkeit, erkennen zu können, dass das Wahrnehmungsereignis ’Kugelschreiber’ eine mögliche Instanz des Erinnerungsereignisses ’mein Kugelschreiber’ ist. Das Erinnerungsereignis ’mein Kugelschreiber’ repräsentiert (iv) zudem den Bedeutungsanteil des sprachlichen Ausdrucks ’dein Kugelschreiber’. Letzteres setzt voraus, dass der Frager und der Antwortende (v) beide die gleiche Sprache  gelernt haben und der Ausdruck ’dein Kugelschreiber’ aus Sicht des Fragenden und ’mein Kugelschreiber’ aus Sicht des Antwortenden von beiden (vi) in gleicher Weise interpretiert wird.

4) Anzumerken ist hier, dass jene Ereignisse, die ihm Bewusstsein als Wahrnehmungen aufschlagen können, unterschiedlich leicht zwischen zwei Teilnehmern des Gesprächs identifiziert werden können. Einmal können Aussagen über die empirische Welt sehr viele komplizierte Zusammenhänge implizieren, die nicht sofort erkennbar sind (wie funktioniert ein Fernseher, ein Computer, ein Smartphone…), zum anderen kann es
sein, dass die beiden Gesprächsteilnehmer die benutzte Sprache sehr unterschiedlich gelernt haben können (Fachausdrücke, spezielle Redewendungen, Art der Bedeutungszuschreibung, usw). Obwohl der Sachverhalt vielleicht im Prinzip erklärbar wäre, kann es sein, dass beide Gesprächsteilnehmer im Moment des Gesprächs
damit überfordert sind.

5) Ferner kann man sich durch dieses Beispiel nochmals deutlich machen, dass die Bezeichnung der Gesamtheit des Wissens, der Erfahrung und der Emotionen eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt als der subjektiven Wahrheit dieses Menschen ihren Sinn darin besitzt, dass dieser Mensch in dem Moment, wo er gefragt wird, ob es sich SO verhält, nur dann ’Ja’ sagen wird, wenn der gefragte Mensch in seiner subjektiven Wahrheit Elemente findet, die diesem So-sein entsprechen. Das ’So-sein’ aus der Frage muss ein Bestandteil der subjektiven Wahrheit sein und nur dann kann ein Mensch auf eine Anfrage hin sagen, ja, das wahrgenommene So-sein findet in der subjektiven Wahrheit eine Entsprechung. Die Fähigkeit zur Wahrheit erscheint somit primär in der subjektiven Wahrheit eines Menschen begründet zu sein.

II. WAHRHEIT UND LEBENSFORM

1) Ergänzend zu diesem geschilderten grundsätzlichem Zusammenhang wissen wir, dass die subjektive Wahrheit nicht unabhängig ist von dem Lebensprozess des jeweiligen Menschen. Alles, was ein Mensch erlebt, was auf ihn einwirkt, kann in diesem Menschen als Ereignis erlebbar werden, kann ihn beeinflussen, kann ihn
verändern. Dazu gehört natürlich auch das eigene Tun. Wenn jemand durch den Wald läuft und merkt, dass er laufen kann, wie sich das Laufen anfühlt, wie sich dies langfristig auf seinen Körperzustand auswirkt, dann beeinflusst dies auch das individuelle Erkennen von Welt und von sich selbst, als jemand, der laufen und
Fühlen kann. Wenn stattdessen Kinder in Kobaldminen arbeiten müssen statt zu lernen,  sich vielfältig neu entdecken zu können, dann wird diesen Kinder mit der Vorenthaltung einer Lebenspraxis zugleich ihr Inneres zerstört; es kann nur ein verzerrter Aufbau von Persönlichkeit stattfinden. Wir schwärmen derweil von den angeblich umweltfreundlichen Elektroautos, die wir fahren sollen. Oder: wenn Kinder im Dauerhagel von Granaten und Bomben aufwachsen müssen, um sich herum Verwundete und Tote erleben müssen, dann werden sie sich selbst entfremdet, weil verschiedene Machthaber ihre Macht in Stellvertreterkriegen meinen, ausagieren zu müssen.

2) Aufgrund der so unendlich verschiedenen Lebensprozesse auf dieser Erde können sich in den Menschen, die von ihrer Natur aus weitgehend strukturgleich sind,  ganz unterschiedliche subjektive Wahrheiten ansammeln. Derselbe Mensch sieht dann die Welt anders, handelt anders, fühlt anders. Es ist dann nahezu unausweichlich, dass sich bei der Begegnung von zwei Menschen zwei verschiedene Wahrheiten begegnen. Je nachdem, wie ähnlich oder unähnlich die Lebensprozesse dieser Menschen sind, sind auch die subjektiven Wahrheiten eher ähnlich oder unähnlich.

3) Wie man beobachten kann, tendieren Menschen dazu, sich vorzugsweise mit solchen Menschen zu treffen, mit ihnen zu reden, mit ihnen zusammen etwas tun, die mit ihnen bezüglich ihrer subjektiven Wahrheiten möglichst ähnlich sind. Manche meinen, solche selbstbezügliche Gruppen (’Echokammer’, ’Filterblase’) auch
im Internet, in den sozialen Netzwerken entdecken zu können. Obwohl das Internet im Prinzip die ganze Welt zugänglich macht [Anmerkung: Allerdings nicht in Ländern, in denen der Zugang zum Internet kontrolliert wird, wie z.B. massiv in China.], treffen sich Menschen vorzugsweise mit denen, die sie kennen, und mit denen sie eine ähnliche Meinung teilen. Man muss aber dazu gar nicht ins Internet schauen. Auch im Alltag kann man beobachten, dass jeder einzelne Mitglied unterschiedlicher sozialer Gruppen ist, in denen er sich wohl fühlt, weil man dort zu bestimmten Themen eine gleiche Anschauung vorfindet. An meiner Hochschule, an der Studierende aus mehr als 100 Ländern vertreten sind, kann man beobachten, dass die Studierenden
vorzugsweise unter sich bleiben statt die Vielfalt zu nutzen. Und die vielfältigen Beziehungskonflikte, die sich zwischen Nachbarn, Freunden, Lebenspartnern, Mitarbeitern usw. finden, sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie real  unterschiedlich subjektive Wahrheiten im Alltag sind. [Anmerkung: Allerdings ist diese Aufsplitterung in viele kleine Gruppen von ‚Gleichgesinnten‘ nicht notwendigerweise nur negativ; die Kultivierung von Vielfalt braucht eine natürliche Umgebung, in der Vielfalt möglich ist und geschätzt wird.]

4) Obwohl also der Mechanismus der subjektiven Wahrheitsbildung grob betrachtet einfach erscheint, hat man den Eindruck, dass wir Menschen uns dieses Sachverhaltes im Alltag nicht  wirklich bewusst sind. Wie schnell fühlt sich jemand beleidigt, verletzt, oder gar angegriffen, nur weil jemand sich anders verhält, als man es im Lichte seiner subjektiven Wahrheit erwartet. Wie schnell neigen wir dazu, uns von anderen abzugrenzen, sie abzustempeln als krank, verrückt, oder böse zu erklären, nur weil sie anders sind als wir selbst.

III. GEDANKE UND REALE WELT

1) Bis hierher konnte man den Eindruck gewinnen, als ob die subjektive Wahrheit ein rein gedankliches, theoretisches Etwas ist, das sich allerdings im Handeln bemerkbar machen kann. Doch schon durch die Erwähnung des Lebensprozesses, innerhalb dessen sich die subjektive Wahrheit bildet, konnte man ahnen, dass die konkreten Umstände ein wichtiges Moment an der subjektiven Wahrheit spielen. Dies bedeutet z.B., dass wir die Welt nicht nur in einer bestimmten Weise sehen, sondern wir verhalten uns ganz konkret in dieser Welt aufgrund unserer subjektiven Wahrheit (= Weltsicht), wir leben unseren Alltag mit ganz konkreten Objekten, Besitztümern und Gewohnheiten. Eine andere subjektive Wahrheit (bzw. Weltsicht) ist daher in der
Regel nicht nur ein bloßer abstrakter Gedanke, sondern kann zugleich reale, konkrete Veränderungen des eigenen Alltags implizieren. Da aber schrecken wir alle (verständlicherweise?) sofort zurück, blitzartig, vielleicht sogar unbewusst. Über die Wahrheit reden mag grundsätzlich chic sein, aber wenn die zur Sprache kommenden
Wahrheit anders ist als die eigene Wahrheit, dann zucken wir zurück. Dann wird es unheimlich, ungemütlich; dann können allerlei Ängste aufsteigen: was ist das für eine Welt, die anders wäre als die Welt, die wir kennen? Der verinnerlichten Welt korrespondiert immer auch eine reale Alltagswelt. [Anmerkung: In diesen Kontext passt vielleicht das paradoxe Beispiel, das Jesus von Nazareth in den Mund gelegt wird mit dem Bild, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen würde, als dass ein Reicher in den Himmel gelangen könnte. Eine Deutung wäre, dass jemand der als Reicher
(unterstellt: auf Kosten anderer) in einer Wirklichkeitsblase lebt, die angenehm ist, und er als Reicher wenig Motive hat, dies zu ändern. Allerdings, was man gerne
übersieht, ein solches Verhaftetsein mit der aktuellen Situation, die als angenehm gilt, gilt in vielen Abstufungen für jeden Menschen. In den Apartheitsgefängnissen von Südafrika (heute als Museum zu besichtigen) gab es z.B. unter den Gefangenen eine klare Hierarchie: die Bosse, die Helfer der Bosse, und der Rest. Kein Boss wäre auf die Idee gekommen, seine relativen Vorteile zu Gunsten von allen aufzugeben.]

2) In der Struktur der gesellschaftliche Wirklichkeit kann man den Mechanismus der parzellierten Wahrheiten wiederfinden. Eine Gesellschaft ist mit unzähligen Rollen durchsetzt, mit Ämtern, Amtsbezeichnungen, Institutionen usw.. Dazu kommen in vielen Ländern Abgrenzungen von unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Weiter gibt es Nationalstaaten, die ihre eigenen Wahrheiten pflegen. Die Tendenz, das Andere, die Anderen negativ zu belegen, um seinen eigenen Status dadurch indirekt zu sichern, findet sich zwischenstaatlich auch wieder. [Anmerkung: Gut zu erkennen in dem Erstarken von nationalistisch-populistischen Doktrinen in leider immer mehr Ländern der Erde.] Eine unkritische Ausübung gewachsener partieller Wahrheiten kann Unterschiede dann nur zementieren oder gar vergrößern, anstatt sie zu überbrücken und zu allgemeineren Wahrheitsbegriffen zu kommen.

IV. EINE KULTUR DER WAHRHEIT?

1) Wenn man sieht wie unglaublich stark die Tendenz unter uns Menschen ist, aktuelle, partielle Wahrheiten (die aus Sicht des einzelnen nicht partiell, sondern universell sind) mit einer bestimmten Alltagspraxis zu verknüpfen und diese fest zu schreiben, dann könnte man auf die Idee kommen, zu fragen, was wir als Menschen tun können, um dieser starken Tendenz ein natürliches Gegengewicht gegenüber zu stellen, das
dem Trieb zu partiellen Wahrheit entgegenwirken könnte.

2) Innerhalb der Rechtsgeschichte kann man beobachten, wie im Laufe von Jahrtausenden das Recht des Angeklagten häppchenweise soweit gestärkt wurde, dass es in modernen Staaten mit einem funktionieren Rechtssystem üblich geworden ist, jemanden erst dann tatsächlich zu verurteilen, nachdem in nachvollziehbaren, transparenten Verfahren die Schuld bzw. Unschuld objektiv festgestellt worden ist. Dennoch kann man sehen, dass gerade in der Gegenwart in vielen Staaten wieder eine umgekehrte Entwicklung um sich greift: der methodische Respekt vor der Gefahr partieller Wahrheiten wird einfachüber Bord geworfen und Menschen werden allein aufgrund ihrer Andersheit und eines blinden Verdachts vorverurteilt, gefoltert, und
aus ihren gesellschaftlichen Stellungen verjagt.

3) Innerhalb der Welt der Ideen gab es eine ähnliche Entwicklung wie im Rechtssystem: mit dem Aufkommen der empirischen experimentellen Wissenschaften in Kooperation mit Mathematischen Strukturen konnte das Reden über Sachverhalte, über mögliche Entstehungsprozesse und über mögliche Entwicklungen auf ganz neue Weise transparent gemacht werden, nachvollziehbar, überprüfbar, wiederholbar, unabhängig von dem Fühlen und Meinen eines einzelnen [Anmerkung: Allerdings nicht ganz!].  Diese Art von Wissenschaft kann großartige Erfolge aufweisen, ohne die das heutige
Leben gar nicht vorstellbar wäre. Doch auch hier können wir heute beobachten, wie selbst in den Ländern mit einem entwickelten Wissenschaftssystem die wissenschaftlichen Prinzipien zunehmen kurzfristigen politischen
und ökonomischen Interessen geopfert werden, die jeweils auf den partiellen Wahrheiten der Akteure beruhen.

4) Es drängt sich dann die Frage auf, ob der Zustand der vielen (partiellen) Wahrheiten generell vermeidbar wäre bzw. wie man ihn konstruktiv nutzen könnte, um auf der Basis der partiellen Wahrheiten zu einer umfassenderen weniger partiellen Wahrheit zu kommen.

5) Eine beliebte Lösungsstrategie ist ein autoritär-diktatorisches Gesellschaftssystem, das überhaupt nur noch eine partielle Wahrheit zulässt. Dies kennen wir aus der Geschichte und leider auch aus der Gegenwart: Gleichschaltung von Presse, Medien; Zensur; nur noch eine Meinung zählt.

6) Die Alternative ist die berühmte offene Gesellschaft, in der eine Vielfalt von partiellen Wahrheiten möglich ist, verbunden mit dem Vertrauen, dass die Vielfalt zu entsprechend vielen neuen erweiterten partiellen Wahrheiten führen kann (nicht muss!). Hier gibt es – im Idealfall – eine Fülle unterschiedlicher Medien und keine Zensur. Entsprechend wären auch alle Lern- und Erziehungsprozesse nicht an einem Drill, einer
autoritären Abrichtung der Kinder und Jugendlichen orientiert, sondern an offenen, kreativen Lernprozessen, mit viel Austausch, mit vielen Experimenten.

7) Allerdings kann man beobachten kann, dass viele Menschen nicht von vornherein solche offenen, kreativen Lernprozesse gut finden oder unterstützen, weil sie viel anstrengender sind als einfach einer autoritären Vorgabe zu folgen. Und es ist ein historisches Faktum, dass partielle Wahrheitsmodelle bei geeigneter Propaganda und gesellschaftlichen Druck eine große Anhängerschaft finden können.  Dies war und ist eine große Versuchung für alle narzisstischen und machtorientierte Menschen. Das scheinbar Einfachere und Bequemere wird damit sprichwörtlich zum ’highway to hell’.

8) Für eine offene Gesellschaft als natürlicher Entwicklungsumgebung für das Entstehen immer allgemeinerer Wahrheiten sowohl in den Beteiligten wie auch im Alltag scheinen von daher geeignete Bildungsprozesse sowie freie, unzensierte Medien (dazu gehört heute auch das Internet) eine grundlegende Voraussetzung zu
sein. Die Verfügbarkeit solcher Prozesse und Medien kann zwar keine bessere gedachte und gelebte Wahrheit garantieren, sie sind allerdings notwendige Voraussetzungen, für eine umfassendere Kultur der Wahrheit. [Anmerkung: Natürlich braucht es noch mehr Elemente, um einen einigermaßen freien Raum für möglicheübergreifende Wahrheiten zu ermöglichen.]

9) Vor diesem Hintergrund ist die weltweit zu beobachtende Erosion von freien Medien und einer offenen, kreativen Bildung ein deutliches Alarmsignal, das wir Menschen offensichtlich dabei sind, den Weg in ein wahrheitsfähige Zukunft immer mehr zu blockieren. Letztlich blockieren wir uns als Menschen damit nur selbst. Allerdings,
aus der kritischen Beobachtung alleine folgen keine wirkenden konkreten Verbesserungen. Ohne eine bessere Vision von Wahrheit ist auch kein alternatives Handeln möglich. Deswegen versuchen ja autoritäre Regierungen immer, zu zensieren und mit Propaganda und Fake-News die Öffentlichkeit zu verwirren.

V. KONTEXTE

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K.G.DENBIGH: AN INVENTIVE UNIVERSE — Relektüre — Teil 3

K.G.Denbigh (1975), „An Inventive Universe“, London: Hutchinson & Co.

BISHER

Im Teil 1 der Relektüre von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“ hatte ich, sehr stark angeregt durch die Lektüre, zunächst eher mein eigenes Verständnis von dem Konzept ‚Zeit‘ zu Papier gebracht und eigentlich kaum die Position Denbighs referiert. Darin habe ich sehr stark darauf abgehoben, dass die Struktur der menschlichen Wahrnehmung und des Gedächtnisses es uns erlaubt, subjektiv Gegenwart als Jetzt zu erleben im Vergleich zum Erinnerbaren als Vergangen. Allerdings kann unsere Erinnerung stark von der auslösenden Realität abweichen. Im Lichte der Relativitätstheorie ist es zudem unmöglich, den Augenblick/ das Jetzt/ die Gegenwart objektiv zu definieren. Das individuelle Jetzt ist unentrinnbar subjektiv. Die Einbeziehung von ‚Uhren-Zeit’/ technischer Zeit kann zwar helfen, verschiedene Menschen relativ zu den Uhren zu koordinieren, das grundsätzliche Problem des nicht-objektiven Jetzt wird damit nicht aufgelöst.

In der Fortsetzung 1b von Teil 1 habe ich dann versucht, die Darlegung der Position von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“ nachzuholen. Der interessante Punkt hier ist der Widerspruch innerhalb der Physik selbst: einerseits gibt es physikalische Theorien, die zeitinvariant sind, andere wiederum nicht. Denbigh erklärt diese Situation so, dass er die zeitinvarianten Theorien als idealisierende Theorien darstellt, die von realen Randbedingungen – wie sie tatsächlich überall im Universum herrschen – absehen. Dies kann man daran erkennen, dass es für die Anwendung der einschlägigen Differentialgleichungen notwendig sei, hinreichende Randbedingungen zu definieren, damit die Gleichungen gerechnet werden können. Mit diesen Randbedingungen werden Start- und Zielzustand aber asymmetrisch.

Auch würde ich hier einen Nachtrag zu Teil 1 der Relektüre einfügen: in diesem Beitrag wurde schon auf die zentrale Rolle des Gedächtnisses für die Zeitwahrnehmung hingewiesen. Allerdings könnte man noch präzisieren, dass das Gedächtnis die einzelnen Gedächtnisinhalte nicht als streng aufeinanderfolgend speichert, sondern eben als schon geschehen. Es ist dann eine eigene gedankliche Leistungen, anhand von Eigenschaften der Gedächtnisinhalte eine Ordnung zu konstruieren. Uhren, Kalender, Aufzeichnungen können dabei helfen. Hier sind Irrtümer möglich. Für die generelle Frage, ob die Vorgänge in der Natur gerichtet sind oder nicht hilft das Gedächtnis von daher nur sehr bedingt. Ob A das B verursacht hat oder nicht, bleibt eine Interpretationsfrage, die von zusätzlichem Wissen abhängt.

Im Teil 2 ging es um den Anfang von Kap.2 (Dissipative Prozesse) und den Rest von Kap.3 (Formative Prozesse). Im Kontext der dissipativen (irreversiblen) Prozesse macht Denbigh darauf aufmerksam, dass sich von der Antike her in der modernen Physik eine Denkhaltung gehalten hat, die versucht, die reale Welt zu verdinglichen, sie statisch zu sehen (Zeit ist reversibel). Viele empirische Fakten sprechen aber gegen die Konservierung und Verdinglichung (Zeit ist irreversibel). Um den biologischen Phänomenen gerecht zu werden, führt Denbigh dann das Konzept der ‚Organisation‘ und dem ‚Grad der Organisiertheit‘ ein. Mit Hilfe dieses Konzeptes kann man Komplexitätsstufen unterscheiden, denen man unterschiedliche Makroeigenschaften zuschreiben kann. Tut man dies, dann nimmt mit wachsender Komplexität die ‚Individualität‘ zu, d.h. die allgemeinen physikalischen Gesetze gelten immer weniger. Auch gewinnt der Begriff der Entropie im Kontext von Denbighs Überlegungen eine neue Bedeutung. Im Diskussionsteil halte ich fest: Im Kern gilt, dass maximale Entropie vorliegt, wenn keine Energie-Materie-Mengen verfügbar sind, und minimale Entropie entsprechend, wenn maximal viele Energie-Materie-Mengen verfügbar sind. Vor diesem Hintergrund ergibt sich das Bild, dass Veränderungsprozesse im Universum abseits biologischer Systeme von minimaler zu maximaler Entropie zu führen scheinen (dissipative Prozesse, irreversible Prozesse, …), während die biologischen Systeme als Entropie-Konverter wirken! Sie kehren die Prozessrichtung einfach um. Hier stellen sich eine Fülle von Fragen. Berücksichtigt man die Idee des Organiationskonzepts von Denbigh, dann kann man faktisch beobachten, dass entlang einer Zeitachse eine letztlich kontinuierliche Zunahme der Komplexität biologischer Systeme stattfindet, sowohl als individuelle Systeme wie aber auch und gerade im Zusammenspiel einer Population mit einer organisatorisch aufbereiteten Umgebung (Landwirtschaft, Städtebau, Technik allgemein, Kultur, …). Für alle diese – mittlerweile mehr als 3.8 Milliarden andauernde – Prozesse haben wir bislang keine befriedigenden theoretischen Modelle

KAPITEL 4: DETERMINISMUS UND EMERGENZ (117 – 148)

Begriffsnetz zu Denbigh Kap.4: Determinismus und Emergenz
Begriffsnetz zu Denbigh Kap.4: Determinismus und Emergenz

  1. Dieses Kapitel widmet sich dem Thema Determinismus und Emergenz. Ideengeschichtlich gibt es den Hang wieder, sich wiederholende und darin voraussagbare Ereignisse mit einem Deutungsschema zu versehen, das diesen Wiederholungen feste Ursachen zuordnet und darin eine Notwendigkeit, dass dies alles passiert. Newtons Mechanik wird in diesem Kontext als neuzeitliche Inkarnation dieser Überzeugungen verstanden: mit klaren Gesetzen sind alle Bewegungen berechenbar.
  2. Dieses klare Bild korrespondiert gut mit der christlichen theologischen Tradition, nach der ein Schöpfer alles in Bewegung gesetzt hat und nun die Welt nach einem vorgegebenen Muster abläuft, was letztlich nur der Schöpfer selbst (Stichwort Wunder) abändern kann.
  3. Die neuzeitliche Wissenschaft hat aber neben dem Konzept des Gesetzes (‚law‘) auch das Konzept Theorie entwickelt. Gesetze führen innerhalb einer Theorie kein Eigenleben mehr sondern sind Elemente im Rahmen der Theorie. Theorien sind subjektive Konstruktionen von mentalen Modellen, die versuchen, die empirischen Phänomene zu beschreiben. Dies ist ein Näherungsprozess, der – zumindest historisch – keinen eindeutigen Endpunkt kennt, sondern empirisch bislang als eher unendlich erscheint.
  4. Eine moderne Formulierung des deterministischen Standpunktes wird von Denbigh wie folgt vorgeschlagen: Wenn ein Zustand A eines hinreichend isolierten Systems gefolgt wird von einem Zustand B, dann wird der gleiche Zustand A immer von dem Zustand B gefolgt werden, und zwar bis in die letzten Details.(S.122)
  5. Diese Formulierung wird begleitend von den Annahmen, dass dies universell gilt, immer, für alles, mit perfekter Präzision.
  6. Dabei muss man unterscheiden, ob die Erklärung nur auf vergangene Ereignisse angewendet wird (‚ex post facto‘) oder zur Voraussage benutzt wird. Letzteres gilt als die eigentliche Herausforderung.
  7. Wählt man die deterministische Position als Bezugspunkt, dann lassen sich zahlreiche Punkte aufführen, nach denen klar ist, dass das Determinismus-Prinzip unhaltbar ist. Im Folgenden eine kurze Aufzählung.
  8. Die Interaktion aller Teile im Universum ist nirgendwo (nach bisherigem Wissen) einfach Null. Zudem ist die Komplexität der Wechselwirkung grundsätzlich so groß, dass eine absolute Isolierung eines Teilsystems samt exakter Reproduktion als nicht möglich erscheint.
  9. Generell gibt es das Problem der Messfehler, der Messungenauigkeiten und der begrenzten Präzision. Mit der Quantenmechanik wurde klar, dass wir nicht beliebig genau messen können, dass Messen den Gegenstand verändert. Ferner wurde klar, dass Messen einen Energieaufwand bedeutet, der umso größer wird, je genauer man messen will. Ein erschöpfendes – alles umfassende – Messen ist daher niemals möglich.
  10. Im Bereich der Quanten gelten maximal Wahrscheinlichkeiten, keine Notwendigkeiten. Dies schließt nicht notwendigerweise ‚Ursachen/ Kausalitäten‘ aus.
  11. Die logischen Konzepte der mentalen Modelle als solche sind nicht die Wirklichkeit selbst. Die ‚innere Natur der Dinge‘ als solche ist nicht bekannt; wir kennen nur unsere Annäherungen über Messereignisse. Das, was ‚logisch notwendig‘ ist, muss aus sich heraus nicht ontologisch gültig sein.
  12. Neben den Teilchen sind aber auch biologische Systeme nicht voraussagbar. Ihre inneren Freiheitsgrade im Verbund mit ihren Dynamiken lassen keine Voraussage zu.
  13. Aus der Literatur übernimmt Denbigh die Komplexitätshierarchie (i) Fundamentale Teilchen, (ii) Atome, (iii) Moleküle, (iv) Zellen, (v) Multizelluläre Systeme, (vi) Soziale Gruppen.(vgl. S.143)
  14. Traditioneller Weise haben sich relativ zu jeder Komplexitätsstufe spezifische wissenschaftliche Disziplinen herausgebildet, die die Frage nach der Einheit der Wissenschaften aufwerfen: die einen sehen in den Eigenschaften höherer Komplexitätsstufen emergente Eigenschaften, die sich nicht auf die einfacheren Subsysteme zurückführen lassen; die Reduktionisten sehen die Wissenschaft vollendet, wenn sich alle komplexeren Eigenschaften auf Eigenschaften der Ebenen mit weniger Komplexität zurückführen lassen. Während diese beiden Positionen widersprüchlich erscheinen, nimmt das Evolutionskonzept eine mittlere Stellung ein: anhand des Modells eines generierenden Mechanismus wird erläutert, wie sich komplexere Eigenschaften aus einfacheren entwickeln können.

DISKUSSION

  1. Fasst man alle Argument zusammen, ergibt sich das Bild von uns Menschen als kognitive Theorientwickler, die mit ihren kognitiven Bildern versuchen, die Strukturen und Dynamiken einer externen Welt (einschließlich sich selbst) nach zu zeichnen, die per se unzugänglich und unerkennbar ist. Eingeschränkte Wahrnehmungen und eingeschränkte Messungen mit prinzipiellen Messgrenzen bilden die eine Begrenzung, die daraus resultierende prinzipielle Unvollständigkeit aller Informationen eine andere, und schließlich die innere Logik der realen Welt verhindert ein einfaches, umfassendes, eindeutiges Zugreifen.
  2. Die mangelnde Selbstreflexion der beteiligten Wissenschaftler erlaubt streckenweise die Ausbildung von Thesen und Hypothesen, die aufgrund der möglichen Methoden eigentlich ausgeschlossen sind.
  3. Die noch immer geltende weitverbreitete Anschauung, dass in der Wissenschaft der Anteil des Subjektes auszuklammern sei, wird durch die vertiefenden Einsichten in die kognitiven Voraussetzungen aller Theorien heute neu in Frage gestellt. Es geht nicht um eine Infragestellung des Empirischen in der Wissenschaft, sondern um ein verstärktes Bewusstheit von den biologischen (beinhaltet auch das Kognitive) Voraussetzungen von empirischen Theorien.
  4. In dem Maße, wie die biologische Bedingtheit von Theoriebildungen in den Blick tritt kann auch die Besonderheit der biologischen Komplexität wieder neu reflektiert werden. Das Biologische als Entropie-Konverter (siehe vorausgehenden Beitrag) und Individualität-Ermöglicher jenseits der bekannten Naturgesetze lässt Eigenschaften der Natur aufblitzen, die das bekannte stark vereinfachte Bild kritisieren, sprengen, revolutionieren.
  5. Die Idee eines evolutionären Mechanismus zwischen plattem Reduktionismus und metaphysischem Emergenz-Denken müsste allerdings erheblich weiter entwickelt werden. Bislang bewegt es sich im Bereich der Komplexitätsebenen (iii) Moleküle und (iv) Zellen.

Fortsetzung mit TEIL 4

QUELLEN

  1. Kenneth George Denbigh (1965 – 2004), Mitglied der Royal Society London seit 1965 (siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Fellows_of_the_Royal_Society_D,E,F). Er war Professor an verschiedenen Universitäten (Cambridge, Edinbugh, London); sein Hauptgebet war die Thermodynamik. Neben vielen Fachartikeln u.a. Bücher mit den Themen ‚Principles of Chemical Equilibrium, ‚Thermodynamics of th Steady State‘ sowie ‚An Inventive Universe‘.

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INTELLIGENZ (1)

(1) In der heutigen Welt erleben wir eine Inflation im Gebrauch der Wörter   ‚Intelligenz‘, ‚intelligent‘ und ’smart‘. Im technischen Bereich sind immer mehr Produkte ’smart‘ ohne dass jemand sich auch nur ansatzweise die Mühe macht, diese Sprechweisen zu rechtfertigen; man tut einfach so, als ob dies so sei.

(2) Die Wurzel des Redens über ‚Intelligenz‘ ist aber das Erleben von Menschen, die Art und Weise wie wir als Menschen das Verhalten anderer Menschen im Vergleich zur umgebenden Natur erleben. In nicht wenigen Aspekten hebt sich das Verhalten des Menschen dadurch ab, dass wir einem Menschen ‚Absicht‘ unterstellen, ‚Erinnerungen‘, ‚Denken‘, usw. Bestimmte dieser beobachtbaren Eigenschaften  zusammengenommen unterstellen wir, wenn wir von ‚Intelligenz‘ sprechen.

(3) In dem Masse, wie wir gelernt haben, das eigene menschliche Verhalten besser zu verstehen und in den Gesamtzusammenhang des biologischen Lebens einordnen zu können, haben wir auch begonnen, verschiedenen anderen Lebensformen (Insekten, Säugetiere, …) zumindest Ansätze solcher Eigenschaften wie ‚Wahrnehmung‘, ‚Erinnerung‘, ‚Absicht‘ usw. zu zusprechen.

(4) Abseits vom Verhalten von Menschen haben wir keine ‚Referenzmuster‘ für ‚intelligentes Verhalten‘. Wenn wir eine Maschine (Roboter) bauen und von ihr behaupten, sie sei ‚intelligent‘ dann gewinnt diese Aussage höchstens Bedeutung durch Bezug auf vergleichbares Verhalten von Menschen; aber ohne diesen Bezug macht es keinen Sinn, von ‚Intelligenz‘ zu sprechen. Der Begriff der Intelligenz‘ unabhängig vom Menschen hat zunächst keine Bedeutung.

(5) Es ist vor allem die Psychologie, die sich mit dem beobachtbaren Verhalten von Menschen wissenschaftlich auseinandersetzt (im weiteren Sinne auch die allgemeinere biologische Verhaltensforschung (Ethologie)). Die Psychologie hat seit mindestens Sir Francis Galton  (1822 – 1911) und Alfred Binet (1857 – 1911) versucht, das als ’normal‘ anzusehende Verhalten der Mehrheit der Menschen (eines Jahrgangs) zum Massstab  zu nehmen, um damit das Verhalten eines jeden einzelnen ‚Bezogen auf dieses allgemeine Verhalten‘ ‚einzuordnen‘ (zu ‚messen‘).

(6) Natürlich haftet jeder Auswahl von konkreten Verhaltensweisen etwas ‚Willkürliches‘ an, dennoch stellt eine ‚Zusammenstellung‘ der zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft ‚üblichen Verhaltensweisen‘ aber auch mehr dar als nur eine ‚bloss zufällige‘ Anordnung.

(7) Seitdem die Psychologen begonnen haben, mit solchen (z.T. schon unterschiedlichen) Zusammenstellungen von Verhaltensweisen (‚Testbatterien‘) gezielt ‚Messungen‘ vorzunehmen hat sich gezeigt, dass die Messergebnisse erstaunliche Konsistenzen aufweisen; ja, es lassen sich Prognosen über ‚Verhaltensweisen und Erfolge in der Zukunft machen‘, die weit jenseits des ‚Zufälligen‘ sind.

(8) Daraus kann man nicht folgern, dass die gewählten Verhaltensweisen die einzig ‚richtigen‘ sind, die mit INTELLIGENZ korrelieren, aber man darf zurecht annehmen, dass die Strukturen, die mittels des beobachtbaren Verhaltens ‚indirekt‘ gemessen werden, offensichtlich eine gewisse ‚Konsistenz‘ aufweisen, die ‚hinter‘ all der beobachtbaren Vielheit ‚am Werke‘ ist.

(9) Wenn die Psychologie also von ‚Intelligenz‘ spricht, dann bezieht sie sich auf kulturell stark repräsentative Verhaltensweisen, die man ‚messen‘ kann und die in ihrer Gesamtheit einen Hinweis liefern, ob ein einzelner Menschen sich so verhält, wie der große ‚Durchschnitt‘ (IQ=100) oder aber davon ‚abweicht‘; entweder durch ‚geringere‘ Leistung (IQ < 100)  oder durch ‚mehr‘ Leistung (IQ > 100).

(10) Wichtig ist, dass die verschiedenen benutzten Verhaltenskataloge (Testbatterien) kein direkt beobachtbares  ‚Objekt‘ Intelligenz definieren, sondern eher eine Art ‚Umschreibung‘ von etwas darstellen, was man nicht direkt sehen, sondern nur indirekt ‚erschließen‘ kann. Der psychologische Begriff der Intelligenz ist ein ‚theoretisches Objekt‘, also ein ‚Begriff‘ (Term), der durch formalen Bezug zu unterschiedlichen Messvorgängen eine ‚operationale‘ Bedeutung besitzt. Was letztlich das beobachtbare (messbare) Verhalten erzeugt, ist damit in keiner Weise klar.

(11) In der Psychologie gab es eine Vielzahl von Deutungsansätzen, wie man das ‚hinter dem Verhalten‘ liegende ‚Etwas‘ denken sollte. Am meisten verbreitet ist jener Ansatz, der zwischen einer ANGEBORENEN und einer ERWORBENEN Struktur unterscheidet: die durch die Erbanlagen weitgehend bestimmte angeborene Struktur definiert eine MASCHINERIE der VERARBEITUNG, deren Qualität sich in der GESCHWINDIGKEIT und FEHLERFREIHEIT zeigt (man spricht hier oft von FLUIDER Intelligenz). Die erworbene Struktur ist jener WISSEN, jene ERFAHRUNG, die sich durch die Anwendung der Maschinerie ERGIBT, so zu sagen das ERGENIS VON VERARBEITUNG (man spricht hier oft von KRISTALLINER Intelligenz). Während die kristalline Intelligenz stark verhaltens- und umweltabhängig ist ist die fluide Intelligenz weitgehend genetisch determiniert.

(12) Ob und wieweit die theoretisch bedingten Spekulationen der Psychologen über die fluide und kristalline Intelligenz zutreffen muss letztlich die Neurowissenschaft, und hier insbesondere die Neuropsychologie, entscheiden. Diese untersuchen die ‚biologische Maschinerie‘ des Gehirns und die Wechselwirkung mit dem Beobachtbaren Verhalten. Allerdings sind die Neurowissenschaften auf die Verhaltenstheorien der Psychologen angewiesen. Ohne die fundierten Untersuchungen des Verhaltens hängen die neurologischen Befunde buchstäblich ‚in der Luft‘: was nützt die Prozessbeschreibung eines Neurons wenn man nicht weiss, auf welches Verhalten dies zu beziehen ist. Und da es beim Menschen auf komplexe Verhaltensweisen ankommt die das gesamte komplexe Gehirn voraussetzen, ist diese Aufgabe nicht ganz einfach zu lösen (aus theoretischen Überlegungen muss man davon ausgehen, dass wir diese Aufgabe mit den heute verfügbaren Gehirnen nicht vollständig werden lösen können).

(13) Intelligenz messen: der Beginn der empirischen Wissenschaften ging einher mit der Einsicht, dass man auf Dauer nur dann zu ‚objektiven‘ Daten kommen kann, wenn man die Messprozeduren auf REFERENZOBJEKTE beziehen kann, die von den subjektiven Zuständen des einzelnen Beobachters UNABHÄNGIG sind. So kam es zur Einführung von Referenzobjekten für die Länge (m), das Gewicht (kg), die Zeit (s) usw. (die im Laufe der Zeit immer wieder durch neue ‚Versionen‘ ersetzt wurden; z.B. die Definition der ‚Sekunde‘ (s) oder der Länge (m)).

(13.1) Die Psychologen hatten im Fall der ‚Intelligenz‘  ‚Referenztestverfahren‘ eingeführt, die zwar unabhängig von den Gefühlen der Beteiligten waren, aber  es gab  kein unabhängiges Referenzobjekt INTELLIGENZ. Man erklärte einfach die MEHRHEIT der gerade lebenden Menschen zum STANDARD und verglich die zu ‚messenden Menschen‘ so gesehen mit ’sich selbst‘. Es war dann nicht wirklich überraschend, dass man im Laufe der Jahrzehnte feststellen musste, dass sich das REFERENZOBJEKT (nämlich die Leistung der ‚Mehrheit‘) nachweisbar ‚verschob‘. Ein IQ=100 war vor 50 –oder noch mehr– Jahren etwas anderes als heute!
(13.2) Das, was das Referenzobjekt INTELLIGENZ ’stabil‘ macht, das ist seine genetische Determiniertheit. Das, was es flexibel/veränderlich macht, das ist die Modifizierbarkeit durch genetische Variabilität und individuelle Lernfähigkeit bzw. die kontinuierliche Veränderung der Umwelt durch den Menschen selbst, die als veränderte sekundäre Welt auf den Menschen zurückwirkt.
(13.3) Bei aller Kritik an den Unzulänglichkeiten der aktuellen Messmethoden sollte man aber festhalten, dass das bisherige Verfahren trotz allem ein Geniestreich war und die Psychologie geradezu revolutioniert hatte.
(13.4) Trotzdem stellt sich die Frage, ob man heute mit neueren Mitteln das Projekt der Erforschung der Intelligenz noch weiterführen könnte?

(14) Für die Psychologen ist es unmöglich, die dem beobachtbaren Verhalten zugrunde liegenden Strukturen ‚als solche‘ direkt zu erforschen. Die Neurowissenschaftler können dies ansatzweise, indem sie reale Gehirne untersuchen, aber nur sehr limitiert; sie können nicht mit einem lebenden Gehirn wirklich Experimente machen (nur mit den Gehirnen von Tieren, und dies ist mehr und mehr ethisch äußerst fragwürdig!)

(15) Mit dem Aufkommen der Informatik entwickelten sich nicht nur theoretische Konzepte der BERECHENBARKEIT, sondern mehr und mehr auch eine TECHNOLOGIE, die es erlaubt, Berechnungsprozesse technisch zu realisieren. Dies wiederum ermöglicht die MODELLIERUNG und SIMULATION von nahezu beliebigen Strukturen und Prozessen, auch solchen, die BIOLOGISCHE Systeme modellieren und simulieren, einschließlich des GEHIRNS. Damit ist es prinzipiell möglich, zu jeder VERHALTENSWEISE, die in sogenannten Intelligenztests im Rahmen von TESTAUFGABEN gemessen werden, KÜNSTLICHE INTELLIGENZ (-STRUKTUREN) (KI := Künstliche Intelligenz, AI := Artificial Intelligence, CI := Computational Intelligence)  zu entwickeln, die in der Lage sind, genau diese Testaufgaben mit einem gewünschten IQ zu lösen. Auf diese Weise würde man eine ganze Kollektion von unterschiedlichen IQ-REFERENZOBJEKTEN erstellen können, die sich nicht mehr verändern und die –so wie das Kilogramm (kg), das Meter (m) oder die Sekunde (s)– dann als WIRKLICHE REFERENZOBJEKTE FÜR INTELLIGENZ dienen könnten. Es wäre dann  möglich, FORMEN VON INTELLIGENZ OBJEKTIV definieren zu können, die VERSCHIEDEN sind von der AKTUELLEN MENSCHLICHEN INTELLIGENZ. Auch könnte man damit den verschiedenen Formen TIERISCHER INTELLIGENZ mehr Rechnung tragen.

Wissenschaftliches Denken (2)

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 13.März 2010
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Folgender früherer Beitrag könnte als Vorbereitung dienen: HIER.

(1) Es gibt unterschiedliche Perspektiven, wie man das, was wir als ‚Denken‘ bezeichnen, betrachten kann. Je nachdem, welche dieser Perspektiven wir wählen, ergibt sich ein ganz unterschiedliches Bild von diesem ‚Denken‘.

(2) Neben dem ALLTAGSDENKEN gibt es seit ein paar hundert Jahren auch das sogenannten WISSENSCHAFTLICHE DENKEN. Das wissenschaftliche Denken setzt das alltägliche Denken gewissermassen als primären Bezugspunkt voraus, hebt sich aber dennoch von ihm ab und widerspricht ihm letztlich in vielen Punkten. Dies liegt daran, dass das ALLTAGSDENKEN eine Reihe von ANNAHMEN macht, die FALSCH sind, aber im Alltag meistens sehr NÜTZLICH.

(3) Wie das Alltagsdenken nimmt auch das wissenschaftliche Denken an, dass es eine gemeinsam geteilte EXTERNE WELT gibt, in der vielfältigste EREIGNISSE VORKOMMEN. Im Unterschied zum ALLTAGSDENKEN akzeptiert das WISSENCHAFTLICHE DENKEN aber nur jene DATEN von der externen Welt, die nach klar vereinbarten MESSMETHODEN REPRODUZIERBAR von JEDEM MENSCHEN GEMESSEN werden  können.

 

(4) Zum MESSEN gehört die Einführung einer geeigneten NORM (STANDARD), die für alle, die Messen wollen, an allen Orten und zu jedem Zeitpunkt innerhalb einer bestimmten GENAUIGKEIT GLEICH sein muss (z.B. ‚kg‘, ‚m‘, ’s’…). Diese Stanbdards werden von einer internationalen Behörde verwaltet.

(5) MESSUNGEN sind immer PUNKTUELL an einem BESTIMMTEN ORT zu einer BESTIMMTEN ZEIT, durchgeführt mit einem BESTIMMTEN MESSGERÄT von bestimmten Personen nach einem BESTIMMTEN VERFAHREN unter BESTIMMTEN BEDINGUNGEN. Das ERGEBNIS von MESSUNGEN sind MESSWERTE, nämlich die Angabe der gemessenen NORM (EINHEIT) sowie eine Zahl bezogen auf die Norm (z.B. (3.5, m) oder (4.333, s) usw.).

(6) Messwerte werden in einer geeigneten DATENSPRACHE L_data aufgeschrieben in Form von MESSPROTOKOLLEN. Ein Messwert wird hier auch DATUM genannt und eine Menge von Messerten DATEN.

(7) Nur das, was als reproduzierbarer  Messwert vorliegt gilt als eine Eigenschaft der EXTERNEN (=EMPIRISCHEN) WELT. Alles andere existiert für die Wissenschaft NICHT.

(8) Bevor FORSCHER Messen können müssen Sie natürlich ein VORVERSTÄNDNIS darüber besitzen, was sie überhaupt messen wollen. Sofern es ihnen gelingt, sich solch ein Vorverständnis zu erarbeiten verfügen sie über einen MÖGLICHEN BLICK (VIEW) auf die externe Welt. Unter Voraussetzung eines solchen VORVERSTÄNDNISSES können sie dann überlegen und planen, was sie wie MESSEN wollen. Unter Umständen müssen sie auch erst neue Messverfahren ERFINDEN, um das messen zu können, was sie als WICHTIG VERMUTEN.

(9) Das, WAS MAN MESSEN KANN und das, WAS MAN AUFGRUND EINES VORVERSTÄNDNISSES INS AUGE FASSEN KANN muss NICHT DECKUNGSGLEICH sein. In der Regel kann man immer nur einen Teil von dem messen, was man im Vorverständnis ‚vor Augen hat‘.

(10) DATEN als solche sagen nahezu nichts aus über die externe Welt. Interessant werden Daten erst dann, wenn man sie in ZUSAMMENHÄNGE einordnen kann. Beispiele für solche Zusammenhänge sind ZEITLICHE (TEMPORAL) oder RÄUMLICHE (SPATIAL) MUSTER (PATTERN). Wenn also z.B. bestimmte  Farben immer nur in bestimmten gleichen räumlichen Anordnungen auftreten, dann spricht dies für einen OBJEKTZUSAMMENHANG; gehen andererseits bestimmte Ereignisse zeitlich immer bestimmten anderen Ereignissen voraus, spricht dies für einen KAUSALZUSAMMENHANG. Usw.

(11) Solche ZUSAMMENHÄNGE kann man NICHT DIREKT WAHRNEHMEN, sondern diese müssen SEKUNDÄR KONSTRUIERT werden, um dann AKTIV ZU SCHAUEN, WELCHE DATEN sich in welche ZUSAMMENHÄNGE EINORDNEN lassen. Dies ist eine EXPLORATIVE Tätigkeit.

(12) Um über diese explorative Tätigkeit des Konstruierens von Zusamenhängen und über das tentative Einordnen der Daten in Zusammenhänge SPRECHEN zu können, benötigt man eine geeignete THEORIESPRACHE L_theory. In der Regel benutzt man dafür heute FORMALE SPRACHEN (MATHEMATIK, LOGIK, MENGENLEHRE). Mit solch einer THEORIESPRACHE kann man dann beliebige KÜNSTLICHE MENGEN, BEZIEHUNGEN ZWISCHEN MENGEN sowie PROZESSE mit OBJEKTEN dieser Mengen definieren und mit Hilfe von geeigneten LOGISCHEN FOLGERUNGSBEGRIFFEN BEWEISE (ABLEITUNGEN, PROOFs) konstruieren, die dann zeigen, ob aus einer GEGEBENEN KONSTELLATION sich eine bestimmte FOLGEKONSTELLATION ABLEITEN (BEWEISEN) lässt oder nicht. Im Zeitalter des Computers kann vieles davon auch COMPUTERGESTÜTZT (COMPUTERAIDED) getan werden, z.B. das MODELLIEREN bzw. THORIE FROMULIEREN wie auch das SIMULIEREN (automatisierte Beweise) wie auch das automatische VERIFIZIEREN (Überprüfen bestimmter Eigenschaften im Raum ALLER theoretischen Möglichkeiten mittels z.B. MODEL-CHECKING).

(13) Sofern Messverfahren verfügbar sind und erste theoretische Modelle samt all den formalen Hilfswerkzeugen (Beweisbegriff usw.) kann man mögliche ABLEITUNGEN von möglichen ZUKÜNFTIGEN ZUSTÄNDEN auch dazu benutzen, um gezielt EXPERIMENTE zu machen. Wenn ein theoretisches Modell die PROGNOSE erlaubt, dass bei Vorliegen einer bestimmten KONSTELLATION K ein ganz bestimmter FOLGEZUSTAND F mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit P eintritt, dann kann man versuchen, in der realen Welt eine VERSUCHSANORDNUNG aufzubauen, in der man die Konstellation K bewusst HERSTELLT und man dann BEOBACHTET (MISST), welche Daten auftreten. Liegen Daten vor, kann gefragt werden, ob diese im Sinne des theoretisch prognostizierten FOLGEZUSTANDES F interpretiert werden können. Ist dies der Fall, wird dies als BESTÄTIGUNG der Theorie gewertet. Im anderen Fall ist unklar, wie dies zu interpretieren ist: War der Versuchsaufbau falsch? Gelingt es wiederholt nicht, die Prognose zu bestätigen wird das theoretische Modell auf jeden Fall an GLAUBWÜRDIGKEIT verlieren.

(14) Das KONSTRUIEREN VON MODELLEN mittels formaler THEORIESPRACHERN sowie die UNTERSUCHUNG DER EIGENSCHAFTEN dieser formalen Strukturen findet sich so im alltäglichen Denken NICHT; es wäre auch garnicht möglich, da im Alltagsdenken normalerweise nicht immer ganz klar ist, was denn genau die Daten sind. Ferner ist die Alltagssprache in ihrer GRAMMATIK und BEDEUTUNGSSTRUKTUR so unscharf, dass FORMALE LOGISCHE BEWEISE damit nicht geführt werden können. Während der unscharfe Charakter der Alltagssprache und das alltägliche –grundlegend intuitive– Denken für die Zwecke des Alltags sehr gut geeignet ist, ist sie für die Konstruktion wissenschaftlicher Theorien vollständig unzulänglich. Nichtsdestotrotz bildet das alltägliche Denken mit der Alltagssprache die unumgängliche Basis für jedes wissenschaftliches Denken.

(15) WISSENSCHAFTLICHE THEORIEN stellen von daher einerseits einen grossen FORTSCHRITT im Denken dar, zugleich sind sie aber bislang reduziert auf geringe Ausschnitte der insgesamt zur Erklärung anstehenden erfahrbaren Welt. Der menschliche Körper kann in manchen Bereichen partiell sicher mehr von der Welt erfahren als es das wissenschaftliche Messen bislang gestattet (umgekehrt aber auch: in der Wissenschaft kann man sehr viele Eigenschaften messen, die der menschlichen Wahrnehmung völlig unzugänglich sind), aber die Unschärfe der körpereigenen Wahrnehmung sowie die Unschärfe des intuitiven Alltagsdenkens laufen beständig Gefahr, Strukturen zu sehen, die es so garnicht gibt (das subjektive ‚Wohlfühlen‘ im Rahmen bestimmter Denkvorstellungen ist kein Garant dafür, dass diese Vorstellungen ‚wahr‘ sind).

(16) Es sollte auch darauf hingewiesen werden dass es nunmehr zwar schon seit einigen hundert Jahren eine EXPERIMENTELLE (EMPIRISCHE) WISSENSCHAFT gibt, dass es aber bis heute nicht gelungen ist, einen einheitlichen THEORIEBEGRIFF in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu verankern. Während es bzgl. des MESSENS eine einigermassen Übereinstimmung zu geben scheint findet sich dies im Bereich Modell- bzw. THEORIEBILDUNG eher nicht. Zwar gab es im 20.Jh. interessante Ansätze zu einer einheitlichen WISSENSCHAFTSTHEORIE, doch nach Aufdeckung grundlegender Probleme im Aufbau von Theorien sind diese Ansätze wieder zerfallen. Man begnügt sich jetzt mit vielen HISTORISCHEN Untersuchungen zur Wissenschaftsgeschichte oder mit der Untersuchung SPEZIELLEER FORMALISMEN, aber ein einheitliches THEORIEKONZEPT kann man in den Disziplinen nicht finden. Vielmals  kann man sogar den Eindruck haben, dass ausser einer  Unmenge von Messwerten keinerlei ernsthafte theoretische Ansätze vorliegen (statistische Modelle sind keine vollen Theorien).

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

 

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Vereinfachtes Schaubild Welt - Forscher - Messen - Theorie - Experiment
Vereinfachtes Schaubild Welt – Forscher – Messen – Theorie – Experiment

DER SUBJEKTIVE RAHMEN DER OBJEKTIVEN WELT

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062,

17.Januar 2010
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

(1) Empirische Wissenschaft definiert sich normalerweise über Messoperationen. Alles, was sich mittels eines bestimmten Messverfahrens messen läßt, gilt als gemessener = objektiver Wert (z.B. ‚5 m‘, ‚3.5 s‘, ‚2.33 kg‘, …).

(2) Die Ergenisse von empirischen Messungen M_Emp müssen unabhänig von der Person sein, die die Messung vornimmt, der Vorgang M als solcher muss wiederholbar sein und ‚unter gleichen Umständen‘ sollte das Ergebnis reproduzierbar sein. Im übrigen sollte der Messvorgang auch ’standardisiert‘ und die Messaparatur ‚zertifiziert‘ sein.

(3) Messungen beziehen sich immer auf einen bestimmten ‚Zeitpunkt‘ t (oder ein geeignetes Zeitintervall), auf ein bestimmtes ‚Raumgebiet‘ R, geschehen unter bestimmten ‚Umgebungsbedingungen‘ E und können in einer Sprache L_Measure protokolliert werden. (‚Zeitpunkt‘ setzt eine geeignete ‚Uhr‘ voraus, die in ein international synchronisiertes Zeitsystem (UTC) eingebunden ist und ‚Raumgebiet‘ setzt entsprechend eine international gültige ‚Ortung‘ voraus; ‚Umgebungsbedingungen‘ beruhen ebenfalls auf Messwerten  oder ‚Beobachtungen‘. ).

(4) Messwerte als solche M_Emp_t_R_E sind isolierte Fakten ohne jeden Zusammenhang; sie liegen vor als Ereignisse im ‚intersubjektiven‘ Raum, der allen Menschen mit einem ’normalen‘ Wahrnehmungsapparat zugänglich ist.

(5) Für einen einzelnen Menschen gibt es objektive Messwerte nur in der Form subjektiver Wahrnehmung! Nur als ‚Ereignis im Bewusstsein‘ (:= Phänomen, Ph) hat ein Mensch Kenntnis von Messwerten. Entsprechendes gilt auch von dem objektiven Messvorgang M als solchem: was immer objektiv geschieht, der einzelne Mensch ‚weiss‘ davon nur insoweit diese objektiven Ereignisse als subjektive Ereignisse Ph_M im Bewusstsein ‚irgendwie repräsentiert‘ sind. Die subjektive Repräsentation von objektiven Messwerten kann bekanntlich ‚verzerrt‘ oder ‚grob falsch‘ sein.

(6) Empirische Messwerte M_Emp sind also –sofern Sie Teil eines subjektiven Wissens sind– immer zugleich auch Phänomene Ph_Memp.

(7) Generell gilt, dass alle Arten von Messwerten (zum Gehirn M_Emp_Brain, zum Körper M_Emp_Body, zu kulturellen Artefakten M_Emp_Culture, zur Erde M_EMP_Earth, usw.) für den einzelnen nur existieren, wenn sie Eingang in das Bewusstsein (Consciousness, Consc) der betreffenden Person gefunden haben, d.h. wenn die objektiven Messwerte als subjektive Phänomene vorliegen, also MEmp_Brain als Ph_MEmp_Brain, M_Emp_Body als Ph_M_Emp_Body, usw.

(8) Im Bewusstsein gibt es solche Phänomene, die aus Wahrnehmungen intersubjektiver Zusammenhänge stammen Ph_Emp und solche, die nicht aus intersubjektiven Zusammenhängen stammen –Ph_Emp. Ferner kann man grob unterscheiden zwischen jenen Phänomenen Ph_Concr, die ‚einzelne‘ Fakten (wie z.B. Messwerte) repräsentieren, als auch solche Ph_Abstr, die ‚Abstraktionen‘ von vielen möglichen einzelnen Fakten darstellen bzw. solche Ph_Rel, die ‚Beziehungen‘ repräsentieren. Die abstrahierenden und beziehungsrepräsenterenden Phänomene sind –aus Sicht der subjektiven Wahrnehmung– quasi ‚Eigenleistungen‘ des Bewusstseins. Vereinfachend kann man sagen, dass ‚abstrakte Modelle‘ Ph_Mod  bzw. ‚abstrakte Theorien‘ Ph_Th ‚Kompositionen‘ von abstrakten Konzepten und Relationen darstellen.

(9) Eine über den isolierten Zeitpunkt und über das isolierte Raumgebiet hinausgehende ‚Bedeutung‘ können Messwerte nur gewinnen, wenn man sie in abstrakte Konzepte und abstrakte Beziehungen ‚einbetten‘ kann, wie sie ausschliesslich als subjektive abstrahierende und beziehende Phänomene vorkommen. Diese ‚allgemeineren‘ Strukturen sind ‚rein subjektive‘ Leistungen, die mit den Phänomenen aus dem intersubjektiven Raum (z.B. Messwerten) innerhalb des Bewusstseins eine ‚Symbiose‘ eingehen. Hier stellen sich interessante Fragen nach einer möglichen ‚Konformität‘ der subjektiven interpretierenden Strukturen (Modelle, Theorien) mit den isolierten empirischen Phänomenen (diese Problematik war/ist Thema verschiedener philosophischer ‚Wahrheitstheorien‘ bzw. auch wissenschaftstheoretischer Diskussionen über die ‚Falsifizierbarkeit‘ bzw.  der ‚Verifizierbarkeit‘ von Theorien).

(10) Was man hier erkennen kann, ist die Tatsache, dass Begriffe wie ‚aussen‘, ‚empirisch‘, ‚objektiv‘, ‚intersubjektiv‘ usw. angeleitete Begriffe sind, sozusagen Hypothesen auf der Basis der subjektiven Wahrnehmung.

(11) Das Bewusstsein erscheint mit ‚fliessenden Grenzen‘, ‚variierenden Inhalten‘, ’schwankenden Strukturen‘.

(12) Anhand von empirischen Daten zum Gehirn (die selbst als subjektive Erlebnisse vorliegen müssen, um gedanklich verarbeitet werden zu können), die mit Bewusstseinszuständen zeitlich korreliert werden, kann man Hypothesen über einen möglichen funktionellen Zusammenhang zwischen messbaren Gehirnprozessen und phänomenalen Gegebenheiten herstellen. Solche Daten deuten darauf hin (klare Erkenntnisse gibt es noch nicht), dass die bewussten Inhalte nur einen kleinen Teil der Ereignisse im Gehirn (und Körper) widerspiegeln. Ferner ist das, was repräsentiert wird, variable, dynamisch: im ‚Wachzustand‘ sind es z.T.  andere Ereignisse, die ‚zugänglich‘ sind als im ‚Schlafzustand‘ oder in anderen ‚Bewusstseinsmodi‘. Prinzipiell ist heutzutage nicht auszuschliessen, dass über Bewusstseinszustände auch solche Ereignisse partiell zugänglich sind, die klassischerweise als ‚vor-‚ oder ‚unterbewusst‘ bezeichnet werden.

(13) Bei der ‚Interpretation‘ der Bewusstseinsinhalte ist es allerdings schwierig, diese ‚einzuordnen‘ sofern sich die auslösenden Prozesse von einer klaren Zuordnung zu kontrollierbaren körperlichen oder interpersonalen Prozessen entfernen. Letztlich ist dann eine ‚Semantik‘ nicht mehr rational herstellbar und damit jegliche Deutung ‚willkürlich‘. Im Bereich der ‚Mystik‘ gibt es in allen Religionen quer zu allen Kulturen Berichte von ‚Erlebnissen besonderer Art‘ die, sofern sie sich nicht unterangebbaren Bedingungen reproduzieren lassen, subjektiv sehr ‚farbig‘ sein können, die aber einer Deutung im Kontext einer ‚Welterklärung‘ unzugänglich sind.

(14) Audio-Datei: Hier

Epistemology of the Consciousness

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