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AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 9

(Mit Nachtrag vom 1.Sept.2014)

VORGESCHICHTE

Für einen Überblick zu allen vorausgehenden Beiträgen dieser rekonstruierenden Lektüre von Avicennas Beitrag zur Logik siehe AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – BLITZÜBERSICHT.

Nach der üblichen Darstellung der Position von Avicenna folgt dann der Teil ‚DISKUSSION‘, in der seine Position kritisch hinterfragt und die Rekonstruktion einer möglichen Theorie der Alltagslogik fortgesetzt wird.

KATEGORISCH – AFFIRMATIV/ NEGATION – UNIVERSAL/ PARTIKULÄR

1. Im folgenden Abschnitt treten Begriffe auf, die z.T. schon zuvor auftraten (‚Kategorisch‘, ‚Negation‘, ‚Universal‘, ‚Partikulär‘), die aber jetzt mit neuen Randbedingungen nochmals diskutiert werden.

KATEGORISCH ALS AFFIRMATIV/ NEGATIV

2. Der Abschnitt beginnt mit einer Diskussion von ‚kategorischen‘ (‚kategorisierenden‘) Aussagen und der Frage, wann sie ‚affirmativ‘ und wann sie ’negativ‘ sind.

SUBJEKT – PRÄDIKAT, EINFACH – ZUSAMMENGESETZT

3. Zusätzlich zu den Unterscheidungen ‚affirmativ‘ – ’negativ‘ im Kontext einer ‚kategorisierenden‘ Aussage berücksichtigt Avicenna auch hier wieder Teilausdrücke. Während er zuvor die semantisch motivierten Begriffe ‚Name‘, ‚Verb‘ (auch ‚Term‘ genannt), sowie ‚Präposition‘ erwähnt hatte, benutzt er nun auch das Begriffspaar ‚Subjekt‘ und ‚Prädikat‘. Beide sind – wie sich aus dem Verwendungskontext nahelegt – ’semantisch‘ motiviert, d.h. nur durch Rückgriff auf die Bedeutung kann man zur Klassifikation ‚Subjekt‘ bzw. ‚Prädikat‘ kommen.
4. Versucht man die Begriffe ‚Name‘, ‚Verb‘ (‚Term‘), sowie ‚Präposition‘ mit den neuen Begriffen ‚Subjekt‘ und ‚Prädikat‘ in Beziehung zu setzen, dann gibt es eine gewisse Korrelation zwischen ‚Name‘ und ‚Subjekt‘ einerseits sowie ‚Verb‘ und ‚Prädikat‘ andererseits. Da Avicenna selbst keinerlei weitere Hinweise auf eine mögliche Beziehung liefert, bleibt an dieser Stelle einiges unklar.
5. Deutlich ist nur, dass Avicenna die Ausdrucksseite eines Ausdrucks e = <e1, e2, …> durch Rückgriff auf eine – nicht explizit beschriebene – Bedeutungsstruktur so analysiert, dass er sagen kann, welche ‚Teile‘ des Ausdrucks e als ‚Subjekt‘ zu nehmen sind, und welche Teile als ‚Prädikat‘.
6. So unterscheidet er im Bedeutungsraum zwischen ‚dem, über das‘ eine Feststellung getroffen wird, und ‚dem, was‘ in dieser Feststellung gesagt wird.
7. Im Beispielsatz N:(der Mensch)V:(ist)N:(ein Lebewesen) analysiert er den Teil [N:(der Mensch)] als ‚Subjekt‘ und den Teil [V:(ist)N:(ein Lebewesen)] als ‚Prädikat‘.
8. Ein anderer Beispielsatz (Wer immer)(sein)N:(Essen)OP:(nicht)V:(kaut)(der)V:(schädigt)(seinen)N:(Darm) enthält Aussageteile, für die Avicenna bislang keine semantisch motivierte grammatische Beschreibungskategorien eingeführt hat. Avicenna analysiert den Ausdruck wie folgt: Subjekt = [(Wer immer)(sein)N:(Essen)OP:(nicht)V:(kaut)] und Prädikat = [(der)V:(schädigt)(seinen)N:(Darm)].
9. Den Unterschied zwischen Subjekt = [N:(der Mensch)] und Subjekt = [(Wer immer)(sein)N:(Essen)OP:(nicht)V:(kaut)] charakterisiert Avicenna als Unterschied zwischen einem ‚einfachen‘ und einem ‚zusammengesetzten‘ Subjekt. Entsprechend auch für das Prädikat: Prädikat = [V:(ist)N:(ein Lebewesen)] und Prädikat = [(der)V:(schädigt)(seinen)N:(Darm)].
10. Sowohl für die Verwendung der Begriffe ‚Subjekt/ Prädikat‘ wie auch ‚einfach/ zusammengesetzt‘ liefert Avicenna keine explizite Kriterien. Er zitiert nur einige Ausdrücke als Beispiele und appelliert an die sprachliche Intuition des Lesers, die implizit verwendeten Analysekriterien zu verstehen.

AFFIRMATIV – NEGATIV

11. In den soeben erwähnten Kontexten wie auch in nachfolgenden Beispielen diskutiert er auch die Begriffe ‚affirmativ‘ und ’negativ‘.
12. Sein Hauptkriterium zur Verwendung der Begriffe ‚affirmativ‘ und ’negativ‘ ist der (semantische, bedeutungsgeleitete!) Aspekt, ob das, was in einer Aussage in einem Prädikat von einem Subjekt behauptet wird, ‚zutrifft’/ ‚der Fall ist‘ oder ’nicht zutrifft’/ ’nicht der Fall ist‘. Trifft das im Prädikat behauptete zu, dann will er es ‚affirmativ‘ nennen, ansonsten ’negativ‘.
13. Im vorausgehenden Abschnitt waren diese Verwendungskriterien auch benutzt worden, um zu sagen, wann eine Aussage ‚wahr‘ bzw. ‚falsch‘ ist. Nach den bisherigen Kriterien müsste man dann sagen, dass ‚wahr‘ und ‚affirmativ‘ einerseits und ‚falsch‘ und ’negativ‘ dann bedeutungsgleich wären.
14. In einem weiteren Beispiel benutzt Avicenna die Aussage SUBJ[N:(Zid)] PRÄD[V:(ist)(ohne)N:(Sicht)] – engl.: ‚Zid is without sight‘ – als ein Beispiel für eine ‚affirmative‘ Aussage, da das Prädikat PRÄD[V:(ist)(ohne)N:(Sicht)] eine Eigenschaft beschreibt, die auf das Subjekt (Zid) zutrifft.
15. Andererseits wird der Teilausdruck ‚ist ohne Sicht‘ bedeutungsmäßig als eine ‚Negation‘ verstanden im Sinne von ‚hat keine Sicht‘ im Gegensatz zu ‚hat Sicht‘. D.h. eine bedeutungsmäßige ‚Verneinung‘ kann durch verschiedene Ausdruckselemente realisiert werden, auch ohne den Ausdruck ’nicht‘. Dies würde bedeuten, dass eine ‚ausdrucksmäßig realisierte Verneinung‘ das Fehlen einer bestimmten Eigenschaft aussagen kann. Nach den Worten Avicennas kann aber genau solche eine Feststellung, dass eine bestimmte Eigenschaft fehlt, eine ‚Affirmation‘ sein, eben das Festellen, dass es der Fall ist, dass eine bestimmte Eigenschaft fehlt.
16. Wenn also eine Affirmation das Absprechen einer Eigenschaft beinhalten kann, wie sieht dann eine Verneinung einer solchen Affirmation aus?
17. Avicenna bringt folgendes Beispiel: SUBJ[N:(Zid)] PRÄD[V:(ist)(nicht)(ohne)N:(Sicht)]. Für ihn ist dieses eine ‚Negation‘, da die Affirmation, eine bestimmte Eigenschaft sei nicht da, verneint wird.
18. Mann könnte das Beispiel auch umschreiben zu: (Es ist nicht der Fall, dass) SUBJ[N:(Zid)] PRÄD[V:(ist)(ohne)N:(Sicht)].
19. Ersetzt man die Teilausdrücke durch Buchstaben – was Avicenna im Text auch einmal demonstriert –, dann könnte man auch schreiben (Es ist nicht der Fall, dass) (A)(B), bzw. dann $latex (A)\neg(B)$.

EXISTENZ

20. Zwischendrin bemerkt Avicenna auch mal, dass das Treffen einer Feststellung, eigentlich nur Sinn mache, wenn dasjenige, von dem etwas ausgesagt wird, auch existiere. Doch wird dieser Punkt nicht weiter diskutiert.

UNIVERSELL – PARTIKULÄR – QUANTITÄT – QUANTOREN

21. Vom Subjekt einer Aussage sagt Avicenna, sie kann ‚partikulär‘ oder ‚universell‘ sein. Falls universell, dann kann man unterscheiden, ob sie ‚unbestimmt‘ (engl.: ‚indeterminate‘) ist – wie viele genau involviert sind — oder eben ‚bestimmt‘ (engl.: ‚determinate‘).
22. Im Beispielausdruck (Zid)(ist)(ein)(Lebewesen) ist (Zid) ‚partikulär‘.
23. Im Beispielausdruck (Menschen)(bewegen)(sich) ist nach Avicenna unklar, ob ‚alle‘ Menschen gemeint sind oder nur ‚einige‘.
24. Die ‚bestimmten universellen Aussagen‘ teilt Avicenna in vier Klassen ein:
25. Typ 1: Subjekt = Alle, Affirmativ (Bsp.: Q=[(Jeder)]S=[(Mensch)]P=[(ist)(ein)(Lebewesen)]
26. Typ 2: Subjekt = Alle, Negativ (Bsp.: Q=[(Kein)]S=[(Mensch)]P=[(ist)(sterblich)](?)
27. Typ 3: Subjekt = Einige, Affirmativ Q=[(Einige)]S=[(Mensch)]P=[(sind)(Schriftsteller)]
28. Typ 4: Subjekt = Einige, Negativ Q=[(Nicht alle)]S=[(Mensch)]P=[(sind)(Schriftsteller)] (?)
29. Hier sind nur einige von Avicennas Beispielsätzen angeführt. Einige Beispiele werfen Fragen auf (?).
30. Mehrfach formuliert Avicenna auch folgendes ‚Metaprinzip‘: Wenn eine Aussage über ‚Alle‘ spricht, dann sei es unsicher, ob wirklich alle gemeint sind; sicher sei es aber, dass wenigstens ‚einige‘ gemeint sind.
31. Aus all diesen Überlegungen leitet er dann folgende Fallunterscheidungen her (von mir abgekürzt ‚+‘ für ‚affirmativ‘, ‚-‚ für negativ‘, ‚1‘ für ‚partikulär‘, ‚0‘ für ‚unbestimmt‘ und ‚a‘ für universell‘:
32. (+,1)
33. (-,1)
34. (0,+)
35. (0,-)
36. (a,+)
37. (a,-)
38. (1,+)
39. (1,-)
40. Die Fälle (+,1) und (-,1) bezeichnet Avicenna als ’nutzlos für die Wissenschaft‘ und die Fälle (0,+) und (0,-) sollten vermieden werden, da sie ‚verwirrend‘ sind.

NOTWENDIG – KONTINGENT

41. Am Beispiel der kategorisierenden Aussagen illustriert Avicenna auch die Begriffe ’notwendig‘ und ‚kontingent‘. Die Verwendung dieser Begriffe stimmt überein mit den zuvor eingeführten Begriffe ‚wesentlich‘ und ‚akzidentell‘.

MÖGLICH

42. Auch erwähnt Avicenna hier den Begriff ‚möglich‘. Er sieht mindestens zwei Verwendungsweisen von ‚möglich‘: einmal als (i) ’nicht unmöglich‘ und (ii) im Sinne von ‚kann existieren‘ und ‚kann nicht existieren‘. Fall (ii) ist für ihn das ‚real mögliche‘ und stimmt nach Ihm mit dem normalsprachlichen Gebrauch überein.
43. Die Verwendungsweise in Fall (i) von ‚möglich := nicht unmöglich‘ widerspricht eigentlich den Regel einer expliziten Definition, wie er sie an früherer Stelle aufgestellt hatte. Dort hatte er verlangt, dass der neu zu definierende Ausdruck e_new nicht auf der rechten Seite bei den definierenden – als bekannt vorausgesetzten – Ausdrücken vorkommen darf, also e_neu := <e_alt1, …, e_altn>.
44. Der Ausdruck ‚möglich := nicht unmöglich‘ entspricht dem Ausdruck ‚möglich := nicht nicht möglich‘. Darin wird der neue Ausdruck über sich selbst definiert, was ‚zirkulär‘ ist.

DISKUSSION

45. Dieser neue Text verstärkt den Eindruck der vorausgehenden Seiten, dass Avicenna keine wirklich systematische Theorie hat. Er folgt den in der Literatur vorkommenden Begriffen nach keiner erkennbaren Regel, und seine Analyse benutzt Kriterien, die höchst selten explizit benannt werden. Vorzugsweise stellt er Beispielsätze vor, die er nach impliziten Kriterien diskutiert. Auch wiederholt er scheinbar ähnliche Bedeutungszusammenhänge mit jeweils neuen Begriffen. Dennoch besteht noch immer der Eindruck, dass sich der bislang gewählte Interpretationszusammenhang durchhalten lässt.

REKONSTRUIERENDE ECKWERTE BISHER

46. Als Eckwerte der rekonstruierenden Interpretation gilt bislang die Unterscheidung vom (i) ‚wissenden System‘ S in einer (ii) umgebenden realen Welt W und der Fähigkeit des wissenden Systems, (iii) bestimmte Ereignisse X der realen Welt W über einen Verarbeitungsprozess $latex \lambda$ in einen (iv) internen Bedeutungsraum M zu übersetzen. Parallel zum Bedeutungsraum M gibt es (v) eine Menge von Ausdrücken E, die (vi) auf unterschiedliche Weise mit dem Bedeutungsraum E innerhalb einer gewussten Beziehung $latex K \subseteq E \times M$ verknüpft werden können. Im Bereich des Bedeutungsraumes M kann (vii) unterschieden werden zwischen ‚aktuellen‘ Bedeutungsrepräsentationen M_now, die von aktuellen Ereignissen X der realen Welt verursacht sind, und ‚zeitlosen‘ Bedeutungsrepräsentationen M_0, mit $latex M_{now} \cap M_{0} = \emptyset, M_{now} \subseteq M, M_{0} \subseteq M$. Der Unterschied zwischen $latex M_{now}, M_{0}$ bezieht sich auf die zeitliche Komponente T in $latex M_{now}, M_{0}$. Würde man die zeitliche Komponente T aus $latex M_{now}$ ‚herausrechnen (also etwa $latex M_{now0} = M_{now} – T$), dann könnten die beiden Mengen $latex M_{now}, M_{0}$ gemeinsame Elemente enthalten ($latex M_{now0} \cap M_{0} \neq \emptyset$ ). Dies bedeutet, dass die charakterisierenden Eigenschaften der Objekte in $latex M_{now*}, M_{0}$ wissensmäßig ‚gleich‘ sein können. Durch (viii) Vergleich von Elementen aus M_now0 und M_0 kann dann entschieden werden, ob es der Fall ist, dass Elemente aus M_0 in M_now vorkommen oder nicht; falls sie vorkommen, dann ist eine feststellende (affirmative oder negative) Aussage ‚wahr‘, ansonsten ‚falsch‘.

REKONSTRUKTION: AFFIRMATIV – NEGATIV

47. Schon bei den von Avicenna angeführten Beispielen und deren Diskussion wird deutlich, dass eine gewisse Unklarheit darüber existiert, wie ’negative Ausdruckselemente‘ (wie z.B. ’nicht‘, ‚ohne‘) innerhalb des Begriffspaares ‚affirmativ/ negativ‘ zu bewerten sind. Zwar macht Avicenna darauf aufmerksam, dass das ‚Fehlen von etwas‘ eine Eigenschaft sein kann, die man ja gerade – affirmativ — aussagen möchte, aber es fehlt letztlich ein hartes Kriterium, wann das ‚Fehlen‘ von etwas nur ein ‚Ausdruckselement‘ ist oder ein ’semantischer Tatbestand‘, der ‚oberhalb‘ der Ausdruckselemente liegt, also wo es gerade das ‚Fehlen von etwas‘ ist, das man aussagen will.
48. In dieser Rekonstruktion wird davon ausgegangen, dass jede Aussage – entsprechend den Aussagen von Avicenna – entweder ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ ist. Dies setzt voraus, dass jede Aussage als solche ‚grundsätzlich affirmativ‘ ist, sie will etwas über ein Subjekt aussagen. Für diese Aussage wird ein Ausdruck e generiert (in der Regel mit mehreren Teilausdrücken, mindestens Subjekt und Prädikat), der einen Sachverhalt m_p mittels des Prädikats über ein Subjekt m_s behauptet. Innerhalb der Aussage e kann der Sachverhalt m_p sowohl ‚zusprechend‘ (affirmativ) im Sinne von ‚ist ein…’/ ‚hat …‘ sein oder absprechend, negierend ‚ist nicht …‘, ‚hat nicht …‘ usw. Unabhängig davon ob die kombinierten Sachverhalte (m_s, m_p) ‚zusprechend‘ oder ‚absprechend‘ sind, können sie ‚wahr‘ (in der realen Welt W zutreffend) oder ‚falsch‘ (in der realen Welt W nicht zutreffend) sein.
49. Während die Frage von ‚wahr’/ ‚falsch‘ eine rein semantische Angelegenheit ist, die durch die simultane wissensmäßige Unterscheidung von ’nur gewusst/ gedacht/ vorgestellt/ erinnert/ im Sinne von $latex M_{0}$ einerseits und ‚als aktuell wahrgenommen gewusst‘ im Sinne von $latex M_{now}$ möglich ist, hängt die Unterscheidung von ‚affirmativ/ negativ‘ davon ab, ob es Ausdruckselemente gibt, die explizit so vereinbart sind, dass sie in einem S-P-Urteilszusammenhang als ‚zusprechend‘ oder ‚absprechend‘ identifiziert werden können. Wenn niemand weiß, dass ’nicht‘ in der Deutschen Sprache eine ‚Verneinung‘ darstellt, kann auch kein ‚Absprechen von etwas‘ erkennen. Wenn jemand aber weiß, dass mit dem Ausdruckselement ’nicht‘ etwas verneint wird, dann weiß er aufgrund der Aussagensemantik, dass der Ausdruck ‚ist nicht sterblich‘ eben die Verneinung von ‚ist sterblich‘ ist (unabhängig von ‚wahr‘ und ‚falsch‘). Und da die Bedeutung der Verneinung an den Ausdruck ’nicht‘ geknüpft ist, wird diese Bedeutung jedes mal aktiviert, wenn das Ausdruckselement ’nicht‘ auftritt: ‚ist nicht sterblich‘, ‚ist nicht nicht sterblich‘, ‚es gilt nicht, dass Zid nicht unsterblich ist‘, usw. Allerdings sind die Konventionen in jeder Sprache unterschiedlich, wie das Auftreten von negierenden Ausdruckselementen vorzunehmen ist (während im Deutschen eine Häufung wie ’nicht nicht‘ in Grenzfällen noch gehen mag, geht ’nicht nicht nicht‘ normalerweise nicht mehr. Darüber hinaus gibt es zahllose andere Ausdruckselemente (wie z.B. ‚kein(e), mit, ohne, haben, …), die auch negierende Funktionen übernehmen können.
50. Ein Ausdruck wie (Zid (ist ohne Sicht)), bedeutungsmäßig äquivalent etwa zu zu (Zid (hat keine Sicht)) oder (Zid (kann nicht sehen)), sagt affirmativ ein Fehlen aus. Ob dies während der Aussage in der realen Welt zutrifft (= wahr) oder nicht (=falsch), folgt aus der Aussage selbst nicht.
51. Eine Verneinung dieser Aussagen geschieht zunächst auf der Ausdrucksebene, und dann kann man den so konstruierten Sachverhalt bzgl. Wahrheit oder Falschheit bewerten.
52. Es hängt von geltenden Konventionen ab, wie man die Verneinung der Aussage (Zid (ist ohne Sicht)) auf der Ausdrucksebene realisiert. Eine Möglichkeit besteht darin, auf einer Metaebene zu sagen, ‚Die Aussage (Zid (ist ohne Sicht)) trifft nicht zu. Dies würde primär aber meinen, dass diese Aussage in der realen Welt W nicht zutrifft. Würde man die interne Struktur der Aussage (Zid (ist ohne Sicht)) ändern, dann würde man eine neue Aussage schaffen, von der man wiederum fragen kann, ob sie in der realen Welt W zutrifft oder nicht. Also man könnte natürlich formulieren (Zid (ist nicht ohne Sicht)); damit würde man verneinen, dass Zid ohne Sicht sei, also eine Verneinung der vorhergehenden Aussage. Aber auch diese neuerliche Verneinung wäre grundsätzlich eine Affirmation, nämlich etwas, was man über Zid Aussagen will.
53. Die rekonstruierende Hypothese lautet also: jeder Ausdruck e vom Typ Aussage PROP impliziert die Affirmation eines Sachverhaltes m_p über ein Subjekt m_s unabhängig davon, wie viele Negationen/ Verneinungen der Ausdruck e enthält. Eine so realisierte affirmative Aussage zu (m_s, m_p) kann wahr oder falsch sein.

EXISTENZ

54. Das von Avicenna nur kursorisch erwähnte Moment der Existenz ist in der aktuell rekonstruierenden Interpretation gegeben durch die Annahme der umgebenden realen Welt W, deren aktuelle induzierten Bedeutungsrepräsentationen M_now als Bezugspunkt für die Charakterisierungen wahr/ falsch genutzt werden kann. In diesem Rahmen können beliebige Aussagen gebildet werden ,unabhängig davon, ob sie aktuell wahr/ falsch sind.

MÖGLICH

55. Die Kategorie ‚möglich‘ ist durch die bloße Angabe ‚kann existieren und kann nicht existieren‘ kaum erklärt. Zu sagen, dass ein B über ein gegebenes/ bekanntes A ‚hinausgeht‘, setzt eigentlich voraus, dass man die Ereignisse X der realen Welt W zunächst mal überhaupt als ‚exstierend‘ erkennen kann $latex \lambda(X)$ , so dass dann relativ zu diesem Wissen $latex \lambda(X)$ ein anderes Element Y als ’neu‘ oder als ‚möglich‘ explizit gedacht werden könnte. Wir wissen vom menschlichen Denken, dass wir uns allerlei Dinge als M_0 ‚vorstellen‘, ‚denken‘, ‚träumen‘ … können, von denen zum Zeitpunkt des Vorstellens nicht bekannt ist, ob sie sich genauso auch ereignen werden. Bei einigen dieser Vorstellungen M_0* haben wir ein zusätzliches Wissen K*, aufgrund dessen wir aus der Vergangenheit wissen, dass sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten können; von daher räumen wir diesen mittels K* als ‚eintretbar‘ klassifizierten Vorstellungen M_0* eine gewisse Möglichkeit ein. Bei anderen Vorstellungen $latex M_{X} = M_{0} – M_{0*}$ ist es uns weniger bis gar nicht klar, ob sie eintreten können, da das zugehörige Wissen K_X zu schwach ist.

QUNATITÄT – QUANTOREN

56. Im Kontext der schon zuvor erwähnten Begriffe ‚universell‘ und ‚partikulär‘ führt Avicenna nun den Gedanken der ‚Bestimmtheit’/ ‚Unbestimmtheit‘ ein und entwickelt daraus die Idee der Quantität in Gestalt von Quantoren.
57. Dies führt zu der grundsätzlichen Erweiterung (Q,S,P), d.h. das Zutreffen eines Sachverhaltes m_p wird nicht mehr nur für ein Subjekt S allgemein behauptet, sondern das Objekt m_s, das bedeutungsmäßig ein Subjekt fundiert, wird bezüglich seiner Quantität Q weiter spezifiziert als ‚Alle/ Jeder‘, ‚Nicht Alle/Einige‘, ‚Alle – nicht/ Keine(r)‘.
58. Bei der konkreten Angabe der sich daraus ergebenden möglichen Klassen kommt es aber dann bei Avicenna zu Unklarheiten, da er bei dieser Einteilung sein Begriffspaar ‚affirmativ/ negativ‘ benutzt, von dem wir zuvor gesehen haben, dass es möglicherweise ‚fehlerhaft‘ ist, da er den Begriff ‚affirmativ‘ und ’negativ‘ auf die gleiche semantische Stufe stellt. Wie zuvor aber schon festgestellt worden ist, muss man diese beiden Begriffe trennen. Wenn Avicenna z.B. die beiden ersten Typen seiner Aussagen klassifiziert als
59. Typ 1: Subjekt = Alle, Affirmativ (Bsp.: Q=[(Jeder)]S=[(Mensch)]P=[(ist)(ein)(Lebewesen)] oder Q=[(Jeder)]S=[(Mensch)]P=[(ist)(sterblich)]
60. Typ 2: Subjekt = Alle, Negativ (Bsp.: Q=[(Kein)]S=[(Mensch)]P=[(ist)(sterblich)](?)
61. dann ist die Charakterisierung von Typ 1 nachvollziehbar, von Typ 2 aber nicht. Von der Idee her soll in Typ 2 gezeigt werden, wie die Negation von Typ 1 beschaffen ist. In Typ 1 wird (affirmativ) behauptet, dass jeder Mensch ein Lebewesen ist bzw. sterblich ist. Im Typ 2 soll auch etwas (affirmativ) behauptet werden, nämlich dass ’nicht alle‘ Menschen Lebewesen sind bzw. sterblich sind. D.h. die Aussagen vom Typ 2 sind grundsätzlich weiterhin ‚affirmativ‘, es wird aber in ihrem Ausdruck ein zusätzliches verneinendes Ausdruckselement – hier ’nicht‘ – eingeführt, so dass der Sachverhalt, der affirmativ behauptet werden soll, ein zusätzliches verneinendes Element enthält. Daraus würde sich ergeben:
62. Typ 2b Q=[(Nicht alle)]S=[(Menschen)]P=[(sind)(sterblich)], was man umformen könnte zu Q=[(Einige)]S=[(Menschen)]P=[(sind)(nicht)(sterblich)].
63. Aus (nicht alle) folgt nicht (keine), wie bei Avicenna, sondern (einige).
64. Auch im Beispiel der Verneinung von ‚einige‘ kommt es bei Avicenna zu Unklarheiten:
65. Typ 3: Subjekt = Einige, Affirmativ Q=[(Einige)]S=[(Mensch)]P=[(sind)(Schriftsteller)]
66. Typ 4: Subjekt = Einige, Negativ Q=[(Nicht alle)]S=[(Mensch)]P=[(sind)(Schriftsteller)] (?)
67. Im Fall von Typ 4 geht es um die (affirmative) Behauptung, dass ’nicht einige‘ gemeint sind. Aus ’nicht einige‘ folgt aber nicht – wie bei Avicenna – ’nicht alle‘, sondern ‚(alle …. nicht…), d.h.
68. Typ 4b: Q=[(Nicht einige)]S=[(Mensch)]P=[(sind)(Schriftsteller)] kann umgeformt werden zu Q=[(Alle)]S=[(Mensch)]P=[(sind)(nicht)(Schriftsteller)]
69. Daraus folgt, dass eine Klassifikation nicht nach dem Muster (Q -affirmativ) und (Q – negativ) vorgenommen werden sollte, sondern nach dem Muster, alle Aussagen sind ‚affirmativ‘; innerhalb dieser Menge kann man verschiedene Quantoren unterscheiden (alle) bzw. (einige), und diese Quantoren sind entweder nicht verneint oder verneint. Das würde folgendes Schema ergeben:
70. Typ 1: Q=’alle‘
71. Typ 2b: Q='(nicht)(alle)‘ bzw. $latex (\neg)(Q)$ ist äquivalent zu Q=(einige),S,($latex \neg$),P).
72. Typ 3: Q=’einige‘
73. Typ 4b: Q='(nicht)(einige)‘ bzw. $latex (\neg)(Q)$ ist äquivalent zu Q=(alle),S,($latex \neg$),P).
74. Das von Avicenna formulierte ‚Metaprinzip‘: ‚Wenn eine Aussage über ‚Alle‘ spricht, dann ist es unsicher, ob wirklich alle gemeint sind; sicher ist es aber, dass wenigstens ‚einige‘ gemeint sind‘, muss auch hinterfragt werden. Würde sein Metaprinzip gelten, dann könnte man keine wirklichen ‚All-Aussagen‘ mehr machen, da grundsätzlich die intendierte Bedeutung von ‚alle‘ verneint würde. Dies macht keinen Sinn. Wenn jemand tatsächlich ‚alle‘ meint und dies ausdrücken will, dann muss der dazu vereinbarte Ausdruck ‚alle‘ auch entsprechend verwendet werden.
75. Die von Avicenna vorgenommene Fallunterscheidungen (von mir abgekürzt ‚+‘ für ‚affirmativ‘, ‚-‚ für negativ‘, ‚1‘ für ‚partikulär‘, ‚0‘ für ‚unbestimmt‘ und ‚a‘ für universell‘) der Art:
76. (+,1)
77. (-,1)
78. (0,+)
79. (0,-)
80. (a,+)
81. (a,-)
82. (1,+)
83. (1,-)
84. leidet an der gleichen Schwäche, wie schon zuvor bei der Diskussion seiner vier Quantorentypen, hier verstärkt um sein falsches Metaprinzip. Klammert man ‚affirmativ‘ als Einteilungskriterium aus, da dies auf alle Typen zutrifft, bleiben nur die beiden Quantoren und deren Verneinung:
85. Q=’alle‘,S,P
86. Q=(nicht)(alle),S,P $latex \leftrightarrow $ Q=(einige),S,(nicht),P
87. Q=’einige‘,S,P
88. Q=(nicht)(einige),S,P $latex \leftrightarrow $ Q=(alle),S,(nicht),P
89. Wollte man den umgangssprachlichen Quantor ‚keiner‘ benutzen, könnte man diesen über Typ 4b definieren: Q=’kein(er)‘,S,P $latex \leftrightarrow$ Q=(alle),S,($latex \neg$),P).

Fortsetzung folgt …

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

Eine Übersicht über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 8

VORGESCHICHTE

1. In einem ersten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 1 hatte ich geschildert, wie ich zur Lektüre des Textes von Avicenna gekommen bin und wie der Text grob einzuordnen ist. In einem zweiten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 2 ging es um die Frage, warum überhaupt Logik? Avicenna führt erste Unterscheidungen zu verschiedenen Wissensformen ein, lässt aber alle Detailfragen noch weitgehend im Dunkeln. Im Teil AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 3 ging es um einfache und zusammengesetzte Begriffe, und bei den einfachen Begriffen um ‚individuelle‘ und ‚universelle‘. Schon hier zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen der antiken und der modernen-formalen Logik. In der antiken Logik wird die Ausdrucksebene E – und einer sich daran manifestierenden Folgerungslogik – immer in Verbindung mit einer zugehörigen Bedeutungsstruktur gesehen, die sich an einer Objektstruktur O festmacht. Die moderne formale Logik kennt zwar auch ‚Semantiken‘ und ‚Ontologien‘, diese sind aber ’sekundär‘, d.h. es werden nur solche ‚formalen Semantiken‘ betrachtet, die zum vorausgesetzten syntaktischen Folgerungsbegriff ‚passen‘. Dies sollte dann später an konkreten Beispielen diskutiert werden. Hier liegt der Fokus auf der antiken Logik im Sinne Avicennas. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 4 knüpft Avicenna an den zuvor eingeführten Begriff des ‚universellen‘ Begriffs an und betrachtet jetzt solche als ‚universell‘ bezeichneten Ausdrücke in einem Ausdruckskontext von aufeinanderfolgenden Ausdrücken. Alle diese Ausdrücke könnte man im Sinne der antiken Logik auch als ‚Urteile‘ bezeichnen, durch die einem bestimmten Ausdruck durch andere Ausdrücke bestimmte Bedeutungen (Eigenschaften) zu- oder abgesprochen werden. Hier unterscheidet er die Fälle eines ‚wesentlichen‘ Zusammenhanges zwischen zwei Begriffen und eines ’nicht wesentlichen‘ – sprich ‚akzidentellen‘ – Zusammenhangs. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 5 führt Avicenna eine Reihe von neuen technischen Begriffen ein, die sich nicht alle in ihrer Bedeutung widerspruchsfrei auflösen lassen. Es handelt sich um die Begriffe ‚Genus‘, ‚Spezies‘, Differenz, allgemeine und spezielle Akzidens, den Begriff ‚Kategorie(n)‘ mit den Kategorien ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘. Die Rekonstruktion führt dennoch zu spannenden Themen, z.B. zu einem möglichen Einstieg in das weltverändernde Phänomen der kognitiven Evolution. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 6 geht es um die Begriffe ‚Definition‘ und ‚Beschreibung‘. Im Verhältnis zwischen beiden Begriffen geht die Beschreibung der Definition voraus. In der ‚Definition‘, die Avicenna vorstellt, wird ein neuer Ausdruck e mittels anderer Ausdrücke <e1, …, ek>, die sich auf schon bekannte Sachverhalte beziehen, ‚erklärt‘. Die von Avicenna dann vorgenommene Erklärung, was eine ‚Definition‘ sei, hängt u.a. stark ab von dem Begriff der ‚Bekanntheit‘ und dem Begriff des ‚wahren Wesens‘. Für die Tatsache, dass ein Mensch A bestimmte Ausdrücke <e1, …, ek> einer Sprache L ‚kennt‘ oder ’nicht kennt‘, dafür gibt es keine allgemeinen Regeln oder Kriterien. Von daher macht die Verwendung der Ausdrücke ‚bekannt’/ ’nicht bekannt‘ eigentlich nur Sinn in solch einem lokalen Kontexten W* (z.B. einem Artikel, ein Buch, ein Vortrag, …), in dem entscheidbar ist, ob ein bestimmter Ausdruck e einer Sprache L schon mal vorkam oder nicht. Schwierig wird es mit dem Begriff des ‚wahren Wesens‘. In meiner Interpretation mit der dynamischen Objekthierarchie gibt es ‚das wahre Wesen‘ in Form von Objekten auf einer Stufe j, die Instanzen auf Stufen kleiner als j haben. Dazu gab es weitere Überlegungen. Im folgenden Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 7 beschreibt Avicenna syntaktisch zusammengesetzte, aber semantisch einfache Ausdrücke. Innerhalb der Ausdrücke unterscheidet er die Teileausdrücke ‚Name‘, ‚Verb‘ und ‚Präposition‘. Die unterschiedliche Charakterisierung erfolgt nicht aufgrund der syntaktischen Form, sondern aufgrund der semantischen Eigenschaften, die mit diesen Ausdrücken verbunden werden. Neben dem Objektbezug, der die eigentliche Bedeutung fundiert, gibt es im Bedeutungsraum auch noch den zeitlichen und den räumlichen Aspekt. Das Zusammenspiel von Bedeutung und Ausdruck wird angerissen.

AUSSAGEN/ FESTSTELLUNGEN – WAHR oder FALSCH

2. Nun wendet sich Avicenna zusammengesetzten (engl.: ‚compound‘) ‚Aussagen‘ (engl.: ‚proposition‘) bzw. ‚Feststellungen‘ (engl.: ’statements‘) bzw. ‚bekräftigende Rede‘ (engl.: ‚affirmative speech‘) zu.
3. Stillschweigend wird hier vorausgesetzt, dass eine Aussage mit den im vorausgehenden Abschnitt charakterisierten semantischen Ausdruckstypen (Name, Verb, Präposition) realisiert ist.
4. ‚Aussagen‘ [P] sind alle jene Ausdrücke E, von denen man sagen kann, sie treffen zu (sind ‚wahr‘), oder sie treffen nicht zu (sind ‚falsch‘); Aussagen sind eine echte Teilmenge aller Ausdrücke, $latex P \subset E$.
5. Avicenna unterscheidet drei Arten von Aussagen:
6. Beispiele für ‚kategorische‘ Aussagen sind (Der Mensch)(ist)(ein Lebewesen) bzw. (Der Mensch)(ist nicht)(ein Lebewesen).
7. Beispiele für ‚Disjunktiv-konditionelle‘ (engl.:‘ ‚disjunctive conditional‘) Aussagen sind (Etwas)(ist)(dies)(oder)(jenes) bzw. (Etwas)(ist nicht)(dies)(oder)(jenes) (oder: (Es ist nicht der Fall, dass)(Etwas)(ist)(dies)(oder)(jenes).
8. Beispiele für ‚Konjunktiv-konditionelle‘ (engl.:‘ ‚conjunctive conditional‘) Aussagen sind (Wenn)(dies)(der Fall ist)(dann)(ist auch)(das)(der Fall) oder (Weil)(dies)(der Fall ist)(ist)(auch)(das der Fall) oder (Und nicht)(Wenn)(dies)(der Fall ist)(oder)(das)(der Fall ist).

DISKUSSION

WAHR/FALSCH

9. Zunächst einmal die Formulierung, ‚dass etwas der Fall sei‘ als Kriterium für die Eigenschaft ‚wahr‘ und die Formulierung ‚dass etwas nicht der Fall sei‘ als Kriterium für die Eigenschaft ‚falsch‘.
10. Aussagen bilden eine Kombination aus Ausdruck e und Bedeutungskomponente m aus dem Bedeutungsraum M.
11. Vom Sprecher/ Hörer wird angenommen, dass er die Beziehung zwischen e und m ‚kennt‘, schreiben wir K(e,m) (für die Beziehung KNOW [K] mit $latex K \subseteq E \times M$).
12. Jetzt wird gesagt, dass eine solche Beziehung K(e,m) ‚zutreffen‘ kann oder ’nicht zutreffen‘ kann, bzw. ‚wahr’/ ‚falsch‘ sein kann.
13. Dies bedeutet, es muss einen zusätzlichen Aspekt, einen zusätzlichen Umstand Y geben, wodurch ein Sprecher/ Hörer zu solch einer Charakterisierung kommen kann.
14. Dieser zusätzliche Umstand Y muss ‚veränderlich‘ sein, d.h. er muss in einem Zustand Y_w auftreten, wodurch die Beziehung K(e,m) als ‚wahr‘ bezeichnet wird, und in einem Zustand Y_f, woraus ‚falsch‘ folgt. Möglicherweise gibt es auch noch eine neutrale Variante Y_n, bei deren Vorliegen man nicht weiß, ob es die Eigenschaft ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ zutrifft.
15. Intuitiv wissen wir, dass wir zwar mit Ausdrücken e bestimmte Bedeutungen/ Vorstellungen m verknüpfen können, wir wissen aber auch, dass solche gewussten Sachverhalte m sich in der ‚realen Welt‘ W ändern können.
16. Zuvor haben wir schon die Annahmen entwickelt, dass sich eine dynamische Objekthierarchie O mittels $latex \kappa$ angeregt von Eigenschaften X der realen Welt W bilden lässt. D.h. die Objektstruktur O, die ein Teil des Bedeutungsraumes M ist – also auch Anteile in der Bedeutung m von der Beziehung K(e,m) haben kann –, ist nicht identisch mit den Eigenschaften X der realen Welt. Die Objektstruktur O ist ein ‚konstruiertes Bild über X‘. Von daher ist es denkbar, dass das konstruierte Bild O in M als Grundlage von K(e,m) zwar unveränderlich ist – es ist, wie es ist –, dass aber die auslösenden Eigenschaften X der realen Welt sich geändert haben, und sei es nur für einen Moment (t,t‘) mit t‘ > t.
17. Man könnte nun sagen, dass Beziehungen K(e,m) die sind, bei denen der Bedeutungsanteil m in dieser Beziehung so stark von einem X in der realen Welt abhängt, dass eine ‚Änderung von X‘ als ‚Differenz‘ wahrgenommen werden kann, d.h. es wird nicht direkt ein X oder ein verändertes X verglichen, sondern nur die ‚prozessierte Form‘ vom X über die Prozesse perc() und $latex \alpha$ unter Berücksichtigung von Raum und Zeit und Anzahl. So wie das gewusste ‚m‘ einem bestimmten Xm entspricht, so würde ein ‚Nicht-Xm‘, also $latex \overline{Xm}$ in der entsprechenden Form $latex nicht-m=\alpha(perc(\overline{X}))$ als ‚verschieden‘ von m erkannt/ aufgefasst/ verstanden.
18. Anders gesagt: Wenn wir in unserm Wissen von einer Beziehung K(e,m) ‚wissen‘, bei der wir ein Bedeutungselement ‚m‘ aus M ‚kennen‘, das durch unsere Interaktion mit der realen Welt W anlässlich bestimmter realer Welteigenschaften Xm ‚konstruiert‘ werden konnte also $latex m = \lambda(\alpha(perc(Xm)),M)$, – mit $latex O \subseteq M$ –, dann würde ein von Xm verschiedener Sachverhalt $latex \overline{Xm}$ auch eine unterschiedliche Bedeutungsrepräsentation $latex \overline{m} = \lambda(\alpha(perc(\overline{Xm})),M)$ hervorbringen können. Damit könnte unser ‚Wissen‘ im allgemeinen Bedeutungsraum M die beiden Bedeutungsobjekte ‚m‘ und ‚$latex \overline{m}$‘ direkt ‚vergleichen‘.
19. Wichtig wäre bei diesem Vergleich, dass hier die Zeitkomponente eine Rolle spielt. In der gewussten Beziehung K(e,m) ist die Zeit in gewisser Weise ‚aufgehoben‘, ’neutralisiert‘, für das Vergleichsobjekt ‚m‘ bzw. ‚$latex \overline{m}$‘ müsste gelten, dass es ‚aktuell‘ ist, ‚jetzt‘. Dann könnte man sagen, wenn eine Bedeutung ‚m‘ aus einer Wissensbeziehung K(e,m) über dem Bedeutungsraum M eine Entsprechung in einem ‚aktuellen m‘ finden kann (gebunden an eine aktuelle Wahrnehmung perc()), dann korrespondiert das gewusste ‚$latex m_{K}$‘ aus K(e,m) mit dem aktuell wahrnehmbaren ‚$latex m_{now}$‘. Ist dies nicht der Fall, lässt sich keine aktuelle Entsprechung zwischen einem gewusstem ‚$latex m_{K}$‘ aus K(e,m) zu einem wahrnehmbaren ‚$latex m_{now}$‘ finden, weil die aktuellen Bedeutungen ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ anders sind.
20. In dieser Konstruktion gibt es in der Tat nur zwei Fälle: entweder findet sich zu einem gewussten m eine aktuelle Entsprechung ‚$latex m_{now}$‘ oder eben nicht. Dazwischen gibt es nichts. Ein ’neutrales‘ m kommt hier nicht zum Tragen. Denkbar wäre allerdings ein ‚Irrtum‘ in dem Sinne, dass das aktuell wahrgenommene ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ zwar verschieden ist, dass diese Verschiedenheit aber entweder ‚falsch eingeschätzt‘ wird oder die Konstruktion des ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ irgendwelche ‚Störungen‘, ‚Verzerrungen‘ aufweist, so dass das ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ einige ‚Ähnlichkeiten‘ mit dem gewussten m aufweist, die zu einem Fehlurteil führen. Denn, nicht nur kann die aktuelle Konstruktion $latex \lambda$ Fehler aufweisen, sondern auch die auf ‚Erinnerung‘ basierende gewusste Beziehung K(e,m) kann Fehler aufweisen, die das gewusste m in die Nähe des aktuellen ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ bringen. Also, Neutralität gibt es hier nicht, aber mögliche Irrtümer unterschiedlichster Art.

AUSSAGENTYPEN

21. Nach dieser Klärung, wie die Eigenschaft ‚wahr’/ ‚falsch‘ in dieser Rekonstruktion von Avicenna nachvollziehbar wären, geht es um die Frage, was es mit den drei Aussagetypen auf sich hat, die ich hier abkürzend ‚Kategorisierend‘, ‚Disjunktiv‘ und ‚Konjunktiv‘ bezeichne.
22. Im Fall des Aussagetyps ‚Kategorisierend‘ mit dem Beispiel (Der Mensch)(ist)(ein Lebewesen) bzw. (Der Mensch)(ist nicht)(ein Lebewesen) geht es offensichtlich nicht um einen Bezug zur aktuell realen Welt mit ihren realen Eigenschaften X, sondern um eine Beziehung zwischen zwei gewussten Bedeutungsstrukturen $latex m_{Mensch}$ und $latex m_{Lebewesen}$. Zwischen diesen beiden Bedeutungsstrukturen $latex m_{Mensch}, m_{Lebewesen}$ gibt es eine Beziehung der Art, dass die Bedeutungsstruktur $latex m_{Mensch}$ eine ‚Instanz‘ der Bedeutungsstruktur $latex m_{Lewesen}$ ist. Sofern dies der Fall ist wird durch eine Aussage der Art (Der Mensch)(ist)(ein Lebewesen) genau dieser Fall angesprochen. Wenn der Ausdruck (Der Mensch)(ist)(ein Lebewesen) mit den Verhältnissen der Bedeutungsstrukturen übereinstimmt (was man direkt wissen kann), dann trifft der gewusste Sachverhalt zu, andernfalls nicht. Natürlich kann es auch in diesem Fall prozessspezifische Fehler geben, die Bedeutungszuordnungen konstruieren, die falsch sind oder missverständlich oder verändert.
23. Im Fall der disjunktiven und konjunktiven Aussagetypen ist die Lage etwas unübersichtlicher, da Avicenna keine direkte Charakterisierung der beiden Aussagetypen mittels Wahrheitswerten vornimmt. Er erwähnt nur verschiedene Ausdrücke, denen man ‚intuitiv‘ eine Bedeutung zuordnen muss, und diese Beispiele sind – bei genauer Betrachtung – sogar widersprüchlich.
24. Bedient man sich des Hilfsmittels der Wahrheitswerttabelle, die zumindest in der stoischen Logik schon bekannt gewesen sein soll, dann kann man die beiden Aussagetypen Disjunktion und Konjunktion eindeutig charakterisieren. Dazu ist es hilfreich, die Ausdrücke von Avicenna ein wenig zu ’normieren‘.
25. DISJUNKTION: Statt zu schreiben (Etwas)(ist)(dies)(oder)(jenes), würde man umschreiben A=(Etwas)(ist)(dies) und B=(Etwas)(ist)(jenes), sodass der ganze Ausdruck lauten würde (A)(oder)(B), wobei sowohl A als auch B vom Typ ‚Aussage‘ sind, die ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sein kann. Dann könnte man sagen, dass ein Aussagetyp ‚Disjunktion‘ nur dann wahr ist, wenn wenigstens eine der beiden Teilaussagen A oder B wahr ist bzw. nur dann falsch ist, wenn beide Teilaussagen A und B falsch sind.
26. Den Fall, den Avicenna als ‚Konjunktives Konditional‘ einführt, ist nicht eindeutig. Es könnte entweder der späteren aussagenlogischen Konjunktion entsprechen oder auch der aussagenlogischen Implikation. Seine unvollständige Charakterisierung lässt beide Rekonstruktionen zu. Ich betrachte hier beide Fälle.
27. KONJUNKTION: Statt zu schreiben (Weil)(dies)(der Fall ist)(ist)(auch)(das der Fall) würde man im Fall der Konjunktion abkürzend schreiben A=(dies)(der Fall ist) und B=(das(ist)(der Fall). Dann könnte man sagen, der Ausdruck (A)(und)(B) ist nur wahr, wenn jeder der beiden Teilaussagen A und B wahr ist, und ist falsch, wenn wenigstens einer der beiden Teilaussagen falsch ist.
28. IMPLIKATION: Der Ausdruck (Wenn)(A)(dann)(B) ist nur falsch, wenn A wahr ist und B zugleich falsch; in allen anderen Fällen ist der Ausdruck wahr.
29. Disjunktion, Konjunktion und Implikation sind also Aussagetypen, die aus zwei Teilausdrücken A und B bestehen, die selbst wieder Aussagen sind, die wahr oder falsch sein können. Die beiden Teilausdrücke A und B werden dann durch die Teilausdrücke (oder), (und) sowie (wenn)-(dann)- verknüpft. Sie unterscheiden sich dadurch, wie der Wahrheitswert des Gesamtausdrucks von der Verteilung der Wahrheitswerte auf die Teilausdrücke festgelegt ist. Die Teilausdrücke (oder), (und) sowie (wenn)-(dann)- nennt man später dann auch ‚aussagenlogische Operatoren‘.
30. Man sieht hier leicht, dass der Aussagetyp ‚kategoriesierend‘ nicht in dieses Schema passt. Der Aussagetyp ‚kategorisierend‘ ist eine Aussage A, die wahr oder falsch sein kann unabhängig von irgendeinem aussagenlogischen Operator.

NEGATION

31. Die Verneinung von Aussagen hat man später dann auch anders geschrieben.
32. Statt zu schreiben (Etwas)(ist nicht)(dies)(oder)(jenes) hat man später geschrieben $latex \neg(A)(oder)(B)$ mit dem Zeichen $latex \neg$ für ’nicht‘ oder ‚es ist nicht der Fall, dass‘. Statt (oder) wurde später auch geschrieben $latex \vee$. Statt (und) das Zeichen $latex \wedge$. Dann bekommt man $latex \neg(A)(\vee)(B)$ bzw. $latex \neg(A)(\wedge)(B)$.

ERGEBNIS

33. Diese Rekonstruktionsansätze mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass man eine plausible Semantik zur bisherigen Logik von Avicenna dazu konstruieren und dass man seine Aussagen zu Aussagetypen mit Wahrheitswerten letztlich mit den Konzepten der modernen Aussagenlogik versöhnen kann.
34. Was hier (noch) nicht gemacht wird, das ist die sich daraus ergebenden Konsequenzen in ihrer ganzen Breite zu entwickeln. Dies wird zu einem späteren Zeitpunkt geschehen.
35. Was die Semantik angeht, so kann man natürlich die Quintessenz der Semantik in einem formalen Modell auch noch viel einfacher fassen. Allerdings liegt das Interesse hier gerade darin, es nicht einfach nur zu vereinfachen, sondern es ganz speziell auch im Hinblick auf das Alltagsdenken und mit Blick auf die kognitiven Prozesse so zu verorten, dass die ‚Entstehung der Bedeutung‘ – zumindest prinzipiell – mit erfasst wird. Die Minimalforderung lautet, dass ein Ingenieur/ Informatiker in der Lage sein sollte, mit diesem Minimalmodell einen Roboter/ Softwareagenten zu bauen, der selbstständig die Bedeutung normalsprachlicher Ausdrücke von jeder Sprache für realweltliche Kontexte W erlernen kann.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

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