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POPULISMUS IST ANGEBOREN… Aber bei mir doch nicht…

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 7.Februar 2019
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Letzte Änderungen: 9.Febr.2019 (Zusätzliche Zwischenüberschriften; Schlagworte hinzugefügt; einen Satz verschoben)

KONTEXT

Der Kontext für diesen Beitrag ist eigentlich der ganz normale Alltag, wie jeder ihn erlebt. Allerdings war mir schon im Juni 2018 anlässlich einer Veranstaltung zum Populismus in Europa aufgefallen, dass die berühmten ‚Echokammern‘, die man in vielen sozialen Netzen entdeckt zu haben glaubte, irgendwie nicht auf bestimmte Gruppen beschränkt sind. Bei näherer Betrachtung kann man das vage Konzept der Echokammern nahezu auf jede soziale Gruppierung anwenden. Infiziert von diesem Gedanken sah ich viele Alltagsphänomene plötzlich ganz anders …

JEDER IST SEINE EIGENE ECHOKAMMER …

Wenn man sich in seinem eigenen Alltag umschaut wird an nicht umhin kommen, festzustellen, dass jeder einzelne ein ‚individuelles Weltbild‘ mit sich herum trägt, das aus sich heraus unsichtbar ist, so lange jemand nichts sagt und tut. Sobald aber dieser Jemand anfängt, etwas zu tun oder zu sagen, zeigen sich Fragmente des individuellen Weltbildes. Wenn man irgendwann genug viele Fragmente von jemandem gesammelt hat — oder sehr schnell in eine intensive Debatte mit dem anderen eingetreten ist –, zeigt sich dann, dass jeder seine liebgewordene Glaubenssätze über die Welt hat, an denen er nicht rüttelt, und von denen aus er seine Schlüsse zieht. So umgänglich jemand auf den ersten Blick scheinen mag, sobald es ‚zur Sache geht‘ hört bei den meisten die ‚Umgänglichkeit‘ auf. Und dies hat überhaupt nichts mit Intelligenz zu tun. Wie viele akademisch trainierte Menschen — einschließlich Doktortitel oder mehr — reagieren genauso so, sitzen in ihrem geistigen Käfig, und lassen sich — kennt man mal ihre ‚Lieblingsüberzeugungen‘ — fast beliebig mit diesen Lieblingsüberzeugungen aufwecken, in Wallung bringen, ärgern, oder — wenn man sie manipulieren will — genau damit Ködern, eine gute Stimmung verbreiten, den Eindruck erwecken, man denke und fühle doch das Gleiche, usw.

Es ist daher nicht zufällig, dass sich Menschen in neuen, fremden Umgebungen — und sei es auf einer Party mit vielen ‚Unbekannten‘ — erst einmal nach solchen Gesprächspartnern suchen, die ‚Ähnliches reden wie man selbst‘ (manche bleiben vorzugsweise den ganzen Abend alleine sitzen, um sich unbequeme Überraschungen zu ersparen). Hat man ‚ähnlich erscheinende‘ Personen gefunden, tendieren viele dazu, sich mit diesen ‚zusammen zu rotten‘ in einer ‚Zone der Vertrautheit‘. Das waren früher die berühmt berüchtigten Stammtische, das sind die ganzen Freundeskreise, die Vereine, ‚Netzwerke‘, Burschenschaften, und neuerdings — vom Alltag in die Netze projiziert — die Gruppierungen in den sozialen Netzwerken. Echokammern sind kein Produkt der Technologie; Echokammern spiegeln die Tendenz der Menschen wieder, ihre eigenen endlichen Weltbilder im sozialen Kontext zu bestätigen, zu stärken, um so das Gefühl der Vertrautheit, der Sicherheit, der Planbarkeit und ähnliches mehr, zu verstärken. Jenseits des ‚Vertrauten‘ und ‚Bekannten‘ lauert das Dunkel, die Unwissenheit, das Unwägbare, möglicherweise etwas, was die Vertrautheit bedroht…

Weil wir im Alltag von Grund auf in unseren aktuellen Weltbildern gefangen sind und offensichtlich viele Tendenzen in uns wirksam sind, die aktuellen Bildern zu wahren, zu schützen, zu konservieren, ist die Entstehung von sogenannten ‚populistischen Strömungen‘ nichts Ungewöhnliches. Wenn eine hinreichend große Gruppe die gleichen Grundüberzeugungen teilt — was offensichtlich weltweit leicht der Fall sein kann –, dann genügen wenige Organisatoren, um eine entsprechend ‚Bewegung‘ sichtbar zu machen, die dann wieder selbstverstärkend alle Mitglieder weiter bestätigt.

WARUM IST DAS SO?

Man kann sich fragen, warum ist das so? Ist es ein unentrinnbares Schicksal, dass wir Menschen trotz all unserer wunderbaren Fähigkeiten offensichtlich einen ‚inneren Drang‘ dahingehend verspüren, dass wir unsere aktuellen Weltbilder — welche es auch gerade sind — so intensiv, so vehement, gegen mögliches ‚Neues‘, ‚Anderes‘ … verteidigen?

Die Selbstabschottungs-Tendenzen individueller Weltbilder ist ganz offensichtlich sehr stark, was auf Mechanismen im Unbewussten hinweist, die wiederum im Gehirn und letztlich in den Genen verankert sind.

Die empirischen Wissenschaften haben uns in den letzten 100 Jahren eine Menge neuer Einsichten darüber vermittelt, wie unsere Körper und unsere Gehirne entstanden sind, wie individuell ein Körper und ein Gehirn sich aus einer Eizelle entwickeln können, wie das Gehirn und viele Systeme im Körper sensibel für die Umgebung lernen und sich anpassen können; wie in unserem Gehirn ‚Wissen‘ entsteht, ‚Erfahrung‘, ‚Fähigkeiten‘ sich ansammeln können; wie unsere Bedürfnisse und Emotionen uns beeinflussen können; dass unser ‚Bewusstsein‘ nur ein verschwindend kleiner Teil (weniger als 1%) von dem ist, was sich in jedem Moment in unserem Körper unbewusst abspielt; und vieles mehr.

Vor diesem Hintergrund können wir wissen, dass das ‚Wissen‘, was sich in unserem Gehirn anreichert (weitgehend unbewusst), einerseits zwar hilft, die jeweilige Umgebung ‚wieder zu erkennen‘ als ’schon mal gesehen‘, und uns damit erspart, alles nochmals von vorne vorne Lernen zu müssen, dass aber genau dieser Mechanismus des automatischen Lernens und Interpretierens es dann auf Dauer auch ist, der uns davor abhält, weiter zu lernen. Obgleich das Gehirn von sich aus auf ein andauerndes Lernen ausgelegt ist, erreicht jeder Mensch irgendwann einen Zustand, in dem das ’schon Gelernte‘ ausreicht, um mit dem ’normalen Alltag‘ klar zu kommen, ohne wirklich weiter zu lernen. Während man bei Kindern — im Normalfall — eine natürliche Neugierde feststellen kann, die sich permanent zu Erkundungen und Experimenten mit sich selbst und der Umgebung antreibt (viele Eltern finden das ’nervig‘ und versuchen ihre Kindern ’still zu stellen‘; dies ist für sie bequemer), kann man schon bei Jugendlichen ab 14 – 16 deutliche Tendenzen beobachten, dass echte Neugierde und echtes Experimentieren (= Lernen) dramatisch zurückgeht bis dahin, das junge Erwachsene ab 18 – 22 neben Kindern schon wie Greise wirken, die sich nur noch in eng definierten Mustern bewegen. Für die umgebende Gesellschaft ist dies eher angenehm. Je schneller sich junge Menschen an das ‚Übliche‘ anpassen, um so weniger hat man mit ungeliebten Überraschungen zu rechnen. Belohnt wird, wer sich anpasst und damit bekundet, dass er das Experiment ‚das Leben zu Lernen‘ aufgegeben hat. Hallo, seht her, von mir geht keine Gefahr aus; ich bin so wie ihr. Alles ist gut. Nur keine Überraschungen, nur nichts Neues, nur keine Experimente.

Von daher sollte es uns nicht wundern, dass sich gerade in Demokratien ‚Vereinfachungen‘ über die Politik ‚verstärken‘ können, da die Politiker irgendwann und irgendwie ja wieder gewählt werden wollen. Je mehr sich ein einfaches Weltbild in der Gesellschaft ausbreitet, umso eher wird die Politik genau dieses aufgreifen, verstärken, und damit die Perspektiven für Innovationen, Forschung, notwendige Bildungsprozesse abschwächen. Eine Begleiterscheinung sind zunehmende Kontrolle und Planung, um das Unvorhergesehene möglichst zu minimieren. Hochschulen, die eigentlich Orte der innovativen Forschung sein sollten, degenerieren mittlerweile immer mehr zu durch-kontrollierten, durch-geplanten Institutionen, in denen Anpassung mehr zählt als eigenständige, kreative mutige Forschung. Dies wird zusätzlich abgesichert durch systematischen Geldentzug auf der einen Seite, und Vergabe von Geld nach Gefälligkeit und politisch genehmen Themen…

WAS KÖNNEN WIR TUN?

Die Eindrücke des Alltags können übermächtig wirken. Die Verzweiflung der Menschen an der Politik ist nicht gespielt; desgleichen die Ohnmacht in den etablierten Religionen, in staatlichen Institutionen, in großen Konzernen … die meisten Kommunalpolitiker kennen die ewigen Pattsituationen bei Abstimmungen, nur weil man unterschiedlichen politischen Gruppierungen angehört … Argumente scheinen wirkungslos zu sein …

Dann gibt es immer wieder ‚Hoffnungsträger‘, ‚Lichtgestalten‘, die aufpoppen, die den Eindruck erwecken, plötzlich über jenen berühmten Zaubertrunk zu verfügen, der alle diese alltäglichen Hindernisse scheinbar mühelos aufhebt, beseitigt, überwindet, und eine Massenhysterie durchweht das Land, das globale Netz … aber tatsächlich kann kein einzelner Mensch alle die alltäglichen Hindernisse, die in den Köpfen der Menschen wurzeln, einfach so auslöschen … allerdings für eine kurze Zeit ‚vergessen machen‘; man schaltet alle seine bisherigen Ängste gerade mal ab und ist bereit, alles zu glauben, weil es ja so schön ist ….

Wenn wir die Absicht haben sollten, dieser ‚Falle des Populismus in uns selbst‘ zu entkommen, dann müssen wir uns neu darüber Klarheit verschaffen, wie denn die ‚Freiheit‘, die wir real haben — und die alle unsere Gesetze, vor allem das Grundgesetz, unterstellen — ‚im Innern‘ funktioniert.

WIE FREIHEIT FUNKTIONIERT

In einem interessanten Gespräch im November 2018 kam zum Vorschein, dass die Realität der Freiheit zwar grundsätzlich immer eine Wahlmöglichkeit bietet, dass aber das, was und zwischen dem wir wählen können, etwas Reales sein muss, über das wir verfügen können. Wenn jemand nicht wirklich etwas ‚weiß‘ und nicht wirklich über gewissen ‚Fähigkeiten‘ ‚verfügt‘, dann kann er auch nicht zwischen verschiedenen Optionen wählen, trotz seiner Freiheit. Und, ähnlich, wenn jemand in seinem Alltag nicht über reale Wahlmöglichkeiten verfügt (Wohnung, Nahrung, Arbeit, Verkehr, Partner, Freunde, …), dann kann er auch hier nicht oder nur sehr eingeschränkt wählen. Von der Freiheit zu reden, sie zu beschwören, ist eine Sache. Sie in eine entsprechende Praxis zu überführen setzt eine ‚hinreichende verfügbare Materialität im Alltag und im Kopf‘ voraus.

Dazu kommt, dass wir, selbst wenn wir neben der Freiheit sogar über reale Wahlmöglichkeiten verfügen würden, bekanntermaßen von einer Vielzahl von Bedürfnissen, Emotionen, Gefühlen und Stimmungslagen beeinflusst werden können (im Normalfall, zusätzlich kann es allerlei Krankheiten geben). Selbst wenn man also ‚frei entscheiden‘ könnte und man sogar ‚materielle Möglichkeiten‘ hätte (einschließlich Wissen, Fähigkeiten,…), dann könnte die Vielzahl der emotionalen Faktoren uns blockieren oder uns in eine Richtung lenken, die letztlich ’nicht gut‘ ist.

Die Aufzählung dieser ‚Risikofaktoren‘ für das Misslingen von Freiheit und einer anhaltenden Gefangenschaft im Modus des ‚individuellen Populismus‘ liefert indirekt allerdings auch entscheidende Hinweise, auf welche Faktoren man achten müsste, wollte man einem individuellen Populismus entkommen. Dabei würde ein ‚Entkommen‘ nicht bedeuten, dass man einen Zustand erreichen würde, in dem man auf einen Schlag ein für allemal von einem individuellen Populismus ‚befreit‘ wäre; nein. Wenn man sehr gut wäre, dann würde man lernen, wie man mit seinem aktuellen Wissen (und Erfahrungen und …) im Alltag so umgehen muss, dass die aktuellen Begrenzungen zwar unausweichlich da sind, dass man sich aber Verhaltensweisen angeeignet hat, die einem (und den anderen) helfen, sich der aktuellen Grenzen bewusst zu bleiben und das aktuelle Wissen immer wieder zu überprüfen‘ bzw. es kontinuierlich ‚weiter zu entwickeln‘. Daraus folgt, dass eine wirklich nachhaltige Überwindung des individuellen (und dann auch gemeinschaftlichen) Populismus nur gelingen kann, wenn man in einem gesellschaftlichen Netzwerk lebt, in dem die Mehrheit sich der Problematik bewusst ist und man mehrheitlich eine ‚Kultur des ständigen wechselseitigen Lernens‘ ausgebildet hat, in der ‚Neues‘ kein Schimpfwort ist sondern als ein notwendiger Bestandteil von Wahrheit und Zukunftssicherung angesehen wird. Vertrauen in Menschen ist wichtiger als Kontrolle; Beförderung von Kreativität und Fantasie ist notwendiger Bestandteil einer freien Gesellschaft.

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DAS WAS MENSCHSEIN AUSMACHT. Eine Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 8.Sept. 2018
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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  1. Während der Auseinandersetzung mit dem Buch von Edelman gab es unterschiedliche Wechselwirkungen mit anderen gedanklichen Prozessen. Ein Thema hier ist eine mögliche grundlegende Typologie von ‚Intelligenz‘.

  2. Vorab müsste man das Verhältnis des Begriffs ‚Intelligenz‘ zu Begriffen wie ‚Lernen‘, ‚Bewusstsein‘, ‚Geist‘ und ‚Gehirn‘ klären. Hier nur soviel, dass alle diese Begriffe ein ‚Gehirn‘ – oder eine vergleichbare materielle Struktur – zum Funktionieren voraussetzen. Allerdings kann das bloße Vorhandensein solcher materieller Strukturen nicht garantieren, dass es dann auch so etwas wie ‚Geist‘, ‚Bewusstsein‘, ‚Lernen‘ und ‚Intelligenz‘ gibt.

  3. Der Begriff ‚Geist‘ wird im Englischen als ‚mind‘ gerne und oft benutzt, um Besonderheiten im Verhalten des Homo sapiens zu ‚markieren‘. Allerdings ist dieser Begriff sehr diffus und bislang in keiner Theorie hinreichend erklärt.

  4. Meistens werden die Begriffe ‚Bewusstsein‘ und ‚Geist‘ sehr ähnlich benutzt, ohne dass deren Beziehung zueinander – wegen einer fehlenden Theorie – letztlich klar ist. Da unser ‚Zugang‘ zum Phänomen ‚Geist‘ irgendwie über das beobachtbare Verhalten und das ‚Bewusstsein‘ läuft, ist der Begriff ‚Geist‘ eher ein theoretischer Begriff innerhalb einer Theorie, die man auf der Basis von Bewusstseinsdaten formulieren würde. Mit dem Begriff ‚Bewusstsein‘ wäre dies ähnlich: würden wir alle erreichbaren Daten aus der 1.Person und 3.Person Perspektive sammeln, könnten wir eine Theorie bauen, die den theoretischen Term ‚Bewusstsein‘ enthält und damit indirekt ‚erklärt‘. Paradox würde es, weil der Begriff ‚Bewusstsein‘ dann nicht nur eine theoretische Beschreibung ‚von etwas‘ wäre, also einen ‚Gegenstand‘ der Beschreibung bilden würde, sondern zugleich auch den ‚Autor‘ der ‚Beschreibung‘ repräsentieren würde, allerdings nur indirekt. Der so theoretisch beschriebene ‚Gegenstand Bewusstsein‘ würde wesentliche Eigenschaften nicht enthalten. Für diesen Fall eines ‚Gegenstandes‘ der zugleich ‚Autor‘ ist gibt es bislang keinen akzeptierten Theoriebegriff.

  5. Der ‚wissenschaftliche Intelligenzbegriff‘ orientiert sich am beobachtbaren Verhalten und definierten Referenzpunkten. Dieses Verfahren wurde seit gut 100 Jahren auf den Homo sapiens angewendet und dann auf viele andere biologische Systeme verschieden vom Homo sapiens. Man könnte grob von ‚Menschlicher Intelligenz‘ sprechen und von ‚Tierischer Intelligenz‘ mit vielen Überschneidungen.

  6. Daneben gibt es heute eine ‚Maschinelle Intelligenz‘, die bislang aber in keiner allgemein akzeptierten Form beschrieben und untersucht wird. Die Beziehung zur ‚menschlichen‘ und ‚tierischen‘ Intelligenz wurde bislang nicht systematisch untersucht.

  7. Im Alltag, in den Medien, in der Kunst gib es eine ‚fiktive Intelligenz‘, der man nahezu alles zutraut, ohne dass klar ist, ob dies wirklich möglich ist. Die ‚fiktive Intelligenz‘ ist gleichsam eine Art ‚Sammelpunkt‘ aller Projektionen von dem, was Menschen sich unter ‚Intelligenz‘ vorstellen können.

  8. Durch die Koexistenz von Menschen und neuer Informations-Technologie kann es zu einer neuen ‚hybriden Intelligenz‘ kommen, in der menschliche und maschinelle Intelligenz auf neue Weise symbiotisch zusammen wirken. Dazu gibt es bislang kaum Forschungen; stattdessen versucht man, die maschinelle Intelligenz möglichst unabhängig vom Menschen und oft in Konkurrenz und im Gegensatz zu ihm zu entwickeln. Zugleich verbleibt die Forschung zur menschlichen Intelligenz auf niedrigem Niveau; viele – die meisten? – wichtigen Eigenschaften sind weiterhin unerforscht. Beides zusammen blockiert die Entwicklung von wirklich starken, neuen Intelligenzformen.

  9. Durch die ungelöste Paradoxie von zugleich ‚Gegenstand‘ und ‚Autor‘ bleiben viele wichtige, vielleicht die wichtigsten, Eigenschaften menschlicher Intelligenz im Verborgenen. Es gibt hier einen Erkenntnismäßigen ‚blinden Fleck‘ der nur sehr schwer aufzulösen ist.

  10. Wenn man sieht, wie in vielen Ländern dieser Erde, auch in jenen, in denen man glaubte, viele ‚primitive‘ Sichten zur Welt, zum Leben, zum Menschen überwunden zu haben, große Teile der Bevölkerung und der politischen Leitinstitutionen wieder in solche ‚primitiveren‘ Sichten und Verhaltensweisen zurückfallen und darin zunehmend Anhänger finden, dann kann man dies als Indikator dafür nehmen, dass differenziertere, komplexere Sichten des Lebens und die dazu gehörigen Verhaltenskomplexe keine Automatismen darstellen. Nur weil jemand, eine Gruppe, eine Population zu einer bestimmten Zeit einmal eine ‚Einsicht‘ hatte, ein aus dieser Einsicht resultierendes ‚praktisches Lebenskonzept umgesetzt hat‘, folgt nicht automatisch, dass diese Einsicht in den Individuen der Population ‚am Leben bleibt‘. Die Struktur und Dynamik eines einzelnen Homo-sapiens-Exemplars ist von solch einer Komplexität, dass nur maximale Anstrengungen dieses Potential an Freiheit zu einer ‚konstruktiven Lebensweise‘ motivieren können. Dabei ist das Wort ‚motivieren‘ wichtig. Im Homo sapiens kulminiert die ‚Freiheit‘, die sich in der Materie und Struktur des gesamten Universums samt den biologischen Strukturen grundlegend findet, zu einem vorläufigen ‚Optimum‘, das sich jeder vollständigen ‚Verrechnung‘ in fixierte Strukturen widersetzt. Man kann einen Homo sapiens einsperren, töten, mit Drogen willenlos machen, durch Entzug von materiellen Möglichkeiten seiner Realisierungsbasis berauben, durch falsche Informationen und Bildungen fehlleiten, man kann aber seine grundlegende Freiheit, etwas ‚Anderes‘, etwas ‚Neues‘ zu tun, dadurch nicht grundlegend aufheben. In der Freiheit jedes einzelnen Homo sapiens lebt potentiell die mögliche Zukunft des gesamten Universums weiter. Ein unfassbarer Reichtum. Die größte Lüge und das größte Verbrehen an der Menschlichkeit und am Leben überhaupt ist daher genau diese grundlegende Eigenschaft des Homo sapiens zu verleugnen und zu verhindern.

  11. Natürlich hat der Homo sapiens noch weitere grundlegende Eigenschaften über die zu sprechen gut tun würde.

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DAS NEUE ALS PROBLEM DER WAHRHEIT. Memo zur Philosophiewerkstatt vom 16.Juli 2017

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ÜBERBLICK

Ausgehend von dem Thema der Einladung zur Philosophiewerkstatt werden in der Einleitung dann wichtige Elemente einer subjektiven Wahrheit aufgelistet. Im nachfolgenden Diskurs (nach der Möglichkeit einer Meditation) wurde dann speziell versucht zu klären, worin denn das ‚Neue‘ besteht. Es kam zu interessanten Einsichten.

I. THEMA

In der Einladung zur Philosophiewerkstatt am 16.Juli 2017  war auf das Phänomen des Neuen in seiner Beziehung zu der aktuellen Wahrheit hingewiesen worden. Dabei wurde die aktuelle Wahrheit als das verstanden, was der einzelne gerade in seinem Kopf als Wissen über die Welt mit sich herumträgt; ein Wissen, mit dem die aktuelle Wahrnehmung interpretiert und das eigene Handeln entschieden wird. Verglichen mit dieser aktuellen Wahrheit ist jede Art von Neuem problematisch. Gemessen an der eigenen, aktuellen Anschauung ist alles, was da kommt, zunächst einmal eine Abweichung. Es stellt sich dann die Frage, was man damit macht. Die Vielfalt der Antworten ist das, was wir jeden Tag im privaten Umfeld, in der Wirtschaft, in der Politik, in den Massenmedien erleben. Je nach Interessenlage (und Wissen) wird das ‚Abweichende‘ z.B. zum Bösen schlechthin instrumentalisiert oder wandelt sich zur neuen Verheißung.

Es schlossen sich an diese Beobachtung die Fragen an, wie wir zum Neuen stehen? Gibt es Verhaltensgewohnheiten, Regeln, Strategien im Umgang mit dem ‚Neuen‘? Gibt es so etwas wie eine  Kultur des Neuen in allen Bereichen unseres Lebens oder ist es eine Dauerbaustelle jeder Gesellschaft, wie sie mit Neuem umgeht?

Oder die eher grundsätzlichen Fragen, warum es überhaupt ‚Neues‘ geben kann? Wenn unsere privaten Ansichten über die Welt wahr sind, warum kann die Welt dann so — unerlaubterweise 🙂 — anders sein? Verdrängen wir nicht ständig, dass wir uns selbst vom Embryo über das Baby über das Kind zum Teenager, zum jungen Erwachsenen, Leistungsträger, Senior beständig verändern, wir uns selbst gegenüber — sozusagen — etwas Neues sind? Sind wir mit dieser unserer eigenen Art der beständigen Neuheit nicht selbst ‚unheimlich‘? Machen wir uns selbst Angst?

II ELEMENTE DER SUBJEKTIVEN WAHRHEIT

Philosophiewerkstatt 16.Juli 2017 - Gedankenbild - Einführung
Philosophiewerkstatt 16.Juli 2017 – Gedankenbild – Einführung

In der Einführung zur Diskussion wurden skizzenhaft (siehe Schaubild ‚Einführung‘) wichtige Elemente der subjektiven Wahrheit vorgestellt.

Zentraler Angelpunkt ist bei jedem einzelnen sein persönliches Bewusstsein, angefüllt mit diversen Inhalten an Wahrnehmungseindrücken, Erinnerungen, Bedürfnissen, Gefühlen, Wissensfragmenten und Fähigkeiten, die sich im Tun zeigen.

Dieses Bewusstsein ist, wie wir heute wissen können, weitgehend eine Funktion unseres Gehirns, das wiederum Teil unseres Körpers ist. Dieser Körper hat eine Außenseite, die durchsetzt ist mit tausenden von  Sensoren für  Außenwelt-Reize (z.B. visuell, akustisch, Wärme, Berührung,…), wie auch Sensoren im Körper für körperspezifische Reize (z.B. Durst, Hunger, Gelenkstellungen, …).

Die Reize werden kontinuierlich zum Gehirn geleitet und sowohl auf dem Weg dahin wie auch dann im Gehirn selbst auf vielfache Weise bearbeitet. Wichtig ist hierbei, dass diese Reize in sogenannten sensorischen Puffern für eine kurze Zeitdauer (ca. 50 – 200 Millisekunden) zwischengespeichert werden, bevor sie von den nächsten Reizen überschrieben werden. Diese ‚Pufferung‘ führt dazu, dass die Ereignisse außerhalb des Gehirns in Zeitscheiben zerlegt werden (‚frames‘), die dann als diese Zeitscheiben weiter verarbeitet werden.

Im Rahmen der Bearbeitung und Verarbeitung der sensorischen Reize kommt es auf vielfache Weise zu Strukturbildungen, die wir auch als Abstraktionen verstehen können: eine Menge von einzelnen Erregungspunkten werden dann z.B. übersetzt in ‚Kanten‘, ‚Ecken‘, ‚Frequenzen‘ usw., die dann im weiteren Verlauf zu noch komplexeren Strukturen zusammengebaut werden. Letztlich werden hier die grundlegenden Eigenschaften von Objekten zusammengebaut, die wir dann anschließend in unserer bewussten Wahrnehmung als solche Strukturelemente bewusst wahrnehmen. Voraus und/ oder parallel zu dieser bewussten Wahrnehmung interagieren diese perzeptuellen Strukturen mit dem Gedächtnis (einer komplexen Gehirnleistung), in der sich bislang gelernte Strukturen, Beziehungen, Veränderungen usw. finden. Diese aktuell vorhandenen Erfahrungs-/Wissenselemente bilden automatisch einen Kontext zu den aktuellen Perzeptionen, so dass die aktuelle sensorische Wahrnehmung damit automatisch interpretiert wird.

Das  Gedächtnis hat vielfältige Funktionen. Neben den Abstraktionsleistungen und der Anordnung von Elementen in unterschiedlichen Beziehungen ist wohl die grundlegendste Leistung jene, durch die  aktuelle Wahrnehmungen mit  schon gespeicherten Inhalten verglichen werden können. Dadurch entsteht die Möglichkeit, das aktuelle Jetzt durch Rückgriff auf ein  erinnertes Jetzt in mögliche  Abfolgen aufzulösen und damit zu einem  fundamentalen Zeitbegriff zu kommen. Die Anordnung von Ereignissen in einer Abfolge induziert indirekt das, was wir  Veränderung nennen, darauf aufbauend Zeit. Zeit ist damit grundlegend eine Kategorie des Erkennens, der Erkenntnisleistung, ermöglicht durch die Leistung des Gehirns.

Mit der Verfügbarkeit von zeichenbasierten Sprachen verfügt das menschliche Gehirn und Bewusstsein über eine zusätzliche sehr starke Struktur: beliebige Inhalte des Bewusstseins lassen sich mit Ausdruckselementen zu bedeutungsvollen Ausdrücken verbinden, so dass durch den Austausch von physikalischen Zeichenträgern verschiedene Gehirne sich Botschaften über ihre internen Zustände übermitteln können. Diese akustischen (gesprochene Sprache) oder visuellen (Schriftzeichen, Texte) Signale können unterschiedlich komplex und elaboriert sein.

Aus der Kulturgeschichte wissen wir, dass Menschen seit Jahrtausenden in einer Vielzahl von Geschichten, Märchen, Mythen, Sagen, historischen Berichten, Theaterstücken, Ritualen, Gedichten, symbolischen (= mathematischen) Modellen usw. gelernt haben, Eigenschaften der Außenwelt wie auch der Innenwelt zu kommunizieren. Je nach Art des Textes ist der Bezug zur realen Welt oder zur möglichen Zukunft eher konkret, klar, nachvollziehbar, oder aber vage, nur angedeutet, nur vermutet, reine Fantasie.

Mit dem Aufkommen der empirischen Wissenschaften seit dem 16.Jahrhundert haben die Menschen gelernt, im Bereich der subjektiven Wahrnehmungen jene Teilmenge von Phänomenen gesondert zu behandeln, die sich mit Messvorgängen in der Außenwelt (= objektiv) verbinden lassen. Messvorgänge und deren Ergebnisse sind zwar weiterhin  subjektive Phänomene, aber eben nicht nur; ihnen korrespondiert etwas in der  gemeinsamen (= intersubjektiven = objektiven) Außenwelt.

Die Verknüpfung von empirischen Messwerten mit zeichenbasierten Ausdrücken einer formalen (meist mathematischen) Struktur zu einer  empirischen Theorie bleibt zwar weiterhin verankert in einem individuellen Bewusstsein, in einem individuellen Gedächtnis, aber die Verständigung zwischen den verschiedenen Gehirnen verschiedener Wissenschaftler kann über den Bezug zu objektiven Sachverhalten eher  synchronisiert werden als ohne diesen Bezug. Mit dem Voranschreiten der  Theoriebildung zu immer komplexeren Strukturen erweist sich allerdings die Absicherung solcher Theorien durch empirische Messwerte als immer schwieriger. Dazu kommt, dass moderne Messgeräte selbst schon komplexe Theorien repräsentieren, die man voraussetzen muss, um überhaupt solche Messwerte zu bekommen.

Als Nebeneffekt der neueren komplexen zeichenbasierten Theorien konnte man unter anderem auch die  Vorstellung von der Zeit auf unterschiedliche Weise präzisieren und neu formulieren.

III. ZEIT ZUM FÜHLEN – MEDITATION

Die Zeit zum individuellen Fühlen (andere nennen es Meditation) wurde von den einzelnen unterschiedlich genutzt. Historisch ist er Begriff vielfältig belegt, meist durch religiös-kirchliche Kontexte. Heute ist es im Westen ein Trendthema, vielfach unabhängig von Kirchen und Religionen, dem sich die Wirtschaft auf unterschiedliche Weise bemächtigt hat. Philosophisch ist es eine grundlegende Form der Selbstvergewisserung im eigenen Fühlen. Man kann sich war in vielfältigen Formen (speziell auch Bewegung, Sport, Spaziergang, usw.) ‚fühlen‘, das ruhige Dasitzen hat aber offensichtlich eine besondere Qualität. Allerdings gilt: tiefere Wirkungen stellen sich auch hier erst mit vielen Wiederholungen über einen längeren Zeitraum ein. Generell gilt, dass man mit dem Meditieren als ’sich fühlen‘ in eine ‚offene Zone des Erlebens‘ eintritt, deren ‚Ränder‘ und deren möglichen ‚Inhalte‘ im Vorhinein nicht abgegrenzt und nicht völlig definierbar sind. Im ‚Sich Fühlen‘ kann man sehr viel Neues entdecken, Unangenehmes wie Angenehmes.

IV. DISKURS

Philosophiewerkstatt 16.Juli 2017 - Gedankenbild - Diskurs
Philosophiewerkstatt 16.Juli 2017 – Gedankenbild – Diskurs

Nach der Einstimmung nahm das Gespräch Fahrt auf (siehe dazu das Schaubild ‚Diskurs‘). Zentraler Dreh- und Angelpunkt war der Begriff des Neuen.\\

Die erste Schwierigkeit bestand darin, wie man den Begriff des ‚Neuen‘ klarer fassen kann.

Grundlegend sollte gelten, dass wir das ‚Neue‘ immer im Kontext einer  bestimmten Person betrachten und hier mit Bezug auf die Gesamtheit des Wissens und der Erfahrung dieser Person. Diese Gesamtheit wurde auch gleichgesetzt mit der subjektiven Wahrheit dieser Person [Anmerkung: Zu den Elemente einer subjektiven Wahrheit siehe den vorausgehenden Abschnitt].  Als ’neu‘ sollte dann alles gelten, was relativ zu dieser vorausgesetzten  aktuellen subjektiven Wahrheit neu ist, weil es nicht zu dem bislang Bekanntem ‚passt‘.

Unterstellt man, dass die subjektive Wahrheit eine  dynamische Größe ist, die sich beständig ändern kann (z.B. durch Lernen), dann ist auch das ‚Neue‘ relativ: was eben noch ’neu‘ war ist beim nächsten Mal schon nicht mehr neu. Ein  aktuell Neues führt zu Veränderungen in der  aktuellen Wahrheit, wodurch das Neue zum schon Bekannten wird.

Wichtig ist auch, dass die wissensmäßigen und handlungsmäßigen Anteil der Erfahrung zusätzlich auf vielfältige Weise mit Erfahrungen von Bedürfnissen, Emotionen, Stimmungen, Gefühlen usw. verknüpft sind. Ist etwas Erinnerbares mit  negativen Emotionen verknüpft, kann es dazu führen, dass wir etwas ablehnen, ihm auszuweichen versuchen; verknüpft es sich mit positiven Emotionen, kann es umgekehrt anregen, dies anzustreben. Ist es  neutral, dann ist offen, was wir damit wollen.

Ohne Vorerfahrungen sind wir in gewisser Weise blind: wenn jemand eine Situation als  Gefahrensituation einstufen kann, dann kann — abhängig von der verfügbaren Erfahrung — eine ganze Skala von Reaktionen ablaufen. Entweder, man hat ein-trainierte Verhaltensmuster, die man abrufen kann, oder, wenn nicht, können angeborene Reflexe einsetzen, die einen zum Kampf oder zur Flucht oder z.B. zm Tot-stellen drängen. Hat man die Erfahrung nicht, dann können Menschen ’nichtsahnend‘ in Gefahrensituationen hineingehen, ohne sich entsprechend zu verhalten.

V. NACHTRAG

Was in den Gesprächen klar wurde, ist die  vollständige Abhängigkeit des einzelnen von seiner (subjektiven) Wahrheit. Was immer ein einzelner tun will, er wird geleitet werden von seiner aktuellen Wahrheit. Sollte diese seine Wahrheit durch seine Umgebung (Erziehung, Erfahrungen, andere Menschen…) einseitig sein, die ‚wahre Welt‘ nur ‚verzerrt‘ repräsentieren, dann könnte der einzelne selbst bei bester Absicht nicht optimal wahr handeln, da er nur seine eigene aktuelle Wahrheit hat.

Jeder einzelne Mensch stellt hier eine lebende Geschichte dar. Als Beispiel kann der Bericht über einen türkischen Lungenfacharzt Gergerlioglu dienen [Anmerkung: Siehe Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.Juli 2017, Nr.28, S.3.]  Als überzeugter Muslim hat er früher gemeinsam mit der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi = Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) für die Rechte von Muslimen, speziell für die Rechte der Frauen, gekämpft. Über dieses Engagement entdeckte er die Sicht der allgemeinen Menschenrechte. Von da war es für Ihn dann kein weiter Weg, zu entdecken, dass es ja noch andere religiöse Gruppen gab, die in der Türkei unterdrückt wurden: Aleviten, Christen, Kurden, Armenier, Atheisten, und die Misshandlung von Frauen. Er trat einer Menschenrechtsgruppe bei, wurde bald zum Vorsitzenden und dann deren Präsident in der ganzen Türkei. Damals arbeitete er noch eng mit der AKP zusammen, da sie zu dieser Zeit sich noch für die Rechte von Minderheiten einsetze und einen Aussöhnungsprozess mit den Kurden aktiv betrieb. Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit für die AKP änderte sich plötzlich alles.

Unter Erdogan begann jetzt ein nationalistisches Vorgehen, in dessen Zusammenhang der Friedensprozess mit den Kurden gestoppt wurde; Hetze gegen Kurden und Minderheiten war plötzlich Realität. Als Gergerlioglu versuchte den Wahnsinn deutlich zu machen, indem er im Internet die Bilder von zwei Särgen veröffentlichte, einer mit einer türkischen, einer mit einer PKK-Flagge; daneben jeweils eine Mutter die weinte. Gergerlioglu stellte die Frage, warum verzehren wir uns gegenseitig, warum können die beiden nicht gleichberechtigt nebeneinander, Schulter an Schulter leben?

Diese Aktion machten Gergerlioglu innerhalb von 48 Std zum Terrorverdächtigen. Er wurde vom Dienst suspendiert, sein Pass wurde als ungültig erklärt, dann wurde er offiziell aus dem Staatsdienst entlassen. In der Justiz gab es angeblich kein Personal, um den Staatsanwalt auf ordentliche Weise einzuschalten. An der Schule seine Sohnes wurde er gebeten, nicht mehr für den Elternverein zu kandidieren. Aus dem Moscheeverein seines Viertels wurde er verdrängt. Seine schon eingereichten medizinischen Aufsätze wurden nicht mehr gedruckt. Später wurde auch seine Krankenversicherung gekündigt. Wie sich herausstellte, wurden mittlerweile alle Bürger in zwei Codegruppen eingeteilt: die mit einer 1 am Anfang sind unerwünscht, die mit einer 0 sind OK. Dies kommt einer gesellschaftlichen Auslöschung gleich.

Dieses Beispiel zeigt, dass die subjektive Wahrheit sich bei Herrn Gergerlioglu nicht geändert hat, wohl aber die Wahrheit der politisch einflussreichen Partei und deren Anhänger und Unterstützer. Menschenrechte und eine bestimmte Auffassung von Demokratie besitzen gesellschaftlich keine Mehrheiten mehr. Dies führt zu willkürlichen Ausgrenzungen von mittlerweile geschätzten 175.000 Bürgern. Offene Prozesse, transparente Nachweise fehlen bislang. Äußerungen des türkischen Wirtschaftsministers über potentielle Gegner der Regierung lassen das Allerschlimmste befürchten.

Interessant ist die Reaktion von Herrn Gergerlioglu auf diese Ereignisse. Für ihn sind die geänderten Kontexte neu. Die realen Begleiterscheinungen sind bedrohlich, schmerzlich, lebensverneinend, ohne große Perspektive (er hat u.a. eine schwerkranke Frau, deren Medikamente er bald nicht mehr bezahlen kann). Was ihm bislang Kraft gibt, diese Differenz zwischen seiner subjektiven Wahrheit und die des Kontextes auszuhalten, das ist sein Glaube. Was ist das, dieser  Glaube?

KONTEXTE

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EINLADUNG zur PHILOSOPHIEWERKSTATT: Das Neue als Problem der Wahrheit. Sonntag 16.Juli 2017, 15:00, INM Frankfurt

THEMA

In den letzten Wochen poppte das Thema Das Neue in seiner Beziehung zu der aktuellen Wahrheit aus verschiedenen Kontexten nahezu parallel auf. Wenn die aktuelle Wahrheit für den einzelnen genau das ist, was er gerade in seinem Kopf als Wissen über die Welt mit sich herumträgt, mit dem sie ihre aktuelle Wahrnehmung interpretiert und das eigene Handeln entscheidet, dann ist jede Art von Neuem problematisch. Gemessen an der eigenen, aktuellen Anschauung ist alles, was da kommt, zunächst einmal eine Abweichung. Es stellt sich dann die Frage, was man damit macht. Die Vielfalt der Antworten ist das, was wir jeden Tag im privaten Umfeld, in der Wirtschaft, in der Politik, in den Massenmedien erleben. Je nach Interessenlage (und Wissen) wird das ‚Abweichende‘ entweder zum Bösen schlechthin instrumentalisiert oder wandelt sich zur neuen Verheißung, dass ja dann alles anders und besser werden wird.

Wie stehen wir zm Neuen? Gibt es Verhaltensgewohnheiten, Regeln, Strategien im Umgang mit dem ‚Neuen‘? Gibt es so etwas wie eine Kultur des Neuen in allen Bereichen unseres Lebens oder ist es eine Dauerbaustelle jeder Gesellschaft, wie sie mit Neuem umgeht?

Warum kann es überhaupt ‚Neues‘ geben? Wenn doch unsere privaten Ansichten über die Welt wahr sind, warum kann die Welt dann so — unerlaubterweise 🙂 — anders sein? Verdrängen wir nicht ständig, dass wir uns selbst vom Embryo über das Baby über das Kind zum Teenager, zum jungen Erwachsenen, Leistungsträger, Senior beständig verändern, wir uns selbst gegenüber — sozusagen — etwas Neues sind? Sind wir mit dieser unserer eigenen Art der beständigen Neuheit nicht selbst ‚unheimlich‘? Machen wir uns selbst Angst?

Diese und viele andere Fragen könne das Thema des gemeinsamen philosophischen Gesprächs am Sonntag sein, wenn man dazukommt … 🙂

WO

INM – Institut für Neue Medien, Schmickstrasse 18, 60314 Frankfurt am Main (siehe Anfahrtsskizze). Parken: Vor und hinter dem Haus sowie im Umfeld gut möglich.

WER

Einleitung und Moderation: Prof.Dr.phil Dipl.theol Gerd Doeben-Henisch (Prof.emeritus Frankfurt University of Applied Sciences, Mitglied im Vorstand des Instituts für Neue Medien)

ZEIT

Beginn 15:00h, Ende 18:00h. Bitte unbedingt pünktlich, da nach 15:00h kein Einlass.

ESSEN & TRINKEN

Es gibt im INM keine eigene Bewirtung. Bitte Getränke und Essbares nach Bedarf selbst mitbringen (a la Brown-Bag Seminaren)

EREIGNISSTRUKTUR

Bis 15:00h: ANKOMMEN

15:00 – 15:30h GEDANKEN ZUM EINSTIEG

15:30 – 16:00h: REINKOMMEN: Erste Fragen, Kommentare, um in das Thema hinein zu kommen.

16:00– 16:20h: Zeit zum INDIVIDUELLEN FÜHLEN (manche nennen es Meditation)

16:20 – 16:30h: ASSOZIATIONEN INDIVIDUELL (privat)

16:30 – 17:15h: Erste GESPRÄCHSRUNDE (Mit Gedankenbild/ Mindmap)

17:15 – 17:25h: BEWEGUNG, GETRÄNKE, REDEN

17:25– 17:55h: Zweite GESPRÄCHSRUNDE (Mit Gedankenbild/ Mindmap)

17:55 – 18:00h:: AUSBLICK, wie weiter

Ab 18:00h VERABSCHIEDUNG VOM ORT

Irgendwann: BERICHT(e) ZUM TREFFEN, EINZELN, IM BLOG (wäre schön, wenn)

Irgendwann: KOMMENTARE ZU(M) BERICHT(en), EINZELN, IM BLOG (wäre schön, wenn)

KONTEXTE

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Das aktuelle Publikationsinteresse des Blogs findet sich HIER.

HINWEIS: PHILOSOPHY-IN-CONCERT No.3

Am Samstag, 22.Juli 2017 findet auch die nächste PHILOSOPHY-IN-CONCERT Performance statt; es ist No.3! Weitere Infos gibt es HIER

DAS NEUE ALS PROBLEM DER WAHRHEIT – Zwischenbemerkung

PDF

Überblick

Im Spannungsfeld zwischen intelligenten Maschinen und dem Menschen entwickelt sich das Bild vom Menschen in jede Richtung als atemberaubend. Hier eine kurze Werkstattnotiz beim Versuch, dies alles weiter zu denken. Hier der Punkt ’Wahrheit und Neues’.

           II. KONTEXT

Seit einiger Zeit fokussieren sich die Themen bei cagent ja auf die beiden Pole intelligente Maschinen einerseits und Menschenbild andererseits. Beides beeinflusst sich im täglichen Leben gegenseitig.

Während die Position der ’intelligenten Maschinen’ trotz aller methodischen Probleme der aktuellen Künstlichen Intelligenz Forschung – letztlich leicht abgrenzbar und überschaubar ist [(1) Anmerkung: Im Grundsätzlichen, nicht was die schier unübersehbare Fülle der Publikationen betrifft, einschließlich der Software.], erweist sich dasThema Menschenbild als umso differenzierter und komplexer, je mehr man hinschaut.

Das eine Segment des Menschenbildes repräsentieren die neuen empirischen Erkenntnisse innerhalb der Disziplinen Psychologie, Biologie (inklusive Gehirnforschung), Molekularbiologie, und Astrobiologie. Ein anderes Segment repräsentieren die Wissenschaften zum Verhalten des Menschen in historisch-kultureller Sicht. Zur Kultur rechne ich hier auch Formen des Wirtschaftens (Ökonomie), Formen der Technologie, Formen politischer Strukturen, Formen des Rechts, usw.

Sowohl die empirischen Disziplinen haben unser Wissen um den Menschen als Teil des biologischen Lebens explodieren lassen, aber auch die historisch-kulturellen Erkenntnisse. Das Eigenschaftswort atemberaubend’ ist eigentlich noch eine Untertreibung für das Gesamtbild, das sich hier andeutet.

Was bislang aber nicht – noch nicht – stattfindet, das ist eine Verknüpfung der empirischen Erkenntnisse mit den historisch-kulturellen Einsichten. Für diese Trennung gibt es sicher viele Gründe, aber letztlich kann es keine wirkliche Rechtfertigung für diese anhaltende Spaltung des Denkens geben. Das historisch-kulturelle Phänomen mit dem homo sapiens als Kernakteur ist letztlich nur möglich und verstehbar unter Voraussetzung  der empirisch erkannten Strukturen und – das wird mit dem Wort von der ’Koevolution’ bislang nur sehr schwach thematisiert – die im Historisch-Kulturellen auftretenden Phänomene sind nicht nur irgendwie Teile der biologischen Evolution’, sondern sie sind wesentliches Moment an dieser. Von daher erscheint jeder Versuch, von biologischer Evolution zu sprechen, ohne das Historisch-Kulturelle einzubeziehen, im Ansatz als  ein methodischer Fehler.

In einem längeren Artikel für ein deutschlandweites Presseorgan hatte cagent versuchsweise das Verhältnis zwischen dem Konzept der ’Künstlichen Intelligenz’ und dem ’Glauben an Gott’ ausgelotet [(2) Anmerkung: Demnächst auch hier im Blog in einer erweiterten Fassung.]  Der Begriff Glaube an Gott’ ist natürlich vom Ansatz her vieldeutig, vielschichtig, abhängig vom jeweiligen Betrachter, seinem Ort, seiner Zeit. In dem Beitrag hat cagent das Thema ’Glauben an Gott’ am Beispiel der jüdisch-christlichen Überlieferungsbasis, der Bibel, diskutiert [(3) Anmerkung: Beispiele für Übersetzungen sind einmal die deutsche ökumenische Einheitsübersetzung [BB81], die griechische Version des Alten Testamentes bekannt als Septuaginta (LXX) [Rah35], sowie eine Ausgabe in hebräischer Sprache [KKAE66]. Es gibt auch noch die berühmte lateinische Ausgabe bekannt als ’Vulgata’ [Tvv05] (Als online-Ausgabe hier http://www.wilbourhall.org/pdfs/vulgate.pdf).]

Da die Bibel selbst eine Art ’Überlieferungsmonster’ darstellt, das sich aus einer viele Jahrhunderte andauernden mündlichen Überlieferungsphase speist, die dann ca. zwischen -700 und +200 verschriftlicht wurde, um dann weitere Jahrhunderte zu brauchen, um zu fixierten Textsammlungen zu führen [(4) Anmerkung: Siehe dazu z.B. [ZO98].]  konnte die Diskussion natürlich nur exemplarisch geführt werden. Dazu bot sich das erste Buch des alten Testaments an, das als Buch ’Genesis’ bekannt ist. In den ersten 11 Kapiteln trifft der Leser auf eine Textfolge, die offensichtlich vorschriftliche Traditionsquellen verarbeitet haben. Das Besondere an den Stoffen ist ihre globale Sicht: es geht um die Welt als ganze, um die Menschheit, um ein sehr ursprüngliches Verhältnis der Menschen zu einem X genannt ’Gott’, und diese Stoffe finden sich in ganz vielen Kulturen des mittleren Ostens, Afrikas, und Indiens. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird weitere Forschung noch mehr Parallelen in noch vielen anderen Kulturen finden (oder hat sie bereits gefunden; cagent ist kein Spezialist für vergleichende Kulturgeschichte).

Was sich unter dem Strich in all diesen wunderbaren Zeugnissen menschlichen Handelns, Verstehens und Schreibens zeigt, das ist das Ringen des Menschen, seine jeweils aktuelle Sichten der Welt mit all der aufbrechenden Vielfalt des Lebens irgendwie zu versöhnen’. Dies führt zu der angekündigten Zwischenbemerkung.

II. WAHRHEIT UND NEUES

Im Zeitalter der Fake-News kann man den Eindruck gewinnen, dass ein Begriff wie Wahrheit sehr ausgehöhlt wirkt und von daher weder die Rolle von Wahrheit noch die mit der Wahrheit einhergehende Dramatik  überhaupt wahrgenommen,  geschweige denn erkannt wird.

Es gibt viele Gründe in der Gegenwart, warum selbst angestammte Bereiche der Wahrheit wie die empirischen Wissenschaften Erosionserscheinungen aufweisen; von anderen Bereichen ganz zu schweigen. Dennoch können all diese Verformungen und Entartungen nicht gänzlich darüber hinwegtäuschen, dass – selbst wenn traditionelle Wahrheits-Begriffe möglicherweise korrigiert, adjustiert werden müssen (im öffentlichen Bewusstsein) die grundlegenden Sachverhalte der Übereinstimmung unseres virtuellen Denkens mit einer jenseits dieses Denkens unterstellten objektiven Wirklichkeit weiterhin von grundlegender Bedeutung und lebenswichtig sind.

Jenseits aller allgemein philosophischen und speziell wissenschaftsphilosophischen Überlegungen zu Wahrheit’ weiß jeder einzelne, dass er in seinem Alltag nicht weit kommt, wenn das, was er persönlich von der Welt zu wissen glaubt, nicht zutrifft. Nach dem Aufwachen folgen viele, viele Stunden von Verhaltensweisen, die sich beständig dadurch speisen, dass man Wissen über eine Welt hat, die sich in den konkreten Handlungen dann auch bestätigen. Das ist unser primärer, alltäglicher Wahrheitsbegriff: Es verhält sich im Handeln so, wie wir in unserem Denken annehmen.

Zu dieser Alltagserfahrung gehört auch, dass wir uns manchmal irren: wir haben im Kopf einen Termin, der aber z.B. Tage, Zeiten, Orte verwechselt. Wir wollen einen Gegenstand mitnehmen, und er ist nicht dort, wo wir ihn erinnern. Wir fahren einen Weg, und stellen plötzlich fest, wir sind an einem Ort, der nicht wirklich zu unserer Zielvorstellung passt; usw.

Alle diese Irrtumserfahrungen lassen uns aber nicht grundsätzlich an unserer Fähigkeit zweifeln, dass wir ein handlungstaugliches Bild von der Welt haben können. Dieses Bild, sofern es funktioniert, nennen wir wahr.

Von anderen Menschen erfahren wir gelegentlich, dass sie die Orientierung im Alltag verloren haben. Ärzte sagen uns, dass diese Menschen ’krank’ seien, dass ihre Psyche oder/ und ihr Gehirn beschädigt sei. Das haken wir dann ab als mögliche Störungen, die vorkommen können; das tangiert dann aber nicht unbedingt unsere eigene Überzeugung, dass wir Wahrheitsfähig sind.

Hier gibt es nun einen (natürlich gäbe es sehr viele) interessanten Punkt: wenn wir die Wahrheit über die Handlungstauglichkeit definieren, die eine Art von Übereinstimmung zwischen Wissen/ Denken und der erfahrbaren Welt (einschließlich des eigenen Körpers) beinhaltet, wie gehen wir dann mit Neuem um?

Neues’ definiert sich ja gerade dadurch, dass es mit dem bisher Bekannten nichts oder nur wenig zu tun hat. Wirklich ’Neues’ lässt ein Stück Wirklichkeit aufbrechen, das wir so bislang nicht kennen.

Historisch und psychologisch können wir bei uns Menschen eine gewisse Tendenz erkennen, uns eher im Bekannten einzurichten, da dies überschaubar und berechenbar ist. Je mehr Vorteile ein Mensch aus einer bestimmten gegebenen Situation zieht, je mehr Sicherheit er mit ihr verbindet, umso weniger ist der Mensch geneigt, die Situation zu verändern oder sie zu verlassen. Je schlechter es Menschen geht, umso eher sind sie bereit, das Bekannte zu verlassen, denn es kann möglicherweise nur noch besser werden. Aber auch die Wissenschaft kennt solche Beharrungstendenzen. In allen Bereichen findet man eine große Zähigkeit, erworbene Anschauungen über Jahrhunderte zu tradieren, auch wenn schon längst klar ist, dass diese Anschauungen ’vorne und hinten’ nicht so wirklich passen. Im Grunde genommen ist die gesamte Geschichte eine Geschichte des Kampfes zwischen den beharrenden Anschauungen und den Abweichlern’ (politisch, moralisch, religiös, künstlerisch, )

Wenn man sich dann klar macht, dass das biologische Leben (soweit wir es heute verstehen können) im innersten Kern einen Generator für Neues fest eingebaut hat, wenn wir wissen, wie jedes einzelne Lebewesen über Zeugung, Geburt, älter werden, Sterben kontinuierlichen Wandlungsprozessen unterworfen ist; wenn wir wissen, dass die Erde, auf der wir leben, beständig massiven Veränderungen unterliegt, dazu das Sonnensystem, unsere Heimatgalaxie, die Milchstraße, das ganze bekannte Universum, … dann müsste eigentlich klar sein, dass das Neue eigentlich der wichtigste Rohstoff des Wissens und des Handelns und aller kulturellen Systeme sein müsste. Genau das Gegenteil scheint aber bislang der Fall zu sein. Firmen kennen zwar das Problem der Innovation, um am Markt überleben zu können; im militärischen Bereich gibt es einen Innovationsdruck aufgrund unterstellter (oder auch realer) Konkurrenz um die Macht; die Unterhaltungsindustrie kommt nicht ohne Innovationen aus; und dennoch, die offizielle Kultur, die offiziellen Erziehungsprozesse sind nicht auf eine Kultur des Neuen ausgerichtet. Offizielle Literatur verdaut Vergangenheit, Gegenwart und Unmengen an subjektiven Gefühlen, nur in den kulturell eher immer noch geächteten Science- Fiction Werken blitzt Neues auf, Verarbeitung möglicher Zukunft, Auseinandersetzung zwischen Heute und Morgen, Auseinandersetzung zwischen Natur, Technik und Geist.

In einem vorausgehenden Eintrag   hatte cagent über Offenbarung geschrieben, nicht als Kategorie der Religionen, sondern vorab zu allen Religionen als Grundkategorie des menschlichen In-Der-Welt-Seins. Das hier angesprochene Neue ist ein Aspekt dieser grundlegenden Kategorie der Offenbarung als Weise, wie wir Menschen uns in dieser Welt vorfinden. Wir sind in jedem Moment vollständig in jeder Hinsicht einer Wirklichkeit ausgesetzt, die uns in jeder Hinsicht übersteigt in ihren Möglichkeiten. Unser Körper ist Teil dieser vorfindlichen Wirklichkeit und wer kann behaupten, dass wir die 5-10 Billionen (10^12) Zellen eines einzelnen homo-sapiens-Körpers wirklich verstehen? Unser Gehirn ist Teil davon und wer kann schon behaupten, er verstehe sein eigenes Gehirn, geschweige denn sein eigenes Denken? Und dies ist ja nur ein winziger Bruchteil jener Wirklichkeit, in der wir uns vorfinden.

Wer das Neue scheut, ist im realen Leben noch nicht angekommen. Was aus all dem folgt, ist natürlich entsprechend offen. Das mag niemand, es sei denn …

QUELLEN

  • [BB81] Katholisches Bibelwerk and Deutsche Bibelgesellschaft. Die Heilige Schrift. Einheitsübersetzung. Verlag Katholisches Bibelwerk & Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, 1981.
  • [KKAE66] Rudolg Kittel, P. Kahle, A. Alt, and O. Eissfeldt. Biblia Hebraica. Würthembergische Bibelanstalt, Stuttgart, 7.Aufl., 1966.
  • [Rah35] Alfred Rahlfs. Septuaginta. Würthembergische Bibelanstalt, Stuttgart, 9.Aufl., 1935.
  • [Tvv05] Michaele Tvveedale, editor. BIBLIA SACRA JUXTA VULGATAM CLEMENTINAM. Bishops’ Conference of England and Wales, London (UK), Elektronische Ausgabe, 2005.
  • [ZO98] Erich Zenger et.al.. Einleitung in das Alte Testament. W.Kohlhammer, Stuttgart, 3.Aufl., 1998.

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Notiz: INNOVATION ALS METHODE. FLEXIBLER KOGNITIVER SCHWERPUNKT. Nachhall zu einem Gespräch

NEUES IM ALLTAG

  1. Im Alltag passiert es ständig: man trifft auf etwas, was man nicht kennt, was anders ist, was sich anders verhält als gewohnt.

WAS TUN?

  1. Natürlich tut man das, was man immer spontan tut: man versucht es mit Bekanntem zu vergleichen; man versucht, das Neue in bekannte Muster einzuordnen. Man sucht nach Anhaltspunkten, es zu bewerten.
  2. Stellt es eine mögliche Bedrohung des Status Quo dar oder könnte es hilfreich sein? Eröffnet es neue, interessante Handlungs- und damit Erfahrungsmöglichkeiten mit positiven Erweiterungen oder kann es schaden?

SEX-ROBOTER

  1. Im Rahmen eines Workshops wurde unsere Arbeitsgruppe mit unterschiedlichen Szenarien konfrontiert. Eines war ein Videobericht über die Produktion von Sex-Robotern(weibliche; es gibt aber auch männliche sowie transgender Typen).

UND NUN?

  1. Zunächst reagierten alle zurückhaltend, tastend, fragend, befremdet, was soll das? Soll das was mit Liebe zu tun haben? Ist das nicht abartig (verglichen mit der offiziellen Norm, was ‚man so tut‘)?

PUPPEN SIND BEKANNT

  1. Es kamen dann aber Beispiele von Menschen (Kinder, aber auch Erwachsene), die mit Puppen spielen. Puppen haben eine sehr lange Tradition in allen Kulturen. Puppen (leblose Puppen!) regen die Fantasie an, dienen als Projektionsflächen, lassen Rollenspiele zu, ermöglichen Kindern soziale Situationen durchzuspielen, ihre Emotionen auszuprobieren, in spielerischen Interaktionen mit anderen versuchsweise auszuprobieren, wie sich etwas anfühlen würde.
  2. Bei Erwachsenen kennt man die Situation, dass sie Puppen als Ersatzpersonen benutzen: Paare haben Puppen als Kinderersatz, Einzelpersonen haben Puppen als Partnerersatz. Man kann dies vielleicht so lesen, dass ein emotionales und soziales Defizit durch solche Puppen einen leichten Ausgleich erfährt, zumindest so viel, dass diese Menschen dadurch weniger an dem Defizit leiden, den Ersatz sogar genießen können, sich daran freuen.

SOZIALE ROBOTER

  1. Dann gibt es heute in manchen Ländern (speziell Japan) schon tierähnliche Roboter als Haustiere, die vereinsamten Personen den Alltag sozial anreichern. Die berichteten emotionalen Bindungen werden als positiv empfunden.

HAUSTIERE

  1. Was ist mit all den Tierliebhabern? Ja, es sind reale biologische Wesen, aber sind diese Emotionen so anders als bei den künstlichen Puppen oder Robotern? Die emotionale Bindung an die künstlichen Puppen oder Roboter kann, wie wir wissen, sehr stark sein.

VIRTUELLE PARTNER

  1. Nimmt man dazu die vielen Millionen online ComputerspielerInnen: sie spielen oft täglich, oft tägliche mehr als eine Stunde. Nicht wenige sind richtig süchtig (Spielsucht). Während bei den einen diese Spielsucht zum Verfall traditioneller sozialer Bindungen führt, gibt es aber auch den starken Trend, über die Beziehungen in der virtuellen Welt Freundeskreise in der realen Welt aufzubauen. Es entstehen neue, spannende reale soziale Beziehungen.

ZURÜCK ZUM SEX-ROBOTER

  1. Zurück zu den Sex-Robotern. Die moderne Technik macht es möglich, dass es menschenähnliche, aber vom Hersteller bewusst nicht ganz ähnliche, Maschinen gibt, die speziell für sexuelle Handlungen gebaut werden. Allerdings geht das Interesse der Produzenten deutlich über die reine Sexualität hinaus. Das Aussehen, das Verhalten, insbesondere die Dialogfähigkeiten der Sex-Roboter wird ständig verbessert und ausgeweitet.
  2. Jemand berichtete von einer Videodokumentation zu einem Mann, der eine Sex-Puppe (kein Roboter!) hatte, die für ihn zu einem Partnerersatz geworden ist. Jetzt könnte man dies nach bestimmten Partner-Idealen als defizitär, abartig klassifizieren. Aber offensichtlich hat diese Puppe den Mann in einem bestimmten Bereich sein Gefühlslebens stabilisiert. Könnte man daraus vermuten, dass Sex-Roboter dann auch zu einer Ausweitung des Beziehungstyps führen? Der Sex mag der Aufhänger sein, aber das emotionale Feld, das durch solch eine Maschine ausgelöst wird, kann erheblich umfangreicher sein. Blendet man mal aus, dass solche Sex-Roboter natürlich auch eine neue Möglichkeiten bietet, Menschen auszuspionieren, sie zu steuern, sie zu erpressen, könnten solche emotionale Felder auch mögliche Brücken sein zu erweiterten sozialen Kontakten.
  3. Eine andere Teilnehmerin erinnerte daran, dass es bei den Griechen absolut üblich war, dass systematisch junge Männer, eher noch Kinder, älteren Männern zugeführt wurden, und dass die Auffassung bestand, das man ausgehend von der Sexualität/ Erotik zu umfassenderen Liebeserfahrungen kommen könne. Heute wird dies in vielen Ländern als Pädophilie eingestuft und gesellschaftlich geächtet (und nach heutigem Kenntnisstand auch weitgehend gerechtfertigt, da wir gelernt haben, was dies mit der Psyche von Kindern anrichtet).
  4. Interessant ist auch, dass der Begriff ‚emotionale Robotik‘ mittlerweile zusammen geschrumpft ist auf ‚klinisch reine‘ Anwendungen von Robotern in Wechselwirkung mit Menschen, in denen der emotionale Anteil auf einige wenige Emotionen (wobei offen bleibt, was da überhaupt Emotionen sein sollen) eingeschränkt wurde. Während sich zum Stichwort ‚emotionale Robotik‘ (DE) über 500.000 Links finden, sind es bei google (DE) bei ‚Sexroboter‘ ’nur‘ etwa 36.000.
  5. Gemessen an vielen tradierten Vorstellungen zu Sex und Liebe erscheint der Sex-Roboter als unangemessen. Zugleich muss man aber auch sagen, dass die tradierten Bildern von Sex und Liebe meistens sehr schlicht, dazu oft noch ideologisch verbrämt, sind, die wenig mit der biologischen und psychischen Realität zu tun haben. Man müsste mal abwarten, wie Menschen diese neue Technologie erleben, wie sie sich auswirkt.

BLINDE FLECKEN BEI WAHRNEHMUNG SOZIALER REALITÄT

  1. Das Autofahren produziert jedes Jahr viele tausend Tote; aber das regt praktisch niemand auf. Man betrachtet es als den gesellschaftlichen Preis für die Mobilität.
  2. Der übermäßige Zuckeranteil in sehr vielen Lebensmitteln macht immer größere Anteile der Bevölkerung übergewichtig und schwer krank. Die Gesellschaft erleidet damit eine vielfache Belastung, nicht zu reden von den vielen Milliarden Gesundheitskosten, die entstehen.
  3. Schon heute gibt es Untersuchungen, die zeigen, das große Anteile der Kinder und Jugendliche (aber auch Erwachsene), durch die Smartphones und umfassend verfügbaren Netze psychisch abhängig von diesen Geräten geworden sind. Sie können sie nicht mehr ausschalten, sie können nicht mehr einfach so irgendwo sitzen, gehen, sich mit anderen unterhalten. Menschen sitzen am gleichen Tisch und jeder macht irgendetwas mit seinem Smartphone; nur direkt miteinander reden, das funktioniert nicht mehr.

UMGANG MIT NEUEM

  1. Was haben alle diese Beispiele gemeinsam? Neue Gegenstände, neue Technologien, eröffnen neue Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten. Menschen können durch den Gebrauch sich selbst, ihre Gefühle, anders als vorher erleben. Sie können darin auch andere oft neu erleben. Die Gesamtheit der Wirkungen entfaltet sich aber meist erst nach längerer Zeit, nach längerem Gebrauch. Wenn es wirklich etwas Neues ist, dann kann man es nicht vorab mit dem alten Wissen angemessen begreifen, verstehen, bewerten. Natürlich schließt dies ein Risiko ein: es kann sein, dass der Schaden nachher größer ist als der Nutzen. Dann ist das Klagen groß und jeder wusste es besser. Es kann aber auch sein, dass neue Erfahrungs- und Lebensmöglichkeiten entdeckt werden. Dann freuen sich alle. Vorher wissen konnte man dies aber real nicht. Das Neue ist ohne reales Risiko nicht zu haben. Der Preis einer besseren Zukunft ist immer die Möglichkeit von Verlust und Scheitern.

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K.G.DENBIGH: AN INVENTIVE UNIVERSE — Relektüre — Teil 4

K.G.Denbigh (1975), „An Inventive Universe“, London: Hutchinson & Co.

BISHER

Im Teil 1 der Relektüre von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“ hatte ich, sehr stark angeregt durch die Lektüre, zunächst eher mein eigenes Verständnis von dem Konzept ‚Zeit‘ zu Papier gebracht und eigentlich kaum die Position Denbighs referiert. Darin habe ich sehr stark darauf abgehoben, dass die Struktur der menschlichen Wahrnehmung und des Gedächtnisses es uns erlaubt, subjektiv Gegenwart als Jetzt zu erleben im Vergleich zum Erinnerbaren als Vergangen. Allerdings kann unsere Erinnerung stark von der auslösenden Realität abweichen. Im Lichte der Relativitätstheorie ist es zudem unmöglich, den Augenblick/ das Jetzt/ die Gegenwart objektiv zu definieren. Das individuelle Jetzt ist unentrinnbar subjektiv. Die Einbeziehung von ‚Uhren-Zeit’/ technischer Zeit kann zwar helfen, verschiedene Menschen relativ zu den Uhren zu koordinieren, das grundsätzliche Problem des nicht-objektiven Jetzt wird damit nicht aufgelöst.

In der Fortsetzung 1b von Teil 1 habe ich dann versucht, die Darlegung der Position von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“ nachzuholen. Der interessante Punkt hier ist der Widerspruch innerhalb der Physik selbst: einerseits gibt es physikalische Theorien, die zeitinvariant sind, andere wiederum nicht. Denbigh erklärt diese Situation so, dass er die zeitinvarianten Theorien als idealisierende Theorien darstellt, die von realen Randbedingungen – wie sie tatsächlich überall im Universum herrschen – absehen. Dies kann man daran erkennen, dass es für die Anwendung der einschlägigen Differentialgleichungen notwendig sei, hinreichende Randbedingungen zu definieren, damit die Gleichungen gerechnet werden können. Mit diesen Randbedingungen werden Start- und Zielzustand aber asymmetrisch.

Auch würde ich hier einen Nachtrag zu Teil 1 der Relektüre einfügen: in diesem Beitrag wurde schon auf die zentrale Rolle des Gedächtnisses für die Zeitwahrnehmung hingewiesen. Allerdings könnte man noch präzisieren, dass das Gedächtnis die einzelnen Gedächtnisinhalte nicht als streng aufeinanderfolgend speichert, sondern eben als schon geschehen. Es ist dann eine eigene gedankliche Leistungen, anhand von Eigenschaften der Gedächtnisinhalte eine Ordnung zu konstruieren. Uhren, Kalender, Aufzeichnungen können dabei helfen. Hier sind Irrtümer möglich. Für die generelle Frage, ob die Vorgänge in der Natur gerichtet sind oder nicht hilft das Gedächtnis von daher nur sehr bedingt. Ob A das B verursacht hat oder nicht, bleibt eine Interpretationsfrage, die von zusätzlichem Wissen abhängt.

Im Teil 2 ging es um den Anfang von Kap.2 (Dissipative Prozesse) und den Rest von Kap.3 (Formative Prozesse). Im Kontext der dissipativen (irreversiblen) Prozesse macht Denbigh darauf aufmerksam, dass sich von der Antike her in der modernen Physik eine Denkhaltung gehalten hat, die versucht, die reale Welt zu verdinglichen, sie statisch zu sehen (Zeit ist reversibel). Viele empirische Fakten sprechen aber gegen die Konservierung und Verdinglichung (Zeit ist irreversibel). Um den biologischen Phänomenen gerecht zu werden, führt Denbigh dann das Konzept der ‚Organisation‘ und dem ‚Grad der Organisiertheit‘ ein. Mit Hilfe dieses Konzeptes kann man Komplexitätsstufen unterscheiden, denen man unterschiedliche Makroeigenschaften zuschreiben kann. Tut man dies, dann nimmt mit wachsender Komplexität die ‚Individualität‘ zu, d.h. die allgemeinen physikalischen Gesetze gelten immer weniger. Auch gewinnt der Begriff der Entropie im Kontext von Denbighs Überlegungen eine neue Bedeutung. Im Diskussionsteil halte ich fest: Im Kern gilt, dass maximale Entropie vorliegt, wenn keine Energie-Materie-Mengen verfügbar sind, und minimale Entropie entsprechend, wenn maximal viele Energie-Materie-Mengen verfügbar sind. Vor diesem Hintergrund ergibt sich das Bild, dass Veränderungsprozesse im Universum abseits biologischer Systeme von minimaler zu maximaler Entropie zu führen scheinen (dissipative Prozesse, irreversible Prozesse, …), während die biologischen Systeme als Entropie-Konverter wirken! Sie kehren die Prozessrichtung einfach um. Hier stellen sich eine Fülle von Fragen. Berücksichtigt man die Idee des Organisationskonzepts von Denbigh, dann kann man faktisch beobachten, dass entlang einer Zeitachse eine letztlich kontinuierliche Zunahme der Komplexität biologischer Systeme stattfindet, sowohl als individuelle Systeme wie aber auch und gerade im Zusammenspiel einer Population mit einer organisatorisch aufbereiteten Umgebung (Landwirtschaft, Städtebau, Technik allgemein, Kultur, …). Für alle diese – mittlerweile mehr als 3.8 Milliarden andauernde – Prozesse haben wir bislang keine befriedigenden theoretischen Modelle

Im Teil 3 geht es um das Thema Determinismus und Emergenz. Ideengeschichtlich gibt es den Hang wieder, sich wiederholende und darin voraussagbare Ereignisse mit einem Deutungsschema zu versehen, das diesen Wiederholungen feste Ursachen zuordnet und darin eine Notwendigkeit sieht, dass dies alles passiert. Newtons Mechanik wird in diesem Kontext als neuzeitliche Inkarnation dieser Überzeugungen verstanden: mit klaren Gesetzen sind alle Bewegungen berechenbar. Denbigh zeigt dann anhand vieler Punkte dass die Annahme eines Determinismus wenig plausibel ist. Betrachtet man den Gang der Entwicklung dann kann man nach Denbigh etwa folgende Komplexitätsstufen unterscheiden: (i) Fundamentale Teilchen, (ii) Atome, (iii) Moleküle, (iv) Zellen, (v) Multizelluläre Systeme, (vi) Soziale Gruppen.(vgl. S.143) Aus wissenschaftlicher Sicht müssen sich alle diese ‚Stufen‘ (‚level‘) einheitlich erklären lassen.

KAPITEL 5: GIBT ES IRGENDWELCHE SCHÖPFERISCHEN PROZESSE? (149 – 178)

1. Nachdem Denbigh in den vorausgehenden 4 Kapiteln die Begrenztheit vieler Konzepte in der modernen Physik in den Fokus gerückt hatte (z.B.: dass die Welt nicht deterministisch ist; dass die Naturgesetze Gedankenbilder sind und nicht automatisch eine ontologische Geltung besitzen; dass alle bekannten Prozesse in der Natur irreversibel sind; dass das Konzept einer Symmetrie nicht empirisch gedeckt ist; dass die sogenannten Konservierungsgesetze postuliert wurden bevor sie überhaupt definiert wurden; dass alles darauf hindeutet, dass die Entropie zunimmt ), konzentriert er sich im letzten 5.Kapitel auf die Frage, ob es überhaupt schöpferische/ erfinderische (‚inventive‘) Prozesse gibt.
2. Mit schöpferisch meint er nicht einen Vorgang wie in den religiösen Schöpfungsmythen, in denen quasi aus dem Nichts ein unbekanntes Etwas genannt Gott/ Schöpfer etwas hervorbringt (die Welt), die dann völlig deterministisch abläuft, sondern eher einen abgeschwächten Hervorbringungsprozess, der ohne Notwendigkeit geschieht, nicht voraussagbar ist, etwas wirklich Neues bringt, und der alle Phänomene des bekannten Universums abdeckt. Er geht sogar soweit, zu sagen, dass alle die zuvor genannten Komplexitätsstufen (i) Fundamentale Teilchen, (ii) Atome, (iii) Moleküle, (iv) Zellen, (v) Multizelluläre Systeme, (vi) Soziale Gruppen.(vgl. S.143) sich als Momente an diesem generischen Innovationsprozess erweisen lassen müssten.

3. Dieser generische Innovationsprozess ist dann allgemeiner als der übliche Emergenz-Begriff. Emergenz beschreibt üblicherweise das Auftreten spezifischer Komplexitätsstufen bzw. -eigenschaften im engeren Sinne und nicht einen generischen Prozess für alle diese Phänomene.

4. In Anlehnung an das bekannte Schema der genetischen Algorithmen (hier ein knapper Überblick zur historischen Entwicklung des Konzepts Genetischer Algorithmus (GA) sowie Classifier Systeme) stellt Denbigh letztlich drei charakterisierende Momente für seine Idee eines Innovationsprozesses vor: 1) Die Ereignisse sind zufällig ; sie sind 2) selektiv (bei biologischen Systemen oft noch verstärkt durch sexuell bedingte Vermischung im Erbmaterial (crossover)(s.160)); schließlich 3) verstärkend aufgrund des anschließenden Erfolges.
5. Er illustriert dieses Schema beim Übergang vom BigBang zu den ersten Gaswolken, dann zu den Sternen und Galaxien, dann bei der Molekülbildung, bei der Zellbildung, usw. Wichtig ist ihm auch, dass dieses Ereignismodell nicht an biologische Substrate gebunden ist, sondern eben von nicht-biologischen Systemen allgemein auch befolgt werden kann, speziell auch von modernen programmgesteuerten Maschinen (Computern).
6. Eine noch allgemeinere Charakterisierung ist jene, die diese schöpferischen Prozesse ansiedelt zwischen Ordnung und Unordnung. Ein Beispiel für hohe Ordnung wären die kristallinen Strukturen (sie sind für schöpferische Prozesse zu starr), und ein Beispiel für Unordnung wäre gasförmige Strukturen (sie sind für schöpferische Prozesse zu instabil, zu flüchtig). (Vgl.S.162f) Mit anderen Worten, bei allem Aufbau von Ordnung muss es hinreichend viel Rest-Unordnung geben, ansonsten kommen alle Prozesse zum Stillstand, oder: gefordert ist ein Zustand unterhalb maximaler Entropie.
7. Wie Denbigh auch in den vorausgehenden Kapiteln schon angedeutet hatte, sieht er spirituelle/ geistige Phänomene einschließlich des Bewusstseins als normale Phänomene des Naturprozesses. (Z.B. S.168f)
8. So sieht er die 6 Komplexitätsstufen von oben auch als Ausprägungen eines allgemeineren 3-stufigen Schemas (i) unbelebt , (ii) belebt sowie (iii) belebt mit wachsendem Bewusstsein. (Vgl. S.171)
9. Unter Voraussetzung seines 3-stufigen Innovationsmodells kann er dann das Bewusstsein als einen Prozess interpretieren, der die Fähigkeit zur Selektion für ein biologisches System dramatisch verbessert. (Vgl. S.163-165)
10. Denbigh kommt in diesem Kapitel auch nochmals auf die Problematik der nichtwissenschaftlichen Voraussetzungen der Wissenschaft zu sprechen, die ich in einem vorhergehenden Beitrag schon angesprochen hatte (der Beitrag war angeregt von der Lektüre von Denbigh).
11. Mit Zitaten von einigen berühmten Forschern und Philosophen thematisiert Denbigh nicht nur allgemein die häufig unreflektierte Voraussetzungsbehaftetheit von Wissenschaft, sondern spricht auch speziell die Tendenz des menschlichen Denkens an, die Prozesse der Natur zu verdinglichen. Während Messgeräte und unsere menschliche Wahrnehmung primär nur isolierte Ereignisse registrieren können, setzt unser Denken diese individuellen Ereignisse automatisch (sprich: unbewusst) zu abstrakten Strukturen zusammen, zu sogenannten Objekten, denen wir dann Eigenschaften und Beziehungen zuordnen. (Vgl. S.164f und Anmk.14) Auf einer größeren Zeitskala gibt es diese Objekte aber nicht, sondern da gibt es nur kontinuierliche Zustandsänderungen eines alles umfassenden Prozesses, dem man zwar Eigenschaften zuordnen kann, aber letztlich nicht isolierte Objekte. Berücksichtigt man diese Artefakten unseres Denkens, dann legt sich der Gedanken nahe, die gesamte Physik von diesem veränderten Blickwinkel aus zu betrachten und zu re-analysieren. Hier verweist Denbigh explizit auf die theoretischen Arbeiten des berühmten Physikers David Bohm (später in Kooperation mit Basil J.Hiley), dessen Ergebnisse nach vielen Jahren Arbeit Eingang in das Buch The Undivided Universe: An Ontological Interpretation of Quantum Theory gefunden haben.

12. Denbigh fasst die manifeste Schizophrenie der modernen Wissenschaft in ihrer Haltung zum Menschen in folgendes Bild: „Die moderne Wissenschaft ist ein gedankliches System, das zwar die kreative Kraft der Menschen umfassend dokumentiert, und doch macht sie den Menschen selbst zu einer Sache/ zu einem Ding (‚thing‘) – also zu einem Objekt, von dem die Wissenschaft annimmt, dass es über eine solche schöpferische Kraft gar nicht verfügt.“ (Anmk.22, S.173)

DISKUSSION

  1. Dieses Buch habe ich als extrem anregend empfunden. Es taucht viele bekannte Positionen in ein neues Licht.
  2. Erkenntnistheoretisch liegt es auf der Linie, die bislang im Blog vertreten wurde, nämlich dass man bei der Diskussion der verschiedenen Phänomene und Positionen die jeweiligen Bedingungen des Erkennens beachten sollte, wenn man zu einer Einschätzung kommen möchte. Und dazu reicht keine klassische Erkenntnistheorie, sondern man muss die  modernen Erkenntnisse aus Psychologie und Biologie einbeziehen. Die Warnung vor einer falschen Verdinglichung der Weltereinisse sollte ernst genommen werden.
  3. Ferner ist der bisherige Erklärungsansatz dieses Blogs über einen generellen Evolutionsbegriff in Übereinstimmung mit dem generellen Innovationsansatz von Denbigh. Tatsächlich erscheint Denbighs Ansatz noch radikaler, generischer.  Dies soll im weiteren mehr bedacht werden.
  4. Die klare Subsumierung alles Geistigen unter den allgemeinen Naturprozess entspricht auch der Linie im Blog. Dieses führt aber nicht — wie Denbigh auch klar herausstellt — zu einer Vereinfachung oder Abwertung des Geistigen sondern zu einem vertieften Verständnis  der potentiellen Vielfalt und Komplexität der Energie-Materie. Mit der unterschiedlichen Einordnung geht ja nicht das Phänomen verloren, sondern die begriffliche Einordnung muss neu justiert werden. Dies verlangt nicht nur eine Neupositionierung der bisherigen Geisteswissenschaften, sondern genauso auch eine Neupositionierung der Naturwissenschaften. Diese erweisen sich bislang aber als nicht minder dogmatisch wie die oft gescholtenen Geisteswissenschaften.

QUELLEN

  1. Kenneth George Denbigh (1965 – 2004), Mitglied der Royal Society London seit 1965 (siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Fellows_of_the_Royal_Society_D,E,F). Er war Professor an verschiedenen Universitäten (Cambridge, Edinbugh, London); sein Hauptgebet war die Thermodynamik. Neben vielen Fachartikeln u.a. Bücher mit den Themen ‚Principles of Chemical Equilibrium, ‚Thermodynamics of th Steady State‘ sowie ‚An Inventive Universe‘.
  2. David Joseph Bohm FRS[1] (December 20, 1917 – October 27, 1992) was an American scientist who has been described as one of the most significant theoretical physicists of the 20th century[2] and who contributed innovative and unorthodox ideas to quantum theory, neuropsychology and the philosophy of mind.
  3. Basil J. Hiley (born 1935), is a British quantum physicist and professor emeritus of the University of London. He received the Majorana Prize „Best person in physics“ in 2012.
  4. Review von: „The Undivided Universe: An Ontological Interpretation of Quantum Theory“ von David Bohm and Basil J. Hiley, Routledge, London and New York, 1993. 397 pp. hc, ISBN 0–415–06588–7 durch Sheldon Goldstein, Department of Mathematics, Rutgers University, New Brunswick, NJ 08903, USA(July 28, 1994)

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

PHILOSOPHIE TRIFFT DAS SNOWDON SYNDROM – Erste Notizen


(Unter twitter bei ‚cagentartist‘))

Letzte Änderung: 29.Juli 2013, 00:14h

THEMATISCHER RAHMEN BISHER

1) Dieser Blog widmet sich primär der Frage nach dem neuen Weltbild: wie können, bzw. dann auch, wie sollten wir unsere Welt und das Leben in ihr ‚deuten‘, wenn wir alles Wissen zusammen nehmen, was wir uns bislang erarbeitet haben. Es ist eine grundlegend philosophische Frage insofern im Blog die Philosophie als die allgemeinste und umfassendste Reflexionseinstellung identifiziert wurde, der man sämtliche andere Disziplinen zuordnen auch. Die ‚Kunst‘ gehört zur ‚Art und Weise‘, wie man philosophieren kann. Die ‚Theologie‘ ist eine spezialisierte Fragestellung innerhalb der Philosophie, und sie ist als ‚theologia naturalis‘ nicht beliebig sondern ‚unausweichlich‘ (was nicht impliziert, dass es so etwas wie einen ‚Schöpfergott‘ geben muss).
2) Im Laufe der vielen Einzelreflexionen hat sich bislang ein Bild vom Universum und der Welt herausgeschält, in dem der klassische Begriff von ‚Geist‘ und der von ‚Materie‘ immer mehr dahingehend aufgelöst wurden , dass man sie nicht mehr trennen kann. Zwar sind die Alltagsphänomene, die wir mit ‚Geist‘ verknüpfen, grundsätzlich verschieden von den Alltagsphänomenen, die wir mit ‚Materie‘ verknüpfen, aber die wissenschaftlichen Forschungen haben uns geholfen, die Makrophänomene des Alltags mehr und mehr von ihren Grundlagen her zu verstehen und sie in den Zusammenhang einer dynamischen Entwicklung zu setzen. In dieser Perspektive verschwimmen die Abgrenzungen und es wird deutlich, dass das im Alltag über Jahrtausende Getrennte einen inneren Zusammenhang aufweist, und letztlich sich in dem, was wir alltäglich ‚geistig‘ nennen, genau jene Eigenschaften zeigen, die die sogenannte ‚Materie‘ ausmachen. Mehr noch, wir konnten lernen, das Materie und ‚Energie‘ nur zwei verschiedene Zustandsformen ein und derselben Sache sind. Während man also – Einstein vereinfachend – sagen kann Energie ist gleich Materie, müsste man im Fall des Geistes sagen, das uns vom Geist Bekannte zeigt die ‚inneren‘ Eigenschaften der Energie-Materie an, was natürlich die Frage aufwirft, was man sich unter dem ‚Inneren‘ von Materie bzw. Energie vorzustellen hat. Aus der Mathematik – und dann aus der Physik, die die Mathematik als Sprache benutzt – kennen wir den Begriff der ‚Funktion‘ (andere Worte für das Gleiche: ‚Abbildung‘, ‚Operation‘, ‚Prozedur‘, ‚Programm‘, ‚Algorithmus‘,…).

BEGRIFF DER FUNKTION

3) Funktionen definiert man als spezielle Beziehungen zwischen ‚Mengen‘. Während Mengen für irgendwelche ‚Elemente‘ stehen, die man im empirischen Bereich mit irgendetwas Messbarem verknüpfen können muss, sind die Abbildungsbeziehungen, die durch eine Funktion beschrieben werden sollen, selbst keine Objekte, nicht direkt messbar! Eine Funktion ‚zeigt sich‘ nur indirekt ‚anhand ihrer Wirkungen‘. Wenn der berühmte Apfel Newtons zu Boden fällt, kann man ein Objekt beobachten, das seine Position im Raum relativ zum Beobachter verändert. Man bekommt sozusagen eine Folge (Serie, Sequenz, …) von Einzelbeobachtungen. In der Alltagssprache hat man diese Menge von Positionsveränderungen in der Richtung ‚von oben‘ (Sicht des Beobachters) nach ‚Unten‘ mit dem Verb ‚fallen‘ zusammengefasst. Der Apfel selbst mit seiner aktuellen Position fällt nicht, aber relativ zu einem Beobachter mit Gedächtnis, gibt es eine Folge von vielen Einzelpositionen, die es ermöglichen, den Begriff der ‚Veränderung‘ mit einer ‚Richtung‘ zu ‚konstruieren‘ und in diesem nur im Beobachter existierenden ‚Wissen‘ dann das Konzept des ‚Fallens‘ zu bilden und auf die Objekte der Alltagswelt anzuwenden. Ein Beobachter, der den Begriff ‚Fallen‘ gebildet hat, ’sieht‘ ab sofort ‚fallende Objekte‘ – obwohl natürlich kein einziges Objekt tatsächlich ‚fällt‘. Das Fallen ist eine Konstruktion und dann ‚Projektion‘ unserer geistigen Struktur im Umgang mit der Alltagswelt.
4) [Anmerkung: Möglicherweise werden an dieser Stelle viele sagen, dass dies doch ‚Unsinn‘ sei, da wir doch die Veränderung ’sehen‘. Und in der Tat ist es sehr schwer bis unmöglich, diese Analyse zu vollziehen, wenn man den Vorgang nicht rekonstruiert. Eine ideale Möglichkeit, solch eine ‚Analyse durch Synthese‘ vorzunehmen ist heute gegeben durch die Computersimulation von kognitiven Prozessen, allerdings nicht automatisch; man braucht natürlich schon eine passende Theorie. Bei dem Versuch, solche Prozesse nachzubauen sieht man sehr schnell, dass noch so viele Einzelbeobachtungen keinen komplexen Begriff ergeben; würde unser Gehirn die verschiedenen Positionen des Apfels nicht ’speichern‘ und zugleich wieder auch ‚erinnern‘ können, und diese einzelnen Erinnerungen zu einem komplexeren Konzept ‚zusammenbauen‘, und zwar so, dass aktuelle Beobachtungen als ‚zugehörig‘ zu dem neuen komplexen Begriff ‚entschieden werden können‘, wir könnten keine ‚Fallbewegung‘ erkennen. Wir würden immer nur einen Apfel sehen, der eben ‚da‘ ist. Die ‚Aufschlüsselung des ‚Daseins‘ in eine komplexe ‚Bewegung‘ setzt einen komplexen Erkenntnisapparat voraus, der dies ’sichtbar‘ macht. ]

WIRKLICHKEITSSTATUS EINER FUNKTION

5) Welchen Wirklichkeitsstatus sollen wir jetzt der Eigenschaft des Fallens zusprechen? Ist es eine reine ‚Einbildung‘, eine bloße ‚gedankliche Konstruktion des Gehirns‘, zwar gültig ‚im‘ Gehirn aber nicht ‚außerhalb‘ des Gehirns, also ‚gedacht = virtuell‘ und nicht ‚real‘ existierend (allerdings auch als Gedachtes ist es etwas real Existierendes, dessen ‚Begleitwirkungen‘ man als physikalische Prozesse im Gehirn partiell messen kann)? Allerdings, wenn sich im ‚Verhalten‘ eines Objektes der Außenwelt etwas – wenngleich durch durch ‚Zwischenschaltung eines Erkenntnisprozesses‘ – zeigt, so gilt, dass es sich nicht zeigen muss. Das, was wir ‚Empirisch‘ nennen, hat die Eigenschaft, dass es sich zeigen kann, auch wenn wir nicht wollen, und sich nicht zeigen kann, obwohl wir wollen. Das – für uns als Beobachter – Empirische ist das uns gegenüber ‚Widerständige‘, das sich unserer subjektiven Kontrolle entzieht. Die Zwischenschaltung von ‚Messprozessen‘ bzw. ‚Erkenntnisprozessen‘, die in sich ‚unveränderlich‘ sind, d.h. als eine Konstante in den verschiedenen Ereignissen betrachtet werden können, erlaubt damit das Wahrnehmen von ‚Empirischem‘, und dieses Empirische zeigt sich dann auch in ‚Veränderungsprozessen‘, die zwar nur ’sichtbar‘ werden durch komplexe Operationen, die aber unter Beibehaltung der ‚konstanten‘ Erkenntnisprozesse reproduzierbar sind und damit offensichtlich etwas vom ‚Anderen‘ enthüllen, eine implizite Eigenschaft, eine ‚emergente‘ Eigenschaft, die über das Einzelereignis hinausgeht.
6) Bekommt man auf diese Weise eine erste Ahnung davon, was eine ‚Funktion‘ ist und weiß man, dass nahezu alle wichtigen Eigenschaften der Natur mittels Funktionen beschrieben werden (in der Alltagssprache die ‚Verben‘, ‚Tätigkeitswörter‘), dann kann man vielleicht ahnen, was es heißt, dass das, was wir traditionellerweise ‚Geist‘ genannt haben, ausschließlich auf solche Eigenschaften zurückgeht, die wir mittels Funktionen beschreiben: Veränderungen, die stattfinden, die keinen ‚äußeren‘ Grund erkennen lassen, sondern eher den Eindruck erwecken, dass es ‚Faktoren/ Eigenschaften‘ im ‚Innern‘ der beteiligten Elemente gibt, die wir ‚postulieren‘, um zu ‚erklären‘, was wir sehen. Aristoteles nannte solch ein Denken ‚meta-physisch‘; die moderne Physik tut nichts anderes, nur sind ihre Bordmittel ein wenig ausgeweitet worden….

STRUKTURELLE KOMPLEXITÄT WÄCHST EXPONENTIELL

7) Zwar wissen wir mit all diesen Überlegungen immer noch nicht so richtig, was ‚Geist‘ denn nun ‚eigentlich‘ ist, aber wir konnten auch sehen, dass seit dem sogenannten ‚Big Bang‘ vor ca. 13.8 Milliarden Jahren die ’strukturelle Komplexität‘ (siehe die genauere Beschreibung in den vorausgehenden Blogeinträgen) des beobachtbaren Universums – entgegen allen bekannten physikalischen Gesetzen, insbesondere gegen die Thermodynamik – exponentiell zunimmt. Wir leben heute in einer Phase, wo die Beschleunigung der Komplexitätsbildung gegenüber den Zeiten vor uns ein Maximum erreicht hat (was nicht heißt, dass es nicht ’noch schneller‘ gehen könnte). Von den vielen Merkmalen der strukturellen Komplexitätsbildung hatte ich nur einige wenige herausgegriffen. Während der homo sapiens sapiens als solcher einen gewaltigen Sprung markiert, so ist es neben vielen seiner kognitiven Fähigkeiten insbesondere seine Fähigkeit zur Koordination mit den anderen Gehirnen, seine Fähigkeit zum Sprechen, zum Erstellen komplexer Werkzeuge, die Fähigkeit komplexe soziale Rollen und Strukturen einzurichten und zu befolgen, die überindividuelle Wissensspeicherung und der Wissensaustausch, die Erfindung des Computers und der Computernetzwerke, die das lokal-individuelle Denken ins scheinbar Unendliche ausgedehnt und beschleunigt haben.

ENDE DER NATIONALSTAATEN?

8) Fasst man alle diese Veränderungsphänomene zusammen, dann entsteht der Eindruck, als ob die Entwicklung des Lebens in Gestalt des homo sapiens sapiens auf einen neuen Entwicklungssprung hinausläuft, der sowohl eine massive Veränderung seines Körpers (durch Veränderung des Genoms) mit einschließt wie auch eine massive Veränderung in der Art des konkreten Lebens: so wie es ca. 2 Milliarden Jahre gedauert hat, bis aus den einzelnen Zellen organisierte Zellverbände gebildet haben, die hochdifferenzierte ‚Körper‘ als ‚Funktionseinheit‘ ausgebildet haben, so kann man den Eindruck gewinnen, dass wir uns in solch einer Übergangsphase von einzelnen Personen, kleinen Kommunen, Städten zu einem ‚globalen Organismus‘ befinden, in dem zwar jeder einzelne als einzelner noch vorkommt, wo aber die ‚Gesamtfunktion‘ immer größere Teile der Erdpopulation umfassen wird. Die Zeit der ‚Nationalstaaten‘ neigt sich dem Ende entgegen (ein paar tausend Jahre Übergangszeit wären in der Evolution weniger wie eine Sekunde; es spricht aber alles dafür, dass es erheblich schneller gehen wird)) .

FRAGEN DURCH DAS AKTUELL NEUE

9) Dies alles wirft ungeheuer viele Fragen auf, auf die wir bislang wohl kaum die passenden Antworten haben, woher auch. Antworten ergeben sich ja immer nur aus Fragen, und Fragen ergeben sich aus Begegnung mit etwas Neuem. Das neue geschieht ja erst gerade, jetzt.

KONTROLLE ODER KREATIVITÄT?

10) Wie schon in vorausgehenden Blogeinträgen angemerkt, gibt es unterschiedliche Stile, wie einzelne, Firmen und ganze Gesellschaften mit neuen Herausforderungen umgehen. Eine beliebte Form ist die ‚Kontrolle‘ anhand ‚bekannter‘ Parameter. Evolutionstheoretisch und aus Sicht des Lernens ist dies die schlechteste aller Strategien. Es ist der schnellste Weg zum Zusammenbruch des bisherigen Systems, speziell dann wenn es wenigstens ein konkurrierendes System gibt, das statt mit Kontrolle mit gesteigerter Kreativität, Kommunikation, und erneuerter Modellbildung reagieren kann. Die Wahrscheinlichkeit mit der zweiten Strategie neuere und bessere Antworten zu finden, ist um Dimensionen größer, wenngleich nicht ohne Risiko. Die Kontrollstrategie hat aber das größere Gesamtrisiko und führt fast unausweichlich zum Scheitern, während die Kreative Strategie partiell riskant ist, aber insgesamt – sofern es überhaupt eine Lösung gibt – diese finden wird. Die Kontrollstrategie ist emotional gekoppelt an ‚Angst‘, die Kreative Strategie an ‚Vertrauen‘. (In der Tradition der christlichen Spiritualität gibt es eine Grundregel, mittels der man erkennen kann, ob man sich in Übereinstimmung mit ‚Gott‘ befindet oder nicht: das Phänomen des ‚Trostes‘, der ‚Freude‘, der ‚Gelassenheit‘, des ‚Vertrauens‘, der ‚Angstfreiheit‘; d.h. wenn ich etwas tue, was in mir ‚real‘ (!) auf Dauer keinen ‚Trost‘ bewirkt, keine ‚Freude‘, keine ‚Gelassenheit‘, kein ‚Vertrauen‘, keine ‚Angstfreiheit‘, dann bewege ich mich nicht in die Richtung, die Gott von mir erwartet. Auch wenn man nicht an die Existenz eines ‚Gottes‘ glaubt, ist es interessant, dass die Kernelemente christlicher Spiritualität nahezu identisch sind mit den Kernelementen einer modernen mathematischen Lerntheorie, die für alle lernende System gilt, die auf der Erde überleben wollen).

DAS SNOWDON SYNDROM

11) Was hat dies alles mit dem ‚Snowdon Syndrom‘ zu tun? Warum ‚Syndrom‘? Ich verstehe unter ‚Syndrom‘ hier das Zusammenspiel vieler Faktoren, die einerseits einzeln zu wirken scheinen, andererseits aber vielfältig untereinander wechselwirken, sich gegenseitig beeinflussen. Und die Ereignisse ‚um Snowdon herum‘ erscheinen mir so als ein Netzwerk von Ereignissen, Äußerungen, Entscheidungen, die, bei näherer Betrachtung, sehr wohl Zusammenhänge erkennen lassen, die sich mit der Thematik des neuen Weltbildes berühren.
12) Innerhalb der letzten knapp vier Wochen (2.-27.Juli 2013) konnte ich 48 Artikel zum Snowdon Syndrom lesen, zwei Artikel aus dem Frühjahr 2012 habe ich nachgelesen. Dazu kam die eine oder andere Sendung im Radio und Fernsehen. Bedenkt man, wie wenig Zeit man täglich hat, überhaupt Zeitung zu lesen, ist das viel. Gemessen am Thema und seinen sachlichen Verästlungen ist es verschwindend gering. Die folgenden Gedanken sollten daher nur als Denkanstöße verstanden werden.

NETZÜBERWACHUNG REIN TECHNISCH

13) Auslöser für die vielen Artikeln und Beiträgen in den Medien waren die spektakuläre Reise von Snowdon nach Hongkong, seine Weitereise nach Moskau, sein dortiges bislang aufgezwungenes Verweilen, und natürlich seine Mitteilungen über Praktiken amerikanischer Geheimdienste, insbesondere der NSA, der National Security Agency. Viele behaupteten nach den ‚Enthüllungen‘, dass sich das ja eigentlich jeder hätte denken können, dass so etwas passiert, was zumindest für alle Informatikexperten gilt, und hier insbesondere bei jenen, die sich mit Netz- und Computersicherheit beschäftigen; die wissen seit vielen Jahren nicht nur, wie man in Netze und Computer eindringen und sie manipulieren kann, sondern auch, dass dies täglich in tausendfachen Formen geschieht. Akteure sind einmal kriminelle Organisation, die hier ein Eldorado zum Geldverdienen entdeckt haben, Teile davon sind Wirtschaftsspionage, anderes sind geheimdienstliche Aktivitäten für allerlei Zwecke, u.a. einfach zur ‚Absicherung der Macht‘ bestimmter Gruppen. Für diese Experten haben die Meldungen von Snowdon in der Tat nichts wirklich Neues gebracht, höchstens ein paar mehr Details zum Ausmaß der Aktivitäten der amerikanischen Regierung.
14) Ich würde hier auch gerne unterscheiden zwischen den ‚technischen‘ Aspekten von Datenausspähungen, Datenmanipulationen einerseits und den ’sozialen‘, ‚politischen‘, ‚kulturellen‘ und ‚ethischen‘ Aspekten andererseits. Rein technisch haben die Mitteilungen von Snowdon nichts Neues erbracht. Auch die verschiedenen Techniken, die sowohl Geheimdienste wie auch Netzfirmen wie Google, Facebook und Amazon (um die bekanntesten zu nennen) anwenden, aus einer großen Datenmenge (‚big data‘) solche ‚Informationen‘ zu extrahieren, die Hinweise auf spezielle Eigenschaften oder Trends bestimmter Personen und Personengruppen liefern, sind generell bekannt, werden an vielen Universitäten und speziellen Firmen dieser Welt gelehrt und entwickelt (dazu natürlich in vielen speziellen Labors vieler Staaten im Wahn, ein spezielles Labor könnte geheim etwas entwickeln, was die vielen Universitäten nicht könnten. Das ist eine grobe Täuschung. Würde man die Gelder der NSA in alle Universitäten umleiten, wäre der kreativ-produktive Effekt auf die Gesellschaft und Wirtschaft ein Vielfaches von dem, was jetzt stattfindet. Vielleicht sollten die anderen Staaten froh sein, dass die USA auf diese Weise einen Großteil ihres Kapital quasi ‚vernichten‘, da sonst die amerikanische Wirtschaft im Bereich Computer, Software und Netzwerke noch übermächtiger wäre…)).

NETZWERKE: JENSEITS DER TECHNIK

15) Was viele erregt und aufregt, liegt daher weniger im Bereich der verwendeten Technologien, sondern in den sozialen, kulturellen, ethischen und dann auch politischen Dimensionen, die sich mit dem immer mehr publik werden neuen Computer-Netz-Technologien und ihrer Nutzung verknüpfen.
16) Für die meisten wirkten sich die neuen Technologien zunächst darin aus, dass sie im Bereich alltäglicher Kommunikation und alltäglichen Informationsaustausches ganz praktisch neue Möglichkeiten erhielten. Sehr schnell änderten sich flächendeckend alltägliche Verhaltensweisen. Dazu kam, dass nahezu alle Dienste zu Beginn ‚kostenlos‘ waren. Das Geschäftsmodell war einfach: deine Informationen als frei verwertbarer Inhalt für mich, dafür für dich deine Nutzung aller Dienste kostenfrei. Dass die Netzfirmen und die Geheimdienste damit ein Dateneldorado vorfanden, in dem sie sich mit Zustimmung der ‚Lieferanten‘ ungehemmt bewegen konnten, war vielen zunächst nicht so richtig bewusst und erschien vernachlässigbar angesichts der konkreten praktischen Nutzen auf privater Ebene. Mit der massenhaften Nutzung kam natürlich auch der wachsende Missbrauch und in den beginnenden Klagen, Streitigkeiten und Prozessen begann zaghaft ein wachsendes Bewusstsein von der Realität (und den Gefahren) der freien Nutzung zu wachsen. Dass sich die öffentliche Diskussion speziell an den Mitteilungen Snowdons dann mehr als bisher entzündete (Wer konnte bis heute überhaupt Snowdons Miteilungen überprüfen?), erscheint mir eher als ein Zufall. Das Thema war am Aufkochen und auch ohne Snowdon gab es erste alternative Geschäftsmodelle, die sich den wachsenden Unmut der großen Menge zunutze machen wollen, und bezahlte Dienste anbieten, dafür aber ohne Ausspähung und Datenmissbrauch. Der Fall Snowdon hat den ganzen Prozess jetzt womöglich nur beschleunigt. Der Wertzuwachs in der Nutzung von Netzen für viele private und zivile Zwecke ist zu groß, als dass man darauf in der Zukunft wieder verzichten möchte. Wie immer gibt es hier eine ’natürliche‘ evolutionäre Entwicklung, bei der negative Auswüchse recht schnell von der Gesellschaft weder abgestoßen werden. Die Geschäftsmodelle von Google, Facebook und Amazon (und auch andere ‚closed shops‘ wie z.B. Apple, Samsung oder Microsoft) sind schon heute eigentlich tot, was nicht heißt, dass sie es noch ein paar Jahre schaffen.

US-REGIERUNGSFORM – PROBLEMATISCHE ENTWICKLUNG?

17) Ein ernsteres Problem hat nach meinem aktuellen Verständnis allerdings das amerikanische politische System. Die USA hatten immer einen überaus mächtigen Komplex aus Geheimdiensten, Militär und Wirtschaft, deren Interessen nicht unbedingt ‚zum Wohle‘ der übrigen amerikanischen Bevölkerung waren. Dazu kommt das Ethos des ‚weißen Ritters‘, der zumindest im Umfeld des zweiten Weltkrieges die USA lange Zeit weithin als ein großes Vorbild für viele hat erstrahlen lassen. Doch seitdem häufen sich Ereignisse, die eher die schmutzigen Seiten dieses Systems nach außen kehren. In dem Zusammenhang erscheinen die Ereignisse um den 11.September 2001 als sehr verhängnisvoll. Der Kampf gegen den ‚Terrorismus‘ wurde zu einem neuen Leitthema, das so stark war, dass diesem fast alles andere untergeordnet wurde. Nach der Verabschiedung des USA-Patriot Act: Uniting (and) Strengthening America (by) Providing Appropriate Tools Required (to) Intercept (and) Obstruct Terrorism Act 2001 war die Gründung des US Staatsministerium für Sicherheit der Heimat 2002 war nach Ansicht vieler Experten die größte Veränderung in der Architektur der Exekutive seit dem Nationalen Sicherheitsvertrag von 1947. Der Schutz vor Bedrohung, speziell ‚Terrorismus‘ gewann ein Ausmaß, das fast alles andere zu ersticken drohte. Ergänzend dazu gab es seit 1978 die Verordnung zur Überwachung fremder geheimdienstlicher Aktivitäten (Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA)), die mehrfach erweitert wurde und dabei die Grenzziehung zum Schutz der Privatsphäre selbst für Amerikaner immer schwächer werden lies (für Nichtamerikaner gibt es sowieso überhaupt keine Rechte; vor dem Gesetz ist ein Nicht-Amerikaner unterschiedslos ein rechtloses Subjekt, mit dem die Exekutive machen kann, was sie will). Das wachsende Unbehagen über die übermächtigen Zugriffsmöglichkeiten der Exekutive in die Privatsphäre des einzelnen, sollte durch Einrichtung des Staatlichen Gerichtshofes zur Überwachung der Überwachung (‚United States Foreign Intelligence Surveillance Court (FIS)) 1978 gewährleistet werden.
18) Wie der tatsächliche Verlauf seitdem mit seinen vielen Änderungen, Diskussionen und Gerichtsprozessen anzeigt, verläuft die Gesamtentwicklung eher in Richtung Ausweitung der Aktivitäten der Geheimdienste weit über die vorgesehenen Grenzwerte hinaus.
19) Es gibt zwar grundsätzlich den vierten Zusatz zur US-Verfassung, zum Schutz der Privatsphäre, auch ein Gesetz für den freien Zugang zu Informationen staatlicher Stellen (‚Freedom of Information Act (FOIA)‘), sowie zeitgleich mit dem Staatsministerium für die Sicherheit der Heimat ein Amt zur Sicherung des Schutzes der Privatsphäre (Privacy Office of the U.S. Department of Homeland Security), aber was nützt ein Verfassungsartikel, wenn die täglicher Praxis ihn beständig unterläuft und die Überwachungsgremien eher den Eindruck erwecken, dass sie alles durchwinken und sich einer öffentlichen politischen Diskussion entziehen. Wichtige kritische Gruppierungen sind hier vielleicht das Zentrum für Zivilrecht (Center for Civil Rights (CCR)) oder auch die der Vereinigung für die Grenzen der Elektronik (Electronic Frontier Foundation (EFF)) , aber der entscheidende Punkt ist, wieweit die staatlichen Stellen und die Regierung dem Bürger noch reale Freiräume einräumen, zuerst mal für die US-Bürger selbst, dann aber auch für Nicht-US-Bürger. Irgendwo gibt es die Idee der ‚Menschenrechte‘ und es wäre nicht schlecht, wenn ein Land wie USA die Menschenrecht innerhalb ihres Rechtssystems einen solchen Platz einräumen würden, der der reinen Willkür von US-Behörden gegenüber Nicht-Amerikaner einen klaren rechtlichen Rahmen geben würden. Ansonsten müßten alle Nichtamerikaner die USA aufgrund ihrer rechtlich fixierten Menschenverachtung als direkten Feind betrachten. Dies kann nicht das Ziel sein.

WHISTLEBLOWER

20) Neben dem vierten Verfassungsartikel, dem Amt zum Schutz der Privatsphäre sowie dem Spezialgericht zur Kontrolle der Geheimdiensttätigkeiten (FISA) gibt es in den USA seit 1983 auch ein eigenes Gesetz, das Beschluss zur Ermöglichung von Hinweisen zum Missbrauch (False Claims Act), das eigentlich solche Menschen schützen soll, die Missbrauch entdecken und aufdecken, es geht um die ‚Whistleblower‘, etwa ‚Zuflüsterer‘. Bekanntgewordene Fälle zeigen aber, dass dieses Gesetz von staatlichen Stellen und der Regierung auf vielfache Weise abgeschwächt und unterdrückt werden kann. Die besten Gesetze nützen nichts, wenn die staatlichen Stellen sie nicht hinreichend anwenden (Eines von mehreren beeindruckenden Negativbeispielen für ein Versagen der staatlichen Stellen ist der Bericht (und das Buch) von Peter van Buren , hier eine Liste von einschlägigen Artikeln Artikel zu Whistleblower und Staatsverhalten). Im Falle von Snowdon sieht Snowdon sich als Whistleblower, da er aus seiner Sicht in den überbordenden Aktivitäten der NSA einen ‚Missbrauch‘ sieht, den man anzeigen muss. Die NSA selbst und die Regierung sieht aber in ihrem Verhalten ein ‚gesetzeskonformes‘ Vorgehen, das den Interessen der USA dient. Aus Sicht der staatlichen Stellen ist Snowdon von daher ein ‚Verräter‘; aus Sicht derjenigen Menschen, die im Verhalten der NSA und der US-Regierung eine Grenzüberschreitung sehen, die elementare Rechtsauffassungen verletzt, ist Snowdon ein ‚Whistleblower‘. Der Ausgang ist offen.

DIE USA HABEN EINE GLOBALE BEDEUTUNG

21) Man könnte versucht sein, diese Problemlage in den USA als ‚Sache der Amerikaner‘ abzutun. Das ist meines Erachtens zu einfach. Die USA sind nicht irgendein Land. Die USA sind eines der wichtigsten Länder dieser Erde und sie werden dies auch noch einige Zeit bleiben. Dort vollzieht sich momentan ein Prozess der Umwälzung der Gesellschaft durch die neuen Computer-Netz-basierten Technologien, bei gleichzeitiger Regredierung des politischen Systems in Richtung ‚Überwachungsstaat‘. Die Beteiligten selbst sehen dies noch nicht so, da sie alles mit der Brille der ‚Bedrohung‘ und des ‚Terrorismus‘ sehen (ich unterstelle mal, dass die entscheidenden Leute tatsächlich ‚Patrioten‘ sind und keine finstren Machtmenschen, die den Staat für sich unter Kontrolle bringen wollen (in den Filmen ist es so)). Und es gibt genügend kompetente Kritikern in den USA selbst, die vielfach aufzeigen, wie ineffizient, zu teuer, und letztlich weitgehend wirkungslos diese ganzen Maßnahmen sind (für jemanden, der einen terroristischen Akt gegen die USA ausüben wollte, sind alle die Maßnahmen geradezu lächerlich; meist werden ahnungslose Bürger aufgegriffen, die aus Versehen die falschen Worte benutzt haben). Doch kann keiner voraussagen, wie dieser Transformationsprozeß ausgehen wird. Wir sollten alle daran interessiert sein, dass er nicht in einem hochtechnologischen Überwachungsstaat endet.

ABSPANN

22) Es gibt einerseits die Visionen für das große Ganze, die weder leicht noch selbstverständlich sind, und dann gibt es die unendlich vielen kleinen Schritte im Alltag, durch die sich das große Ganze realisiert oder nicht.
23) Wenn der Erfolg nur davon abhängen würde, dass wir als einzelne alles perfekt und richtig machen, würde wir beständig grandios scheitern. Der Prozeß folgt aber vielen Logiken gleichzeitig. Die meisten verstehen wir nicht.
24) Vielleicht werden Historiker später einmal sagen, dass es gut war, dass die amerikanische Regierung diese Überwachungsmonströsitäten versucht hat, um alle aufzuwecken und zur ‚Vernunft‘ zu bringen, dass es so nicht geht. Vielleicht…
25) Ob der deutsche Innenminister dabei irgendeine Rolle spielen wird? Die Bundeskanzlerin? Welch Rolle die Presse in Deutschland überhaupt spielt? Vielleicht sollten Deutsche und Amerikaner in der Öffentlichkeit mehr miteinander reden. Anders wird sich kaum etwas ändern.

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REDUKTIONISMUS, EMERGENZ, KREATIVITÄT, GOTT – S.A.Kauffman – Teil 5

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Letzte Änderung (mit Erweiterungen): 12.April 2013, 06:26h

ALLGEMEINE EINSCHÄTZUNGEN ZU SEELE, GEIST UND WISSENSCHAFTEN

1. Im nächsten Kapitel ‚Mind‘ (etwa ‚Geist‘ (es gibt keine eindeutigen begrifflichen Zuordnungen in diesem Fall)) (SS.177-196) handelt Kauffman vom ‚Geist‘ des Menschen einschließlich dem besonderen Aspekt ‚(Selbst-)Bewusstsein‘ (‚consciousness‘) mit jenen Beschreibungsversuchen, die er für nicht zutreffend hält. Es folgt dann ein Kapitel ‚The Quantum Brain‘ (etwa ‚Das Quantengehirn‘) (SS.197-229), in dem er seine mögliche Interpretation vorstellt. Seine eigene Grundüberzeugung stellt er gleich an den Anfang, indem er sagt, dass der menschliche Geist (i) nicht ‚algorithmisch‘ sei im Sinne eines berechenbaren Ereignisses, sondern (ii) der Geist sei ‚Bedeutung und tue Organisches‘ (‚is a meaning and doing organic system‘). (iii) Wie der Geist Bedeutung erzeuge und sein Verhalten hervorbringe, das sei jenseits der aktuellen wissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten.(vgl. S.177)
2. [Anmk: Seiner grundsätzlichen Einschätzung, dass eine vollständige wissenschaftliche Erklärung bislang nicht möglich sei (iii), kann ich nur zustimmen; wir haben mehr Fragen als Antworten. Die andere Aussage (ii), dass Geist ‚is a meaning and doing organic system‘, ist schwierig zu verstehen. Was soll es heißen, dass der Geist (‚mind‘) ‚doing organic system‘? Hier kann man nur raten. Ein sehr radikaler Interpretationsversuch wäre, zu sagen, dass der ‚Geist‘ etwas ist, was die Entstehung von organischen Systemen ermöglicht. Damit würde Geist fast schon zu einem ‚inneren Prinzip der Materie‘. Aus den bisherigen Ausführungen von Kauffmann gäbe es wenig Anhaltspunkte, das zu verstehen. Die andere Aussage (i), dass ‚Geist‘ (‚mind‘) ‚Bedeutung‘ sei, ist ebenfalls nicht so klar. Die Standardinterpretation von ‚Bedeutung‘ wird von der Semiotik geliefert. Innerhalb der Semiotik ist aber speziell der Begriff der Bedeutung, wie man sehr schnell sehen kann keinesfalls einfach oder klar. Ohne eine eigene Theorie verliert man sich in den historisch gewachsenen Verästelungen. Es gibt eine Vielzahl von Denkversuchen, die sich nicht auf einen gemeinsamen Denkrahmen zurückführen lassen. Die Geschichte der Ideen ist generell ein faszinierendes Phänomen ohne eine zwingende Logik. Die muss man sich selbst erarbeiten.]

ALGORITHMISIERUG VON GEIST

3. Auf den Seiten 178-182 zählt er einige wichtige Personen und Konzepte auf, die der Begriff ‚algorithmisch‘ in seiner historischen Entwicklung konnotiert. Da ist einmal Turing, der ein mathematisches Konzept von ‚Berechenbarkeit‘ gefunden hat, das bis heute die Grundlage für alle wichtigen Beweise bildet. Daneben von Neumann, der ’nebenher‘ eine Architektur für reale Computer erfunden hat, die als Von-Neumann-Architektur zum Ausgangspunkt der modernen programmierbaren Computers geworden ist. Ferner stellt er McCulloch vor und Pitts. McCulloch und Pitts gelten als jene, die als erstes eine erfolgreiche Formalisierung biologischer Nervenzellen durchgeführt haben und mit ihren McCulloch-Pitts Neuronen das Gebiet der künstlichen neuronalen Zellen begründeten. Das Besondere am frühen Konzept von McCulloch-Pitts war, dass sie nicht nur ein formales Modell von vernetzten künstlichen Neuronen definierten, sondern dass sie zusätzlich eine Abbildung dieser Neuronen in eine Menge formaler Aussagen in dem Sinne vornahmen, dass ein Neuron nicht nur eine Prozesseinheit war mit dem Zustand ‚1‘ oder ‚0‘, sondern man ein Neuron zugleich auch als eine Aussage interpretieren konnte, die ‚wahr‘ (‚1‘) sein konnte oder ‚falsch‘ (‚0‘). Damit entstand parallel zu den ‚rechnenden‘ Neuronen – in einer ’symbolischen‘ Dimension – eine Menge von interpretierten logischen Aussagen, die man mit logischen Mitteln bearbeiten konnte. Kauffman diskutiert den Zusammenhang zwischen diesen drei Konzepten nicht, stellt dann aber einen Zusammenhang her zwischen dem Formalisierungsansatz von McCulloch-Pitts und seinem eigenen Konzept eines ‚Boolschen Network Modells‘ (‚Boolean network model‘) aus Kapitel 8 her [hatte ich im Detail nicht beschrieben][Anmerkung: Vor einigen Jahren hatte ich mal versucht, die Formalisierungsansätze von McCulloch und Pitts zu rekonstruieren. Sie benutzen die Logik, die damals Carnap entwickelt hatte, erweitert um den Faktor Zeit. Mir ist keine konsistente Rekonstruktion gelungen, was nicht viel besagen muss. Möglicherweise war ich zu dumm, zu verstehen, was Sie genau wollen.]
4. Sowohl am Beispiel des ‚rechnenden Neurons‘ (was Kauffman und viele andere als ’subsymbolisch‘ bezeichnen) wie auch am Beispiel der interpretierten Aussagen (die von Kauffman als ’symbolisch‘ bezeichnete Variante) illustriert Kauffman, wie diese Modelle dazu benutzt werden können, um sie zusätzlich in einer dritten Version zu interpretieren, nämlich als ein Prozessmodell, das nicht nur ‚Energie‘ (‚1‘, ‚0‘) bzw. ‚wahr’/ ‚falsch‘ verarbeitet, sondern diese Zustände lassen sich abbilden auf ‚Eigenschaften des Bewusstseins‘, auf spezielle ‚Erlebnisse‘, die sich sowohl als ‚elementar’/ ‚atomar‘ interpretieren lassen wie auch als ‚komplex’/ ‚abstrahiert‘ auf der Basis elementarer Erlebnisse. (vgl. S.180f)
5. [Anmerkung: Diese von Kauffman eingeführten theoretischen Konzepte tangieren sehr viele methodische Probleme, von denen er kein einziges erwähnt. So muss man sehr klar unterscheiden zwischen dem mathematischen Konzept der Berechenbarkeit von Turing und dem Architekturkonzept von von Neumann. Während Turing ein allgemeines mathematisches (und letztlich sogar philosophisches!) Konzept von ‚endlich entscheidbaren Prozessen‘ vorstellt, das unabhängig ist von irgend einer konkreten Maschine, beschreibt von Neumann ein konkrete Architektur für eine ganze Klasse von konkreten Maschinen. Dass die Nachwelt Turings mathematisches Konzept ‚Turing Maschine‘ genannt hat erweckt den Eindruck, als ob die ‚Turing Maschine‘ eine ‚Maschine sei. Das aber ist sie gerade nicht. Das mathematische Konzept ‚Turing Maschine‘ enthält Elemente (wie z.B. ein beidseitig unendliches Band), was niemals eine konkrete Maschine sein kann. Demgegenüber ist die Von-Neumann-Architektur zu konkret, um als Konzept für die allgemeine Berechenbarkeit dienen zu können. Ferner, während ein Computer mit einer Von-Neumann-Architektur per Definition kein neuronales Netz ist, kann man aber ein neuronales Netz auf einem Von-Neumann-Computer simulieren. Außerdem kann man mit Hilfe des Turing-Maschinen Konzeptes untersuchen und feststellen, ob ein neuronales Netz effektiv entscheidbare Berechnungen durchführen kann oder nicht. Schließlich, was die unterschiedlichen ‚Interpretationen‘ von neuronalen Netzen angeht, sollte man sich klar machen, dass ein künstliches neuronales Netz zunächst mal eine formale Struktur KNN=[N,V,dyn] ist mit Mengen von Elementen N, die man Neuronen nennt, eine Menge von Verbindungen V zwischen diesen Elementen, und einer Übergangsfunktion dyn, die sagt, wie man von einem aktuellen Zustand des Netzes zum nächsten kommt. Diese Menge von Elementen ist als solche völlig ’neutral‘. Mit Hilfe von zusätzlichen ‚Abbildungen‘ (‚Interpretationen‘) kann man diesen Elementen und ihren Verbindungen und Veränderungen nun beliebige andere Werte zuweisen (Energie, Wahr/Falsch, Erlebnisse, usw.). Ob solche Interpretationen ’sinnvoll‘ sind, hängt vom jeweiligen Anwendungskontext ab. Wenn Kauffman solche möglichen Interpretationen aufzählt (ohne auf die methodischen Probleme hinzuweisen), dann sagt dies zunächst mal gar nichts.]

GEHIRN ALS PHYSIKALISCHER PROZESS

6. Es folgt dann ein kurzer Abschnitt (SS.182-184) in dem er einige Resultate der modernen Gehirnforschung zitiert und feststellt, dass nicht wenige Gehirnforscher dahin tendieren, das Gehirn als einen Prozess im Sinne der klassischen Physik zu sehen: Bestimmte neuronale Muster stehen entweder für Vorgänge in der Außenwelt oder stehen in Beziehung zu bewussten Erlebnissen. Das Bewusstsein hat in diesem Modell keinen ‚kausalen‘ Einfluss auf diese Maschinerie, wohl aber umgekehrt (z.B. ‚freier Wille‘ als Einbildung, nicht real).
7. [Anmk: Das Aufzählen dieser Positionen ohne kritische methodische Reflexion ihrer methodischen Voraussetzungen und Probleme erscheint mir wenig hilfreich. Die meisten Aussagen von Neurowissenschaftlern, die über die Beschreibung von neuronalen Prozessen im engeren Sinne hinausgehen sind – vorsichtig ausgedrückt – mindestens problematisch, bei näherer Betrachtung in der Regel unhaltbar. Eine tiefergreifende Diskussion mit Neurowissenschaftlern ist nach meiner Erfahrung allerdings in der Regel schwierig, da ihnen die methodischen Probleme fremd sind; es scheint hier ein starkes Reflexions- und Theoriedefizit zu geben. Dass Kauffman hier nicht konkreter auf eine kritische Lesart einsteigt, liegt möglicherweise auch daran, dass er in den späteren Abschnitten einen quantenphysikalischen Standpunkt einführt, der diese schlichten klassischen Modellvorstellungen von spezifischen Voraussetzungen überflüssig zu machen scheint.]

KOGNITIONSWISSENSCHAFTEN; GRENZEN DES ALGORITHMISCHEN

8. Es folgt dann ein Abschnitt (SS.184-191) über die kognitiven Wissenschaften (‚cognitive science‘). Er betrachtet jene Phase und jene Strömungen der kognitiven Wissenschaften, die mit der Modellvorstellung gearbeitet haben, dass man den menschlichen Geist wie einen Computer verstehen kann, der die unterschiedlichsten Probleme ‚algorithmisch‘, d.h. durch Abarbeitung eines bestimmten ‚Programms‘, löst. Dem stellt Kauffman nochmals die Unentscheidbarkeits- und Unvollständigkeitsergebnisse von Gödel gegenüber, die aufzeigen, dass alle interessanten Gebiete der Mathematik eben nicht algorithmisch entscheidbar sind. Anhand der beiden berühmten Mathematiker Riemann und Euler illustriert er, wie deren wichtigsten Neuerungen sich nicht aus dem bis dahin Bekanntem algorithmisch ableiten ließen, sondern auf ‚kreative Weise‘ etwas Neues gefunden haben. Er zitiert dann auch die Forschungen von Douglas Medin, der bei seinen Untersuchungen zur ‚Kategorienbildung‘ im menschlichen Denken auf sehr viele ungelöste Fragen gestoßen ist. Wahrscheinlichkeitstheoretische Ansätze zur Bildung von Clustern leiden an dem Problem, dass sie nicht beantworten können, was letztlich das Gruppierungskriterium (‚Ähnlichkeit‘, welche?) ist. Aufgrund dieser grundsätzlichen Schwierigkeit, ‚Neues‘, ‚Innovatives‘ vorweg zu spezifizieren, sieht Kauffman ein grundsätzliches Problem darin, den menschlichen Geist ausschließlich algorithmisch zu definieren, da Algorithmen – nach seiner Auffassung – klare Rahmenbedingungen voraussetzen. Aufgrund der zuvor geschilderten Schwierigkeiten, solche zu bestimmten, sieht er diese nicht gegeben und folgert daraus, dass die Annahme eines ‚algorithmischen Geistes‘ unzulänglich ist.
9. [Anmk: Die Argumente am Beispiel von Goedel, Riemann, Euler, und Medin – er erwähnte auch noch Wittgenstein mit den Sprachspielen – würde ich auch benutzen. Die Frage ist aber, ob die Argumente tatsächlich ausreichen, um einen ‚algorithmischen Geist‘ völlig auszuschliessen. Zunächst einmal muss man sich klar machen, dass es ja bislang überhaupt keine ‚Theorie des Geistes an sich‘ gibt, da ein Begriff wie ‚Geist‘ zwar seit mehr als 2500 Jahren — betrachtet man nur mal den europäischen Kulturkreis; es gibt ja noch viel mehr! — benutzt wird, aber eben bis heute außer einer Unzahl von unterschiedlichen Verwendungskontexten keine einheitlich akzeptierte Bedeutung hervorgebracht hat. Dies hat u.a. damit zu tun, dass ‚Geist‘ ja nicht als ‚direktes Objekt‘ vorkommt sondern nur vermittelt in den ‚Handlungen‘ und den ‚Erlebnissen‘ der Menschen in unzähligen Situationen. Was ‚wirklich‘ mit ‚Geist‘ gemeint ist weiß insofern niemand, und falls doch, würde es allen anderen nichts nützen. Es gibt also immer nur partielle ‚Deutungsprojekte‘ von denen die kognitive Psychologie mit dem Paradigma vom ‚Geist‘ als ‚Computerprogramm‘ eines unter vielen ist. Hier müsste man dann nochmals klar unterscheiden, ob die psychologischen Modelle explizit einen Zusammenhang mit einer zugrunde liegenden neuronalen Maschinerie herstellen oder nicht. Versteht man die wissenschaftliche Psychologie als ein ‚empirisches‘ Deutungsprojekt, dann muss man annehmen, dass sie solch einen Zusammenhang explizit annimmt. Damit wäre ein algorithmisches Verhalten aus der zugrunde liegenden neuronalen Maschinerie herzuleiten. Da man nachweisen kann, dass ein neuronales Netz mindestens so rechenstark wie eine Turingmaschine ist, folgt daraus, dass ein neuronales Netzwerk nicht in allen Fällen algorithmisch entscheidbar ist (Turing, 1936, Halteproblem). Dies bedeutet, dass selbst dann, wenn der menschliche Geist ‚algorithmisch‘ wäre, daraus nicht folgt, dass er alles und jedes berechnen könnte. Andererseits, wie wir später sehen werden, muss man die Frage des Gehirns und des ‚Geistes‘ vermutlich sowieso in einem ganz anderen Rahmen bedenken als dies in den Neurowissenschaften und den Kognitionswissenschaften bislang getan wird.]

GEIST OPERIERT MIT ‚BEDEUTUNG‘

10. Es folgen (SS.192-196) Überlegungen zur Tatsache, dass der ‚Geist‘ (‚mind‘) mit ‚Bedeutung‘ (‚meaning‘) arbeitet. Welche Zeichen und formale Strukturen wir auch immer benutzen, wir benutzen sie normalerweise nicht einfach ’nur als Zeichenmaterial‘, nicht nur rein ’syntaktisch‘, sondern in der Regel im Kontext ‚mit Bezug auf etwas anderes‘, das dann die ‚Bedeutung‘ für das benutzte Zeichenmaterial ausmacht. Kauffman bemerkt ausdrücklich, dass Shannon in seiner Informationstheorie explizit den Aspekt der Bedeutung ausgeschlossen hatte. Er betrachtete nur statistische Eigenschaften des Zeichenmaterials. Ob ein Zeichenereignis eine Bedeutung hat bzw. welche, das muss der jeweilige ‚Empfänger‘ klären. Damit aber Zeichenmaterial mit einer möglichen Bedeutung ‚verknüpft‘ werden kann, bedarf es eines ‚Mechanismus‘, der beides zusammenbringt. Für Kauffman ist dies die Eigenschaft der ‚Agentenschaft‘ (‚agency‘). Wie der menschliche Geist letztlich beständig solche neuen Bedeutungen erschafft, ist nach Kauffman bislang unklar.
11. Es folgen noch zwei Seiten Überlegungen zur Schwierigkeit, die nichtlineare Relativitätstheorie und die lineare Quantentheorie in einer einzigen Theorie zu vereinen. Es ist aber nicht ganz klar, in welchem Zusammenhang diese Überlegungen zur vorausgehenden Diskussion zum Phänomen der Bedeutung stehen.

Fortsezung mit Teil 6.

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