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Das Ende der Evolution, von Matthias Glaubrecht,2021 (2019). Lesenotizen – Teil 2

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 17.September 2022 – 29. September 2022, 07:16h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Diesem Text geht ein erster Teil voraus.[1]

Die Zukunft hat viele Gesichter

Nach dem spektakulären Foto 1968 während der Apollo-8 Mission von der Erde als ‚blue marble‘ (auch als ‚blue button‘ bezeichnet), entstand 1990 ein nicht weniger spektakuläres Foto von der Erde während der Voyager Mission aus einer Entfernung von 6 Milliarden km genannt ‚pale blue button‘. 30 Jahre später wurden die Bilddaten neu überarbeitet: https://www.jpl.nasa.gov/images/pia23645-pale-blue-dot-revisited . Das Bild hier im Blog-Text zeigt einen Ausschnitt davon.

Nach mehr als 800 Seiten prall gefüllt mit Gedanken, Informationen, Fakten, eingebettet in Analysen komplexer Prozesse, unternimmt Glaubrecht das Wagnis, einen Blick in die Zukunft zu wagen. ‚Wagnis‘ deswegen, weil solch ein ‚Blick in die Zukunft‘ nach Glaubrechts eigener Überzeugung „nicht die Sache der Wissenschaft“ sei.(S.864 unten).

Die hier möglichen und notwendigen wissenschaftsphilosophischen Fragen sollen aber für einen Moment hintenan gestellt werden. Zunächst soll geschildert werden, welches Bild einer möglichen Lösung angesichts des nahenden Unheils Glaubrecht ab S.881 skizziert.

Umrisse einer möglichen Lösung für 2062

In seiner Lösungsvision kommen viele der großen Themen vor, die er zuvor im Zusammenhang des nahenden Unheils thematisiert hat: „Biodiversität“ (881), „Lebensstil“ (883), „Überbevölkerung“ (884), „Bildung“, speziell für Frauen (885), das „Knappheits-Narrativ“ (885), ökologische Landbewirtschaftung und „tropische Wälder“ (vgl. 886), nochmals „Biodiversität“ (887), große zusammenhängende Schutzgebiete, „working lands“ sowie neue Rechte für die Natur (vgl. 888-891), „Konsumverhalten“ und „neues Wirtschaften“ (892), „Bildungsreform“, „ökosystemares Denken“ (893), „Ungleichheit weltweit“ und neue „Definition von Wachstum“ (894).

Pale Blue Planet

Auf den SS. 900 – 907 hebt Glaubrecht dann nochmals hervor, dass biologische Evolution kein eindeutig prognostizierbarer Vorgang ist. Dass sich auf der Erde biologisches Leben entwickelt hat heißt keinesfalls, dass dies sich auf einem anderen Planeten mit ähnlichen Voraussetzungen einfach wiederholen würde. Weiterhin gibt er zu bedenken, dass die Suche nach einem alternativen Planeten zur Erde bislang kaum fassbare Ergebnisse gebracht hat. Von den 0.5% möglichen Kandidaten mit habitablen Zonen von 3640 bekannten Exoplaneten im April 2017 zeigte bislang keiner hinreichende Eigenschaften für biologisches Leben. Von diesen ’nicht-wirklich Kandidaten‘ befindet sich der nächst gelegene Kandidat 4 Lichtjahre entfernt. Mit heutiger Technologie bräuchte man nach Schätzungen zwischen 6.000 bis 30.000 Jahren Reisezeit.

Vor diesem Hintergrund wirkt insbesondere die Suche nach einer „anderen Intelligenz“ fast bizarr: ist schon die biologische Evolution selbst ungewöhnlich, so deutet die ‚Entwicklungszeit‘ des Menschen mit ca. 3.5 Milliarden Jahren an, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass es irgendwo anders etwas „wirklich Vergleichbares … zum Menschen“ geben kann.(vgl. S.905)

Visionen und ihre Bedingungen

Dass Glaubrecht nach seinen umfassenden und sehr beeindruckenden Analysen Zukunftsszenarien schildern kann, darunter auch eine ‚positive‘ Variante für das Jahr 2062, zeigt zunächst einmal, dass es überhaupt geht. Das ‚Geschichten erzählen‘ ist eine Eigenschaft des Menschen, die sich mindestens bis in die Vorzeit der Erfindung von Schriften zurück verfolgen lässt. Und wenn wir unseren Alltag betrachten, dann ist dieser randvoll mit ‚Geschichten‘ über mögliche zukünftige Szenarien (Zeitungen, Fernsehen, Videos, in privaten Dialogen,Bücher, …). Zugleich haben wir gelernt, dass es ‚falsche‘ und ‚wahre‘ Geschichten geben kann. ‚Wahre‘ Geschichten über eine mögliche Zukunft ‚bewahrheiten‘ sich, indem die Zustände, von denen man ‚zuvor‘ gesprochen hatte, ‚tatsächlich‘ eintreten. Mit der Feststellung, dass eine Geschichten über eine mögliche Zukunft ‚falsch‘ sei, ist es schwieriger. Nur wenn man einen klaren ‚zukünftigen Zeitpunkt‘ angeben kann, dann kann man entscheiden, dass z.B. das Flugzeug oder der Zug zum prognostizierten Zeitpunkt ’nicht angekommen‘ ist.

Über Zukunft reden

Schon die Alltagsbeispiele zeigen, dass das Reden von einem ‚möglichen Zustand in der Zukunft‘ verschiedene Voraussetzungen erfüllen muss, damit dieses Sprachspiel funktioniert:

  1. Fähigkeit, zwischen einer ‚erinnerbaren Vergangenheit‘, einem ‚aktuellen Gedanken über einen möglichen zukünftigen Zustand‘, und einer ’neuen Gegenwart‘ unterscheiden zu können, so, dass entschieden werden kann, dass eine ’neue Gegenwart‘ mit dem zuvor gefassten ‚Gedanken über einen möglichen zukünftigen Zustand‘ hinreichend viele ‚Ähnlichkeiten‘ aufweist.
  2. Verschiedene Akteure müssen sowohl über Kenntnisse der ‚Ausdrücke‘ einer ‚gleichen Sprache‘ verfügen, und zugleich müssen sie über ‚hinreichend ähnliche Bedeutungen‘ in ihren Gehirnen verfügen, die sie ‚auf hinreichend ähnliche Weise‘ mit den benutzten Ausdrücken ‚verbinden‘.
  3. Für den Bereich der ‚bekannten Bedeutungen‘ im Gehirn muss die Fähigkeit verfügbar sein, diese in ’neuen Anordnungen‘ so zu denken, dass diese neuen Anordnungen als Bedeutungen für ein Reden über ‚mögliche neue Zustände verfügbar‘ sind. Menschen, die so etwas können, nennt man ‚kreativ‘, ‚fantasievoll‘, ‚innovativ‘.

Dieses sind allgemeine und für alle Menschen notwendige Voraussetzungen. Die Kulturgeschichte der Menschheit zeigt aber eindrücklich, dass das ‚Erzählen von möglicher Zukunft‘ bis zum Beginn der modernen empirischen Wissenschaften sich jede Freiheit genommen hate, die sprachlich möglich ist. Dies machte den Umgang mit ‚wahren Prognosen‘ zu einer Art Glücksspiel. Eine Situation, die speziell für jene , die ‚mehr Macht haben‘ sehr günstig war: sie konnten die ‚vage Zukunft‘ sehr freizügig immer zu ihren Gunsten auslegen; keiner konnte klar widersprechen.

Empirische Wissenschaften – Bessere Prognosen

Mit dem Aufkommen der neueren empirischen Wissenschaften (beginnend ab ca. dem 15.Jahrhundert) wendete sich das Blatt ein wenig, da das ‚Reden über einen möglichen zukünftigen Zustand‘ jetzt stärker ’normiert‘ wurde. Von heute aus betrachtet mag diese Normierung einigen (vielen?) vielleicht ‚zu eng‘ erscheinen, aber als ‚Start‘ in ein Phase von ‚Prognosen mit größerer Zuverlässigkeit‘ war diese Normierung faktisch ein großer kultureller Fortschritt. Diese neue ‚Normierung‘ umfasste folgende Elemente:

  1. Als ‚akzeptierte Fakten‘ wurden nur solche ’sprachlichen Ausdrücke‘ anerkannt, die sich mittels eines von jedem ‚wiederholbaren Experiments‘ (klar definierte Handlungsfolgen) auf ‚für alle Beteiligte beobachtbare Phänomene‘ beziehen lassen (z.B. die ‚Länge eines Gegenstandes mit einem vereinbarten Längenmaß‘ feststellen; das ‚Gewicht eines Gegenstandes mit einem vereinbarten Gewichtskörper‘ feststellen; usw.). Ausdrücke, die auf diese Weise gemeinsam benutzt werden, heißen gewöhnlich ‚Messwerte‘, die in ‚Tatsachenbehauptungen‘ eingebettet werden (z.B. ‚Die Tischkante dort ist 2 m lang‘, ‚Gestern bei höchstem Sonnenstand wog dieser Beutel 1.5 kg‘, usw.).
  2. Tatsachenbehauptungen waren von da ab leichter ‚klassifizierbar‘ im Sinne von ‚zutreffend (wahr)‘ oder ’nicht zutreffend (falsch)‘ als ohne diese Normierungen. Mit der Einführung solcher ’normierter Beobachtungen‘ wurden implizit auch ‚Zahlen‘ eingeführt, was zu dem führte, was man heute auch ‚Quantifizieren‘ nennt. Statt alltagssprachlicher Ausdrücke wie ‚lang‘, ‚groß‘, ’schwer‘ usw. zu benutzen, deren Bedeutung im Alltag immer nur ‚fallweise kontextualisiert‘ wird (eigentlich die große Stärke der normalen Sprache), wurde mit der Quantifizierung mittels Zahlen und vereinbarten ‚Standard Größen‘ (heute oft ‚Einheiten‘ genannt) die gewohnte Vagheit der Normalsprache durch eine neue, ungewohnte Konkretheit ersetzt. Die Ersetzung von normalsprachlicher Flexibilität durch vereinbarte Konkretheit erlaubte dann — wie sich immer mehr zeigte — eine ganz neue Qualität in der Beschreibung von ‚messbaren Phänomenen‘ und deren ‚Verhalten in der Zeit‘.[4]
  3. Das Werk ‚Philosophiae Naturalis Principia Mathematica‘ (erstmals 1689, Latein) von Isaac Newton gilt als erste große Demonstration der Leistungsfähigkeit dieses normierten Vorgehens (nach berühmten Vorläufern wie z.B.. Galilei und Kepler). Dazu kommt, dass die quantifizierten Tatsachenbehauptungen in ‚Zusammenhänge‘ eingebracht werden, in denen in Form von ‚Lehrsätzen‘ (oft auch Axiome genannt)‘ so etwas wie ‚Wirkzusammenhänge‘ beschrieben werden, die quantifizierte Ausdrücke benutzen.
  4. Im Zusammenwirken von quantifizierten Beobachtungen mit quantifizierten Wirkzusammenhängen lassen sich dann vergleichsweise genaue ‚Folgerungen‘ ‚ableiten‘, deren ‚Zutreffen‘ sich in der beobachtbaren Welt als ‚quantifizierte Prognosen‘ besser überprüfen lässt als ohne solche Quantifizierungen.
  5. Ein solches quantifizierendes Vorgehen setzt voraus, dass man die Ausdrücke der normalen Sprache um Ausdrücke einer ‚formalen Sprache‘ ‚erweitert‘. Im Fall von Newton waren diese formalen Ausdrücke jene der damaligen Mathematik.
  6. Interessant ist, dass Newton noch nicht über einen ‚formalen Folgerungsbegriff‘ verfügte, wie er dann Ende des 19.Jahrhunderts, Anfang des 20.Jahrhunderts durch die moderne Logik eingeführt wurde, einhergehend mit einer weiteren Formalisierung der Mathematik durch explizite Einbeziehung eines meta-mathematischen Standpunkts.

Der ‚Elefant im Raum‘

Es gibt Gesprächszusammenhänge, von denen sagt man, dass vom ‚Elefant im Raum‘ nicht gesprochen wird; also: es gibt ein Problem, das ist relevant, aber keiner spricht es aus.

Wenn man den Text zur positiven Vision zum Jahr 2062 liest, kann man solch einen ‚Elefanten im Raum‘ bemerken.

Ausgangslage im Alltag

Man muss sich dazu das Folgende vergegenwärtigen: Ausgangslage ist die Welt im Jahr 2021, in der die Menschheit global wirksam Verhaltensweisen zeigt, die u.a. zur Zerstörung der Biodiversität in einem Ausmaß führen, welche u.a. die Atmosphäre so verändern, dass das Klima schrittweise das bisher bekannte Leben dramatisch bedroht. Die u.a. CO2-Abhängigkeit der Klimaveränderung führt zu notwendigen Kurskorrekturen in der Art der Energiegewinnung, was wiederum phasenweise zu einem Energieproblem führt; gleichzeitig gibt es ein Wasserproblem, ein Ernährungsproblem, ein Migrationsproblem, ein …

Das Bündel dieser Probleme und seiner globalen Auswirkungen könnte größer kaum sein.

Von ‚außen‘ betrachtet — eine fiktive Sicht, die sich natürlich vom allgemein herrschenden ‚Zeitgeist‘ nicht wirklich abkoppeln kann — gehen alle diese wahrnehmbaren ‚Wirkungen‘ zurück auf ‚Wirkzusammenhänge‘, die durch das ‚Handeln von Menschen‘ so beeinflusst wurden, dass es genau zu diesen aktuellen globalen Ereignissen gekommen ist.

Das ‚Handeln‘ von Menschen wird aber — das können wir im Jahr 2022 wissen — von ‚inneren Zuständen‘ der handelnden Menschen geleitet, von ihren Bedürfnissen, Emotionen, und von den ‚Bildern der Welt‘, die zum Zeitpunkt des Handelns in ihren Köpfen vorhanden und wirksam sind.

Die ‚Bilder von der Welt‘ — teilweise bewusst, weitgehend unbewusst — repräsentieren das ‚Wissen‘ und die ‚Erfahrungen‘ der Handelnden. Dieses Wissen projiziert ‚Vorstellungen‘ in die umgebende Welt (die Menschen sind Teil dieser Welt!), die ‚zutreffend sein können, dieses aber zumeist nicht sind. Wenn sich ein Mensch entscheidet, seinen Vorstellungen zu folgen, dann hätten wir den Fall eines ‚wissensbasierten (rationalen) Handelns‘, das so gut ist, wie das Wissen zutreffend ist. Tatsächlich aber entscheidet sich jeder Mensch fast ausschließlich — meist unbewusst — nach seinem ‚Gefühl‘! Im Jahr 2022 gehört es zum Alltag, dass Menschen — der Bildungsgrad ist egal (!) — in einer Situation völlig ‚konträre Meinungen‘ haben können trotz gleicher Informationsmöglichkeiten. Unabhängig vom ‚Wissen‘ akzeptiert der eine Mensch die Informationsquellen A und lehnt die Informationsquellen B ab als ‚falsch‘; der andere Mensch macht es genau umgekehrt. Ferner gilt in sehr vielen (allen?) Entscheidungssituationen, dass die Auswahl der nachfolgenden Handlungen nicht von den ‚wissbaren Optionen‘ abhängt, sondern von der emotionalen Ausgangslage der beteiligten Personen, die sehr oft (meistens?) entweder bewusst nicht kommuniziert werden oder aber — da weitgehend unbewusst — nicht explizit kommuniziert werden können.

Dazu kommt, dass globale Wirkungen nur durch ein ‚globales Handeln‘ erreicht werden können, das entsprechend ‚koordiniert‘ sein muss zwischen allen Beteiligten. Koordinierung setzt ‚Kommunikation‘ voraus, und Kommunikation funktioniert nur, wenn die ‚kommunizierten Inhalte (= Wissen)‘ sowohl hinreichend ‚ähnlich‘ sind und zugleich ‚zutreffend‘. Die Wirklichkeit des Jahres 2021 (und nachfolgend) demonstriert allerdings, dass schon alltäglich zwei Menschen Probleme haben können, zu einer ‚gemeinsamen Sicht‘ zu kommen, erst recht dann, wenn ihre ‚individuellen Interessen‘ auseinander laufen. Was nützt es dem einen, zu wissen, dass es in den Alpen wunderbare Wanderwege gibt, wenn der andere absolut nicht wandern will? Was nützt es dem einen, wenn er bauen will und die Gemeinde einfach kein neues Bauland ausweist? Was nützt es betroffenen Bürgern, wenn die Bürgermeisterin partout ein neues Unternehmen ansiedeln will, weil es kurzfristig Geldeinnahmen gibt, und sie die nachfolgenden Probleme gerne übersieht, weil zuvor ihre Amtszeit endet? …

Kurzum, es ist nicht das ‚Wissen alleine‘, was ein bestimmtes zukünftiges Verhalten ermöglicht (wobei Wissen tendenziell sowieso ’nie ganz richtig ist‘), sondern auch — und vor allem — sind es die aktiven Emotionen in den Beteiligten.

Was heißt dies für die positive Zukunftsversion für 2062 im Text von Glaubrecht?

Erste Umrisse des Elefanten

Auf den Seiten 881 – 908 finden wir Formulierungen wie: „es kam zu einem tiefgehenden Bewusstseinswandel“ (881), „Immer mehr Menschen wurde klar“ (882), „Klar war aber auch, dass“, „guter Wille allein reichte da nicht… auch zivilgesellschaftliches Handeln musste erst intensiv erarbeitet werden„, „weil die Industrieländern … zu Vorbildern wurden“ (883), „Erst als die Überbevölkerung endlich zum wichtigsten Thema gemacht wurde, erfolgte der Durchbruch“ (884), „dass der Mensch in der ganz großen Gruppe ein gemeinsames Ziel erreichen kann“ (906), „Das Artensterben bietet allenfalls ein diffuses Ziel“ (908)

Diese ‚Fragmente‘ der Lösungsvision deuten an, dass

  1. ‚Bewusstseinswandel‘ und ‚Klarheit im Verstehen‘ wichtige Komponenten zu sein scheinen
  2. ‚Individuelles Wollen‘ alleine nicht ausreicht, um eine konstruktive globale Lösung zu ermöglichen
  3. ‚Überindividuelles (= zivilgesellschaftliches) Verhalten‘ ist nicht automatisch gegeben, sondern muss ‚gemeinsam erarbeitet werden‘
  4. Es braucht ‚globale Vorbilder‘ zur Orientierung (ob dies wirklich die Industrieländer sein können?)
  5. Die ‚Größe der Weltbevölkerung‘ ist ein wichtiger Faktor
  6. Der Faktor ‚Artensterben (Abnahme der Biodiversität)‘ ist für die meisten noch sehr ‚diffus‘
  7. Aus der Geschichte ist bekannt, dass Menschen gemeinsam große Dinge erreichen können.

Neben dem Wissen selbst — das ein Thema für sich ist — blitzen hier eine Reihe von ‚Randbedingungen‘ auf, die erfüllt sein müssen, damit es zu einer Lösung kommen kann. Ich formuliere diese wie folgt:

  1. Was immer ein einzelner weiß, fühlt, und will: ohne einen handlungswirksamen Zusammenschluss mit genügend vielen anderen Menschen wird es zu keiner spürbaren Veränderung im Verhalten von Menschen kommen.
  2. Das ‚zusammen mit anderen Handeln‘ muss ‚erlernt‘ und ‚trainiert‘ werden!
  3. Damit die vielen möglichen ‚Gruppen‘ in einer Region (auf der Erde) sich ’synchronisieren‘, braucht es ‚Leitbilder‘, die eine Mehrheit akzeptiert.
  4. Für alle Beteiligten muss erkennbar und erfahrbar sein, wie ein ‚Leitbild des gemeinsamen Handelns‘ sich zu den individuellen Bedürfnissen und Emotionen und Zielen verhält.
  5. Eine Zivilgesellschaft muss sich entscheiden, wo sie sich zwischen den beiden Polen ‚voll autokratisch‘ und ‚voll demokratisch‘ — mit vielen ‚Mischformen‘ — ansiedeln will. Die biologische Evolution deutet an, dass auf ‚lange Sicht‘ eine Kombination aus ‚radikaler Diversität‚ verbunden mit einem klaren ‚Leistungsprinzip‚ über lange Zeitstrecken hin leistungsfähig ist.
  6. Im Fall von menschlichen biologischen Systemen spiel ferner eine radikale ‚Transparenz‘ eine wichtige Rolle: Transparenz ’sich selbst‘ gegenüber wie auch ‚Transparenz untereinander‚: ohne Transparenz ist kein ‚effektives Lernen‘ möglich. Effektives Lernen ist die einzige Möglichkeit, das verfügbare Wissen in den Köpfen an die umgebende Realität (mit dem Menschen als Teil der Umgebung) ansatzweise ‚anzupassen‘.
  7. Damit Wissen wirksam sein kann, muss es eine ‚Form‚ haben, die es für alle Menschen möglich macht, (i) ‚jederzeit und überall‘ dieses Wissen zu nutzen und ‚dazu beitragen zu können‘, sowie (ii) erlaubt, ‚Prognosen‘ zu erstellen, die überprüft werden können.

Die wahre Herausforderung

Der ‚Elefant im Raum‘ scheint also der ‚Mensch selbst‘ zu sein. Die heutige Tendenz, immer und überall von ‚Digitalisierung‘ zu sprechen und in den Begriff ‚Künstliche Intelligenz‘ all jene Lösungen hinein zu projizieren, die wir noch nicht haben, ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Mensch das ‚Verhältnis zu sich selbst‘ irgendwie nicht im Griff hat. Die kulturelle Erfahrung der letzten Jahrtausende, in vielen Bereichen heute deutlich ‚aufgehellt‘ durch empirische Wissenschaften, könnte uns entscheidend helfen, unser ‚eigenes Funktionieren‘ besser zu verstehen und unser individuelles wie gesellschaftliches Verhalten entsprechend zu organisieren. Das Problem ist weniger das Wissen — auch wenn dieses noch viel weiter entwickelt werden kann und entwickelt werden muss — als vielmehr unsere Scheu, die Motive von Entscheidungen und Verhalten transparent zu machen. Es reicht nicht, sogenannte ’sachliche Argumente‘ anzuführen (wenngleich sehr wichtig), es müssen zugleich auch die realen Interessen (und Ängste) auf den Tisch. Und wenn diese Interessen divergieren — was normal ist –, dann muss eine Lösung gefunden werden, die Interessen und Weltwissen (zusammen mit den bekannten Prognosen!) zu einem Ausgleich führt, der ein Handeln ermöglicht. Möglicherweise ist dies — auf längere Sicht — nur in eher demokratischen Kontexten möglich und nicht in autokratischen. Dies setzt aber in der Mehrheit der Bevölkerung einen bestimmten ‚Bildungsstand‘ voraus (was nicht nur ‚Wissen‘ meint, sondern z.B. auch die Fähigkeit, in diversen Teams transparent Probleme zu lösen).

Epilog

Vielleicht mag jemand nach der Lektüre dieses Textes den Eindruck haben, das Buch von Glaubrecht (hier wurde ja nur — im Teil 1 — die Einleitung und — im Teil 2 — der Schluss diskutiert!) würde hier kritisiert. Nein, das Buch ist großartig und ein wirkliches Muss. Aber gerade weil es großartig ist, lässt es Randbedingungen erkennen, die mindestens so wichtig sind wie das, was Glaubrecht mit dem Hauptthema ‚abnehmende Biodiversität‘ zur Kenntnis bringt.

Diese Randbedingungen — wir selbst mit unserer Art und Weise mit uns selbst und mit den anderen (und mit der übrigen Welt) umzugehen — sind gerade im Lichte der Biodiversität keine ‚Randbedingungen‘, sondern der entscheidende Faktor, warum es zur dramatischen Abnahme von Biodiversität kommt. Bei allen großartigen Errungenschaften ist der heutige Wissenschaftsbetrieb aktuell dabei, sich selbst zu ’neutralisieren‘, und die gesellschaftlichen Prozesse tendieren dazu, das Misstrauen untereinander immer weiter anzuheizen. Was wir brauchen ist möglicherweise eine wirkliche ‚Kulturrevolution‘, die ihren Kern in einer ‚Bildungsrevolution‘ hat. Fragt sich nur, wie diese beiden Revolutionen in Gang kommen können.[5]

KOMMENTARE

[1] Die Url lautet: https://www.cognitiveagent.org/2022/09/08/das-ende-der-evolution-von-matthias-glaubrecht2021-2019-lesenotizen/

[2] Ankündigung der Biodiversitätskonferenz Dezember 2022: https://www.unep.org/events/conference/un-biodiversity-conference-cop-15

[3] Joachim Radkau, 2017, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, Carl Hanser Verlag , eBook

[4] Es sei angemerkt, dass die Benutzung von ‚Zeitmarken‘ keinesfalls trivial ist. Abgesehen von dem ‚periodischen Ereignis‘, das für die Zeitmessung an einem bestimmten Ort benutzt wird, und dessen ‚Zuverlässigkeit‘ eigens geprüft werden muss, ist es eine wichtige Frage, wie sich zwei Zeitmessungen an verschiedenen Orten auf der Erde zueinander verhalten. Eine weltweit praktikable Lösung mit einer hinreichenden Genauigkeit gibt es erst ca. seit den 1990iger Jahren.

[5] Wenn im Epilog von einer notwendigen ‚Kulturrevolution‘ gesprochen wird, deren Kern eine ‚Bildungsrevolution‘ sein sollte, dann gibt es dazu eine Initiative Citizen Science 2.0, die — zumindest von der Intention her — genau auf solch eine neu sich formierende Zukunft abzielt. URL: https://www.oksimo.org/citizen-science-buergerwissenschaft/

Ein Überblick über alle Beiträge des Autors nach Titeln findet sich HIER.

EPISTEMISCHE SCHOCKWELLEN. Die letzten 3500 Jahre

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 20.Sept. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Die Diskussion im Kontext des letzten Textes von Freud zur Psychoanalyse lässt erkennen, wie sich das Bild von uns Menschen über uns selbst dadurch in gewisser Weise ändern kann und letztlich dann ändert, wenn wir uns auf diese Gedanken einlassen. Die Einbeziehung des ‚Unbewussten‘ in das Gesamtbild des Systems homo sapiens verschiebt so manche Beziehungen im Gefüge des menschlichen Selbstbildes, und nicht nur das, es wirkt sich auch aus auf das Gesamtbild der empirischen Wissenschaften, auf ihr Gesamtgefüge. Dies hatte sich ja auch schon angedeutet in der vorausgehenden Diskussion des Buches von Edelman, die noch nicht abgeschlossen ist.

Dies hat mich angeregt, über Freud und Edelman hinausgehenden einige der epistemischen Schockwellen zusammen zu stellen, denen das menschliche Selbstverständnis in den letzten ca. 3500 Jahren ausgesetzt war. Dabei muss man sich darüber im Klaren sein, dass es natürlich immer nur eine Minderheit war, die überhaupt an den übergreifenden Erkenntnissen teilhaben konnte, und selbst diese Minderheit zerfällt in unterschiedliche Subgruppen ohne ein kohärentes Gesamtbild.

EPISTEMISCHE SCHOCKWELLEN

Unter ‚Schockwellen‘ werden hier energetische Ereignisse verstanden, die nur gelegentlich auftreten, und die geeignet sind, bestehende Strukturen zumindest zum Schwingen, zum Erbeben zu bringen, wenn nicht gar zu ihrer Zerstörung führen. ‚Epistemisch‘ bezieht sich auf die Dimension des Erkennens, des Verstehens, zu dem Exemplare des Homo sapiens fähig sind. ‚Epistemische Schockwellen‘ sind also Ereignisse, durch die das Selbstverständnis, die Weltbilder der Menschen in Schwingungen versetzt wurden bzw. sich neu aufbauen mussten.

Die folgende Zusammenschau solcher epistemischer Schockwellen ist in keiner Weise vollständig, weitgehend nicht differenziert genug, rechtfertigt sich aber dadurch, dass es darum geht in einer überschaubaren Weise einen Grundeindruck von der Dynamik des Geistes zu vermitteln, die dem Geschehen des biologisch fundierten Lebens innewohnt.

CLUSTER RELIGION

 

Stichworte zu 'Epistemische Schockwellen', Teil 1. ca. -1500 bis ca. 1500
Stichworte zu ‚Epistemische Schockwellen‘, Teil 1. ca. -1500 bis ca. 1500

Zwischen ca. -1500 bis etwa 650 gab mindestens 8 große das Weltverstehen prägende Ereignisse – daneben viele andere, weitere –, die wir im Nachgang als ‚Religionen‘ bezeichnen. Religionen zeichnen sich aus durch ‚Gründer‘, durch ‚Botschaften‘, durch ‚Erfahrungen‘ und dann meistens nachfolgend durch ‚Regeln‘ und Bildung von ‚Organisationsformen‘. Sie erheben einen Anspruch auf ‚Deutung der Welt‘ mit ‚Sinn‘, ‚Werten‘ und ‚Spielregeln‘. Sie versprechen auch den Kontakt zu eine Letzten, Größten, Umfassenden, Endgültigen, dem alles andere unter zu ordnen ist. Vielfach gehen diese Versprechungen auch einher mit speziellen ‚außergewöhnlichen Erlebnissen‘, die im einzelnen stattfinden.

In Vorderasien und Europa waren dies vor allem das Duo Judentum-Christentum und der Islam. Während diese sich explizit auf einen ‚Schöpfer‘ bezogen, kam der indische Subkontinent neben der vielfältigen Götterwelt des Hinduismus in seinem Grundtenor — realisiert im Buddhismus — ohne einen expliziten Schöpfer aus, allerdings nicht ohne eine tiefgreifende Existenzerfahrung des einzelnen Menschen, der sich durch einen geeigneten Lebensstil und Meditation möglichst weitgehend von einem normalen Alltag und seinen vielfältigen Spannungen isolierte.

So verschieden Jugentum-Christentum, Islam auf der einen Seite und Indischer Existentialismus auf der anderen Seite auf den ersten Blick wirken können, kann man aber dennoch auffällige strukturelle Parallelen erkennen.

Die sprachliche Seite der genannten Religionen tendiert dazu, nicht die Weite und Vielfalt der Welt zu kommunizieren, keine weiterreichende Erkenntnisse, sondern die Sprache hat einzig den Zweck, eine bestimmte, abgegrenzte Idee zu kommunizieren, diese abzugrenzen von allem anderen, bis dahin, dass alle Abweichungen diskreditiert werden. Jene Menschen, die sich sprachlich von der ‚Norm‘ entfernen sind Abweichler, Dissidenten, Ungläubige, Verräter, Feinde. Die Sprache wird also nicht gesehen als ein offener, lebendiger, dynamischer Raum von ‚Wahrheit‘, die sich weiter entwickeln kann, sondern als eine symbolische Fessel, eine symbolische Mauer, die einige wenige Ideen abgrenzen sollen. Auch der Buddhismus, der eigentlich sein Fundament in einer schwer beschreibbaren individuellen Existenzerfahrung sieht, praktiziert Sprache überwiegend als Gefängnis.

Betrachtet man sich die Geschichte dieser Religionen bis heute, dann ist diese Starrheit unübersehbar. Alle modernen Erkenntnisse und Entwicklungen prallen an der Sprache dieser Religionen ab.

Neben der sprachlichen Dimension haben alle diese Religionen auch eine ‚Erlebnisdimension‘, oft auch ‚Spiritualität‘ oder ‚Mystik‘ genannt. Einzelne, Gruppierungen, Bewegungen erzähltem davon, schrieben es auf, dass sie ‚besondere, tiefgreifende Erlebnisse‘ hatten, die ihnen ‚klar gemacht haben‘, was wirklich ‚wichtig‘ ist, ‚worin der Sinn des Lebens‘ liegt, Erlebnisse, die ihnen ‚Frieden‘ geschenkt haben, ‚Erfüllung‘, ‚Wahrheit‘. Und diese Erlebnisse waren immer so stark, dass sie diese Menschen aus allen Schichten dazu bewegt haben, ihr Lebens radikal zu ändern und von da an eben ‚erleuchtet‘ zu leben. Diese Menschen gab es nicht nur im Umfeld des Buddhismus, sondern auch zu Tausenden, Zehntausenden im Umfeld des Judentum-Christentums.

Solange diese religiösen Bewegungen sich im Umfeld der etablierten religiösen Überzeugungen und Praktiken bewegen wollten, mussten sie sich – wie immer auch ihre individuellen Erlebnisse waren – diesem Umfeld anpassen. In vielen Fällen führte dies auch zu Absetzbewegungen, zur Entwicklung neuer religiöser Bewegungen. Das Problem dieser erlebnisbasierten Bewegungen war, dass sie entweder nicht die Sprache benutzen durften, die sie zur Beschreibung ihrer Erlebnisse brauchten (da nicht erlaubt), oder aber, sie benutzten eine neue Sprache, und dies führte zum Konflikt mit den etablierten Sprachspielen.

Unter den vielen hunderten Bewegungen allein im Bereich Judentum-Christentum, die z.T. viele tausend, ja zehntausend  Mitglieder hatten und dabei oft auch materiell sehr wohlhabend bis reich wurden, möchte ich zwei kurz erwähnen: die Reformation angefeuert von Martin Luther und den Jesuitenorden, angefeuert von Ignatius von Loyola. Im historischen Klischee werden beide Bewegungen oft als direkte Gegner skizziert, da der Jesuitenorden kurz nach Beginn der Reformationsbewegung gegründet wurde und der katholische Papst gerade diesen Orden auch zur ‚Bekämpfung der Reformation‘ einsetzte. Dieses Bild verdeckt aber die wirklich interessanten Sachverhalte.

Der Jesuitenorden entstand aus den spirituellen Erfahrungen eines baskischen Adligen, deren innere Logik, Beschreibung und Praxis, im Lichte der Erkenntnisse der modernen Psychologie (und Psychoanalyse) stand halten würde. Außerdem war der Orden aufgrund dieser Spiritualität extrem weltoffen, wissenschaftsaffin, und revolutionierte die damals beginnende christliche Missionierung der Welt, indem jeweils die Kultur der verschiedenen Erdteile studiert und übernommen und sogar gegen zerstörerische Praktiken der europäischen Kolonisatoren geschützt wurden. Genau dieses wahre Gesicht des Ordens mit einer radikal individuell-erlebnisbasierten Spiritualität und daraus resultierenden Weltoffenheit und Menschlichkeit führte dann zum Verbot und Aufhebung des Ordens weltweit, verbunden mit Einkerkerungen, Folter und Tod ohne Vorankündigung. Das korrupte Papsttum ließ sich damals von dem portugiesischen und spanischen Hof erpressen, die ihre menschenverachtende Geschäfte in den Kolonien, speziell Südamerika, bedroht sahen. Dies war nicht die einzige Aufhebung und Misshandlung, die der Orden seitens des Papstums erfuhr. Während Luther sich gegen das Papsttum erhob und es auf einen Konflikt ankommen ließ, blieben die Jesuiten dem Papst treu und wurden vernichtet.

Diese Minigeschichte ließe sich aber zu einem großen Thema erweitern, da eben die sprachlich fixierten Religionen generell ein Problem mit Wahrheit und damit mit jeglicher Art von Erfahrung haben. Die Akzeptanz individueller Erfahrung als möglicher Quell von ‚Wahrheit‘, möglicherweise einer weiter reichenden alternativen Wahrheit zu der sprachlich fixierten (und damit eingesperrten) Wahrheit der Religionen, eine solche Akzeptanz würde das Wahrheitsmonopol dieser Religionen aufheben. Bislang hat keine der genannten Religionen es geschafft, von sich aus ihr problematisches Wahrheitsmonopol in Frage zu stellen.

JUDENTUM – CHRISTENTUM – PHILOSOPHIE

In der Zeit vor den modernen empirischen Wissenschaften existierte wissenschaftliches Denken entweder gar nicht oder in enger Verbindung mit dem philosophischen Denken bzw. der Medizin.

In der alten und klassischen Griechischen Philosopie (ca. -800 bis -200) wurde das Weltverstehen in vielen Bereichen erstmalig sehr grundlegend reflektiert, unabhängig von bestimmten religiösen Überzeugungen, obgleich natürlich auch diese Denker nicht im luftleeren Raum lebten sondern in konkreten Kulturen mit einer damals üblichen Moral, Ethik, Spielregeln, Sprachspielen.

Unter den vielen bedeutenden Konzepten war das größte systematische Konzept wohl jenes von Aristoteles, Schüler Platons, und den an ihn anschließenden Schulen. Während dieses griechische Denken nach der Eroberung Griechenlands durch die Römer in Mittel- und Westeuropa bis zum Jahr 1000 mehr oder weniger unbekannt war (Kriege, radikal anti-wissenschaftliche Einstellung der katholischen Kirche) war der damalige Islam sehr offen für Wissen. Das griechische Denken war im Islam weitgehend bekannt, lag entsprechend in arabischen Übersetzungen vor, und durch eine Vielzahl von Schulen, Bildungsstätten und großen Bibliotheken (z.T. mehrere hundert Tausend Bücher!) wurde dieses Wissen gepflegt und weiter entwickelt (welcher Kontrast zum heutigen Islam!). Und nur über diese Umweg über den hochgebildeten Islam mit Übersetzungsschulen in Spanien kam das Wissen der Griechen ab ca. 1000 wieder in das christliche Mittel- und West-Europa.

Mit dem Entstehen eines aufgeschlosseneren Bildungssystem in Europa wanderten die griechischen Gedanken über Bücher und Gelehrte wieder in europäische Bildungsstätten ein. Es gab eine Zeit der intensiven Auseinandersetzung zwischen bisheriger christlicher Theologie und Aristoteles. Auf dem Höhepunkt der begrifflichen Integration von christlichem Glauben und Aristotelischer Weltsicht gab es aber ‚Abspaltungstendenzen‘ in mehreren Bereichen.

POLITIK – WISSENSCHAFT – SPIRITUALITÄT

Das zunehmend freie und kritische Denken begann mit der Infragestellung der bis dahin waltenden absolutistischen Machtstrukturen.

Das methodisch geschulte universitäre Denken begann, über die aristotelischen Konzepte hinaus zu denken. Anknüpfungspunkte gab es genügend.

Das individuelle Erleben der Menschen, ihre Frömmigkeit, ihre Spiritualität suchte nach neuen Wegen, benutzte eine neue Sprache, um sich besser ausdrücken zu können.

Das neue politische Denken führte später zur französischen Revolution und vielen ähnlichen politischen Erneuerungsbewegungen.

Das neue philosophische Denken führt alsbald zum Bildung der neuen empirischen Wissenschaften mit neuer Logik und Mathematik.

Die neue Spiritualität lies viele neue religiöse Bewegungen entstehen, die quer zu allen etablierten Glaubensformen lagen, u.a. auch zur Reformation.

PHILOSOPHIE – WISSENSCHAFT

Stichworte zu 'Epistemische Schockwellen', Teil2. ca. ca. 1550 bis ca.2018
Stichworte zu ‚Epistemische Schockwellen‘, Teil2. ca. ca. 1550 bis ca.2018

Aus der Vielzahl der philosophischen Denker bieten sich vier besonders an: Descartes, Kant, Wittgenstein und Carnap.

Von heute aus betrachtet markieren diese Vier entscheidende Umbrüche des philosophischen Denkens, das von den Entwicklungen in der Logik, Mathematik,Physik, Geowissenschaften, Biologie und Psychologie zusätzlich profitiert hat und noch immer profitiert.

Descartes versuchte zu klären, inwieweit sich die Wahrheitsfrage nur durch Rekurs auf das eigene Denken lösen ließe. Sein Fixpunkt in der Gewissheit des eigenen Denkens (cogito ergo sum) wurde aber erkauft durch einen fortbestehenden Dualismus zwischen Körper (res extensa) und Denken/ Geist (res cogitans), den er mit einem irrationalen Gedanken zu einer Zirbeldrüse zu kitten versuchte.

Kant führte dieses Forschungsprogramm von Descartes letztlich weiter. Sein Vermittlungsversuch zwischen fehlbarer konkreter empirischer Erfahrung und den allgemeinen Prinzipien der Mathematik und des Denkens (des Geistes) ging über Descartes insoweit hinaus, dass er auf eine Zirbeldrüsen-ähnliche Lösung verzichtete und stattdessen davon ausging, dass der Mensch in seinem Denken von vornherein in abstrakten Kategorien wahrnimmt und denkt. Unsere menschliche Konstitution ist so, dass wir so wahrnehmen und Denken. Er konstatierte damit ein Faktum, das wir heute mit all unseren Erkenntnissen nur bestätigen können. Es blieb bei ihm offen, warum dies so ist. Es zeichnet seine intellektuelle Redlichkeit aus, dass er die offenen Enden seiner erkenntnistheoretischen (epistemischen) Analysen nicht krampfhaft mit irgendwelchen Pseudo-Lösungen versucht hat zu vertuschen.

Wittgenstein war der erste, der sich mit dem Funktionieren der Sprache und ihrer Wechselwirkung mit unserem Denken ernsthaft, ja radikal beschäftigte. Während er in seinem Frühwerk noch der Statik der damaligen modernen Logik huldigte, begann er dann später alle diese statischen formalen Konstruktionen in der Luft zu zerreißen, durchlief weh-tuende detaillierte Analysen der Alltagssprache, machte vor nichts Halt, und hinterließ mit seinem frechen und angstfreien Denken einen Trümmerhaufen, dessen Verdienst es ist, den Raum frei gemacht zu haben für einen echten Neuanfang.

Carnap wirkt in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick wie ein Antipode zu Wittgenstein, und in der Tat hat er ja das vor-wittgensteinsche Sprachverständnis in seinen Studien zu den formalen Sprachen, zur Logik, zur logischen Semantik weiter angewendet. Allerdings hat er dies dann auch im Kontext der empirischen Wissenschaften getan. Und in diesem Kontext hat sein formal-scholastisches Denken immerhin dazu beigetragen, die Grundstrukturen moderner empirische Theorien mit einem formalen Kern frei zu legen und ihre Eigenschaften zu untersuchen.

Alle diese genannten Ansätze (Kant, Wittgenstein, Carnap) wurden später mehrfach kritisiert, abgewandelt, weiter entwickelt, aber es waren diese Ansätze, die die nachfolgenden Richtungen entscheidend beeinflusst haben.

Ein interessanter Grenzfall ist Freud (s.u.). Irgendwie könnte man ihn auch zur Philosophie rechnen.

LOGIK – MATHEMATIK

Aus heutiger Sicht kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass es eine Zeit gegeben hat, in der die moderne Logik und Mathematik nicht verfügbar war. Nahezu alles, was unseren Alltag ausmacht setzt sehr viel Mathematik als beschreibende Sprache, als Berechnung, als Simulation voraus. Dass mathematisches Denken in den Schulen so wenig – und immer weniger – behandelt wird, ist sehr irritierend.

Logik und Mathematik sind einen weiten Weg gegangen.

Ein Meilenstein ist der Übergang von der klassischen aristotelischen Logik (eng an der Alltagssprache, Einbeziehung inhaltlichen Alltagsdenkens) zur modernen formalen Logik seit Frege (formale Sprache, formaler Folgerungsbegriff).

Eng verknüpft mit der Entwicklung der neuen formalen Logik ist auch die Entwicklung der modernen Mathematik, die entscheidend mit der Erfindung der Mengenlehre durch Cantor ihren Durchbruch fand, und dann mit Russel-Whitehead und Hilbert die Neuzeit erreichte. Keine der modernen Arbeiten in Gebieten wie z.B. Algebra, Topologie, Geometrie sind ohne diese Arbeiten denkbar, ganz zu schweigen von der modernen theoretischen Physik.

EMPIRISCHE WISSENSCHAFTEN

Erste Ausläufer empirischer Wissenschaft gab es schon vor Galilei (man denke z.B. nur an die bahnbrechenden Forschungen zur Medizin von dem islamischen Gelehrten (und Philosophen, Logiker, Theologen!) Avicenna). Doch an der Person Galileis kristallisiert sich der Konflikt zwischen neuem, offenen wissenschaftlichen Denken und dem alten, geschlossenen christlichen Denken. Zudem hat Galilei eben konsequent sowohl eine experimentelle Messmethode angewendet wie auch eine beginnende mathematische Beschreibung. Mit Newton gelang dann eine Fassung von Experiment und Theorie, die atemberaubend war: die Bewegung der Himmelskörper ließ sich nicht nur mit einfachen mathematischen Formeln beschreiben, sondern auch noch mit bis dahin unbekannter Präzision voraus sagen. Es sollte dann zwar noch fast 300 Jahre dauern, bis die moderne Physik eine erste Theorie zur Entstehung des ganzen Weltalls formulieren konnte samt ersten experimentellen Bestätigungen, aber die Befreiung des Denkens von dogmatischen Sprachbarrieren war geschafft. Die Wissenschaft insgesamt hatte sich freigeschwommen.

Schon im 17.Jahrhundert hatte Niels Stensen entdeckt, dass die unterschiedlichen Ablagerungsschichten der Erde in zeitlicher Abfolge zu interpretieren sind und man daher auf geologische Prozesse schließen kann, die die Erde durchlaufen haben muss.

Zwei Jahrhunderte später, schon im 19.Jahrhundert, wurde diese historische Sicht der Erde ergänzt durch Charles Darwin, der am Beispiel der Pflanzen- und Tierwelt auch Hinweise auf eine Entwicklung der Lebensformen fand. Sowohl die Erde als auch die biologischen Lebensformen haben eine Entwicklung durchlaufen, zudem in enger Wechselwirkung.

Fast parallel zu Darwin machte Freud darauf aufmerksam, dass unser ‚Bewusstsein‘ nicht die volle Geschichte ist. Der viel größere Anteil unseres menschlichen Systems ist ’nicht bewusst‘, also ‚unbewusst‘. Das Bewusstsein ‚erzählt‘ uns nur ‚Bruchstücke‘ jener Geschichten, die weitgehend im ‚Nicht-Bewusstein‘ oder ‚Unbewussten‘ ablaufen.

Die weitere Entwicklung der Biologie lieferte viele Argumente, die das Bild von Freud stützen.

Der Versuch von Watson, 1913, die Psychologie als empirische Verhaltenswissenschaft zu begründen, wurde und wird oft als Gegensatz zu Psychoanalyse gesehen. Das muss aber nicht der Fall sein. Mit der Verhaltensorientierung gelang der Psychologie seither viele beeindruckende theoretische Modelle und Erklärungsleistungen.

Von heute aus gesehen, müsste man ein Biologie – Psychologie – Psychoanalyse Cluster befürworten, das sich gegenseitig die Bälle zuspielt.

Durch die Einbeziehung der Mikro- und Molekularbiologie in die Evolutionsbiologie konnten die molekularen Mechanismen der Evolution entschlüsselt werden.Mittlerweile steht ein fast komplettes Modell der biologischen Entwicklung zur Verfügung. Dies erlaubt es sowohl, Kants (als auch Descartes) Überlegungen von den biologischen Voraussetzungen her aufzuklären (z.B. Edelman!), wie auch die Psychologie samt der Psychoanalyse.

COMPUTER

Als Gödel 1931 die Unentscheidbarkeit anspruchsvoller mathematischer Theorien (das fängt bei der Arithmetik an!) beweisen konnte, wirkte dies auf den ersten Blick negativ. Um seinen Beweis führen zu können, benötigte Gödel aber sogenannte ‚endliche Mittel‘. Die moderne Logik hatte dazu ein eigenes Forschungsprogramm entwickelt, was denn ‚endliche Beweismethoden‘ sein könnten. Als Turing 1936/7 den Beweis von Gödel mit dem mathematischen Konzept eines Büroangestellten wiederholte, entpuppte sich dieses mathematische Konzept später als ein Standardfall für ‚endliche Mittel‘. Turings ‚mathematisches Konzept eines Büroangestellten‘ begründete dann die spätere moderne Automatentheorie samt Theorie der formalen Sprachen, die das Rückgrat der modernen Informatik bildet. Das ‚mathematische Konzept eines Büroangestellten‘ von Turing wurde ihm zu Ehren später ‚Turingmaschine‘ genannt und bildet bis heute den Standardfall für das, was mathematisch ein möglicher Computer berechnen kann bzw. nicht kann.

Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass gerade das Konzept des Computers ein extrem hilfreiches Werkzeug für das menschliche Denken sein kann, um die Grenzen des menschlichen Wahrnehmens, Erinnerns und Denkens auszugleichen, auszuweiten.

Schon heute 2018 ist der Computer zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Gesellschaft geworden. Das Wort von der ‚Digitalen Gesellschaft‘ ist keine Fiktion mehr.

ZEITGEIST

Der extrem kurze Rückblick in die Geschichte zeigt, wie schwer sich die Ausbildung und Verbreitung von Ideen immer getan hat. Und wenn wir uns die gesellschaftliche Realität heute anschauen, dann müssen wir konstatieren, dass selbst in den hochtechnisierten Ländern die gesamte Ausbildung stark schwächelt. Dazu kommt das eigentümliche Phänomen, dass das Alltagsdenken trotz Wissenschaft wieder vermehrt irrationale, gar abergläubische Züge annimmt, selbst bei sogenannten ‚Akademikern‘. Die Herrschaft von Dogmatismen ist wieder auf dem Vormarsch. Die jungen Generationen in vielen Ländern werden über mobile Endgeräte mit Bildern der Welt ‚programmiert‘, die wenig bis gar nicht zu wirklichen Erkenntnissen führen. Wissen als solches, ist ‚wehrlos‘; wenn es nicht Menschen gibt, die mit viel Motivation, Interesse und Ausdauer und entsprechenden Umgebungen zum Wissen befähigt werden, dann entstehen immer mehr ‚Wissens-Zombies‘, die nichts verstehen und von daher leicht ‚lenkbar‘ sind…

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OBJEKTIVE WERTE? Diskussion von Stace’s ’Religion and the Modern Mind’ Kap.5, Teil 4

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
2.Juli 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

ÜBERSICHT

In Fortsetzung der vorausgehenden Teile 1   sowie 2  und 3  wird in diesem vierten Teil das Kap.5 von Stace besprochen. Im Kapitel 5 beschreibt Stace die direkten Auswirkungen des neuzeitlichen wissenschaftlichen Weltbildes auf den bisherigen christlichen Gottesglauben. Dazu die verschiedenen Versuche, diesen Gottesglauben gegenüber dem modernen Weltbild zu bewahren samt jenen Argumenten, die das alte Bild des christlichen Gottesglaubens vor dem 18.Jahrhundert zu entkräften versuchen.

KAPITEL 5

Stace (1952) Kap.5 - Gedankenskizze
Stace (1952) Kap.5 – Gedankenskizze

 

Das Christliche Weltbild

Um die allmählich eintretende Wirkung des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs zu verdeutlichen benutzt Stace eine kompakte Formel (vgl. S.84), um die Gestalt des christlichen Weltbildes zu umreißen:

1) Ein göttliches Wesen hat das Universum erschaffen.

2) Es gibt eine umfassende Absicht im ganzen Universum.

3) Die Welt repräsentiert eine moralische Ordnung.

4) Gott ist den Menschen nah.

Dieses grundsätzliche Bild wurde noch ergänzt um spezielle kosmologische Annahmen wie (vgl. S.83):

1) Die Sonne bewegt sich um die Erde

2) Die Planetenbahnen sind kreisförmig

3) Die Bewegung der Körper kommt mit der Zeit zur Ruhe

4) Eine Anziehungskraft (Gravitation) war nicht bekannt.

Obwohl die speziellen kosmologischen Annahmen nicht direkt aus den christlichen Glaubenssätzen folgten, waren sie zu jener Zeit eine derart starke Verbindung mit dem christlichen Kernglauben eingegangen, dass sie für die damaligen Menschen wie ’natürliche Bestandteile’ des christlichen Glaubens erschienen, deren Infragestellung mit einer Infragestellung des christlichen Glaubens selbst gleichgesetzt werden konnte.

Das Neue wissenschaftliche Weltbild

Mit der Entstehung des neuen wissenschaftlichen Weltbildes (siehe die Besprechung in Teil 3) kam es zunächst zu einer direkten Entgegensetzung von christlichen Annahmen über den Kosmos und dem neuen wissenschaftlichen Weltbild (vgl. S.83):

1) Die Sonne bewegt sich um die Erde < −− > Die Erde bewegt sich um die Sonne.

2) Die Planetenbahnen sind kreisförmig < −− > Die Planetenbahnen sind ellipsenförmig.

3) Die Bewegung der Körper kommt mit der Zeit zur Ruhe < −− > Die Bewegung der Körper setzt sich unverändert fort solange keine zusätzliche Kraft einwirkt.

4) Eine Anziehungskraft (Gravitation) war nicht bekannt. < −− > Neue Gravitationsgesetze.

Diese letztlich nicht-theologischen Erkenntnisse wurde von der Kirche dennoch zunächst als bedrohlich für den Glauben empfunden, als ketzerisch eingestuft und dementsprechend bekämpft. Zugleich provozierten diese Einsichten den Gottesglauben auch der Wissenschaftler und Philosophen. Während Denker wie Newton und Berkeley meinten, den Gottesglauben auf unterschiedliche Weise verteidigen zu müssen, gab es andere Denker wie z.B. Laplace, die versuchten, weitere Argumente zu finden, warum man die Annahme Gottes im Verständnis der natürlichen Welt nicht brauchen würde.

Rettungsversuch Mit Design-Begriff

Eine beliebte Denkfigur (bis in unsere Gegenwart hinein), um die Begrenztheit der naturwissenschaftlichen Erklärungsansätze mit einem expliziten Gottesbegriff für die Natur zu retten, ist der sogenannte Design Ansatz: der Aufweis der großen Komplexität der bedingenden Faktoren sowie die daraus resultierende immense Unwahrscheinlichkeit, dass in solch einer Situation die bekannten Lösungen ’einfach so’ entstehen konnten, wird als Argument dafür benutzt, dass es hinter allem einen planenden, absichtsvollen Geist geben muss, eben einen Schöpfer, den christlichen Gott (vgl. SS.74ff).

Diese Argumentation erweist sich als schwierig und wenig plausibel. Einmal zeigt der Gang der Wissenschaftsgeschichte, dass der Begriff der Komplexität sehr relativ ist: was in einer bestimmten Zeit als ’komplex’ und ’unerklärbar’ erscheint, findet zu anderen Zeiten einfache und elegante Erklärungen. Zum anderen erklären die Designansätze in der Regel zwar die ’schönen’ Fälle, in denen es für die beteiligten Geschöpfe ’gut’ ausgeht, sie könne aber nicht mit den unzähligen Fällen des Scheiterns und des Elends umgehen. Ein Zufalls-basierter Ansatz mag zwar vielfach ’unwahrscheinlich’ erscheinen, aber das Auftreten von Varianten, von Scheitern, von Übel ist im Rahmen einer vom Zufall bestimmten Entwicklung eingeschlossen. (Anmerkung: Im weiteren Gang der modernen Wissenschaften  wurde die Annahme einer Zufalls-basierten Entwicklung um weitere Faktoren ergänzt. So sind bei der Entwicklung von biologischen Systemen begrenzende Faktoren unterschiedlicher Art anzunehmen, die die Zufallsräume deutlich einschränken!)

Rettungsversuch mit Bewusstseins-Ansatz

Einen für seine Zeit sehr originellen Rettungsversuch startete George Berkeley (1685 – 1753) mit seiner Schrift ”A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge” (1910) [1], [2]. Zunächst arbeitete er heraus, dass unser gesamtes aktuelles Weltwissen primär im Bewusstsein stattfindet (was heute die Neurowissenschaften umfassend bestätigen konnten), was Berkeley dann zum Anlass nahm, anzunehmen, dass all das, was man gemeinhin materielle Objekte nennt, aus Sicht des Bewusstseins nicht wirklich existiert. Berkeley leitete aus dieser Situation die Hypothese ab, dass man für die Existenz der materiellen Welt außerhalb des Bewusstseins generell die Hypothese eines Schöpfers benötigt, der all dies bereitstellt und verwaltet.

Die modernen Naturwissenschaften konnten daher nach Berkeley die Existenz Gottes gar nicht in Frage stellen, da sie sich sowieso nur auf die Phänomene des Bewusstseins und ihre impliziten Gesetzen berufen.

Das Problem der Wissensgrenze

Was sich hier am Beispiel des Design-Begriffs oder der neuen Erkenntnistheorie von Berkeley andeutet, das sind Beispiele für das allgemeine Problem, wenn Menschen mit ihrem Wissen W auf Phänomene stoßen, die nicht so recht oder überhaupt nicht mit dem bisherige Wissen W übereinzustimmen scheinen.

In der Tat ist es ein grundlegendes und ungelöstes Problem, was Wissensgrenzen grundsätzlich bedeuten. Im Normalfall benutzt man sein eigenes Wissen W wie eine Art ’Werkzeug’, um die Wahrnehmung der Welt und von sich selbst ’im Lichte dieses Wissens W’ zu ’deuten’. In diesem Fall ist man ’in’ diesem Wissen drin, man setzt das Wissen W voraus.

Auf der anderen Seite verfügen wir – zumindest ansatzweise, in bestimmten Situationen – über die Fähigkeit, die ’Übereinstimmung’ unseres Wissens W mit wahrnehmbaren Phänomenen zu überprüfen. In diesem speziellen Fall verhalten wir uns zu unserem Wissen W als ob dieses Wissen W für uns ein ’Gegenstand’ ist, ’über’ den wir urteilen können. Und wir wissen aus der Wissenschaftsphilosophie, dass man jedes Wissen W, das in Form einer expliziten formalen symbolischen Theorie T W vorliegt, beschreiben und abändern können.

Letzteres folgt auch alleine schon aus dem Umstand, dass alles Wissen bzw. dann auch alle Theorien von den Autoren ’geschaffen’ werden, indem angesichts von Phänomenen (Daten) nach’ möglichen Beziehungen’ und ’Regeln’ gesucht wird, die diese Daten ’in einen Zusammenhang’ bringen können. In diesen Such- und Konstruktionsprozess können viele logische und nicht-logische Faktoren einfließen. Und es sollte von daher klar sein, dass Wissen bzw. strukturierte Formen von Wissen in Form von symbolischen Theorien grundsätzlich ’dynamische Größen’ darstellen, die im ’Fluss der Zeit’ unterschiedliche Formen annehmen können.

Wenn also im historischen Prozess bestimmte Wissensformen plötzlich Probleme haben, dann ist dies von der Natur des Wissens her eigentlich kein Problem, wohl aber für solche Menschen, die offensichtlich glauben, dass ein bestimmtes Wissen W zu einem bestimmten Zeitpunkt für immer ’fest’ sei, quasi ’absolut’. In diesen Fällen wäre es sehr irreführend, von den Erklärungsproblemen dieser Theorien auf ein Problem in der Welt der Phänomene zu schließen; viel mehr sollten diese Menschen ihr eigenes Verhältnis zu ihrem Wissen problematisieren und überprüfen. Dies ist im Kern die Aufgabe der Philosophie, heute zusätzlich unterstützt von vielen Spezialdisziplinen wie z.B. Psychologie und Neuropsychologie.

Wissenschaftliche Theorie und Glaube

Ein anderer Aspekt, der oft übersehen wird, den Stace aber explizit benennt (siehe z.B. p.96), das ist das Moment des ’Glaubens’ im Kontext von wissenschaftlichen Theorien.

Die Wurzel für diese Form von ’wissenschaftlichem Glauben’ liegt einmal in der Art, wie wissenschaftliche Theorien entstehen (siehe Abschnitt zuvor), zum anderen in der Art ihrer Nutzung.

Bei der Konstruktion von wissenschaftlichen Theorien müssen Forscher grundsätzlich über die endliche Menge von isolierten Datenpunkten ’hinaus’ gehen und explizit ’Vermutungen über Zusammenhänge’ äußern, d.h. was ’glauben’ sie, welche Art von Zusammenhängen ’da draußen’ existieren, aufgrund deren Wirken die beobachteten Phänomene (gemessene Daten) auftreten. Und wenn sie dann ihre Vermutungen, ihren Glauben, niedergeschrieben haben, dann stehen die benutzen theoretischen Terme für genau diese Vermutungen, für den so artikulierten Glauben als mögliche Zusammenhänge.

In der normalen Physik gibt es viele Beispiele für solche Terme, deren ’Bedeutung’, deren ’Extension’ nicht direkt beobachtet werde kann, sondern nur ihre ’Wirkung’, die als ’Hinweis auf ihre Existenz’ angenommen (geglaubt) wird.

So kann man das ’Gewicht’ eines Körpers nicht direkt sehen, sondern nur die Auswirkung des Gewichts im Rahmen eines Messvorgangs, entsprechend mit der Anziehungskraft von Körpern aufgrund der postulierten Gravitation. Wenn also — das wäre der Analogieschluss — das mit der Wortmarke ’Gott’ Gemeine nicht direkt mit normalen Sinnesorganen punktuell beobachtet werden kann, so würde daraus nicht notwendigerweise der Schluss folgen, dass diese Wortmarke keine Extension besitzt. Tausende von menschlichen Zeugnissen deuten in die Richtung, dass ’das mit Gott Gemeinte’ sich auf vielfache Weise in Form von Zeitreihen zeigen kann, die unterschiedliche Randbedingungen aufweisen können. Darauf aufbauende ’Überzeugungen= Wissensformen’ gehen dann über den Augenblick hinaus (analog zu empirischen Theorien) und ermöglichen ein  ’erfahrungsbasiertes Handeln’, das entweder weitere ’Bestätigungen’ zulässt oder nicht. Abänderungen solcher Überzeugungen im Kontext von Erfahrungen ist möglich und üblich.

QUELLEN

[1] G. Berkeley, A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, 1st ed. Skinner Row (Dublin): Jeremy Pepyat, Bookseller, 1710.

[2] ——, A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge. Three Dialogues, 1st ed., R. Woolhouse, Ed. London:Penguin Books, 1988.

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