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DENKEN: alltäglich – philosophisch – empirisch theoretisch (Skizze)

(Letzte Änderung: 9.Juni 2023, 17:55h)

KONTEXT

Die aktuelle Phase meines Denkens kreist weiterhin um die Frage, wie sich die verschiedenen Erkenntniszustände zueinander verhalten: die vielen einzel-wissenschaftlichen Disziplinen treiben nebeneinander her; Philosophie beansprucht weiterhin eine Oberhoheit, kann sich aber selbst nicht wirklich überzeugend verorten; und das Denken im Alltag zieht weiterhin unbeirrt seine Bahnen mit der Überzeugung ‚Alles sei doch klar‘, man müsse doch nur einfach hinschauen ‚wie es ist‘. Dann kommen noch die verschiedenen ‚religiösen Anschauungen‘ um die Ecke mit einem sehr hohen Anspruch bei gleichzeitigem Verbot, nicht zu genau hinschauen zu dürfen. … und vieles mehr.

ABSICHT

Im folgenden Text werden drei fundamentale Betrachtungsweise unserer gegenwärtigen Welt skizziert und sie werden zugleich zueinander in Beziehung gesetzt. Manche bislang unbeantwortete Fragen lassen sich dadurch möglicherweise besser beantworten, viele neue Fragen entstehen aber auch. Wenn ‚alte Denkmuster‘ außer Kraft gesetzt werden, muss man viele (die meisten? Alle?) der bislang vertrauten Denkmuster neu justieren. Mit einem Mal sind sie schlicht ‚falsch‘ oder stark ‚reparaturbedürftig‘.

Leider ist es nur eine ‚Skizze‘.

DENKEN im ALLTAG

BILD 1: Im Alltagsdenken geht jeder Mensch (ein ‚homo sapiens‘ (HS)) davon aus, dass das, was er von einer ‚realen Welt‘ weiß, das ist, was er ‚wahrnimmt‘. Dass es diese reale Welt mit ihren Eigenschaften gibt, ist ihm — mehr oder weniger — ‚bewusst‘, darüber muss man nicht eigens diskutieren. Das, was ‚ist, ist‘.

… vieles wäre zu sagen …

PHILOSOPHISCHES DENKEN

BILD 2: Das philosophische Denken beginnt dort, wo einem auffällt, dass die ‚reale Welt‘ nicht von allen Menschen in ‚gleicher Weise‘ wahrgenommen und noch weniger in gleicher Weise ‚vorgestellt‘ wird. Manche Menschen haben ‚ihre Vorstellungen‘ von der realen Welt, die markant ‚anders sind‘ als die Vorstellungen anderer Menschen, und doch bestehen sie darauf, dass die Welt genau so ist, wie sie sich das vorstellen. Aus dieser Beobachtung im Alltag, können viele neue Fragen entstehen. Die Antworten auf diese Fragen sind so vielfältig wie es Menschen gab und gibt, die sich diesen philosophischen Fragen hingaben oder noch hingeben.

… berühmte Beispiele: Platons Höhlengleichnis deutet an, dass die Inhalte unseres Bewusstseins vielleicht doch nicht ‚die Sachen selbst‘ sind sondern nur die ‚Schatten‘ vom dem, was letztlich ‚wahr‘ ist … Descartes berühmtes ‚cogito ergo sum‘ bringt den Aspekt ins Spiel, dass die Inhalte des Bewusstsein auch etwas über ihn selbst sagen, der solche Inhalte ‚bewusst wahrnimmt’…. die ‚Existenz der Inhalte‘ setzt seine ‚Existenz des Denkenden‘ voraus, ohne die die Existenz der Inhalte gar nicht möglich wäre …was sagt uns dies? … Kants berühmtes ‚Ding an sich‘ kann man auf die Einsicht beziehen, dass die konkreten, flüchtigen Wahrnehmungen niemals die ‚Welt als solche‘ in ihrer ‚Allgemeinheit direkt zeigen können. Diese liegt ‚irgendwo dahinter‘, schwer greifbar, eigentlich gar nicht greifbar? ….

… vieles wäre zu sagen …

EMPIRISCH-THEORETISCHES DENKEN

BILD 3: Das Konzept einer ‚empirischen Theorie‘ entwickelte sich sehr spät in der dokumentierten Geschichte des Menschen auf diesem Planeten. Einerseits philosophisch angeregt, andererseits unabhängig von den verbreiteten Formen von Philosophie, aber sehr stark beeinflusst von logischem und mathematischem Denken, siedelte sich das neue ‚empirische theoretische‘ Denken genau an dieser Bruchstelle zwischen ‚Alltagsdenken‘ und ‚theologischem‘ sowie ’stark metaphysischem philosophischem Denken‘ an. Dass Menschen ‚mit dem Brustton der Überzeugung‘ Aussagen über die Welt machen konnten, obwohl es nicht möglich war, ‚gemeinsame Erfahrungen der realen Welt‘ aufzuzeigen, die mit den geäußerten Aussagen ‚übereinstimmten‘, führte dazu, dass einzelne Menschen damit begannen, die ‚erfahrbare (empirische) Welt‘ so zu untersuchen, dass jeder andere bei ‚gleichem Vorgehen‘, die ‚gleichen Erfahrungen‘ machen konnte. Diese ‚transparenten Vorgehensweisen‘ waren ‚wiederholbar‘ und solche Vorgehensweisen wurden zu dem, was später als ‚empirisches Experiment‘ bzw. dann, noch einen Schritt weiter, als ‚Messen‘ bezeichnet wurde. Beim ‚Messen‘ vergleicht man das ‚Ergebnis‘ eines bestimmten experimentellen Vorgehens mit einem ‚zuvor definierten Standard-Objekt‘ (‚Kilogramm‘, ‚Meter‘, …).

Diese Vorgehensweise führte dazu, dass — zumindest die Experimentatoren — ‚lernten‘, dass unser Wissen um die ‚reale Welt‘ in zwei Komponenten zerfällt: es gibt das ‚allgemeine Wissen‘ was unsere Sprache artikulieren kann, mit Begriffen, die nicht automatisch etwas mit der ‚erfahrbaren Welt‘ zu tun haben müssen, und solchen Begriffen, die sich mit experimentellen Erfahrungen in Verbindung bringen lassen, und zwar so, dass auch andere Menschen, sofern sie sich auf das experimentelle Vorgehen einlassen, diese Erfahrungen wiederholen und dadurch bestätigen können. Eine grobe Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten von sprachlichen Äußerungen könnte sein: ‚fiktive‘ Ausdrücke mit ungeklärtem Erfahrungsanspruch, und ‚empirische‘ Ausdrücke mit bestätigtem Erfahrungsanspruch.

Seit dem Beginn der neuen empirisch-theoretischen Denkweise im ca. 17.Jahrhundert dauerte es gut mindestens 300 Jahre, bis sich das Konzept einer ‚empirischen Theorie‘ soweit gefestigt hatte, dass es in weiten Bereichen der Wissenschaft zu einem prägenden Paradigma geworden war. Viele methodische Fragen blieben aber strittig oder blieben sogar ‚ungelöst‘.

DATEN und THEORIE

Viele Jahrhunderte wurde bei vielen — bei nicht wenigen auch bis in unsere Gegenwart — der ‚Missbrauch der Alltagssprache‘ für die Ermöglichung von ‚empirisch nicht verifizierbare Aussagen‘ direkt dieser Alltagssprache angekreidet und die gesamte Alltagssprache wurde als ‚Quelle von Unwahrheiten‘ diskreditiert. Eine Befreiung von diesem ‚ Monster Alltagssprache‘ wurde immer mehr in formalen Kunstsprachen gesucht bzw. dann in der modernen axiomatisierte Mathematik, die ein enges Bündnis mit der modernen formalen Logik eingegangen war (ab Ende des 19.Jahrhunderts). Die Ausdruckssysteme der modernen formalen Logik bzw. dann der modernen formalen Mathematik hatten als solche (nahezu) keine ‚Eigenbedeutung‘. Diese mussten fallweise explizit eingeführt werden. Eine ‚formale mathematische Theorie‘ konnte so formuliert werden, dass sie auch ohne ‚explizite Zuweisung‘ einer ‚externen Bedeutung‘ ‚logische Schlüsse‘ zulässt, die es erlaubten, bestimmte formale Ausdrücke als ‚formal wahr‘ oder ‚formal falsch‘ zu bezeichnen.

Dies erschien auf den ersten Blick sehr ‚beruhigend‘: die Mathematik als solche ist kein Ort von ‚falschen‘ oder ‚untergejubelten‘ Wahrheiten.

Der intensive Einsatz formaler Theorien in Verbindung mit erfahrungsbasierten Experimenten machte aber dann schrittweise deutlich, dass ein einzelner Messwert als solcher eigentlich auch keine ‚Bedeutung‘ besitzt: was soll es ‚bedeuten‘ dass man zu einem bestimmten ‚Zeitpunkt‘ an einem bestimmten ‚Ort‘ einen ‚erfahrbaren Zustand‘ mit bestimmten ‚Eigenschaften‘ feststellt, im Idealfall einem zuvor vereinbarten ‚Standardobjekt‘ vergleichbar? ‚Ausdehnungen‘ von Körpern können sich ändern, ‚Gewicht‘ und ‚Temperatur‘ ebenso. Alles kann sich in der Erfahrungswelt ändern, schnell, langsam, … was kann also ein einzelner isolierter Messwert sagen?

So manchem dämmerte es — nicht nur den erfahrungsbasierten Forschern, sondern auch verschiedenen Philosophen –, dass einzelne Messwerte nur eine ‚Bedeutung‘, einen möglichen ‚Sinn‘ bekommen, wenn man mindestens ‚Beziehungen‘ zwischen einzelnen Messwerten herstellen kann: Beziehungen ‚in der Zeit‘ (vorher – nachher), Beziehungen am/im Ort (höher – tiefer, nebeneinander, …), ‚zusammenhängende Größen‘ (Objekte – Flächen, …), und dass darüber hinaus die verschiedenen ‚Beziehungen‘ selbst nochmals einen ‚begrifflichen Kontext‘ benötigen (einzeln – Menge, Wechselwirkungen, kausal – nicht kausal, …).

Schließlich wurde damit auch klar, dass einzelne Messwerte darüberhinaus ‚Klassenbegriffe‘ benötigten, damit man sie überhaupt irgendwie einordnen konnte: abstrakte Begriffe wie ‚Baum‘, ‚Pflanze‘, ‚Wolke‘, ‚Fluss‘, ‚Fisch‘ usw. wurden so zu ‚Sammelstellen‘, bei denen man ‚Einzelbeobachtungen‘ abliefern konnte. Damit konnten dann aberhundert Einzelwerte z.B. zur Charakterisierung des abstrakten Begriffs ‚Baum‘ oder ‚Pflanze‘ usw. benutzt werden.

Diese Unterscheidung in ‚einzeln, konkret‘ und ‚abstrakt, allgemein‘ erweist sich als fundamental. Sie machte auch deutlich, dass die Einteilung der Welt mit Hilfe von solchen abstrakten Begriffen letztlich ‚willkürlich‘ ist: sowohl ‚welche Begriffe‘ man wählt ist willkürlich, als auch die Zuordnung von einzelnen Erfahrungsdaten zu abstrakten Begriffen ist nicht vorab eindeutig geregelt. Der Prozess der Zuordnung von einzelnen Erfahrungsdaten zu bestimmten Begriffen innerhalb eines ‚Prozesses in der Zeit‘ ist selbst stark ‚hypothetisch‘ und selbst wiederum Teil von anderen ‚Beziehungen‘ die zusätzliche ‚Kriterien‘ liefern können, ob nun Datum X eher zum Begriff A oder eher zum Begriff B gehört (die Biologie ist voll von solchen Klassifikationsproblemen).

Ferner zeigte sich, dass die so ‚unschuldig‘ daher kommende Mathematik bei näherer Betrachtung keineswegs als ‚unschuldig‘ gelten kann. Die breite Diskussion der Wissenschaftsphilosophie im 20.Jahrhundert brachte viele ‚Artefakte‘ zur Sprache, welche die Beschreibung einer dynamischen Erfahrungswelt mindestens leicht ‚korrumpieren‘ kann.

So gehört es zu formalen mathematischen Theorien, dass sie mit sogenannten ‚All- oder Partikularaussagen‘ operieren können. Mathematisch ist es wichtig, dass ich über ‚alle‘ Elemente eines Bereichs/ einer Menge reden kann. Ansonsten wird das Reden sinnlos. Wenn ich nun ein formales mathematisches System als begrifflichen Rahmen für eine Theorie wähle, die ‚empirische Sachverhalte‘ so beschreibt, dass Folgerung möglich werden, die im Sinne der Theorie ‚wahr sind‘ und damit zu ‚Prognosen‘ werden, die behaupten, dass ein bestimmter Sachverhalt entweder ‚absolut‘ oder mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit X größer 50% eintreten wird, dann vereinigen sich zwei verschiedene Welten: die fragmentarischen Einzelaussagen über die Erfahrungswelt werden eingebettet in ‚Allaussagen‘, die grundsätzlich mehr sagen, als Erfahrungsdaten bereit stellen können.

An dieser Stelle wird sichtbar, dass die so ’neutral‘ erscheinende Mathematik genau den gleichen Job tut wie die ‚Alltagssprache‘ mit ihren ‚abstrakten Begriffen‘: die abstrakten Begriffe der Alltagssprache gehen immer über den Einzelfall hinaus (sonst könnten wir letztlich gar nichts sagen), aber gerade dadurch erlauben sie Überlegungen und Planungen, wie wir sie an den mathematischen Theorien so schätzen.

Empirische Theorien im Format formaler mathematischer Theorien haben das weitere Problem, dass sie ja als solche über (nahezu) keine eigene Bedeutungen verfügen. Will man die formalen Ausdrücke mit der Erfahrungswelt in Beziehung setzen, dann muss man (mit Hilfe der Alltagssprache!) für jeden abstrakten Begriff der formalen Theorie (oder auch für jede formale Beziehung oder auch für jeden formalen Operator) explizit eine ‚Bedeutung konstruieren‘, indem man zwischen den abstrakten Konstrukten und bestimmten aufweisbaren Erfahrungstatsachen eine ‚Abbildung’/ eine ‚Zuordnung‘ herstellt. Was sich hier auf den ersten Blick vielleicht so einfach anhört, hat sich im Laufe der letzten 100 Jahren als ein fast unlösbares Problem erwiesen. Daraus folgt jetzt nicht, dass man es überhaupt nicht tun sollte; es macht aber darauf aufmerksam, dass die Wahl einer formalen mathematischen Theorie nicht automatisch eine gute Lösung sein muss.

… vieles wäre noch zu sagen …

FOLGERN und WAHRHEIT

Eine formale mathematische Theorie kann aus bestimmten ‚Annahmen‘ bestimmte Aussagen als formal ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ ableiten. Dies geht, weil es zwei grundlegende Voraussetzungen gibt: (i) Alle formalen Ausdrücke haben einen ‚abstrakten Wahrheitswert‘ als ‚abstrakt wahr‘ oder eben als ‚abstrakt nicht wahr‘. Ferner gibt es einen sogenannten ‚formalen Folgerungsbegriff‘, der festlegt, ob und wie man aus einer gegebenen ‚Menge von formalen Ausdrücken‘ mit vereinbarten abstrakten Wahrheitswerten und einer klar definierten ‚Form‘ andere formalen Ausdrücke ‚ableiten‘ kann. Dieses ‚Ableiten‘ besteht aus ‚Operationen über den Zeichen der formalen Ausdrücke‘. Die formalen Ausdrücke sind hier ‚Objekte‘ des Folgerungsbegriffs, der auf einer ‚Ebene höher‘ angesiedelt ist, auf einer ‚Meta-Ebene 1‘. Der Folgerungsbegriff ist insofern eine eigene ‚formale Theorie‘, die über bestimmte ‚Objekte einer tieferen Ebene‘ spricht so wie die abstrakten Begriffe einer Theorie (oder der Alltagssprache) über konkrete Erfahrungstatbestände sprechen. Das Zusammenwirken von Folgerungsbegriff (auf Meta-Ebene 1) und den formalen Ausdrücken als Objekten setzt eine eigene ‚Interpretationsbeziehung‘ (letztlich eine Art von ‚Abbildung‘) voraus, die wiederum auf einer noch anderen Ebene — Meta-Ebene 2 — angesiedelt ist. Diese Interpretationsbeziehung benutzt sowohl die formalen Ausdrücke (mit ihren Wahrheitswerten!) und den Folgerungsbegriff als ‚Objekte‘, um zwischen diesen eine Interpretationsbeziehung zu installieren. Normalerweise wird diese Meta-Ebene 2 von der so gescholtenen Alltagssprache bewältigt und die implizite Interpretationsbeziehung ist ‚in den Köpfen der Mathematiker (eigentlich in den Köpfen der Logiker)‘ verortet, die davon ausgehen, dass ihre ‚Praxis des Folgerns‘ genügend Erfahrungsdaten liefern, um den ‚Inhalt der Bedeutungsbeziehung‘ zu ‚verstehen‘.

Es war Kurt Gödel gewesen [2], der 1931 versucht hat, das ‚intuitive Vorgehen‘ bei Meta-Beweisen selbst auch zu formalisieren (mit Hilfe der berühmten Gödelisierung) und damit die Meta-Ebene 3 wiederum zu einem neuen ‚Objekt‘ gemacht hat, über das man explizit diskutieren kann. Im Anschluss an Gödels Beweis gab es weitere Versuche, diese Meta-Ebene 3 nochmals anders zu formulieren oder gar deine Meta-Ebene 4 zu formalisieren. Doch blieben diese Ansätze bislang ohne klares philosophisches Ergebnis.

Klar scheint nur zu sein, dass die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, immer wieder neue Meta-Ebenen zu eröffnen, um damit zuvor formulierte Sachverhalte zu analysieren und zu diskutieren, prinzipiell unbeschränkt ist (nur beschränkt durch die Endlichkeit des Gehirns, dessen Energiezufuhr, die Zeit, und ähnliche materielle Faktoren).

Eine interessante Spezialfrage ist es, ob der formaler Folgerungsbegriff der formalen Mathematik angewendet auf Erfahrungstatsachen einer dynamischen empirischen Welt der spezifischen ‚Welt-Dynamik‘ überhaupt angemessen ist? Für den Bereich der ’scheinbar materiellen Strukturen‘ des Universums hat die moderne Physik vielfache Phänomene geortet, die sich einfach klassischen Konzepten entziehen. Eine ‚Materie‘, die zugleich ‚Energie‘ ist, ist tendenziell eher nicht mehr klassisch beschreibbar, und Quantenphysik ist — bei aller ‚Modernität‘ — letztlich immer noch ein ‚klassisches Denken‘ im Rahmen einer formalen Mathematik, die vom Ansatz her viele Eigenschaften nicht besitzt, die aber der erfahrbaren Welt zukommen.

Diese Begrenztheit eines formal-mathematischen physikalischen Denkens zeigt sich besonders krass am Beispiel jener Phänomene, die wir ‚Leben‘ nennen. Die erfahrungsbasierten Phänomene, die wir mit ‚lebenden (= biologischen) Systemen‘ in Verbindung bringen, sind auf den ersten Blick komplett materielle Strukturen, allerdings haben sie dynamische Eigenschaften, die mehr über die ‚Energie‘ aussagen, die sie hervorruft, als über die Materialität, mittels der sie sich realisieren. Insofern ist die implizite Energie der eigentliche ‚Informationsgehalt‘ von lebenden Systemen, die in ihrer Grundstruktur ‚radikal freie‘ Systeme sind, da Energie als ’nicht begrenzbar‘ erscheint. Die unübersehbare Tendenz lebender Systeme, ‚aus sich heraus‘ immer ‚mehr Komplexität zu ermöglichen‘ und zu integrieren widerspricht allen bekannten physikalischen Prinzipien. Die ‚Entropie‘ wird gerne als Argument benutzt, um diese Form von ‚biologischer Selbstdynamik‘ mit Verweis auf eine simple ‚obere Schranke‘ als ‚begrenzt‘ zu relativieren, doch macht dieser Verweis das originäre Phänomen des ‚Lebendigen‘ damit nicht vollständig zunichte.

Besonders spannend wird es, wenn man es wagt, an dieser Stelle die Frage nach der ‚Wahrheit‘ zu stellen. Lokalisiert man die Bedeutung des Begriffs ‚Wahrheit‘ zunächst mal in der Situation, in der ein biologisches System (hier der Mensch) innerhalb seines Denkens eine gewisse ‚Korrespondenz‘ zwischen seinen abstrakten Begriffen und solchen konkreten Wissensstrukturen herstellen kann, die sich über einen Interaktionsprozess mit Eigenschaften einer erfahrbaren Welt in Verbindung bringen lassen, und zwar nicht nur als einzelnes Individuum, sondern zusammen mit anderen Individuen, dann hat jedes abstrakte Ausdruckssystem (genannt ‚Sprache‘) nur in dem Maße einen ‚wahren Wirklichkeitsbezug‘, als es biologische Systeme gibt, die solche Bezüge herstellen können. Und diese Bezüge hängen weiterhin ab von der Struktur der Wahrnehmung und der Struktur des Denkens dieser Systeme; diese wiederum hängen ab von der Beschaffenheit der Körper als Kontext der Gehirne, und die Körper hängen wiederum sowohl ab von der materiellen Struktur und Dynamik der Umgebung wie auch von den gesellschaftlichen Alltagsprozessen, die weitgehend festlegen, was ein Mitglied einer Gesellschaft erleben, lernen, arbeiten, planen und tun kann. Was immer ein Individuum kann bzw. könnte, die Gesellschaft verstärkt entweder das individuelle Potential oder ‚friert‘ es ein. ‚Wahrheit‘ existiert unter diesen Bedingungen als ein ‚frei beweglicher Parameter‘, der durch die jeweilige Prozessumgebung erheblich beeinflusst wird. Das Reden von ‚kultureller Vielfalt‘ kann eine gefährliche ‚Verniedlichung‘ von massiver Unterdrückung ‚alternativer Lern- und Handlungsprozessen‘ sein, die einer Gesellschaft ‚entzogen‘ werden, weil sie ’sich selbst einsperrt‘. Unwissenheit ist tendenziell kein guter Ratgeber. Wissen als solches garantiert aber auch kein ‚richtiges‘ Handeln. Der ‚Prozess der Freiheit‘ auf dem Planet Erde ist ein ‚galaktisches Experiment‘, dessen Ernsthaftigkeit und Ausmaß bislang kaum gesehen wird.

DER AUTOR

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ANMERKUNGEN

[1] Auf Literaturangaben wird hier verzichtet. Es wären viele hunderte Texte zu erwähnen. Das kann keine Skizze leisten.

[2] Siehe Kurt Gödel, Unvollständigkeitssätze, 1931: https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_G%C3%B6del#Die_Unvollst%C3%A4ndigkeitss%C3%A4tze

DECHER – HANDBUCH PHILOSOPHIE DES GEISTES – ARISTOTELES – DISKURS (Teil 4)

Decher, Friedhelm, Handbuch der Philosophie des Geistes, Darmstadt: WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2015 (Im Folgenden abgekürzt: HPG)

KONTEXT

  1. An dieser Stelle sei nochmas darauf aufmerksam gemacht (vgl. die Anmerkungen im ersten Teil dieser Besprechung, besonders Nr.4), dass diese Besprechung in keiner Weise die eigene Lektüre des Buches von Decher ersetzen kann. Ich lese das Buch im Lichte meiner Fragen, andere werden möglicherweise etwas anderes in dem Buch erkennen. Die Lektüre eines Buches ist niemals eine 1-zu-1 Angelegenheit (ein Umstand, warum auch die sogenannte Offenbarungsschriften im Judentum, Christentum und im Islam im Gang der Geschichte immer wieder – und zwar unvermeidbar – unterschiedlich interpretiert werden).
  2. Nach der kurzen Einführung in das Phänomen Geist beginnt Decher seine gedankliche Expedition zum Begriff Geist bei den  alten Ägyptern und den Vorsokratikern. In Teil 2 habe ich darauf hingewiesen, dass die Verwendung der zentralen Begriffe wie Noos/ Nous, Thymos, Psyché, Aisthesis, Noema, Logos und deren Interpretation grundsätzlich eine Herausforderung darstellt, die aus der Art und Weise resultiert, wie Sprache und Erkennen beim Menschen funktionieren.
  3. Im nächsten Kapitel (hier Teil 3) wendet sich Decher Platon zu, und hier speziell dem Verhältnis von Geist (Nous) und Seele (Psyché). Grundsätzlich geht Platon von einer Trennung von Körper und Seele (Psyché) aus, wobei der Geist (Nous) ein Teil der Seele ist. Die Seele gehört zum unkörperlichen immateriellen überindividuellen und unsterblichen Lebensprinzip im Gegensatz zum materiellen sterblichen Körper. Der Geist scheint zwar der Ort zu sein, wo die aus der Materialität herrührenden sinnlichen Erregungen sich zu ersten bewussten Vorstellungen formen können und wo diese Anregungen zur Erinnerung an präexistierende immaterielle unendliche Ideen führen können, die ebenfalls im Geist bewusst werden können, aber der Geist ist nur ein Moment an der Seele, die als solche als immateriell und unsterblich gilt. Im Diskurs von Teil 3 wird aufgezeigt, wie wir heute Platon neu interpretieren können, wenn wir das heute verfügbare Wissen benutzen.

ARISTOTELES (SS.44 – 50)

Seele und Geist bei Aristoteles nach Decher (2015) in Rekonstruktion durch Doeben-Henisch
Seele und Geist bei Aristoteles nach Decher (2015) in Rekonstruktion durch Doeben-Henisch

  1. Platon war Schüler des Sokrates, Aristoteles Schüler des Platon ab -367 bis zum Tode Platons -347. Nach dem Tode entwickelte Aristoteles viele neue und gegensätzliche Positionen verglichen mit Platon.
  2. Decher konzentriert sich in seiner Darstellung auf das Begriffspaar Geist (Nous) und Seele (Psyché).
  3. Hervorstechend ist, dass die Seele bei Aristoteles nicht unsterblich ist; sie ist an den sterblichen Körper gebunden und vergeht mit ihm. Allerdings ist die Seele für den Körper das, was Aristoteles seine Form (morphé) nennt: in der erscheinenden Form wird der Raum des Möglichen (Potenz) zum konkreten Seienden realisiert. Das Mögliche ist im Material, im Körper, im Stoff (hylé) angelegt und findet seine Bestimmung, sein Ziel, seine Erfüllung in der Form, in der Gestalt. So gesehen erscheint die Seele (wie Decher auch deutend anmerkt) auch wie die Funktion des Körpers und darin als ein belebendes Prinzip, das das Belebte von dem Unbelebten unterscheidet.

  4. Entsprechend zu den unterscheidbaren Stufen des Belebten ordnet Aristoteles den verschiedenen Belebtheitsstufen unterschiedliche Formen von Seele zu: den Pflanzen eine vegetative Seele, den Tieren eine sensitive/ animalische und den Menschen eine noetische. Die jeweils ‚höhere Stufe‘ enthält die Eigenschaften der unteren Stufe samt neuen Eigenschaften.

  5. So umfasst die vegetative Seele die Funktion der Ernährung, des Stoffwechsels, des Wachstums und des Vergehens. Die animalische/sinnliche Seele verfügt darüber hinaus über Wahrnehmung, Vorstellungen, Lust- und Schmerzempfindungen, Begehren und Bewegung.

  6. Die noetische Seele kann zusätzlich Denken.

  7. Während Aristoteles der Seele als Lebensprinzip Immaterialität abspricht, meint er dem Geist (Nous) eine Immaterialität zusprechen zu müssen. In der Bewegung des Geistes, im Denken, offenbart sich eine Form von Wirklichkeit, die er als immateriell betrachtet. Geist verweist auf ein Göttliches, das im Denken des Denkens in reiner Form vorliegt. Im menschlichen Geist artikuliert sich auch der Logos durch das gesprochene Wort.

DISKURS

  1. Folgt man der Darstellung von Flashar (1983), dann ist die Quellenlage bei Aristoteles äußerst schwierig und die zeitliche und redaktionelle Anordnung der Texte bietet viele Ansatzpunkte für strittige und divergierende Interpretationen. Die folgenden Überlegungen partizipieren von daher an dieser allgemeinen Situation und sind von daher mit Vorbehalt zu werten, sofern es um Aristoteles als Quelle geht. Dennoch kommt dem Text hier eine eigene Logik zu und um diese geht es dann.

  2. Auf den ersten Blick gibt es zwischen der Position von Platon und jener von Aristoteles in der Darstellung von Decher nur eine Asymmetrie: Während bei Platon sowohl die Seele wie auch der an der Seele partizipierende Geist unsterblich sind, ist bei Aristoteles die Seele sterblich und der an der Seele partizipierende Geist unsterblich. Dies wirkt auf den ersten Blick befremdlich.

DEUTUNG DURCH HIRSCHBERGER

Grundbegriffe bei Aristoteles zur Seele von Doeben-Henisch nach Hirschberger (1976) und Flashar (1983)
Grundbegriffe bei Aristoteles zur Seele von Doeben-Henisch nach Hirschberger (1976) und Flashar (1983)

  1. Hirschberger skizziert das Konzept der Seele bei Aristoteles (vgl. SS.209-225) so, dass der empirische Aufhänger für das Seelenkonzept zwar die empirisch feststellbare Bewegung des Lebendigen ist, dass diese Bewegung aber für Aristoteles nur relativ ist gemessen an den je größeren Bewegungen der Erde und des Himmels. Und diese relative Bewegung eines Lebewesens verschwindet mit dem Zerfall des Körpers, während die je größeren Bewegungen erhalten bleiben. Bezüglich dieser je größeren Bewegungen folgert Aristoteles dann, dass es eine erste Ursache geben muss, etwas, das als erster unbewegte Beweger alle anderen Bewegungen erzeugt. Dies ist dann eine absolute Bewegung und fällt mit dem Begriff Gott zusammen. Demgegenüber gilt vom Geist, dass er zwar über die Sinnesorgane auch beeinflusst wird, er leidet, aber es gibt abstraktere Begriffe und höhere Denkformen, die unabhängig von den Sinnesreizen sind, die aus dem Geist selbst erwachsen. Diese Eigenschaften deuten für Aristoteles darauf hin, dass der Geist – mehr als die körpergebundene Seele – etwas Göttliches haben muss, das über das Konkrete, über den individuellen Körper, hinausweist. In diesen Eigenschaften partizipiert er am Unsterblichen.

DEUTUNG DURCH FLASHAR

  1. Flashar (1983) stimmt mit seinen Argumentationslinien (vgl. SS.411-418) weitgehend mit Hirschberger überein, bietet aber zwei Aspekte, die besonders sind.

  2. Zum einen macht er darauf aufmerksam, dass es neben der Naturalisierung der Seele bei Aristoteles auch noch den Dialog Eudemus gibt, in dem von der Unsterblichkeit der Seele gehandelt wird. Für Aristoteles als Naturforscher ist die Seele allerdings an den sterblichen Körper gebunden und geht mit ihm auch unter. Die Seele gilt als Form, Zweck, Bewegungs– und Lebensprinzip des Körpers, das sich in vielfältigen Formen und Stufen (in Pflanzen, Tieren und Menschen) ausdrückt. Auf der Ebene der Wahrnehmung fliesen die unterschiedlichen Sinne zu einem gemeinsamen Sinn zusammen, der sich in Form einer selbstbewussten Wahrnehmung erfahrbar macht (verortet im Herzen). In der Vorstellung und im Traum löst sich die Seele von konkreten Objekten, aber benötigt immer noch vorausgehende Wahrnehmungen, die in diesen Formen nachwirken.

  3. Die Bewegungen der Seele, die sich im Wahrnehmen manifestieren, im Vorstellen, Denken und Streben, gerät mit der Geistseele (nous) in einen Bereich, wo die Trennung zwischen erleidendem Geist und selbst bewirkendem Geist fließend wird. Der selbständige Geist löst im abstrakten Denken die Objekte aus der sinnlichen Welt heraus und kommt damit in eine Zustandsform, wo Denken und Gedachtes identisch werden. Hier deutet sich eine reine Aktualität des Nous an, die ihn vom vergänglichen erleidenden Körper unterscheidet und ihn als ewig, unvergänglich erscheinen lässt.

  4. Wie ein so sich selbst Bewegendes Ewiges in einen endlichen, sterblichen Körper gelangen kann, wie genau die Wechselwirkung mit der doch sterblichen Seele zu denken ist, bleibt eher unklar.

  5. AUS HEUTIGER SICHT

    1. Ähnlich wie schon im vorausgehenden Text zu Platon kann und muss man hier auch die Frage stellen, wie sich diese Position von Aristoteles heute ausnimmt. Kann man seine Sicht so stehen lassen oder kann (und muss) man seine Sicht modifizieren.

    2. Wieder analog zur Diskussion bei Platon kann man aus heutiger Sicht darauf abheben, dass Aristoteles bei seiner begrifflichen Analyse an der Oberfläche der Erkenntnis verweilt, ohne dass es ihm damals möglich war, hinter diese Oberfläche zu schauen.

    3. Denn die Wahrnehmung der Bewegung als charakteristische Eigenschaft des Lebendigen konnte mittlerweile durch eine Analyse der Bestandteile eines Lebendigen dahingehend erweitert werden, dass wir heute jedes Lebendige als gigantische Symbiose von biologischen Zellen rekonstruieren können, die aus Molekülen (bzw. dann Atomen usw.) bestehen. Die Anordnung dieser Zellen (ihre Form, ihre Struktur und Funktion) ist so, dass sie durch Aufnahme von freier Energie in der Lage sind, eine Vielzahl von Veränderungen bzw. von Bewegungen ausführen zu können. Das, was die lokal zu beobachtenden Bewegungen ermöglicht, wird heute Energie genannt, bei Aristoteles (und Platon) hieß es Psyché.

    4. Die Frage ist, ob wir damit heute letztlich mehr verstanden haben. Sicher, wir konnten die Gestalt der Körper auf kleinere Gestalten (Zellen, Moleküle, Atome, …) zurückführen, aber jetzt zu sagen, dass es freie Energie ist, anstatt wie Platon und Aristoteles Psyché, macht auf dieser Ebene letztlich keinen wirklichen Unterschied. Was Energie letztlich ist, wissen wir nur über die Wirkungen, die Energie hervorbringt. Nicht anders verhält es sich mit dem Begriff Psyché. Aktuell macht es allerdings Sinn, zu unterscheiden zwischen dem Lebensprinzip der antiken griechischen Philosophie als Bewegung der Psyché und dem Lebensprinzip der Wissenschaft im 21.Jahrhundert verstanden als Bewegung der Energie.

    5. Fragt sich, ob man im Analogieschluss auch die anderen Überlegungen von Aristoteles übertragen könnte? Macht es Sinn, analog nach einem ersten Beweger zu fragen, sozusagen nach einer ersten Energie, die die Quelle, die erste selbstgenügsame Ursache für jegliche Energie ist? Kann man wie Aristoteles folgern, dass eine solche erste Energie letztlich ewig ist, da sie nicht nicht sein kann?

    6. Rein logisch machen alle diese Fragen wenig Sinn, da uns letztlich die Kategorien fehlen, in denen wir jenseits dieser Phänomene den absoluten Referenzrahmen solcher Begriffe denken können.

    7. Bei Aristoteles war das Lebensprinzip der Psyché aber auch mehr als nur ein Gedanke: es war angefüllt mit Trieben, Bedürfnissen, Emotionen, Gefühlen, dem Schönen, dem Wohlgefallen, dem Glück usw. M.a.w. das Leben ist nicht nur Gedanke sondern gefülltes und gefühltes Ereignis, in dem wir sind, das uns ausmacht. Die Unbegreiflichkeit und Irrationalität des Lebens liegt primär in den Fakten selbst; die Begriffe für sich sind entweder sinnlos oder – ohne Bindung an irgend etwas – beliebig. Nur durch Bezug zu einem vollziehenden Ereignis kommt Ihnen ein Inhalt, eine Bedeutung zu. Und durch diesen Bezug sind sie wahr oder falsch, gut oder schlecht, usw.

    8. Für das Projekt der Rekonstruktion des Geistes mit technischen Mitteln (vgl. www.emerging-mind.org) stellen sich daraus viele interessante Fragen, Fragen einer experimentellen Philosophie.

SONSTIGE QUELLEN

  • Flashar, Hellmut (Hg.), (1983), ÄLTERE AKADEMIE. ARISTOTELES – PERIPATOS, Basel – Stuttgart: Schwabe & Co AG – Verlag, Bd.3 von GRUNDRISS DER GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe.
  • Hirschberger, Johannes; GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE. Altertum und Mittelalter, Freiburg – Basel – Wien: Herder, 14.Aufl. 1976
  • Holenstein, Elmar; Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens, Zürich: Amman Verlag & Co, 2004

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DECHER – HANDBUCH PHILOSOPHIE DES GEISTES – PLATON – DISKURS (Teil 3)

Decher, Friedhelm, Handbuch der Philosophie des Geistes, Darmstadt: WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2015 (Im Folgenden abgekürzt: HPG)

KONTEXT

  1. Nach der kurzen Einführung in das Phänomen Geist beginnt Decher seine gedankliche Expedition zum Begriff Geist bei den  alten Ägyptern und den Vorsokratikern. In Teil 2 habe ich darauf hingewiesen, dass die Verwendung der zentralen Begriffe wie Noos/ Nous, Thymos, Psyché, Aisthesis, Noema, Logos und deren Interpretation grundsätzlich eine Herausforderung darstellt, die aus der Art und Weise resultiert, wie Sprache und Erkennen beim Menschen funktionieren.
  2. Im nächsten Kapitel wendet sich Decher Platon zu, und hier speziell dem Verhältnis von Geist (Nous) und Seele (Psyché).
  3. An dieser Stelle sei wiederum darauf aufmerksam gemacht (vgl.  die Anmerkungen im ersten Teil dieser Besprechung, besonders Nr.4), dass diese Besprechung in keiner Weise die eigene Lektüre des Buches von Decher ersetzen kann. Ich lese das Buch im Lichte meiner Fragen, andere werden möglicherweise etwas anderes in dem Buch erkennen. Die Lektüre eines Buches ist niemals eine 1-zu-1 Angelegenheit (ein Umstand, warum auch die sogenannte Offenbarungsschriften im Judentum, Christentum und im Islam im Gang der Geschichte immer wieder – und zwar unvermeidbar – unterschiedlich interpretiert werden).

PLATON: NOUS UND PSYCHE (SS.41 – 44)

Platon: Seele und Geist, Grundstruktur
Platon: Seele und Geist, Grundstruktur

  1. Decher weist darauf hin, dass es bis heute schwierig ist, in den Werken Platons – speziell in seinen früheren Werke – den Einfluss der sokratischen Denkweise von den eigenen Überlegungen Platons klar abzugrenzen. Sokrates (ca. -469 bis -399) lebte vor Platon (-428/7 bis – 348/7) und Platon kannte Sokrates nicht nur, sondern war auch sein Schüler (ca. ab -407).
  2. Decher fasst dann die Lehre von Platon in einigen Kernthesen zusammen, die im Schaubild (erweitert) illustriert werden.
  3. Grundsätzlich geht Platon von einer Trennung von Körper und Seele (Psyché) aus, wobei der Geist (Nous) ein Teil der Seele ist. Die Seele gehört zum unkörperlichen immateriellen überindividuellen und unsterblichen Lebensprinzip im Gegensatz zum materiellen sterblichen Körper. Entsprechend den verschiedenen Körperteilen (Kopf, Brust, Unterleib) zeigt sich die Seele auf unterschiedliche Weise (Nous als Geist, Verstand; Thýmos als antreibende Gefühle; Epithymiai als Begierden, Triebe, Bedürfnisse). Anlässlich von sinnlichen Erregungen wird der Geist in der Weise angeregt, stimuliert, dass er sich erinnert (Erinnerung, Anamnesis) an ein allgemeines, ideales, immaterielles Wissen, das auf die Ideen zurückgeht, die die Seele vor ihrer Wiedergeburt kannte, und die sie auf dem Weg zur Wiedergeburt in einem Körper beim Durchqueren des Flusses Lethe (Fluss des Vergessens) vergessen hatte. Die allgemein Wahrheit ist also etwas, was unabhängig von materieller Körperwelt und sinnlicher Erfahrung existiert und nur erinnert werden kann. Je nachdem, wie die verschiedenen Seelenteile miteinander im Einklang sind, ist ein Mensch eher krank oder gesund.

DISKURS

  1. Diese Bemerkungen sind sehr knapp. Entsprechen aber den allgemeinen Lehrmeinungen über Platons Position.
  2. Interessant ist hier die Wechselbeziehung zwischen Geist und Seele.
  3. Offensichtlich kommt der Seele die Priorität zu. Der Geist scheint zwar der Ort zu sein, wo die aus der Materialität herrührenden sinnlichen Erregungen sich zu ersten bewussten Vorstellungen formen können und wo diese Anregungen zur Erinnerung an präexistierende immaterielle unendliche Ideen führen können, die ebenfalls im Geist bewusst werden können, aber der Geist ist nur ein Moment an der Seele, die als solche als immateriell und unsterblich gilt.
  4. Der Hauptgrund für die Unsterblichkeit der Seele scheint aus der Annahme zu resultieren (vgl. dazu Hirschberger, SS.118-128), dass die Seele als Lebensprinzip alles Lebendigen gesehen wird (auch der Tiere und Pflanzen), und dieses Lebensprinzip erkennt man an der Bewegung, und zwar an der spontanen Selbstbewegung. Die Selbstbewegung liegt jeglicher Bewegung zugrunde, auch den Himmelsbewegungen; sie ist das Erste von Allem, und darin ewig.
  5. Dies bedeutet, dass ein ewiges, immaterielles Prinzip erkannt wurde auf der Basis eines Naturphänomens, das zu Zeiten Platons von vielen nicht anders verstanden werden konnte, als etwas ganz Anderes, für das man keine Erklärung in der bekannten Welt finden konnte.
  6. Unterstützung fand diese Hypothese von der ganz anderen Bewegung noch durch die Phänomene des Erkennens, dass man in der empirischen Erfahrungswelt immer nur endliche und unvollkommene Objekte, Verhältnisse und Strukturen findet, sich im Denken aber Verhältnisse zeigen und denken lassen, die unendlich erscheinen und ideal. Lässt diese scheinbare Unerklärlichkeit der (spontanen) Bewegung kombiniert mit der Unerklärlichkeit der idealen Erkenntnisse von daher berechtigt einen Schluss auf etwas Immaterielles, Unendliches, Präexistierendes, Überindividuelles zu, das man Seele (Psyché) nennt und das vorab und begleitend zur erfahrbaren empirischen Welt existiert und wirkt?
  7. Auf den ersten Blick tut sich hier ein Dualismus von endlichem unvollkommenem Materiellen und endlichem vollkommenem Immateriellen auf. Dies aber nur solange, als man die Wechselwirkung zwischen beiden nicht ernst nimmt. Wenn das endliche Materielle mit dem unendlichen Immateriellen in Erkenntnisweisen zusammenwirken können, dann kann und muss man fragen, wie dies möglich ist.
  8. Sowohl die sinnlich angeregten Vorstellungen sind bewusst und im Geist (Nous) wie auch die von den ewigen Ideen gespeisten Erinnerungen an ideale Verhältnisse sind bewusst, da ansonsten unbekannt. Im platonischen Denkmodell gibt es für dieses Zusammentreffen von unvereinbaren Gegensätzen keine wirkliche Erklärung. Im Lichte der neuzeitlichen Erkenntnisse der letzten 50 (!) Jahre gibt es aber Ansatzpunkte, die möglicherweise neue Denkmodelle ermöglichen könnten, die aber – so scheint mir – bislang noch nicht konsequent öffentlich zu Ende gedacht wurden.

SELBSTBEWEGUNG

  1. Nach heutigem Kenntnisstand wissen wir, dass es ein Charakteristikum biologischen Lebens ist, dass es über eine Konfiguration von Molekülen verfügt, die es in die Lage versetzen, Energie aus der Umgebung zu entziehen, um damit eine Eigenbewegung (Selbstbewegung) zu organisieren. Die Selbstbewegung resultiert also aus dem Zusammenwirken einer (nach heutigem Kenntnisstand) vorauszusetzenden Energie, die allem Empirischen zugrunde liegt, und einer bestimmten molekularen Struktur, die in der Lage ist, diese Energie in Bewegung zu transformieren. Dies ist ein Eigenschaft jeder biologischen Zelle, die sich im Falle des homo sapiens in ca. 37 Billionen (10^12) Zellen in Form eines Gesamtorganismus (Körper) so präsentiert, dass eine Vielzahl von Bewegungen in Erscheinung treten können. Die ca. 100 Mrd (10^9) Gehirnzellen nutzen ihre Energie weniger zu mechanischen Bewegungen sondern zum elektrischen Signalaustausch. Dieser Signalaustausch ermöglicht Wahrnehmung, Erinnern, Denken, Fühlen usw.
  2. Mit diesen Erkenntnissen können wir zwar auch sagen, dass die primären Prinzipien von biologischer Belebtheit auf überindividuelle Gesetze und Eigenschaften zurückverweisen (Energie), dass aber das Zusammenwirken von materiellen (atomaren, molekularen) Strukturen und freier Energie eine Eigenschaft ist, die schon jeder einzelnen Zelle zukommt, und damit jeglicher Lebensform auf der Erde.

IDEALE ERKENNTNIS

  1. Bleibt das Phänomen der idealen Erkenntnis. In der Tat sind alle sinnlich wahrnehmbaren Sachverhalte endlich, unvollkommen, singulär verglichen mit allgemeinen, strukturellen Dachverhalten, wie sie sich im Denken erschließen können.
  2. Hält man sich aber vor Augen, dass unser sinnliches Wahrnehmen und unser ideales Denken von einem Netzwerk von ca. 100 Mrd (10^9) Zellen ermöglicht wird, die völlig uniform arbeiten, dann kann man zumindest die Frage stellen, ob es möglicherweise ein (sehr hilfreicher) Artefakt dieses neuronalen Netzwerkes ist, dass wir mit endlichen Strukturen unendliche Strukturen denken können?
  3. Gerade dieser Punkt ist in der modernen Grundlagenforschung merkwürdigerweise noch nicht hinreichend abgeklärt. Hier nur ein paar Stichworte, um anzudeuten, in welcher Richtung die Antwort liegen kann.
  4. Wichtigster Kronzeuge für ideale unendliche Objekte des Denkens ist die Mathematik. Ein Beispiel ist hier die Menge der abzählbar-unendlichen natürlichen Zahlen. Die Menge der natürlichen Zahlen gilt als unendlich groß. Man definiert diese Unendlichkeit durch einen endlichen Zählprozess, der als Prozess aber keinen Endpunkt besitzt. Analog verhält es sich mit den komplexeren Zahlmengen wie z.B. den rationalen Zahlen, den reellen Zahlen usw. Diese Mengen gelten auf unterschiedliche Weise als unendlich, besitzen einen Namen, mit denen man sie benennen kann, und indem Mathematiker ständig die Namen von Objekten im Munde führen können, die als unendlich gelten, kann der Eindruck entstehen, dass es solche unendlichen Objekte tatsächlich gibt. Was es aber nur gibt, das sind endliche Prozeduren, durch die unterschiedliche Begriffe von Unendlichkeit definiert werden. Alle Arten von endlichen Prozeduren können – nach heutigem Wissensstand – von neuronalen Netzen simuliert – sprich: gedacht — werden.
  5. Ein anderes Beispiel ist die Welt der Begriffe, wie sie sich im Sprachgebrauch und in der Alltagslogik finden. Wir sind gewohnt (meist unbewusst), beständig Allgemeinbegriffe benutzen. Z.B. wir sehen ein Objekt vor uns auf dem Tisch, das genügend Eigenschaften aufweist, dass wir es als eine Tasse klassifizieren können. Und bekanntlich können wir beliebig viele einzelne Objekte als Tasse bezeichnen, sofern die charakterisierenden Eigenschaften gegeben sind. Dies bedeutet, mit einigen wenigen (endlich vielen) Eigenschaften können wir einen einzigen, individuellen Namen mit potentiell (= abzählbar) unendlich vielen Objekten verknüpfen. Dies ist mit einem neuronalen Netzwerk leicht zu bewerkstelligen.
  6. Dies bedeutet, am Beispiel von zwei sehr wichtigen Typen von denkbarer Unendlichkeit kann man sehen, dass sich diese mit endlichen Mitteln realisieren lassen.
  7. Allerdings ist klar, dass diese quasi-unendlichen endlichen Prozesse nur möglich sind, insoweit von außerhalb des Systems beständig genügend Energie zugeführt werden kann, durch die diese Prozesse aufrecht erhalten werden können.
  8. Wollte man die platonische Dualität von Materiell-Immateriell, von Seele – Körper, beibehalten, dann wäre nach heutigem Wissensstand der Körper die Anordnung der Atome/ Moleküle und das Seelische die verfügbare freie Energie, durch die Veränderungen/ Transformationen/ Signale/ Bewegungen dieser Moleküle möglich sind. Aufgrund der endlichen Konstellation der Moleküle kann zugeführte (unendliche?) Energie ein Denken von quasi unendlichen Mengen mit Hilfe endlicher Strukturen realisiert werden.

SEIN – WAHRHEIT

  1. Die Rückführung von quasi unendlichen Objekten auf endliche (Denk-)Prozesse lässt aber die Frage unbeantwortet, ob diese mit endlichen Mitteln sichtbar werdenden quasi-unendlichen Objekte (Strukturen) über das Denken hinaus eine ontologische Bedeutung haben können, oder, anders formuliert, ob diese quasi-unendlichen Objekte (Strukturen) über das Denken hinaus tatsächlich existieren, obgleich sie sich für unsere begrenzte Wahrnehmung immer nur als punktuelle, individuelle Messereignisse in Raum und Zeit manifestieren?
  2. Dies wäre die Frage nach der Wahrheit unserer Erkenntnisse.

Fortsetzung mit Aristotles HIER

SONSTIGE QUELLEN

  • Hirschberger, Johannes; GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE. Altertum und Mittelalter, Freiburg – Basel – Wien: Herder, 14.Aufl. 1976
  • Holenstein, Elmar; Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens, Zürich: Amman Verlag & Co, 2004

Einen Überblick über alle Blogbeiträge des Autors cagent nach Titeln findet sich HIER.

VORSCHAU TERMINE PHILOSOPHIEWERKSTATT FEBRUAR – MAI 2016

Da der Start zur neuen Serie etwas ‚ruckelig‘ war (Krankheit, Weihnachtsfeiertage, Terminkollisionen), hier – in Rücksprache mit Reinhard Graeff von der DENKBAR – der Versuch eines Neustarts für die Zeit Februar – Mai 2016, jeweils 2.Sonntag im Monat 16:00 – 19:00h:

TERMINE

VORGEHENSWEISE

Wir werden den bisherigen dialogischen (sokratischen) Stil der Bedeutungsfindung beibehalten, aber ergänzt um folgende Momente:

  • Zu Beginn eine thematisch passende Eingangsmusik ca.5-8 Min aus dem PHILOSPHY-IN-CONERT Programm des Emerging Mind Projektes
  • Vorstellung einer klassischen Position aus der Geschichte der Philosophie (Platon, Aristoteles, Augustinus, Thomas v.Acquin) ca. 10 – 15Min im Umfeld der Begriffe ‚Geist‘ und ‚Seele‘.
  • Gesprächsprozess zum vertiefenden Verständnis und geleitet von der Frage, ob und wie sich diese Positionen im Lichte heutiger Philosophie und Wissenschaft noch aufrecht erhalten lassen; falls nicht, was folgt daraus?
  • Im Anschluss an die Sitzung wird wie gewohnt ein Memo der Sitzung im Blog PHILOSOPHIE JETZT veröffentlicht. Jeder ist eingeladen, diese Darstellung mit eigenen Beiträgen zu ergänzen.

SPEZIELLER HINWEIS

Für alle die es interessiert, am

Mi, 20.Januar 2016, 19:30h

findet die Eröffnung des Emerging Mind Projektes im Institut für Neue Medien (INM) (Frankfurt) statt in Form eines Werkstattgesprächs. Das Emerging Mind Projekt (EMP) ist ein philosophisch motiviertes Projekt zur theoretischen und praktischen Erforschung der Zukunft von Menschen und intelligenten Maschinen. Es kooperiert eng mit der Emergent Life Academy (ELA), die diese Frage in dem größeren Kontext einer allgemeinen Entwicklungswissenschaft stellt, ebenfalls mit einem starken philosophischen Einschlag.

PHILOSOPHIEWERKSTATT BISHER

Einen Überblick über alle Beiträge zur Philosophiewerkstatt nach Themen findet sich HIER