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GRAMMATIK FÜR EINE NACHHALTIGE ENTWICKLUNG. Skizze

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 20.Februar 2023 – 20.Februar 2023, 15:38h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

(For an English Version see HERE)

Kontext

Der folgende Text ist ein Zusammenfluss von Ideen, die mich seit vielen Monaten umtreiben. Teile davon finden sich als Texte in allen drei Blogs (Bürgerwissenschaft 2.0 für Nachhaltige Entwicklung, Integrated Engineering and the Human Factor, Philosophie jetzt (= dieser Blog)). Die Wahl des Wortes ‚Grammatik‘ [1] für den folgenden Text ist eher ungewöhnlich, scheint mir aber den Charakter der Überlegungen gut wieder zu spiegeln.

Nachhaltigkeit für Populationen

Das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung wird hier betrachtet im Kontext von ‚biologischen Populationen‘. Solche Populationen sind dynamische Gebilde mit vielen ‚komplexen Eigenschaften‘. Für die Analyse der ‚Nachhaltigkeit‘ solcher Populationen gibt es einen Aspekt, der ‚fundamental‘ für ein angemessenes Verständnis erscheint. Es handelt sich um den Aspekt, ob und wie die Mitglieder einer Population — die Akteure — untereinander verbunden sind oder nicht.

Eine ‚unverbundene‘ Menge

Wenn ich ‚Akteure‘ einer ‚Population‘ habe, die in keinerlei direkter ‚Interaktion‘ miteinander stehen, dann ist auch das ‚Handeln‘ dieser Akteure voneinander isoliert. In einem weiten Gebiet kommen sie sich einander vermutlich ’nicht in die Quere‘; auf engstem Raum könnten sie sich leicht behindern oder gar wechselseitig bekämpfen, bis hin zur gegenseitigen Zerstörung.

Festzuhalten ist, dass auch solche unverbundene Akteure über ein minimales ‚Wissen‘ über sich und die Umgebung verfügen müssen, auch über minimale ‚Emotionen‘, um überhaupt leben zu können.

Ohne direkte Interaktion wird eine unverbundene Population als Population relativ schnell dennoch aussterben.

Eine ‚verbundene‘ Menge

Eine ‚verbundene Menge‘ liegt vor, wenn die Akteure einer Population über hinreichend viele direkte Interaktion verfügen, durch die sie ihr Wissen über sich und die Welt sowie ihre Emotionen soweit ‚abstimmen‘ könnten, dass sie zu einem ‚abgestimmten Handeln‘ fähig sind. Dadurch werden die einzelnen, individuellen Handlungen bezogen auf ihre mögliche Wirkung zu einer ‚gemeinsamen (= sozialen) Handlung‘ die mehr bewirken kann, als jeder einzeln es vermocht hätte.

Die beteiligten ‚Emotionen‘ müssen eher so sein, dass sie weniger ‚abgrenzen/ ausschließen‘, als vielmehr eher ‚einbeziehen/ anerkennen‘.

Das ‚Wissen‘ muss eher so sein, dass es nicht ’statisch‘ und nicht ‚unrealistisch‘ ist, sondern vielmehr ‚offen‘, ‚lernend‘ und ‚realistisch‘.

Das ‚Überleben‘ einer verbundenen Population ist grundsätzlich möglich, wenn die wichtigsten ‚Faktoren‘ eines Überlebens hinreichend erfüllt sind.

Übergänge von – zu

Der ‚Übergang‘ von einem ‚unverbundenen‘ zu einem ‚verbundenen‘ Zustand einer Population ist nicht zwangsläufig. Das primäre Motiv ist möglicherweise einfach der ‚Wille zum Überleben‘ (eine Emotion), und die wachsende ‚Einsicht‘ (= Wissen), dass dies nur bei ‚minimaler Kooperation‘ möglich ist. Ein einzelner kann allerdings Zeit seines Lebens im Zustand des ‚Einzelgängers‘ leben, weil er seinen individuellen Tod nicht als hinreichenden Grund erleben muss, sich mit anderen zu verbünden. Eine Population als solche kann aber nur überleben, wenn hinreichend viele einzelne überleben, die minimal miteinander interagieren. Die Geschichte des Lebens auf dem Planet Erde legt die Arbeitshypothese nahe, dass es in biologischen Populationen (einschließlich der menschlichen Population) seit 3.5 Milliarden Jahren immer hinreichend viele Mitglieder einer Population gegeben hat, die den ’selbst zerstörerischen Tendenzen‘ einzelner ein ‚aufbauende Tendenz‘ entgegen setzen konnten.

Das Entstehen und der Erhalt einer ‚verbundenen Population‘ benötigt zum Gelingen ein Minimum an ‚geeignetem Wissen‘ und ‚geeigneten Emotionen‘.

Es ist für alle biologischen Populationen eine bleibende Herausforderung, die eigenen Emotionen so zu gestalten, dass sie tendenziell eher nicht ausgrenzen, verachten, sondern tendenziell eher einbeziehen und anerkennen. Desgleichen muss das Wissen geeignet sein, ein realistisches Bild von sich, den anderen und der Umwelt zu erlangen, damit das jeweilige Verhalten ’sachlich angemessen‘ ist und tendenziell eher zum ‚Erfolg‘ führen kann.

Wie die Geschichte der menschlichen Population zeigt, wird sowohl die ‚Formung der Emotionen‘ wie die ‚Formung eines leistungsfähigen Wissens‘ in der Regel weitgehend unterschätzt und schlecht bis gar nicht organisiert. Es wird der notwendige ‚Aufwand‘ gescheut, man unterschätzt die notwendige ‚Dauer‘ solcher Prozesse. Innerhalb des Wissens gibt es zusätzlich das generelle Problem, dass die ‚kurzen Zeitspannen‘ innerhalb eines individuellen Lebens ein Hindernis sind, solche Prozesse dort zu erkennen und zu gestalten, wo größere Zeitspannen dies erfordern (das betrifft fast alle ‚wichtigen‘ Prozesse).

Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass ‚verbundene Zustände‘ von Populationen jederzeit auch wieder in sich zusammen fallen können, wenn jene Verhaltensweisen, die sie ermöglichen, abgeschwächt werden oder ganz verschwinden. Zusammenhänge im Bereich biologischer Populationen sind weitgehend ’nicht determiniert‘! Sie beruhen auf komplexen Prozessen in und zwischen den einzelnen Akteuren. Ganze Gesellschaften können ‚über Nacht kippen‘, wenn ein Ereignis das ‚Vertrauen in den Zusammenhang‘ zerstört. Ohne Vertrauen ist keinerlei Zusammenhang möglich. Das Entstehen und das Vergehen von Vertrauen sollte zum Grundanliegen jeder Gesellschaft im Zustand des Verbundenseins gehören.

Politische Spielregeln

‚Politik‘ umfasst die Gesamtheit der Regelungen, die die Mitglieder einer menschlichen Population vereinbaren, um gemeinsam verbindliche Entscheidungsprozesse zu organisieren.[2] In einer groben Skala könnte man zwei Extremwerte platzieren: (i) Einerseits eine Population mit einem ‚demokratischen System‘ [3] und eine Population mit einem maximal un-demokratischen System.[4]

Wie schon generell für ‚verbundene Systeme‘ angemerkt: das Gelingen von demokratischen Systeme ist in keiner Weise determiniert. Ermöglichung und Erhalt erfordern den totalen Einsatz aller Beteiligten ‚aus eigener Überzeugung‘.

Grundrealität ‚Körperlichkeit‘

Biologische Populationen sind grundlegend geprägt von einer ‚Körperlichkeit‘, die durch und durch von ‚Gesetzmäßigkeiten‘ der bekannten materiellen Strukturen bestimmt sind. In ihren ‚komplexen Ausgestaltungen‘ manifestieren biologische Systeme zwar auch ‚komplexe Eigenschaften‘, die sich nicht einfach aus ihren ‚Einzelteilen‘ ableiten lassen, aber die jeweiligen identifizierbaren ‚materiellen Bestandteile‘ ihres ‚Körpers‘ samt vieler ‚funktionalen Zusammenhänge‘ unterliegen grundlegend einer Vielzahl von ‚Gesetzen‘ die ‚vorgegeben‘ sind. Diese ‚abzuändern‘ ist — wenn überhaupt — nur unter bestimmten begrenzten Bedingungen möglich.

Alle biologischen Akteure bestehen aus ‚biologischen Zellen‘, die für alle gleich sind. Hierin sind die menschlichen Akteure Teil der Gesamtentwicklung des (biologischen) Lebens auf dem Planet Erde. Die Gesamtheit des (biologischen) Lebens nennt man auch ‚Biom‘ und den gesamten Lebensraum eines Bioms auch ‚Biosphäre‘. [5] Die Population des homo sapiens ist nur ein verschwindend kleiner Teil des Bioms, beansprucht aber mit der homo-sapiens typischen Lebensweise immer größere Teile der Biosphäre für sich zu Lasten aller anderen Lebensformen.

Das (biologische) Leben findet seit ca. 3.5 Milliarden Jahren auf dem Planet Erde statt.[6] Die Erde, als Teil des Sonnensystems [7], hatte eine sehr bewegte Geschichte und zeigt bis heute eine starke Dynamik, die sich unmittelbar auf die Lebensbedingungen des biologischen Lebens auswirkten kann und auswirkt (Kontinentalplatten-Verschiebung, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Magnetfeld-Verschiebung, Meeresströmungen, Klima, …).

Biologische Systeme benötigen generell eine kontinuierliche Aufnahme von materiellen Stoffen (mit Energiepotentialen), um ihre eigenen Stoffwechselprozesse zu ermöglichen. Sie scheiden auch Stoffe aus. Menschliche Populationen brauchen bestimmte Mengen an ‚Nahrungsmitteln‘, ‚Wasser‘, ‚Behausungen‘, ‚Lagerstätten‘, ‚Transportmittel‘, ‚Energie‘, … ‚Rohstoffe‘, … ‚Produktionsprozesse‘, ‚Austauschprozesse‘ … Mit dem Anwachsen der schieren Größe einer Population multiplizieren sich die materiellen Bedarfsmengen (und auch Abfälle) in Größenordnungen, die das Funktionieren der Biosphäre zerstören können.

Prognosefähiges Wissen

Wenn eine zusammenhängende Population mögliche zukünftige Zustände nicht dem puren Zufall überlassen will, dann braucht sie ein ‚Wissen‘, das geeignet ist, aus dem Wissen über die Gegenwart und über die Vergangenheit ‚Voraussagen‘ (‚Prognosen‘) für eine mögliche Zukunft (oder sogar vielen ‚Varianten von Zukunft‘) zu konstruieren.

In der bisherigen Geschichte des homo sapiens gibt es nur eine Wissensform, mit der nachweisbar demonstriert werden konnte, dass sie für belastbare nachhaltige Prognosen geeignet ist: die Wissensform der empirischen Wissenschaften. [8] Diese Wissensform ist bislang nicht perfekt, aber eine bessere Alternative ist nicht bekannt. Im Kern umfasst ‚empirisches Wissen‘ die folgenden Elemente: (i) Die Beschreibung einer Ausgangslage, die als ‚empirisch zutreffend‘ angenommen wird; (ii) Eine Menge von ‚Beschreibungen von Veränderungsprozessen‘, die man im Laufe der Zeit formulieren konnte, und von denen man weiß, dass es ‚hoch wahrscheinlich‘ ist, dass die beschriebenen Veränderungen unter bekannten Bedingungen immer wieder stattfinden; (iii) ein ‚Folgerungskonzept‘, das beschreibt, wie man auf die Beschreibung einer ‚gegebene aktuelle Situation‘ die bekannten Beschreibungen von Veränderungsprozessen so anwenden kann, dass man die Beschreibung der aktuellen Situation so abändern kann, dass eine ‚veränderte Beschreibung‘ entsteht, die eine neue Situation beschreibt, die als ‚hoch wahrscheinliche Fortsetzung‘ der aktuellen Situation in der Zukunft gelten kann.[9]

Die eben skizzierte ‚Grundidee‘ einer empirischen Theorie mit Prognosefähigkeit kann man konkret auf vielerlei Weise realisieren. Dies zu untersuchen und zu beschreiben ist Aufgabe der ‚Wissenschaftstheorie‘ bzw. ‚Wissenschaftsphilosophie‘. Allerdings, die Vagheiten, die sich im Umgang mit dem Begriff einer ‚empirischen Theorie‘ finden, finden sich auch im Verständnis dessen, was denn mit ‚Wissenschaftstheorie‘ gemeint sein soll.[10]

In dem vorliegenden Text wird die Auffassung vertreten, dass der ‚Grundbegriff‘ einer empirischen Theorie sich im normalen Alltagshandeln unter Benutzung der Alltagssprache vollständig realisieren lässt. Dieses Konzept einer ‚Allgemeinen Empirischen Theorie‘ kann man nach Bedarf durch beliebige spezielle Sprachen, Methoden und Teiltheorien erweitern. Damit ließe sich das bislang ungelöste Problem der vielen verschiedenen empirischen Einzeldisziplinen nahezu von selbst lösen.[11]

Nachhaltiges Wissen

Im Normalfall kann eine empirische Theorie im günstigsten Fall Prognosen generieren, denen eine gewisse empirisch begründete Wahrscheinlichkeit zugesprochen werden kann. In ‚komplexen Situationen‘ kann solch eine Prognose viele ‚Varianten‘ umfassen: A, B, …, Z. Welche dieser Varianten nun im Lichte eines ‚anzunehmenden Kriteriums‘ ‚besser‘ oder schlechter‘ ist, kann eine empirische Theorie selbst nicht bestimmen. Hier sind die ‚Produzenten‘ und die ‚Benutzer‘ der Theorie gefragt: Verfügen diese über irgendwelche ‚Präferenzen warum z.B. die Variante ‚B‘ der Variante ‚C‘ vorzuziehen sei‘?: „Fahrrad, U-Bahn, Auto oder Flugzeug?“ , „Gentechnik oder nicht?“, „Pestizide oder nicht?“, „Atomenergie oder nicht?“, „Unkontrollierter Fischfang oder nicht?“ …

Die zur Anwendung kommenden ‚Bewertungskriterien‘ verlangen selbst eigentlich einerseits nach ‚explizitem Wissen‘ zur Abschätzung eines möglichen ‚Nutzens‘, andererseits ist der Begriff des ‚Nutzens‘ verankert im Fühlen und Wollen von menschlichen Akteuren: Warum genau will ich etwas? Warum ‚fühlt sich etwas gut an‘? …

Die aktuellen Diskussionen weltweit zeigen, dass das Arsenal der ‚Bewertungskriterien‘ und ihre Umsetzung alles andere als ein klares Bild bieten.

ANMERKUNGEN

[1] Für die typische Verwendung des Begriffs ‚Grammatik‘ siehe die Deutsche Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Grammatik. In dem Text hier im Blog übertrage ich dieses Konzept von der ‚Sprache‘ auf jenen ‚komplexen Prozess‘, in dem die Population der Lebensform ‚homo sapiens‘ versucht, auf dem Planet Erde einen ‚Gesamtzustand‘ zu erreichen, der für möglichst viel ‚Leben‘ (mit den Menschen als Teilpopulation) eine ‚maximal gute Zukunft‘ ermöglicht. Eine ‚Grammatik der Nachhaltigkeit‘ setzt eine bestimmte Menge von Grundgegebenheiten, Faktoren voraus, die in einem dynamischen Prozess miteinander ‚wechselwirken‘, um in einer ‚Folge von Zuständen‘ möglichst viele Zustände realisiert, die für möglichst viele ein möglichst gutes Leben ermöglichen.

[2] Für die typische Verwendungsweise des Begriffs Politik siehe die Deutsche Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Politik. Diese Bedeutung wird in dem vorliegenden Text hier auch vorausgesetzt.

[3] Ein sehr aufschlussreiches Projekt zur empirischen Forschung zum Zustand und zur Entwicklung von ‚empirischen Systemen’Demokratien‘ auf dem Planet Erde ist das V-dem Institut: https://www.v-dem.net/

[4] Natürlich könnte man auch ganz andere Grundbegriffe für eine Skala wählen. Mit erscheint aber das Konzept eines ‚demokratischen Systems‘ (bei allen Schwächen) im Lichte der Anforderungen für eine nachhaltige Entwicklung als das ‚geeignetste‘ System zu sein; zugleich stellt es aber von allen System die höchsten Anforderungen an alle Beteiligten. Dass es überhaupt zur Ausbildung von ‚Demokratie ähnlichen‘ Systemen im Laufe der Geschichte kam, grenzt eigentlich fast an ein Wunder. Die weitere Entwicklung solcher Demokratie ähnlicher Systeme schwankt beständig zwischen Erhalt und Zerfall. Positiv könnte man sagen, dass das beständige Ringen um den Erhalt eine Art ‚Training‘ ist, um eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen.

[5] Für die typischen Verwendungsweisen der Begriffe ‚Biom‘ und ‚Biosphäre‘ siehe die entsprechenden Einträge in der Deutschen Wikipedia: Biom (https://de.wikipedia.org/wiki/Biom) und Biosphäre (https://de.wikipedia.org/wiki/Biosph%C3%A4re).

[6] Einige Grunddaten zur Erde: https://de.wikipedia.org/wiki/Erde

[7] Einige Grunddaten zum Sonnensystem: https://de.wikipedia.org/wiki/Sonnensystem

[8] Der Begriff der ‚empirischen Wissenschaft‘ wird in der Deutschen Wikipedia sehr unterbestimmt dargestellt: https://de.wikipedia.org/wiki/Empirie#Empirische_Wissenschaften. Die englische Wikipedia ist hier auch nicht besser: https://en.wikipedia.org/wiki/Science. Der Begriff ‚empirische Wissenschaft‘ kommt erst gar nicht vor, nur der vage Begriffe ‚Science‘ (‚Wissenschaft‘).

[9] Wenn man eine Uhr mit Stunden- und Minutenzeiger besitzt, die aktuell 11:04h anzeigt, und man aus alltäglicher Erfahrung weiß, dass der Minutenzeiger jede Minute um einen Strich vorrückt, dann kann man mit einer ziemlich hohen Wahrscheinlichkeit folgern, dass der Minutenzeiger ’sehr bald‘ um einen Strich weiter wandert. Die Ausgangsbeschreibung ‚Die Uhr zeigt 11.04h an‘ würde dann zu der der neuen Beschreibung ‚Die Uhr zeigt 11:05h an‘ verändert werden können. Vor dem ’11:05h Ereignis‘ hätte die Aussage ‚Die Uhr zeigt 11:05h an‘ den Status einer ‚Prognose‘.

[10] In dem Übersichtsartikel in der Deutschen Wikipedia zum Begriff ‚Wissenschaftstheorie‘ (https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftstheorie) findet man eine große Zahl von Varianten zum Begriff, aber wichtige Teilgebiete, erste Recht nicht die Grundstruktur empirischer Theorien, findet man in diesem Artikel nicht. Etwas klarer erscheint hier die Englische Wikipedia, wenngleich auch sie neben dem großen Panorama keine alles zusammenfassende Arbeitshypothese für das bietet, was denn ‚empirische Wissenschaft‘ ist: https://en.wikipedia.org/wiki/Philosophy_of_science

[11] ‚Aus sich heraus‘ kann eine Einzeldisziplin (Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, …) nicht ‚das Ganze‘ begrifflich fassen; muss sie ja auch nicht. Die verschiedenen Versuche, irgendeine Einzeldisziplin auf eine andere (besonders beliebt ist hier die Physik) zu ‚reduzieren‘, sind bislang alle gescheitert. Ohne eine geeignete ‚Meta-Theorie‘ kann keine Einzeldisziplin sich aus ihrer Spezialisierung befreien. Das Konzept einer ‚Allgemeinen Empirischen Theorie‘ versteht sich als solch eine Meta-Theorie. Eine solche Meta-Theorie passt in das Konzept eines modernen philosophischen Denkens.

DER AUTOR

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VERANTWORTUNGSBEWUSSTE DIGITALISIERUNG: Fortsezung 1

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

So 16.Februar 2020

KONTEXT DEMOKRATIE

In einem vorausgehenden Beitrag hatte ich am Beispiel der Demokratie aufgezeigt, welche zentrale Rolle eine gemeinsame funktionierende Öffentlichkeit spielt. Ohne eine solche ist Demokratie nicht möglich. Entspechend der Komplexität einer Gesellschaft muss die große Mehrheit der Bürger daher über ein hinreichendes Wissen verfügen, um sich qualifiziert am Diskurs beteiligen und auf dieser Basis am Geschehen verantwortungsvoll partizipieren zu können. Eine solche Öffentlichkeit samt notwendigem Bildungsstand scheint in den noch existierenden Demokratien stark gefährdet zu sein. Nicht ausdrücklich erwähnt wurde in diesem Beitrag die Notwendigkeit von solchen Emotionen und Motivationen, die für das Erkennen, Kommunizieren und Handeln gebraucht werden; ohne diese nützt das beste Wissen nichts.

KONTEXT DIGITALISIERUNG

In einem Folgebeitrag hatte ich das Phänomen der Digitalisierung aus der Sicht des Benutzers skizziert, wie eine neue Technologie immer mehr eine Symbiose mit dem Leben der Gesellschaft eingeht, einer Symbiose, der man sich kaum oder gar nicht mehr entziehen kann. Wo wird dies hinführen? Löst sich unsere demokratische Gesellschaft als Demokratie schleichend auf? Haben wir überhaupt noch eine funktionierende Demokratie?

PARTIZIPATION OHNE DEMOKRATIE?

Mitten in den Diskussionen zu diesen Fragen erreichte mich das neue Buch von Manfred Faßler Partizipation ohne Demokratie (2020), Fink Verlag, Paderborn (DE). Bislang konnte ich Kap.1 lesen. In großer Intensität, mit einem in Jahrzehnten erarbeiteten Verständnis des Phänomens Digitalisierung und Demokratie, entwirft Manfred Faßler in diesem Kapitel eine packende Analyse der Auswirkungen des Phänomens Digitalisierung auf die Gesellschaft, speziell auch auf eine demokratische Gesellschaft. Als Grundidee entnehme ich diesem Kapitel, dass der Benutzer (User) in Interaktion mit den neuen digitalen Räumen subjektiv zwar viele Aspekte seiner realweltlichen sozialen Interaktionen wiederfindet, aber tatsächlich ist dies eine gefährliche Illusion: während jeder User im realweltlichen Leben als Bürger in einer realen demokratischen Gesellschaft lebt, wo es der Intention der Verfassung nach klare Rechte gibt, Verantwortlichkeiten, Transparenz, Kontrolle von Macht, ist der Bürger in den aktuellen digitalen Räumen kein Bürger, sondern ein User, der nahezu keine Rechte hat. Als User glaubt man zwar, dass man weiter ein Bürger ist, aber die individuellen Interaktionen mit dem digitalen Raum bewegen sich in einem weitgehend rechtlosen und demokratiefreiem Raum. Die allgemeinen Geschäftsbedingungen kaschieren diesen Zustand durch unendliche lange Texte, die kaum einer versteht; sprechen dem User nahezu alle Rechte ab, und lassen sich kaum bis gar nicht einklagen, jedenfalls nicht in einem Format, das der User praktisch einlösen könnte. Dazu kommt, dass der digitale Raum des Users ein geliehener Raum ist; die realen Maschinen und Verfügungsgewalten liegen bei Eignern, die jenseits der gewohnten politischen Strukturen angesiedelt sind, die sich eher keiner demokratischen Ordnung verpflichtet fühlen, und die diese Verfügungsgewalt — so zeigt es die jüngste Geschichte — skrupellos an jeden verkaufen, der dafür Geld bezahlt, egal, was er damit macht.

Das bisherige politische System scheint die Urgewalt dieser Prozesse noch kaum realisiert zu haben. Es denkt noch immer in den klassischen Kategorien von Gesellschaft und Demokratie und merkt nicht, wie Grundpfeiler der Demokratie täglich immer mehr erodieren. Kapitel 1 von Faßlers Buch ist hier schonungslos konkret und klar.

LAGEPLAN DEMOKRATISCHE DIGITALISIERUNG

Möglicher Lageplan zur Auseinandersetzung zwischen nicht-demokratischer und demokratischer Digitalisierung

Erschreckend ist, wie einfach die Strategie funktioniert, den einzelnen bei seinen individuellen privaten Bedürfnissen abzuholen, ihm vorzugaukeln, er lebe in den aktuellen digitalen Räumen so wie er auch sonst als Bürger lebe, nur schneller, leichter, sogar freier von üblichen analogen Zwängen, obwohl er im Netz vieler wichtiger realer Recht beraubt wird, bis hin zu Sachverhalten und Aktionen, die nicht nur nicht demokratisch sind, sondern sogar in ihrer Wirkung eine reale Demokratie auflösen können; alles ohne Kanonendonner.

Es mag daher hilfreich sein, sich mindestens die folgenden Sachverhalte zu vergegenwärtigen:

  • Verankerung in der realen Welt
  • Zukunft gibt es nicht einfach so
  • Gesellschaft als emergentes Phänomen
  • Freie Kommunikation als Lebensader

REALE KÖRPERWELT

Fasziniert von den neuen digitalen Räumen kann man schnell vergessen, dass diese digitalen Räume als physikalische Zustände von realen Maschinen existieren, die reale Energie verbrauchen, reale Ressourcen, und die darin nicht nur unseren realen Lebensraum beschneiden, sondern auch verändern.

Diese physikalische Dimension interagiert nicht nur mit der übrigen Natur sehr real, sie unterliegt auch den bisherigen alten politischen Strukturen mit den jeweiligen nationalen und internationalen Gesetzen. Wenn die physikalischen Eigentümer nach alter Gesetzgebung in realen Ländern lokalisiert sind, die sich von den Nutzern in demokratischen Gesellschaften unterscheiden, und diese Eigentümer nicht-demokratische Ziele verfolgen, dann sind die neuen digitalen Räume nicht einfach nur neutral, nein sie sind hochpolitisch. Diese Sachverhalte scheinen in der europäischen Politik bislang kaum ernsthaft beachtet zu werden; eher erwecken viele Indizien den Eindruck, dass viele politische Akteure so handeln, als ob sie Angestellte jener Eigner sind, die sich keiner Demokratie verpflichtet fühlen (Ein Beispiel von vielen: die neue Datenschutz-Verordnung DSGVO versucht erste zaghafte Schritte zu unternehmen, um der Rechtlosigkeit der Bürger als User entgegen zu wirken, gleichzeitig wird diese DSGVO von einem Bundesministerium beständig schlecht geredet …).

ZUKUNFT IST KEIN GEGENSTAND

Wie ich in diesem Blog schon mehrfach diskutiert habe, ist Zukunft kein übliches Objekt. Weil wir über ein Gedächtnis verfügen, können wir Aspekte der jeweiligen Gegenwart speichern, wieder erinnern, unsere Wahrnehmung interpretieren, und durch unsere Denkfähigkeit Muster, Regelhaftigkeiten identifizieren, denken, und neue mögliche Kombinationen ausmalen. Diese neuen Möglichkeiten sind aber nicht die Zukunft, sondern Zustände unseres Gehirns, die auf der Basis der Vergangenheit Spekulationen über eine mögliche Zukunft bilden. Die Physik und die Biologie samt den vielen Begleitdisziplinen haben eindrucksvoll gezeigt, was ein systematischer Blick zurück zu den Anfängen des Universums (BigBang) und den Anfängen des Lebens (Entstehung von Zellen aus Molekülen) an Erkenntnissen hervor bringen kann. Sie zeigen aber auch, dass die Erde selbst wie das gesamt biologische Leben ein hochkomplexes System ist, das sich nur sehr begrenzt voraus sagen lässt. Spekulationen über mögliche zukünftige Zustände sind daher nur sehr begrenzt möglich.

Ferner ist zu berücksichtigen, dass das Denken selbst kein Automatismus ist. Neben den vielen gesellschaftlichen Faktoren und Umweltfaktoren, die auf unser Denken einwirken, hängt unser Denken in seiner Ausrichtung entscheidend auch von unseren Bedürfnissen, Emotionen, Motiven und Zielvorstellungen ab. Wirkliche Innovationen, wirkliche Durchbrüche sind keine Automatismen. Sie brauchen Menschen, die resistent sind gegen jeweilige ‚Mainstreams‘, die mutig sind, sich mit Unbekanntem und Riskantem auseinander zu setzen, und vieles mehr. Solche Menschen sind keine ‚Massenware’…

GESELLSCHAFT ALS EMERGENTES PHÄNOMEN

Das Wort ‚Emergenz‘ hat vielfach eine unscharfe Bedeutung. In einer Diskussion des Buches von Miller und Page (2007) Complex Adaptive Systems. An Introduction to Computational Models of Social Life habe ich für meinen Theoriezusammenhang eine Definition vorgeschlagen, die die Position von Miller und Page berücksichtigt, aber auch die Position von Warren Weaver (1958), A quarter century in then natural sciences. Rockefeller Foundation. Annual Report,1958, pages 7–15, der von Miller und Page zitiert wird.

Die Grundidee ist die, dass ein System, das wiederum aus vielen einzelnen Systemen besteht, dann als ein organisiertes System verstanden wird, wenn das Wegnehmen eines einzelnen Systems das Gesamtverhalten des Systems verändert. Andererseits soll man aber durch die Analyse eines einzelnen Mitgliedssystems auch nicht in der Lage sein, auf das Gesamtverhalten schließen zu können. Unter diesen Voraussetzungen soll das Gesamtverhalten als emergent bezeichnet werden: es existiert nur, wenn alle einzelnen Mitgliedssysteme zusammenwirken und es ist nicht aus dem Verhalten einzelner Systeme alleine ableitbar. Wenn einige der Mitgliedssysteme zudem zufällige oder lernfähige Systeme sind, dann ist das Gesamtverhalten zusätzlich begründbar nicht voraussagbar.

Das Verhalten sozialer Systeme ist nach dieser Definition grundsätzlich emergent und wird noch dadurch verschärft, dass seine Mitgliedssysteme — individuelle Personen wie alle möglichen Arten von Vereinigungen von Personen — grundsätzlich lernende Systeme sind (was nicht impliziert, dass sie ihre Lernfähigkeit ’sinnvoll‘ nutzen). Jeder Versuch, die Zukunft sozialer Systeme voraus zu sagen, ist von daher grundsätzlich unmöglich (auch wenn wir uns alle gerne der Illusion hingeben, wir könnten es). Die einzige Möglichkeit, in einer freien Gesellschaft, Zukunft ansatzweise zu erarbeiten, wären Systeme einer umfassenden Partizipation und Rückkopplung aller Akteure. Diese Systeme gibt es bislang nicht, wären aber mit den neuen digitalen Technologien eher möglich.

FREIE KOMMUNIKATION UND BILDUNG

Die kulturellen Errungenschaften der Menschheit — ich zähle Technologie, Bildungssysteme, Wirtschaft usw. dazu — waren in der Vergangenheit möglich, weil die Menschen gelernt hatten, ihre kognitiven Fähigkeiten zusammen mit ihrer Sprache immer mehr so zu nutzen, dass sie zu Kooperationen zusammen gefunden haben: Die Verbindung von vielen Fähigkeiten und Ressourcen, auch über längere Zeiträume. Alle diese Kooperationen waren entweder möglich durch schiere Gewalt (autoritäre Gesellschaften) oder durch Einsicht in die Sachverhalte, durch Vertrauen, dass man das Ziel zusammen schon irgendwie erreichen würde, und durch konkrete Vorteile für das eigene Leben oder für das Leben der anderen, in der Gegenwart oder in der möglichen Zukunft.

Bei aller Dringlichkeit dieser Prozesse hingen sie zentral von der möglichen Kommunikation ab, vom Austausch von Gedanken und Zielen. Ohne diesen Austausch würde nichts passieren, wäre nichts möglich. Nicht umsonst diagnostizieren viele Historiker und Sozialwissenschaftler den Übergang von der alten zur neuen empirischen Wissenschaft in der Veränderung der Kommunikation, erst Recht im Übergang von vor-demokratischen Gesellschaften zu demokratischen Gesellschaften.

Was aber oft zu kurz kommt, das ist die mangelnde Einsicht in den engen Zusammenhang zwischen einer verantwortlichen Kommunikation in einer funktionierenden Demokratie und dem dazu notwendigen Wissen! Wenn ich eine freie Kommunikation in einer noch funktionierenden Demokratie haben würde, und innerhalb dieser Diskussion würden nur schwachsinnige Inhalte transportiert, dann nützt solch eine Kommunikation natürlich nichts. Eine funktionierende freie Kommunikation ist eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, aber die Verfügbarkeit von angemessenen Weltbildern, qualitativ hochwertigem Wissen bei der Mehrheit der Bürger (nicht nur bei gesellschaftlichen Teilgruppen, die sich selbst als ‚Eliten‘ verstehen) ist genauso wichtig. Beides gehört zusammen. Bei der aktuellen Zersplitterung aller Wissenschaften, der ungeheuren Menge an neuem Wissen, bei den immer schneller werdenden Innovationszyklen und bei der zunehmenden ‚Fragmementierung der Öffentlichkeit‘ verbunden mit einem wachsenden Misstrauen untereinander, ist das bisherige Wissenssystem mehr und mehr nicht nur im Stress, sondern möglicherweise kurz vor einem Kollaps. Ob es mit den neuen digitalen Technologien hierfür eine spürbare Unterstützung geben könnte, ist aktuell völlig unklar, da das Problem als solches — so scheint mir — noch nicht genügend gesellschaftlich erkannt ist und diskutiert wird. Außerdem, ein Problem erkennen ist eines, eine brauchbare Lösung zu finden etwas anderes. In der Regel sind die eingefahrenen Institutionen wenig geeignet, radikal neue Ansätzen zu denken und umzusetzen. Alte Denkgewohnheiten und das berühmte ‚Besitzstanddenken‘ sind wirkungsvolle Faktoren der Verhinderung.

AUSBLICK

Die vorangehenden Gedanken mögen auf manche Leser vielleicht negativ wirken, beunruhigend, oder gar deprimierend. Bis zum gewissen Grad wäre dies eine natürliche Reaktion und vielleicht ist dies auch notwendig, damit wir alle zusammen uns wechselseitig mehr helfen, diese Herausforderungen in den Blick zu nehmen. Der Verfasser dieses Textes ist trotz all dieser Schwierigkeiten, die sich andeuten, grundlegend optimistisch, dass es Lösungen geben kann, und dass es auch — wie immer in der bisherigen Geschichte des Lebens auf der Erde — genügend Menschen geben wird, die die richtigen Ideen haben werden, und es Menschen gibt, die sie umsetzen. Diese Fähigkeit zum Finden von neuen Lösungen ist eine grundlegende Eigenschaft des biologischen Lebens. Dennoch haben Kulturen immer die starke Tendenzen, Ängste und Kontrollen auszubilden statt Vertrauen und Experimentierfreude zu kultivieren.

Wer sich das Geschehen nüchtern betrachtet, der kann auf Anhieb eine Vielzahl von interessanten Optionen erkennen, sich eine Vielzahl von möglichen Prozessen vorstellen, die uns weiter führen könnten. Vielleicht kann dies Gegenstand von weiteren Beiträgen sein.

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POPULISMUS IST ANGEBOREN… Aber bei mir doch nicht…

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Letzte Änderungen: 9.Febr.2019 (Zusätzliche Zwischenüberschriften; Schlagworte hinzugefügt; einen Satz verschoben)

KONTEXT

Der Kontext für diesen Beitrag ist eigentlich der ganz normale Alltag, wie jeder ihn erlebt. Allerdings war mir schon im Juni 2018 anlässlich einer Veranstaltung zum Populismus in Europa aufgefallen, dass die berühmten ‚Echokammern‘, die man in vielen sozialen Netzen entdeckt zu haben glaubte, irgendwie nicht auf bestimmte Gruppen beschränkt sind. Bei näherer Betrachtung kann man das vage Konzept der Echokammern nahezu auf jede soziale Gruppierung anwenden. Infiziert von diesem Gedanken sah ich viele Alltagsphänomene plötzlich ganz anders …

JEDER IST SEINE EIGENE ECHOKAMMER …

Wenn man sich in seinem eigenen Alltag umschaut wird an nicht umhin kommen, festzustellen, dass jeder einzelne ein ‚individuelles Weltbild‘ mit sich herum trägt, das aus sich heraus unsichtbar ist, so lange jemand nichts sagt und tut. Sobald aber dieser Jemand anfängt, etwas zu tun oder zu sagen, zeigen sich Fragmente des individuellen Weltbildes. Wenn man irgendwann genug viele Fragmente von jemandem gesammelt hat — oder sehr schnell in eine intensive Debatte mit dem anderen eingetreten ist –, zeigt sich dann, dass jeder seine liebgewordene Glaubenssätze über die Welt hat, an denen er nicht rüttelt, und von denen aus er seine Schlüsse zieht. So umgänglich jemand auf den ersten Blick scheinen mag, sobald es ‚zur Sache geht‘ hört bei den meisten die ‚Umgänglichkeit‘ auf. Und dies hat überhaupt nichts mit Intelligenz zu tun. Wie viele akademisch trainierte Menschen — einschließlich Doktortitel oder mehr — reagieren genauso so, sitzen in ihrem geistigen Käfig, und lassen sich — kennt man mal ihre ‚Lieblingsüberzeugungen‘ — fast beliebig mit diesen Lieblingsüberzeugungen aufwecken, in Wallung bringen, ärgern, oder — wenn man sie manipulieren will — genau damit Ködern, eine gute Stimmung verbreiten, den Eindruck erwecken, man denke und fühle doch das Gleiche, usw.

Es ist daher nicht zufällig, dass sich Menschen in neuen, fremden Umgebungen — und sei es auf einer Party mit vielen ‚Unbekannten‘ — erst einmal nach solchen Gesprächspartnern suchen, die ‚Ähnliches reden wie man selbst‘ (manche bleiben vorzugsweise den ganzen Abend alleine sitzen, um sich unbequeme Überraschungen zu ersparen). Hat man ‚ähnlich erscheinende‘ Personen gefunden, tendieren viele dazu, sich mit diesen ‚zusammen zu rotten‘ in einer ‚Zone der Vertrautheit‘. Das waren früher die berühmt berüchtigten Stammtische, das sind die ganzen Freundeskreise, die Vereine, ‚Netzwerke‘, Burschenschaften, und neuerdings — vom Alltag in die Netze projiziert — die Gruppierungen in den sozialen Netzwerken. Echokammern sind kein Produkt der Technologie; Echokammern spiegeln die Tendenz der Menschen wieder, ihre eigenen endlichen Weltbilder im sozialen Kontext zu bestätigen, zu stärken, um so das Gefühl der Vertrautheit, der Sicherheit, der Planbarkeit und ähnliches mehr, zu verstärken. Jenseits des ‚Vertrauten‘ und ‚Bekannten‘ lauert das Dunkel, die Unwissenheit, das Unwägbare, möglicherweise etwas, was die Vertrautheit bedroht…

Weil wir im Alltag von Grund auf in unseren aktuellen Weltbildern gefangen sind und offensichtlich viele Tendenzen in uns wirksam sind, die aktuellen Bildern zu wahren, zu schützen, zu konservieren, ist die Entstehung von sogenannten ‚populistischen Strömungen‘ nichts Ungewöhnliches. Wenn eine hinreichend große Gruppe die gleichen Grundüberzeugungen teilt — was offensichtlich weltweit leicht der Fall sein kann –, dann genügen wenige Organisatoren, um eine entsprechend ‚Bewegung‘ sichtbar zu machen, die dann wieder selbstverstärkend alle Mitglieder weiter bestätigt.

WARUM IST DAS SO?

Man kann sich fragen, warum ist das so? Ist es ein unentrinnbares Schicksal, dass wir Menschen trotz all unserer wunderbaren Fähigkeiten offensichtlich einen ‚inneren Drang‘ dahingehend verspüren, dass wir unsere aktuellen Weltbilder — welche es auch gerade sind — so intensiv, so vehement, gegen mögliches ‚Neues‘, ‚Anderes‘ … verteidigen?

Die Selbstabschottungs-Tendenzen individueller Weltbilder ist ganz offensichtlich sehr stark, was auf Mechanismen im Unbewussten hinweist, die wiederum im Gehirn und letztlich in den Genen verankert sind.

Die empirischen Wissenschaften haben uns in den letzten 100 Jahren eine Menge neuer Einsichten darüber vermittelt, wie unsere Körper und unsere Gehirne entstanden sind, wie individuell ein Körper und ein Gehirn sich aus einer Eizelle entwickeln können, wie das Gehirn und viele Systeme im Körper sensibel für die Umgebung lernen und sich anpassen können; wie in unserem Gehirn ‚Wissen‘ entsteht, ‚Erfahrung‘, ‚Fähigkeiten‘ sich ansammeln können; wie unsere Bedürfnisse und Emotionen uns beeinflussen können; dass unser ‚Bewusstsein‘ nur ein verschwindend kleiner Teil (weniger als 1%) von dem ist, was sich in jedem Moment in unserem Körper unbewusst abspielt; und vieles mehr.

Vor diesem Hintergrund können wir wissen, dass das ‚Wissen‘, was sich in unserem Gehirn anreichert (weitgehend unbewusst), einerseits zwar hilft, die jeweilige Umgebung ‚wieder zu erkennen‘ als ’schon mal gesehen‘, und uns damit erspart, alles nochmals von vorne vorne Lernen zu müssen, dass aber genau dieser Mechanismus des automatischen Lernens und Interpretierens es dann auf Dauer auch ist, der uns davor abhält, weiter zu lernen. Obgleich das Gehirn von sich aus auf ein andauerndes Lernen ausgelegt ist, erreicht jeder Mensch irgendwann einen Zustand, in dem das ’schon Gelernte‘ ausreicht, um mit dem ’normalen Alltag‘ klar zu kommen, ohne wirklich weiter zu lernen. Während man bei Kindern — im Normalfall — eine natürliche Neugierde feststellen kann, die sich permanent zu Erkundungen und Experimenten mit sich selbst und der Umgebung antreibt (viele Eltern finden das ’nervig‘ und versuchen ihre Kindern ’still zu stellen‘; dies ist für sie bequemer), kann man schon bei Jugendlichen ab 14 – 16 deutliche Tendenzen beobachten, dass echte Neugierde und echtes Experimentieren (= Lernen) dramatisch zurückgeht bis dahin, das junge Erwachsene ab 18 – 22 neben Kindern schon wie Greise wirken, die sich nur noch in eng definierten Mustern bewegen. Für die umgebende Gesellschaft ist dies eher angenehm. Je schneller sich junge Menschen an das ‚Übliche‘ anpassen, um so weniger hat man mit ungeliebten Überraschungen zu rechnen. Belohnt wird, wer sich anpasst und damit bekundet, dass er das Experiment ‚das Leben zu Lernen‘ aufgegeben hat. Hallo, seht her, von mir geht keine Gefahr aus; ich bin so wie ihr. Alles ist gut. Nur keine Überraschungen, nur nichts Neues, nur keine Experimente.

Von daher sollte es uns nicht wundern, dass sich gerade in Demokratien ‚Vereinfachungen‘ über die Politik ‚verstärken‘ können, da die Politiker irgendwann und irgendwie ja wieder gewählt werden wollen. Je mehr sich ein einfaches Weltbild in der Gesellschaft ausbreitet, umso eher wird die Politik genau dieses aufgreifen, verstärken, und damit die Perspektiven für Innovationen, Forschung, notwendige Bildungsprozesse abschwächen. Eine Begleiterscheinung sind zunehmende Kontrolle und Planung, um das Unvorhergesehene möglichst zu minimieren. Hochschulen, die eigentlich Orte der innovativen Forschung sein sollten, degenerieren mittlerweile immer mehr zu durch-kontrollierten, durch-geplanten Institutionen, in denen Anpassung mehr zählt als eigenständige, kreative mutige Forschung. Dies wird zusätzlich abgesichert durch systematischen Geldentzug auf der einen Seite, und Vergabe von Geld nach Gefälligkeit und politisch genehmen Themen…

WAS KÖNNEN WIR TUN?

Die Eindrücke des Alltags können übermächtig wirken. Die Verzweiflung der Menschen an der Politik ist nicht gespielt; desgleichen die Ohnmacht in den etablierten Religionen, in staatlichen Institutionen, in großen Konzernen … die meisten Kommunalpolitiker kennen die ewigen Pattsituationen bei Abstimmungen, nur weil man unterschiedlichen politischen Gruppierungen angehört … Argumente scheinen wirkungslos zu sein …

Dann gibt es immer wieder ‚Hoffnungsträger‘, ‚Lichtgestalten‘, die aufpoppen, die den Eindruck erwecken, plötzlich über jenen berühmten Zaubertrunk zu verfügen, der alle diese alltäglichen Hindernisse scheinbar mühelos aufhebt, beseitigt, überwindet, und eine Massenhysterie durchweht das Land, das globale Netz … aber tatsächlich kann kein einzelner Mensch alle die alltäglichen Hindernisse, die in den Köpfen der Menschen wurzeln, einfach so auslöschen … allerdings für eine kurze Zeit ‚vergessen machen‘; man schaltet alle seine bisherigen Ängste gerade mal ab und ist bereit, alles zu glauben, weil es ja so schön ist ….

Wenn wir die Absicht haben sollten, dieser ‚Falle des Populismus in uns selbst‘ zu entkommen, dann müssen wir uns neu darüber Klarheit verschaffen, wie denn die ‚Freiheit‘, die wir real haben — und die alle unsere Gesetze, vor allem das Grundgesetz, unterstellen — ‚im Innern‘ funktioniert.

WIE FREIHEIT FUNKTIONIERT

In einem interessanten Gespräch im November 2018 kam zum Vorschein, dass die Realität der Freiheit zwar grundsätzlich immer eine Wahlmöglichkeit bietet, dass aber das, was und zwischen dem wir wählen können, etwas Reales sein muss, über das wir verfügen können. Wenn jemand nicht wirklich etwas ‚weiß‘ und nicht wirklich über gewissen ‚Fähigkeiten‘ ‚verfügt‘, dann kann er auch nicht zwischen verschiedenen Optionen wählen, trotz seiner Freiheit. Und, ähnlich, wenn jemand in seinem Alltag nicht über reale Wahlmöglichkeiten verfügt (Wohnung, Nahrung, Arbeit, Verkehr, Partner, Freunde, …), dann kann er auch hier nicht oder nur sehr eingeschränkt wählen. Von der Freiheit zu reden, sie zu beschwören, ist eine Sache. Sie in eine entsprechende Praxis zu überführen setzt eine ‚hinreichende verfügbare Materialität im Alltag und im Kopf‘ voraus.

Dazu kommt, dass wir, selbst wenn wir neben der Freiheit sogar über reale Wahlmöglichkeiten verfügen würden, bekanntermaßen von einer Vielzahl von Bedürfnissen, Emotionen, Gefühlen und Stimmungslagen beeinflusst werden können (im Normalfall, zusätzlich kann es allerlei Krankheiten geben). Selbst wenn man also ‚frei entscheiden‘ könnte und man sogar ‚materielle Möglichkeiten‘ hätte (einschließlich Wissen, Fähigkeiten,…), dann könnte die Vielzahl der emotionalen Faktoren uns blockieren oder uns in eine Richtung lenken, die letztlich ’nicht gut‘ ist.

Die Aufzählung dieser ‚Risikofaktoren‘ für das Misslingen von Freiheit und einer anhaltenden Gefangenschaft im Modus des ‚individuellen Populismus‘ liefert indirekt allerdings auch entscheidende Hinweise, auf welche Faktoren man achten müsste, wollte man einem individuellen Populismus entkommen. Dabei würde ein ‚Entkommen‘ nicht bedeuten, dass man einen Zustand erreichen würde, in dem man auf einen Schlag ein für allemal von einem individuellen Populismus ‚befreit‘ wäre; nein. Wenn man sehr gut wäre, dann würde man lernen, wie man mit seinem aktuellen Wissen (und Erfahrungen und …) im Alltag so umgehen muss, dass die aktuellen Begrenzungen zwar unausweichlich da sind, dass man sich aber Verhaltensweisen angeeignet hat, die einem (und den anderen) helfen, sich der aktuellen Grenzen bewusst zu bleiben und das aktuelle Wissen immer wieder zu überprüfen‘ bzw. es kontinuierlich ‚weiter zu entwickeln‘. Daraus folgt, dass eine wirklich nachhaltige Überwindung des individuellen (und dann auch gemeinschaftlichen) Populismus nur gelingen kann, wenn man in einem gesellschaftlichen Netzwerk lebt, in dem die Mehrheit sich der Problematik bewusst ist und man mehrheitlich eine ‚Kultur des ständigen wechselseitigen Lernens‘ ausgebildet hat, in der ‚Neues‘ kein Schimpfwort ist sondern als ein notwendiger Bestandteil von Wahrheit und Zukunftssicherung angesehen wird. Vertrauen in Menschen ist wichtiger als Kontrolle; Beförderung von Kreativität und Fantasie ist notwendiger Bestandteil einer freien Gesellschaft.

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WENN PHILOSOPHISCHE SACHVERHALTE POLITISCH RELEVANT WERDEN

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 3.Januar 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: cagent
Email: cagent@cognitiveagent.org

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INHALT

I Referenzpunkt Wahrheit … 2
II Halbherzige Philosophie … 2
III Das Präsidentenspiel … 2
IV Spitze des Eisbergs … 2
V Die Kultur als Verusacher … 3
VI Wir sind alle infiziert … 3
VII Staatliche De-Formierung von Wissen? … 4
VIII Ein Schluss, der keiner ist … 4
Quellen

THEMA

Die Freilegung von Wahrheit durch philosophisches Denken bleibt wirkungslos, wenn das Alltagsdenken – und die Politik gehört dazu – sich der Wahrheit verweigert.

I. REFERENZPUNKT WAHRHEIT

In einem vorausgehenden Blogeintrag (Siehe DH) war philosophisch aufgezeigt worden, worin die grundsätzliche Wahrheitsfähigkeit des Menschen besteht.

Der Mensch, der Lebensform homo sapiens zugehörig, besitzt nach ca. 13.8 Milliarden Jahren Entwicklungszeit als erste Lebensform des beobachtbaren Universums die welt-verändernde Fähigkeit, durch die Beschaffenheit seiner inneren Struktur den Augenblick zu überwinden, kann Veränderungen erfassen, Muster, Regel,   kann Alternativen denken, kann sich mittels symbolischer Kommunikation mit dem Inneren anderer Lebewesen kurzschließen, und so zu neuartigen internen Bildern von der Welt da draußen kommen.

Zu internen Bildern von der Welt zu kommen, die angemessen sind, die wahr sind, ist zwar nicht einfach, verlangt einen großen gemeinschaftlichen Aufwand, ist aber grundsätzlich bei aller bleibenden Vorläufigkeit möglich. Zugleich wurde auch klar, wie leicht das Erarbeiten von angemessenen Weltbildern von einer Vielzahl von
Faktoren im individuellen wie auch im gemeinschaftlichen Einflussbereich gestört werden kann, so massiv, dass die Bilder unangemessen/ falsch werden können.

II. HALBHERZIGE PHILOSOPHIE

Obwohl Philosophen in vielen Jahrtausenden und Kulturen sich daran versucht haben, das Phänomen der Wahrheit zu fassen, gibt es bis heute kein philosophisches Konzept der Wahrheit, das in allen philosophischen Schulen, in allen Kulturen einheitlich verstanden und akzeptiert ist. Man hat eher den Eindruck, dass gerade die neuere Philosophie – sagen wir seit Ludwig Wittgenstein, um mal einen Referenzpunkt zu nennen – das Konzept von Wahrheit eher wieder aufgegeben hat. Die großartige kritische Arbeit, die ein Wittgenstein geleistet hat, führte damit nicht zu einer Erneuerung des Wahrheitskonzepts, sondern vielmehr zu seiner (vorläufigen) Zerstörung. Man darf sich dann auch nicht wundern, dass in einer solchen philosophisch ungeklärten Lage alle anderen sich ihren eigenen Reim auf Wahrheit machen, bis dahin, dass offensichtlich Falsches oder Unsinniges plötzlich benutzt
werden kann, als ob es ’wahr’ wäre.

Beispiele für das Versagen der menschlichen Kultur bei der Herausforderung, eine wahre Kultur zu sein, sind so vielfältig und überwältigend, dass man den Glauben an die grundsätzliche Wahrheitsfähigkeit fast verlieren könnte …. wüsste man nicht, dass es grundsätzlich möglich ist, und zwar für jeden, überall, zu jeder Zeit…

Hier einige Beispiel für das Versagen an Wahrheit.

 

III. DAS PRÄSIDENTENSPIEL

Der aktuelle Präsident eines der führenden westlichen Ländern der Welt demonstriert täglich, stündlich, fast minütlich, wie sein individuelles internes Weltmodell von der realen Welt gravierend abweicht. Die Kritik, den Spott und Hohn von anderen interpretiert er offenbar nicht als Anfrage an seine Wahrheitsfähigkeit, sondern als
Angriff auf ihn selbst, auf seine Person. Er scheint nicht differenzieren zu können zwischen seinem Denken, das er allen erzählt, und seiner Person, die dieses Denken praktiziert. Wäre er sich bewusst, dass sein Denken falsch sein kann (ein Problem, das in dieser komplexen Welt jeder hat), könnte er das Wahrheitsspiel spielen und die
Kritik konstruktiv aufgreifen, um die Wahrheitsbedingungen seines eigenen Weltmodells zu überprüfen und sein Weltmodell eventuell optimieren. Über die grundlegende Fähigkeit einer wahrheits-geleiteten Selbstkritik scheint er aber nicht zu verfügen. Wäre er ein Ingenieur, der technische Lösung für die Gesellschaft ersinnt und baut,
wäre dieser Mangel das sofortige Aus; ein Ingenieur ohne diese grundlegende Fähigkeit zur Selbstkritik seiner Denkmodelle würde sofort von allen seinen Kollegen als unfähig ausgesondert. Nicht so offensichtlich in der Politik. Jemand, der täglich den Eindruck erweckt, grundsätzlich Wahrheitsunfähig zu sein, darf nicht nur über das Schicksal einer großen Nation entscheiden, er darf auch in das Wechselspiel aller Nationen dieser Welt eingreifen… bis hin zur Einleitung von kriegerischen Handlungen, die das Leben und die Welt vieler, ganzer Völker, betreffen können.

IV. SPITZE DES EISBERGS

Der tägliche Spott und Hohn, der sich über diese so traurig erscheinende Gestalt der Politik ergießt, ist aber selbst traurig und sogar gefährlich.
Dieser, einer grundlegenden Selbstkritik unfähig erscheinende, Präsident ist ja kein isoliertes Phänomen. Es muss sehr viele Millionen Wähler gegeben haben – und wie es scheint, gibt es sie immer noch –, die sein verzerrtes Bild von der Welt teilen und beklatschen. Viele Millionen Bürger eines großen Landes tragen also in sich ein Weltbild mit sich herum, das überaus schlicht, und darin sehr falsch erscheint. Die philosophisch interessante Frage ist dann die, wie es möglich ist, dass ein Land, das als Teil der westlichen Kultur angesehen wird, das wirtschaftlich und technisch als hoch entwickelt gilt, unter seinen Bürgern das Entstehen von individuellen Weltbildern begünstigt und ermöglicht hat, die der Differenziertheit der heutigen dynamischen international vernetzten Wissens- und Finanzgesellschaft in keiner Weise gerecht wird.

Das Bizarre daran ist, dass man dies nicht einmal als Versagen der demokratischen Strukturen anprangern kann, denn diese funktionieren ganz offensichtlich. Nein, nicht die demokratischen Strukturen versagen, sondern die Akteure, die diese demokratische Strukturen leben, diese haben Weltbildern in ihren Köpfen, die hochgradig falsch erscheinen gemessen an dem Wissen, das wir heute über unsere Welt und unsere Prozesse haben können. Und von den vielen potentiellen Wählern, die durch ihre Wahlentscheidung mit entscheiden, welche Akteure zu den zeitlich begrenzten politischen Verantwortlichen werden können, scheint eine hinreichend große Menge an diesen falschen Weltbildern zu partizipieren.

Woher kommen also diese als unangemessen/ falsch erscheinen Weltbildern in den Köpfen der Menschen?

Wenn man irgendwo in einer Provinz weitab den globalen Weltläufen lebt, weitab von technologischen Entwicklungen, weitab von Forschungen, weitab von internationalen Konflikten, begrenzt auf überschaubare (oft religiös verbrämte) Lebensverhältnisse, dann kann man mit vergleichsweise einfachen Weltbildern weit kommen. Kleine Abweichungen im Alltag kann man durch gezielte Ausgrenzungen ’regeln’…
Wenn nun aber diejenigen, die in solchen Gegenden mit einfachen Weltbildern mit wählen können, und damit Einfluss nehmen können auf Politiker, die sich einem globalen Wirtschaftsgeschehen stellen müssen, einer globalen Forschung, einer globalen militärischen Situation, einem globalen Wettbewerb von Ideologien (auch Religionen), einer globalen Klimasituation, einem globalen Ökosystem … dann geraten diese einfachen Weltbilder der Provinz in einen Kontext, für den diese einfachen Weltbilder der Provinz nicht geschaffen sind. Dann kann es passieren, was
passiert ist, dass sich Politiker berufen fühlen, diese vereinfachten Weltbilder zu bedienen, die der differenzierten Weltlage eigentlich nicht gerecht werden. Dann kann die Unwahrheit in den vielen Köpfen zur herrschenden Unwahrheit werden. Damit kann sich ein ganzes Land selbst sprichwörtlich ’an die Wand’ fahren. Niemand kann
sich darüber freuen. Das ist nicht nur traurig, das ist furchtbar für alle direkt und dann auch indirekt Beteiligten.

V. DIE KULTUR ALS VERUSACHER

Wenn so etwas passiert, dass vereinfachte – und darin falsche – Weltbilder politisch die Oberhand bekommen, ist es ein beliebtes Spiel nach Sündenböcken zu suchen, irgendwelche Personen, Gruppierungen, Institutionen, die man namhaft machen möchte für das Zustandekommen eines solchen Zustands. Wenn aber eine ganze Nation über Jahrzehnte flächendeckend ein Bildungssystem und eine Medienlandschaft pflegt, die ganz offensichtlich das Entstehen von solchen flächendeckend vereinfachten Weltbildern ermöglicht, dann ist die Suche nach einem moralischen Sündenbock irreführend. Man muss dann die Frage stellen, ob nicht die gesamte Kultur einer solchen Nation dafür Mit-Verantwortung trägt, was in den Köpfen der Mehrheit ihrer Bürger an Weltanschauungen entsteht? Wenn extreme fundamentalistische, rassistische, moralische Strömungen, ein politisches 2-Kasten-Denken, ein
kaum selbstkritischer Nationalismus, und vieles mehr, über Jahrzehnte sich ungehindert ausleben konnten, wo sollen dann andere, mehr wahrheitsfähige Weltanschauungen herkommen? Welche einzelne Person will man dann zum Hauptbösewicht erklären?

Im historischen Rückblick gibt es zahllose Beispiele wie große Nationen, ganze Kulturen zu Schrott wurden, weil die übergreifenden Muster immer weniger passten, aber innerhalb der Kultur keine nennenswerten Gruppierungen vorhanden waren, das gesamte Muster zu reformieren. Wenn es nur um Machtstrukturen geht, die man zerstören kann, um der Wahrheit einen besseren Raum zu geben, mag vielleicht eine Revolution helfen, wenn es aber um ein kulturelles Muster geht, das in den Köpfen der Menschen verankert ist, dann reicht eine einfache Revolution nicht aus.

 

VI. WIR SIND ALLE INFIZIERT

Der Blick auf den Präsidenten eines großen westlichen Landes und der Hohn, der sich bei vielen findet, steht auf tönernen Füßen.

Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, ist sicher nicht verdächtig, ein Feind der deutschen Demokratie zu sein. Wenn man seinen umfassenden und zugleich differenzierten Bericht zu den Schwachstellen der Demokratie in Deutschland und Europa liest (Siehe: KIR17), dann kann man unschwer erkennen, wie hier alle Zutaten dazu gegeben sind, dass sich Machteliten von der wählenden Bevölkerung abkoppeln können, selbst wenn diese differenzierte Weltbilder hätten und lebten.

Ein beliebtes Ping-Pong-Spiel der Wählerverachtung geht so: bei aufkommender Kritik an einem allgemeinen Missstand lässt die zuständige Behörde verlauten, dass sie dies nicht ohne die EU angehen könne und daher eine entsprechende Eingabe an die einschlägige EU-Behörde gemacht habe. Die demokratisch nicht kontrollierten
EU-Behörden wiederum – deren intensive Verflechtung mit Lobbyisten mehrfach belegt wurden – tut darauf nichts oder erarbeitet eine Lösung, die zwar der nationalen Behörde genehm ist, nicht aber unbedingt den Wählern. Die nationale Behörde kann den schwarzen Peter dann immer der EU Behörde zuschieben. Auf diese Weise hat sich in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft eine Klientelpolitik breit gemacht, die dem Bürger ein nachhaltiges Ohnmachtsgefühl vermittelt. Das Aufkommen von populistischen Strömungen dient dann als willkommene Ablenkung
von dem eigenen Demokratieversagen. (Anmerkung: Ein Kriterium für die Demokratieverachtung von Behörden ist u.a. ihr Verhalten gegenüber einer kritischen Presse. In zahllosen Fällen wurden im Jahr 2017 Anfragen von Reportern zu Recherchen schon im Vorfeld einfach abgeblockt. Behörden, die für die Sicherheit der Bürger zuständig sind, verweigern schlicht und einfach ihre Dienste. Ist es nicht  naheliegend, dies als eine moderne Form von ’Machtergreifung’ zu interpretieren?)

 

VII. STAATLICHE DE-FORMIERUNG VON WISSEN?

Moderne, wahrheitsfähige Wissensformen entstehen zu einem großen Teil – idealerweise – in Schulen und Hochschulen. Wissen, das hier nicht vermittelt wird, wirkt sich mit seinem Fehlen oder mit seinen falschen Formaten unmittelbar auf die gesamte Gesellschaft aus.

Dies ist ein komplexes Thema. Einige wenige Eckwerte können aber erahnen lassen, was sich in diesem Bereich aktuell abspielt.

Der gesamte Bildungsbereich ist chronisch unterfinanziert. Auf Länderebene wird das normale Schulsystem von Personen verantwortet, die überwiegend nichts von moderner Wirtschaft, von moderner Wissenschaft – speziell nicht von moderner Technologie – verstehen.

Die Hochschulen werden auf der einen Seite für ihren Normalbetrieb unterfinanziert, um sie auf der anderen Seite erpressbar zu machen, indem das fehlende Geld nur über Förderprogramme zugänglich ist, die von der Politik kontrolliert werden. Entgegen der geltenden Verfassung ist es mittlerweile übliche Praxis, dass junge Professoren
bei ihrer Einstellung darauf verpflichtet werden, auf jeden Fall einen bestimmte Geldbetrag für die Hochschule einzuwerben, obwohl dies den Zielen einer qualifizierten Lehre und einer innovativen Forschung entgegen gesetzt ist. Während die Hochschulen traditionell auch ein wichtiges kritische Korrektiv zur Gesellschaft bilden sollten, das
durch empirische Forschung die konkreten Prozesse in der Gesellschaft (Soziologie, Geschichte, Wirtschaft, Politik..) untersucht, wie sie tatsächlich sind (und nicht, wie sie die parteipolitische verformte Politik gerne sieht), werden diese kritischen Lehr- und Forschungsbereiche beständig weiter abgebaut. Damit macht sich eine Gesellschaft
selbst blind mit wahrscheinlich negativen Folgen, die dann – wie so oft – alle ertragen müssen.

VIII. EIN SCHLUSS, DER KEINER IST

Natürlich könnte man diese Betrachtungen beliebig vertiefen und international weiter ausdehnen. Letztlich wären es nur viele weitere Beispiele für das eine Thema: Die Schwierigkeit, die der homo sapiens im Umgang mit der Wahrheit hat. Obwohl der homo sapiens die erste Lebensform im beobachtbaren Universum ist, die überhaupt
wahrheitsfähig ist, ringt dieser homo sapiens bis heute damit, wie er seine Wahrheitsfähigkeit im komplexen Geflecht einer immer dichteren Weltgesellschaft mit so vielen unterschiedlichen Kulturen und der immer größeren
Beschleunigung in der Technologieentwicklung erhalten, bewahren und weiter entwickeln kann. Die Besonderheit dieser Situation liegt darin, dass sich dieses Problem nicht im Alleingang lösen lässt. Wahrheit ist ein kognitives Gebilde in einem Individuum, das mit der umgebenden Welt und den kognitiven Gebilden der
anderen Individuen koordiniert werden muss. Gelingt solche Koordination im großen Maßstab, dann löst dies große Bewunderungen aus (altes Ägypten, die
Römer, indische und chinesische (und japanische) Kultur, westliche Wissenschaft, Technologie und Finanzsysteme…); stürzt sie in sich zusammen, weil sie an ihrer eigenen Komplexität zerbricht, macht dies ein ungutes Gefühl: man spürt, dass solch eine Koordinierung immer auf tönernen Füßen steht. Kein Mensch kann letztlich gezwungen werden, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten oder zu denken. So grundlegend, wie die Wahrheitsfähigkeit, ist auch die Freiheit. Freiheit geht allem Denken und Wollen voraus.

Warum sollte ein Mensch etwas wollen?

Wenn wir in der Zukunft besser leben wollen als heute, mit mehr Wahrheit und Gerechtigkeit, dann wird dies nur geschehen, wenn es heute Exemplare des homo sapiens gibt, die ihre Wahrheitsfähigkeit und Freiheit auf eine neue, bessere Weise nutzen, als wir es bisher tun. Da der homo sapiens sich nicht selbst erfunden hat, sondern Ergebnis eines übergreifenden Prozesses ist, der offensichtlich größer ist als das einzelne Ergebnis, gibt es eine Anfangshoffnung, dass der homo sapiens prinzipiell eine Chance hat. Die Hoffnung stirbt zuletzt… 🙂

QUELLEN
[DH] Gerd (cagent) Doeben-Henisch. Wahrheit als unabdingbarer Rohstoff einer Kultur der Zukunft. Auf der Suche nach dem neuen Menschenbild, volume https://www.cognitiveagent.org/2017/11/20/wahrheit-als-unabdingbarer-rohstoff-einer-kultur-der-zukunft/. 20. November 2017.
[Kir17] Ferdinand Kirchhof. Demo-crazy? Es gibt neue Risiken für die Demokratie. Die EU ist vom Volk noch weit entfernt. Volksabstimmungen könnten das ändern. In Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), volume 296, page S.7. FAZ, 2017. 21. Dezember 2017.

 

KONTEXT BLOG

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MEMO PHILOSOPHIE-WERKSTATT 14.Juni 2015 in der DENKBAR FRANKFURT

KONTEXT

Die Philosophiewerkstatt am 14.Juni 2015 – begleitet von einem wunderbaren Sommerwetter und eingebettet in kulinarische Produktionen von Reinhard Graef – folgte dem Programmentwurf der Einladung vom 8.Juni 2015.

Thematischer Ausgangspunkt für den 14.Juni war die Philosophiewerkstatt vom 10.Mai 2015 gewesen. In dieser hatte es unter dem Titel „ENTSCHEIDEN IN EINER MULTIKAUSALEN WELT?“ ein gemeinsames Gespräch gegeben, das sehr viele Zusammenhänge zutage gefördert hatte. Die Rolle der Politik blieb aber relativ unbestimmt; verkürzt: eine Art Lobbyistenverein, der sich nur noch bei den Wahlen um Wähler kümmert.

KURZEINFÜHRUNG

Dies animierte Reinhard Graef – ein ausgebildeter Ökonom (mit starkem Soziologieanteil) – zu einem Input für das Treffen am 14.Juni 2015: Ausgehend von dem Buch ‚Postdemokratie‘ (DE: 2008, EN: 2004) des Politikwissenschaftlers Colin Crouch fasste er die wichtigsten Thesen von Crouch zusammen und ermöglichte uns allen einen neuen Einstieg in das Thema (siehe Bild).

Memo Philosophiewerkstatt vom 14.Juni 2015 - Colin Crouch referiert von Graef - Gruppengespräch
Memo Philosophiewerkstatt vom 14.Juni 2015 – Colin Crouch referiert von Graef – Gruppengespräch

Crouch – in der Sicht von Reinhard Graef – spannt in seinen Thesen die drei Pole auf: (i) die Bevölkerung (als apathische Masse), (ii) die Wirtschaft (heute globalisiert und anonymisiert), und (iii) die Politik (von wirtschaftlichen Interessen dominiert, Demokratie nur noch als vom Marketing gesteuerte Wahlen). Dieses Bild wurde anhand von weiteren Thesen differenziert, gelegentlich auch ergänzt um Parallelen zwischen England und der Deutschen Politik.

Zwar als Monster hingestellt beeindruckten Personen wie Hitler, Mussolini und Stalin die westlichen Politiker (und Firmenchefs) doch darin, wie man ‚die Massen‘ für etwas begeistern kann. Die Steuerung der Medien und die Verflachung der Inhalte sind mittlerweile ‚Standard‘ auch in westlichen Demokratien. Der westlich-demokratische Politikbetrieb (speziell in den USA) tendiert immer mehr zu einer Propagandaschlacht, in der Marketingspezialisten den obersten Ton angeben. Differenzierte politische Diskurse sind ‚unpassend‘.

Dieser marketingorientierte Politikbetrieb beherrscht mittlerweile auch immer mehr den Alltag. Pressekonferenzen leben vom Verschweigen, Abwiegeln, Verweigern, Dementis, Floskeln. Hier manifestiert sich eine Verachtung des Wählerwillens und zugleich ein Verbergen von politischer Unfähigkeit hinter Floskeln.

Durch die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft entziehen sich die großen Firmen einerseits dem Einfluss nationaler Politik, zugleich versuchen sie aber die nationalen Infrastrukturen (Verkehr, Recht, Arbeitskräfte, …) für ihre Marktaktivitäten zu nutzen bei minimalen Steuern. In den letzten Jahren versucht die Politik durch eine vermehrte internationale Kooperation den globalen Ausbeutungen nationaler Ressourcen entgegen zu steuern, aber durch die starken Bindungen einzelner Politiker an große Konzerne fehlt diesen Maßnahmen bislang der richtige ‚Biss‘.

Colin Crouch sieht die Bevölkerung als apathische Masse, die das alles mit sich geschehen lässt. Andererseits deutet sich an, dass mit einem wachsenden Bildungs- und Aufklärungsniveau die Wahrnehmung geschärft werden kann und dass sich partielle Widerstände ausbilden, die sich dann doch über die Wahlen direkt auf die Politik auswirken können.

GESPRÄCH

Im Gespräch wurden alle diese Punkte aufgegriffen und vertieft. Das Gespräch nahm dann aber seine ganz eigene Richtung.

BEVÖLKERUNG

Das Gespräch hakte bei der Bevölkerung ein. Was ist mit dieser apathischen Masse? Haben wir apathische Jugendliche mit einer Sinnkrise? Sind die sozialen Stellungen tatsächlich mittlerweile eher fest, weniger durchlässig? Wachsende Ungleichheit, speziell beim Vermögen ist aktenkundig. Was macht dies mit der Gesellschaft? Haben wir eine ‚Kultur der Abrichtung‘, die im Kindergarten beginnt, sich in der Schule fortpflanzt und bei den Studenten nur noch willenlos-apathische Mehrheiten hinterlässt?

Ein Vertreter der jüngeren Generation (Student) widersprach diesem Bild. Die Jugendlichen sind nicht grundsätzlich apathisch, aber ihnen fehlen kritische Leitbilder, an denen sie ihr Verhalten ausrichten können. Er kritisierte seine Eltern, dass sie ihn eigentlich nicht zu einer Haltung des kritischen Hinterfragens erzogen haben.

Dies führte zu der Arbeitshypothese, dass die Menschen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) heute nicht schlechter sind als zu früheren Zeiten, dass aber die allgemeine Bildung und Ausbildung zu wenig Anreize liefert, sich kritisch und kreativ mit der Gesellschaft, der Politik und der Wirtschaft aktiv auseinander zu setzen.

FAKTOREN

Dies kann viele Gründe haben. Einmal natürlich die Arbeitswelt selbst, die durch ihre Anforderungen wenig Zeit und wenig Kraft übrig lässt, sich daneben noch aktiv mit Fragen des Lebens zu beschäftigen. Zum anderen die Medienwelt, die kritische Informationen, gedankliche anfordernde Inhalte eher meiden (Einschaltquoten).[Anmerkung: bei dem zweitgrößten Radiosender Europas darf keine Sekunde gesendet werden, die nach dem empirisch ermittelten Bild der Hörer des Senders den Eindruck erwecken könnten, das Wohlbefinden des Hörers zu stören. Es werden Millionen Euros nur dafür ausgegeben, zu wissen, wie der Hörer fühlt, denkt, und handelt]. Die Frage der ‚Wahrheit‘ der Quellen stellt sich: Wem kann man noch vertrauen? Ferner die gesamte Kultur samt ihren Bildungseinrichtungen, die eher zur ‚Anpassung‘ erzieht, zum ‚Wohlverhalten‘, zum ‚Nichtfragen‘ (‚Kultur der Abrichtung‘) als zum kritischen Hinterfragen, zum Widerstand, zur jugendlichen Revolte, um sich im Gegensatz neu finden zu können. Schließlich die Politik, die sich über Wählermüdigkeit beklagt, aber selbst ein massive Politikverweigerung täglich demonstriert: Wähler nicht ernst nehmen, statt fachlich-kundige Expertise Schlagworte, Floskeln, Pressekonferenzen als Aussageverweigerung, extremer Lobbyismus ohne offizielle Transparenz, usw.

ALTERNATIVE DURCH AUFKLÄRUNG

Vor diesem Hintergrund stellte sich die Frage nach einer Alternative zu einer ‚Kultur der Abrichtung‘.

Das Wort ‚Aufklärung‘ kam ins Spiel, eine Kultur der Aufklärung. Hier stellten sich viele Fragen: Woher soll die Zeit kommen, die man braucht, sich kritisch verhalten zu können? Das Effizienz- und Leistungsdenken steht dem bislang diametral entgegen. Und wenn aufklärendes Wissen und Handeln zu einer Veränderung führen könnte, wie viel Zeit muss man realistisch veranschlagen, bis Veränderungen greifen? Wichtige Prozesse brauchen Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte. Wer hat soviel Geduld?

Zu Aufklärung gehören auch Fragen wie die nach dem ‚richtigen Wissen‘, nach den ‚angemessenen Werten‘. Woher soll das kommen? Wer kann es wissen? Muss man sich dazu nicht mit anderen zusammen tun? Woher weiß eine Gruppe, ob sie nicht als Gruppe irrt? In der Geschichte gibt es genügend Beispiele, dass Gruppen sich in eine Idee verrannt hatten und dann scheiterten? Andererseits, wenn etwas wirklich ’neu‘ und ‚innovativ‘ ist, dann ist es fremd, unbekannt, erzeugt Irritation und Ängste, fördert Ablehnung. Kritisch-innovativ sein heißt dann nicht, dass man unbedingt ‚gesellschaftlich erfolgreich‘ ist. Kann oder muss man diese Ablehnung trainieren? Muss man das ‚Anderssein‘ üben? Einige berichteten, dass sie tatsächlich so etwas wie einen gesellschaftlichen Erwartungsdruck spüren, dass man bestimmte Dinge so und so tut. Sich anders ernähren, sich anders bewegen, sich anders kleiden usw. geht nicht ohne eine gewisse Anstrengung und Überwindung. Zusätzlich stellt man fest, dass man zwar A als eigentlich besser erkannt hat, dass man persönlich aber noch an Nicht-A hängt (Bedürfnisse, Gewohnheiten, Leidenschaften, Ängste, …). Dies verhindert eine Änderung.

In diesem Zusammenhang kam auch der Hinweis auf das hohe Potential an Selbsttäuschung, das jeder in sich trägt. Das ‚bewusste Wissen‘ ist ja nur ein winziger Ausschnitt aus dem riesigen Raum des ‚Nicht-Bewussten‘, der angefüllt ist mit einem komplexen Netzwerk an Bedürfnissen, Emotionen, Gefühlen, Ängsten und komplexen Denkprozessen. Wenn man nicht lernt, diese nicht-bewussten Anteile ein wenig einzuschätzen, dann meint man zwar, A zu tun wegen B, aber im nicht-bewussten Teil von einem selbst tut man A wegen C. Und dann wundert man sich, warum die Dinge dann anders laufen, als man wollte oder warum man auf Dauer krank wird.

Schließlich ist auch noch zu erwähnen, dass die besten Ideen nichts nützen, wenn man etwas plant und einfach nicht über die notwendigen Voraussetzungen verfügt. Ein Schuss Realismus bei der Übernahme von Aufgaben – speziell bei der Einschätzung der notwendigen Zeit – ist wichtig.

FORTSETZUNG DER PHILOSOPHIEWERKSTATT IN DER DENKBAR?

Wie beim letzten Treffen angekündigt, sollte bei dem letzten Treffen vor der Sommerpause auch darüber gesprochen werden, ob man das Experiment Philosophiewerkstatt in der DENKBAR fortsetzen soll oder nicht. Falls Ja, wie weiter?

Es gab ein überraschend einhelliges sehr klares Votum aller TeilnehmerInnen, dass diese Form des gemeinsamen Sprechens und Einsichten Findens von allen als sehr positiv, hilfreich, anregend usw. erlebt wird. Alle votierten für eine Fortsetzung im Herbst, wieder jeder 2.Sonntag im Monat, 16:00h, Start So 11.Oktober 2015. Ergänzung oder Verzahnung mit anderen Veranstaltungen ist möglich. Allerdings wurde von allen auch betont, dass diese Gesprächsform keine zu großen Teilnehmerzahlen verträgt.

BUCH ZUM BLOG cognitiveagent.org

Gerd Doeben-Henisch wies daruf hin, dass er bis Ende August versucht, auf 100 Seiten die ca. 1500 Seiten seines Blogs ‚lesbar‘ zusammen zu fassen. Eine Veröffentlichung ist für November 2015 geplant. Bis dahin gibt es einen Vorabdruck für jedes Kapitel im Blog selbst.

ENTSCHEIDEN IN EINER MULTIKAUSALEN WELT? MEMO ZUR PHILOSOPHIEWERKSTATT VOM Sonntag, 10.Mai 2015 IN DER DENKBAR (Frankfurt)

Begriffsnetzwerk von der Philosophiewerkstatt am 10.Mai 2015
Begriffsnetzwerk von der Philosophiewerkstatt am 10.Mai 2015

Generelles Anliegen der Philosophiewerkstatt ist es, ein philosophisches Gespräch zu ermöglichen, in dem die Fragen der TeilnehmerInnen versuchsweise zu Begriffsnetzen verknüpft werden, die in Beziehung gesetzt werden zum allgemeinen Denkraum der Philosophie, der Wissenschaften, der Kunst und Religion. Im Hintergrund stehen die Reflexionen aus dem Blog cognitiveagent.org, das Ringen um das neue Menschen- und Weltbild.

Aus der letzten Philosophiewerkstatt vom 12.April 2015 resultierte das – nicht ganz schar formulierte – Thema: Kann sich ein einzelner innerhalb einer multikausalen Welt überhaupt noch sinnvoll entscheiden? Kann man überhaupt noch eine Wirkung erzielen? Ist nicht irgendwie alles egal?

1. Trotz strahlendem Sommerwetter fand sich wieder ein bunter Kreis interessierter und engagierter Gesprächsteilnehmer, um sich in der DENKBAR Frankfurt zum Thema auszutauschen. Wie beim jedem Treffen bisher gab es auch dieses Mal neben schon bekannten Teilnehmern wieder auch neue Teilnehmer, die das Gespräch bereicherten.

2. Wie die Gedankenskizze des Gesprächs andeutet, förderte das gemeinsame Gespräch eine Fülle interessanter Aspekte zutage, die auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind. Auch wenn jeder Punkt für sich ein eigenes Thema abgeben könnte, so zeigt gerade der Überblick über und die Vernetzung von den Begriffen etwas von unserer Entscheidungswirklichkeit auf, die im Alltag oft im Dunkeln verbleibt.

INDIVIDUUM – KONTEXT

3. Das Gespräch fokussierte zunächst eher auf den individuellen Träger von Entscheidungen und lies die diverse Einflüsse des Kontextes eher am Rande.

4. Am Entscheidungsprozess traten verschieden ‚Phasen‘ hervor: (i) irgendein ein Anlass. Warum man sich überhaupt mit etwas beschäftigt. Warum öffnet man sich überhaupt für ein Thema? Wendet man sich einem Thema zu, dann gibt es in der Regel mindestens eine Alternative, was man tun könnte. Dies hängt sowohl von den konkreten Umständen wie auch von der verfügbaren Erfahrung und dem verfügbaren Wissen ab. Nach welchen Kriterien/ Präferenzen/ Werten entscheidet man dann, welche der vielen Möglichkeiten man wählen soll? Ist die Entscheidung ‚frei‘ oder durch irgendwelche Faktoren ‚vorbestimmt‘? Gibt es explizite Wissensanteile, aufgrund deren man meint, ‚rational‘ zu handeln, oder ist es eine ‚Bauchentscheidung‘? Wieweit spielen ’nicht-bewusste‘ Anteile mit hinein? Insofern nicht-bewusste Anteile von sich aus nicht bewusst sind, können wir selbst dies gar nicht wissen. Wir bräuchten zusätzliche Hilfen, um dies möglicherweise sichtbar zu machen. Schließlich wurde bemerkt, dass selbst dann, wenn wir sogar zu einer Entscheidung gekommen sind, was wir tun sollten, es sein kann, dass wir die Ausführung lassen. Wir tun dann doch nichts. Sollten wir etwas tun, dann würde unser Tun ‚eine Wirkung‘ entfalten.

ARCHITEKTUR DES INDIVIDUUMS

5. Alle diese Entscheidungsprozesse verlaufen in einer Person; im anderen, in mir. Wir wissen, dass jeder Mensch eine komplexe Architektur besitzt, sehr viele unterschiedliche Komponenten besitzt, die in Wechselwirkung stehen. Folgende drei Bereich wurden genannt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: (i) der Körper selbst, die Physis, das Physiologische. Das Gehirn ist eines der vielen komplexen Organe im Bereich der Physis. Das Physische kann altern, kann zwischen Menschen Varianzen aufweisen. Resultiert aus einem individuellen Wachstumsprozess (Ontogenese), und im Rahmen einer Population resultiert der Bauplan eines individuellen Körpers aus einem evolutionären Prozess (Phylogenese). Sowohl in der Phylogenese wie in der Ontogenese können sich Strukturen umweltabhängig, verhaltensabhängig und rein zufällig verändern. Weiter gibt es (ii) den Komplex, der grob mit Emotionen, Gefühle umschrieben wurde. Es sind Körper- und Gemütszustände, die auf das Bewerten der Wahrnehmung und das Entscheiden Einfluss ausüben können (und es in der Regel immer tun). Schließlich (iii) gibt es den Komplex Wissen/ Erfahrung, der Menschen in die Lage versetzt, die Wahrnehmung der Welt zu strukturieren, Beziehungen zu erkennen, Beziehungen herzustellen, komplexe Muster aufzubauen, usw. Ohne Wissen ist ein Überschreiten des Augenblicks nicht möglich.

WISSEN

6. Aufgrund der zentralen Rolle des Wissens ist es dann sicher nicht verwunderlich, dass es zum Wissen verschiedene weitere Überlegungen gab.

7. Neben der Betonung der zentralen Rolle von Wissen wurde mehrfach auf potentielle Grenzen und Schwachstellen hingewiesen: (i) gemessen an dem objektiv verfügbare Wissen erscheint unser individuelles Wissen sehr partiell, sehr begrenzt zu sein. Es ist zudem (ii) veränderlich durch ‚Vergessen‘ und ‚Neues‘. Auch stellte sich die Frage (iii) nach der Qualität: wie sicher ist unser Wissen? Wie ‚wahr-falsch‘? Woher können wir wissen, ob das, was wir ‚für wahr halten‘, an was wir ‚glauben‘, tatsächlich so ist? Dies führte (iv) zu einer Diskussion des Verhältnisses zwischen ‚wissenschaftlichem‘ Wissen und ‚Alltags-‚ bzw. ‚Bauchwissen‘. Anwesende Ärzte betonten, dass sie als Arzt natürlich nicht einfach nach ‚Bauchwissen‘ vorgehen könnten, sondern nach explizit verfügbarem wissenschaftlichen Wissen. Im Gespräch deutete sich dann an, dass natürlich auch dann, wenn jemand bewusst nach explizit vorhandenem Wissen vorgehen will, er unweigerlich an die ‚Ränder seines individuellen‘ Wissens stoßen wird und dass er dann gar keine andere Wahl hat, als nach zusätzlichen (welche!?) Kriterien zu handeln oder – was vielen nicht bewusst ist – sie ‚verdrängen‘ die reale Grenze ihres Wissens, indem sie mögliche Fragen und Alternativen ‚wegrationalisieren‘ (das ‚ist nicht ernst‘ zu nehmen, das ist ‚unwichtig‘, das ‚machen wir hier nicht so‘, usw.). Ferner wurde (v) der Status des ‚wissenschaftlichen‘ Wissens selbst kurz diskutiert. Zunächst einmal beruht die Stärke des wissenschaftlichen Wissens auf einer Beschränkung: man beschäftigt sich nur mit solchen Phänomenen, die man ‚messen‘ kann (in der Regel ausschließlich intersubjektive Phänomene, nicht rein subjektive). Damit werden die Phänomene zu ‚Fakten‘, zu ‚Daten‘. Ferner formuliert man mögliche Zusammenhänge zwischen den Fakten in expliziten Annahmen, die formal gefasst in einem expliziten Modell repräsentiert werden können. Alle diese Modelle sind letztlich ‚Annahmen‘, ‚Hypothesen‘, ‚Vermutungen‘, deren Gültigkeit von der Reproduzierbarkeit der Messungen abhängig ist. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt überdeutlich, dass diese Modelle beständig kritisiert, widerlegt und verbessert wurden. Wissenschaftliches Wissen ist insofern letztlich eine Methode, wie man der realen Welt (Natur) schrittweise immer mehr Zusammenhänge entlockt. Die ‚Sicherheit‘ dieses Wissens ist ‚relativ‘ zu den möglichen Messungen und Modellen. Ihre Verstehbarkeit hängt zudem ab von den benutzten Sprachen (Fachsprachen, Mathematische Sprachen) und deren Interpretierbarkeit. Die moderne Wissenschaftstheorie konnte zeigen, dass letztlich auch empirische Theorien trotz aller Rückbindung auf das Experiment ein Bedeutungsproblem haben, das sich mit der Fortentwicklung der Wissenschaften eher verschärft als vereinfacht. Im Gespräch klang zumindest kurz an (vi), dass jedes explizites Wissen (auch das wissenschaftliche), letztlich eingebunden bleibt in das Gesamt eines Individuums. Im Individuum ist jedes Wissen partiell und muss vom Individuum im Gesamtkontext von Wissen, Nichtwissen, Emotionen, körperlicher Existenz, Interaktion mit der Umwelt integriert werden. Menschen, die ihr Wissen wie ein Schild vor sich hertragen, um damit alles andere abzuwehren, zu nivellieren, leben möglicherweise in einer subjektiven Täuschungsblase, in der Rationalität mutiert zu Irrationalität.

UND DEN KONTEXT GIBT ES DOCH

8. Schließlich gewann der Kontext des Individuums doch noch mehr an Gewicht.

9. Schon am Beispiel des wissenschaftlichen Wissens wurde klar, dass Wissenschaft ja keine individuelle Veranstaltung ist, sondern ein überindividuelles Geschehen, an dem potentiell alle Menschen beteiligt sind.

10. Dies gilt auch für die schier unendlich erscheinende Menge des externen Wissens in Publikationen, Bibliotheken, Datenbanken, Internetservern, die heute produziert, angehäuft wird und in großen Teilen abrufbar ist. Dazu die verschiedenen Medien (Presse, Radio, Fernsehen, Musikindustrie,….), deren Aktivitäten um unsere Wahrnehmung konkurrieren und deren Inhalt, wenn wir es denn zulassen, in uns eindringen. Die Gesamtheit dieser externen Informationen kann uns beeinflussen wie auch ein einzelner dazu beitragen kann, diese Informationen zu verändern.

11. Es kam auch zur Sprache, dass natürlich auch die unterschiedliche Lebensstile und Kulturen spezifisch auf einzelne (Kinder, Jugendliche, Erwachsene…) einwirken bis dahin, dass sie deutliche Spuren sogar im Gehirn (und in den Genen!) hinterlassen, was sich dann auch im Verhalten manifestiert.

12. Besonders hervorgehoben wurden ferner die politischen Prozesse und Teil des Wirtschaftssystems. Die Meinung war stark vertreten, dass wir auch in den Demokratien eine ‚Abkopplung‘ der politischen Prozesse von der wählenden Bevölkerung feststellen können. Der intensive und gesetzmäßig unkontrollierte Lobbyismus im Bereich deutscher Parteien scheint ein Ausmaß erreicht zu haben, das eine ernste Gefahr für die Demokratie sein kann. Die Vertretung partikulärer Interessen (genannt wurde beispielhaft die Pharmaindustrie, aber auch Finanzindustrie und weitere), die gegenläufig zum Allgemeinwohl sind, wurde – anhand von Beispielen – als übermächtiges Wirkprinzip der aktuellen Politik unterstellt. Sofern dies tatsächlich zutrifft, ist damit natürlich die sowieso schon sehr beschränkte Einflussmöglichkeit des Wählers weitgehend annulliert. Die zu beobachtende sich verstärkende Wahlmüdigkeit des Wählers wird damit nur weiter verstärkt. Das Drama ist, dass diejenigen, die das Wählervertrauen durch ihr Verhalten kontinuierlich zerstören, nämlich die gewählten Volksvertreter, den Eindruck erwecken, dass sie selbst alles verhindern, damit der extreme Lobbyismus durch Transparenz und wirksamen Sanktionen zumindest ein wenig eingedämmt wird.

ABSCHLUSS

13. In der abschließenden Reflexion bildete sich die Meinung, dass die Punkte (i) Präferenzen/ Werte/ Kriterien einerseits und (ii) Beeinflussbarkeit politischer Prozesse andererseits in der nächsten (und letzten Sitzung vor der Sommerpause) etwas näher reflektiert werden sollten. Reinhard Graeff erklärte sich bereit, für die nächste Sitzung am So 14.Juni einen Einstieg vorzubereiten und das genaue Thema zu formulieren.

AUSBLICK

14. Am So 14.Juni 2015 16:00 findet nicht nur die letzte Sitzung der Philosophiewerkstatt vor der Sommerpause statt, sondern es soll im Anschluss auch (ca. ab 19:00h) bei Essen und Trinken ein wenig darüber nachgedacht werden, wie man in die nächste Runde (ab November 2015) einsteigen möchte. Soll es überhaupt weitergehen? Wenn ja, was ändern? Usw.

Einen Überblick über alle Beiträge zur Philosophiewerkstatt nach Themen findet sich HIER

FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHANDELS 2014 FÜR JARON LANIER – Ein paar Nachgedanken

1. Bei den folgenden ‚Nachgedanken‘ orientiere ich mich an dem Text Der High-Tech-Frieden braucht eine neue Art von Humanismus, der die offizielle deutsche Übersetzung darstellt. Die Laudatio von Martin Schulz, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments,findet sich HIER.

2. Eine Rede an so einem besonderen Ort vor solch einem selektiertem Publikum zu halten, ist nicht einfach. Bedenkt man ferner, wie unsere Zeit geprägt ist von einer totalen Informationsüberflutung, die wiederum eingebettet ist in krasse Ungleichzeitigkeiten von Kulturen und gesellschaftlichen Gruppen, dann wird es nicht einfacher. Andererseits hatte Lanier ein Publikum vor sich, das aufgrund seiner Auswahl eine minimale kulturelle Homogenität aufwies, eines, das irgendwo dem Muster westlicher Demokratien und vom Internet geprägten Hochleistungsgesellschaften nahestand.

VIELZAHL VON IMPRESSIONEN

3. Die Rede war nun nicht von der klassischen Art, dass ein bestimmter Gedanke sich einfach und klar mit Wucht Ausdruck verschaffte, nein es war eher eine Vielzahl von Impressionen, die alle ihren Ort in unserem Alltag haben, und es waren verschiedene Themenansätze, die anklangen, aber nicht zu Ende durchkomponiert waren (siehe Stichwortsammlung auf folgendem Schaubild).

Auszug von Stichworten aus der Rede Laniers zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2014
Auszug von Stichworten aus der Rede Laniers zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2014

4. Was als erstes auffällt, es fehlt praktisch – bis auf eine kleine Ausnahme — jede historische Dimension: die Welt erscheint nicht als gewordene, als von bestimmten Kräften getrieben, angetrieben, sondern wir tauchen unmittelbar ein in eine Momentaufnahme, ein Kaleidoskop von vielen Bildern, Bilder einer ‚entwickelten Welt‘ eingespannt zwischen ‚Überfluss‘ und ‚Rand eines Abgrunds‘.

5. Er selbst sieht sich als ‚Realist‘ mit einer Familiengeschichte (das ist die kleine Ausnahme in der Geschichtslosigkeit), die zurückreicht in die Gräuel des Naziregimes, das in großer Perfektion ganze Völker manipuliert und gequält hat. Treue gegenüber dem System und Gehorsam sind in einer Nazigesellschaft missbraucht worden für Zwecke, die zwar einigen wenigen nützten, aber sehr vielen anderen Leid und Tod gebracht haben.

INDIVIDUELLER HUMANIST ALS MITVERURSACHER

6. Lanier selbst ist einerseits Mitverursacher der modernen Informationstechnologien und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen, andererseits ist er individueller Humanist und leidet an ihren negativen Auswüchsen: er kann ein breites Spektrum von Phänomenen an den neuen Informationstechnologien benennen, die sich zwar soziale psychische ‚Grundtriebe‘ des Menschen zu Nutze machen, die aber diese Menschen letztlich doch entrechten und verachten, indem alles, was man an Daten von diesen Menschen bekommen kann, an fremden, entlegenen, anonymen Orten speichert und in eigener Regie nutzt, ausnutzt, oft gegen die Interessen des Datenspenders.

ÄHNLICHKEITEN MIT NAZIREGIME ZUFÄLLIG?

7. Das Naziregime knüpfte auch am ‚gesunden Volksempfinden‘ an, schaffte auf den ersten Blick Erleichterungen, Wohltaten, Komfort, neue soziale Netze; Google, Facebook und Co weisen starke Ähnlichkeiten auf: sie bieten kostenlos allerlei persönlichen Komfort, neue Formen sozialer Vernetzungen, nehmen sich dafür aber alles, was sie von den Menschen bekomme können, treten deren Rechte mit Füßen, und bauen globale wirtschaftliche Nutzungszusammenhänge auf, die immer mehr Menschen ihre Arbeit nehmen, selbst aber Gewinne erzielen für noch mehr global-elitäre Geschäftstätigkeiten. In sich sind sie völlig intransparent, elitär, erscheinen menschenverachtend. Der Mensch wird so behandelt, als ob er keinen eigenen Wert hat, sondern nur insoweit, als er der globalen elitären Geschäftsidee nutzt.

UNSICHTBARE MONSTER?

8. Die Schwierigkeit bei dem Reden über diese neue Formen von Ausbeutung ist, dass vieles nicht direkt sichtbar wird, dass die Mechanismen ‚dahinter‘ verborgen sind in Netzwerken, in Serverfarmen, im Code der Software. Konnte man sich früher schon mal bei einem Menschen beschweren, wenn Verwaltungsabläufe Kritik hervorriefen, werden diese Verwaltungsabläufe heute von undurchschaubaren Engineeringverfahren erzeugt, in Software eingekleidet, für Politik, Recht und Öffentlichkeit ‚unsichtbar‘, absolut wie die mythischen Götter der Vorzeit. Öffentlichkeit und Politik sitzen vor diesen neuen Monster andächtig, wie das Kaninchen vor der Schlage; Arbeitsverluste, Steuerausfälle, Manipulation, Totalüberwachung erleidet und erduldet man, aber niemand handelt. So erzieht man sich immer größere Monster.

PARALLELE PHÄNOMENE, ÜBER DIE LANIER NICHTS SAGTE

9. Sind die Bilder, die Lanier in seiner Rede mit Blick auf die digitale Wirtschaft schon bedrückend genug, sollte man im Hinterkopf behalten, dass wir in anderen Bereichen (Rohstoffe, Chemie, Pharma, Landwirtschaft …) ganz ähnliche Globalisierungseffekte erleben, die immer mehr auf Kosten der Menschen ‚vor Ort‘ den Reichtum weniger elitärer Gruppen ‚im Hintergrund‘ mehren, alles auf Kosten der Verwahrlosung der restlichen Welt (so scheint z.B. die WHO über die Finanzierung sich in den Händen weniger Großkonzerne zu befinden, die die Zertifizierungen von Produkten anderer Firmen verhindern bzw. das Ausbrechen bzw. Nichtausbrechen von medizinischen Katastrophen steuern können, ein einträgliches Milliardengeschäft, wie es scheint).

MENSCHENVERACHTENDE ELITEN?

10. Es ist dann möglicherweise kein Zufall, dass es genau die Wirtschafts- und Technologieeliten sind, die der Abschaffung des Menschen das Wort reden, transhumanistische Visionen begünstigen, Gehirn-Uploads und Unsterblickeitstechnologien favorisieren. So bizarr die hier einschlägigen Theorien momentan auch sein mögen, reflektieren sie auf jeden Fall einen Wertekosmos, der grundlegend menschenverachtend ist. Die rosigen Werbeslogans wirken vor diesem Hintergrund zynisch: man hätschelt den Konsumenten, den man grundlegend verachtet, rechtlich missbraucht und ökonomisch ausnimmt, um daraus den eigenen Wohlstand zu bauen; gleichzeitig bastelt man an Visionen, wie man sich von diesen lästigen Menschen befreien kann. Waren Hitler, Stalin, Mao (oder deren heutigen Nachfahren) so viel schlechter, weil sie keine Probleme hatten, viele Millionen Menschen zu opfern, weil sie einfach mal so nicht ins Konzept passten?

DIE PASSIVITÄT DER UNTERDRÜCKTEN

11. Man kann sich wundern, warum die Menschen, wir (!), dies alles mit uns machen lassen. Warum lassen wir die wenigen gewähren, die alle anderen ‚ausbeuten‘, ‚missbrauchen‘? Lanier hat dazu nicht viel zu sagen. Er zitiert das Wort vom ‚Rudelverhalten‘, das wir Menschen einen inneren Schalter haben, der, einmal umgelegt, uns dazu bringt, uns als ‚Rudel‘ zu verhalten, das auch vor größten Dummheiten und Ungeheuerlichkeiten nicht zurückschrecke.

12. Diese Rudelverhalten korreliert nach Lanier auf Seiten der Manipulierten stark mit Phänomenen wie Stammesverhalten, blinder Gefolgschaft, autoritären Strukturen, Gewalt, Terror, Nationalitäten. Auf Seiten der Eliten finden wir eine entsprechende Ethik und Gedanken wie den ‚Transhumanismus‘.

DER GESCHICHTSLOSE, VERLORENE MENSCH

13. Bei diesem düsteren – und durchgehend geschichtslosem und unökologischem – Bild der menschlichen Gesellschaft kann man sich fragen, wo denn hier irgendein Lichtschimmer der Hoffnung herkommen kann? Der Mensch, ein blasses rudelhaftes, von dunklen Trieben geleitetes Wesen – warum, wieso, weshalb sollte dieses Wesen eine Zukunft haben?

14. Lanier beruft sich mehrfach auf die Menschenrechte, optiert für eine breite Mitte, für Pluralismus und Nachhaltigkeit, lobt eine neue Sensitivität und Kreativität, preist die traditionellen Familienwerte, glaubt an den Menschen, schließt den Glauben an einen Gott nicht aus, aber diese optimistischen Ansätze bleiben seltsam matt, kraftlos, da nicht so recht zu sehen ist, worin diese Ansätze wirklich gründen sollen, warum diese stärker, wichtiger sein sollen als die dunklen Seiten der Mächte, die den einzelnen, das Rudel, die Menge der Konsumenten, die elitären Nutzer einer globalen Ausbeutung anzutreiben scheinen.

DAS BUCH ALS EINZELNER HEROISCHER AKT

15. Als eine gewisse Referenz an den Ort und an den Anlass der Rede schenkt er dem Publikum auch noch ein paar Bemerkungen zur Rolle und Bedeutung des Buches. Aus der Innensicht eines Autors weiß er zu berichten, dass der Akt des Buch Schreibens Lebenszeit konsumiert, ein minimales Engagement verlangt, dass ein Autor sich damit bis zu einem gewissen Grade verwundbar macht, dass dies aber unumgänglich erscheint, um individuelle Erfahrungen allgemein zugänglich zu machen. Diese Individualität sei notwendig, meint Lanier, und sieht hier auch einen gewissen Widerspruch zur monumentalen Internetenzyklopädie Wikipedia, die eher zur Nivellierung tendiert, zur Vereinheitlichung, zu einer Monopolisierung dessen, was und wie etwas gesagt werden darf.

16. Aktuelle Konflikte wie z.B. die zwischen Internet-Großhändlern wie amazon einerseits und klassischen Verlagen (die allerdings auch Internet nutzen) anderseits, oder die zwischen klassischen Zeitungen einerseits und neuen Webredaktionen andererseits kamen nicht direkt zur Sprache.

17. Auch die grundsätzliche Rolle einer funktionierenden Öffentlichkeit in einer Demokratie und deren potentielle Gefährdung durch die neuen Entwicklungen blieb unberührt. Genau sowenig thematisierte Lanier das Grundproblem des Wissens heute als Medium des globalen Denkens und Handelns.

WENN LANIER RECHT HAT …

18. Wenn Lanier Recht hat – und in vielen Punkten hat er Recht; die Phänomene, die er beschreibt gibt es wirklich, sie sind sehr real – dann ist der Gesamteindruck vordringlich eher düster. Die Macht der schmarotzenden Eliten auf Kosten der vielen ist da, wird täglich praktiziert. Die bislang eher passiv-abwartende Reaktion der betroffenen gesellschaftlichen Systeme und Subsysteme wirkt nicht sehr ermutigend. Das Fehlen eines gemeinsam geteilten Wertekanons als Gegenpol zu den globalen Ausbeutungstendenzen ist in der praktischen, gelebten Realität der Politik da; Menschenrechte stehen auf dem Papier, aber Länder wie z.B. die USA, Russland, China und Saudiarabien passen sie kompromisslos der aktuellen Machtpolitik an. In den USA heißt die Zauberformel ‚Staatsicherheit‘ und ‚wirtschaftlicher Erfolg der Eliten‘, in China ist es der Führungsanspruch der kommunistischen Partei, in Russland ist es der Führungsanspruch eines Putin, in Saudiarabien ist es eine theologisch verbrämte Autokratie. Als ‚Fremder‘ hat man in diesen Ländern keinerlei Rechtsanspruch, außer, er wird aus irgendwelchem Anlass auf Abruf eigens ‚gewährt‘ (und diese vier Länder sind keine Ausnahmen).

19. Die Rede von Lanier hinterlässt daher mehr offene Fragen als nützliche Antworten. Es gibt natürlich viele ermutigende gesellschaftliche Institutionen, Bewegungen und gelebte Wertmodelle, aus denen eine alternative, bessere Zukunft wachsen könnte, es gibt in Europa Länder die trotz allem wachsenden Lobbyismus und wachsender Korruption institutionalisierte Werteansätze leben, aber man kann nicht behaupten, dass wir aktuell einen weltweiten Konsens haben, der die von Lanier geschilderten negativen Auswüchse mit Leichtigkeit überwinden könnte. Die Menschen, die Menschheit steht hier – sicher nicht zum ersten Mal – vor einer Herausforderung, sich für die nächste Phase auf eine Weise ’neu erfinden zu müssen‘, die die aktuellen Probleme konstruktiv und nachhaltig löst. Woher nehmen wir das dazu notwendige Wissen? Was sind die leitenden Kriterien? Woher können wir wissen, was wir vielleicht aktuell noch nicht wissen? Gibt es gute Lösungen ohne vorausgehende Irrtümer, ohne vorausgehende Katastrophen, aus denen wir lernen können? Alle sind gefragt, jeder ist aufgerufen, keiner kann sich entschuldigen. Sterben müssen wir zwar alle, aber wie nutzen wir die kurze Zeit vor dem Tod?

Einen Überblick über alle bisherige Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

FREIHEIT DIE ICH MEINE – ÜBERLEGUNGEN ZU EINER PARTEIINTERNEN DISKUSSION DER GRÜNEN

1. Bevor ich gleich ein wenig auf die wichtigsten Beiträge der Mitgliederzeitschrift ‚Schrägstrich‘ (Ausgabe Juli 2014) der Grünen eingehe, hier einige Vorüberlegungen zu den gedanklichen Koordinaten, innerhalb deren ich diese Beiträge rezipiere. Im wesentlichen handelt es sich bei diesen gedanklichen Koordinaten um jene, die ich hier im Blog bislang ansatzweise skizziert habe. Hier in einer komprimierten Form wichtige Elemente, die dann im weiteren Verlauf nach Bedarf präzisiert werden:

Aus Sicht des einzelnen: Woher? Was tun? Wohin?
Aus Sicht des einzelnen: Woher? Was tun? Wohin?

2. Ausgangspunkt des Koordinatensystem ist jeder einzelne von uns, der sich täglich konkret die Frage stellen muss, was an diesem Tag zu tun ist. Die Frage, woher man selbst kommt spielt bei den meisten in der Regel keine Rolle, höchstens soweit, dass aus der unmittelbaren Vergangenheit irgendwelche ‚Verpflichtungen‘ erwachsen sind, die in die Gegenwart hineinwirken (negatives oder positives Vermögen, erlernte Fähigkeiten, erworbenes Wissen, gewachsene Beziehungen, …). Wohin wir gehen wollen ist bei den meisten auch nur schwach ausgeprägt (Die Alltagsnotwendigkeiten stehen im Vordergrund: seine Verpflichtungen erfüllen, die Arbeitsanforderungen, den Unterhalt für das tägliche Leben, persönliche und soziale Erwartungen durch Beziehungen und Zugehörigkeiten, ein Ausbildungsziel erreichen, eine höhere Position in der Karriereleiter, …..). Übergreifende Ziele wie Erhaltung bestimmter Systeme (Ausbildung, Gesundheit, Infrastrukturen, …) sind meistens ‚delegiert‘ an Institutionen, die dafür ‚zuständig‘ sind, auf die man nur sehr begrenzt Einfluss nehmen kann. Dennoch gibt es nicht wenige, die sich in Vereinigungen engagieren, die spezifische soziale Räume aufspannen (Sport, Kleingärtner, Chöre, Parteien, Gewerkschaften, …), in denen sie ihr individuelles Handeln mit anderen verbünden.

Jeder nur als Teil einer Population in einem physikalischen Rahmen mit chemischer, biologischer und kultureller Evolution. Erfolg ist kurzfristig oder nachhaltig
Jeder nur als Teil einer Population in einem physikalischen Rahmen mit chemischer, biologischer und kultureller Evolution. Erfolg ist kurzfristig oder nachhaltig

3. Beginnt man seine eigene Situation zu analysieren, dann wird man nicht umhin kommen, festzustellen, dass man als einzelner als Mitglied einer größeren Population von Menschen vorkommt, die über unterschiedlichste Kommunikationsereignisse miteinander koordiniert sind. Das tägliche Leben erweist sich als eingebettet in einen gigantischen realen Raum, von dem man unter normalen Umständen nur einen winzigen Ausschnitt wahrnimmt. Schaut man genauer hin, dann sind wir das Produkt einer komplexen Geschichte von Werden im Laufe von vielen Milliarden Jahren. Eingeleitet durch die chemische Evolution kam es vor ca. 3.8 Milliarden Jahren zur biologischen Evolution, die dann vor – schwierig zu definieren, wann Kultur und Technik genau anfing – sagen wir ca. 160.000 Jahren mit einer kulturellen Evolution erweitert wurde. Technik sehe ich hier als Teil der kulturellen Leistungen. Eine Erfolgskategorie ist die des schieren Überlebens. Innerhalb dieser Kategorie macht es einen Unterschied wie ‚lange‘ eine Population überhaupt lebt (‚kurz‘ oder ‚lang‘). Die Frage ist nur, welche ‚Zeiteiheiten‘ man hier anlegen will, um ‚kurz‘ oder ‚lang‘ zu definieren. Aus der Perspektive eines einzelnen Menschen können ‚Jahre‘ schon sehr lang sein und ‚Jahrzehnte‘ können wie eine Ewigkeit wirken. Aus Sicht einer ‚Generation‘ sind 30 Jahre ’normal‘, 10 Generationen (also ca. 300 Jahre) sind eine Zeiteinheit, die für einzelne schon unvorstellbar sein mögen, die aber gemessen an dem Alter so mancher Arten von Lebewesen mit vielen Millionen oder gar hunderten von Millionen Jahren (die Dinosaurier beherrschten das Ökosystem von -235 bis -65 Mio, also 170 Mio Jahre lang!) nahezu nichts sind.

4. Das komplexeste bis heute bekannte Lebewesen, der homo sapiens, jene Art, zu der wir gehören, ist bislang ca. 160.000 Jahre alt (natürlich mit langer Vorgeschichte). Biologisch betrachtet ist diese Zeitspanne nahezu ein ‚Nichts‘. Insofern sollte man nicht zu früh sagen ‚Wer‘ bzw. ‚Was‘ der ‚Mensch‘ als ‚homo sapiens‘ ist. Wir leben in einem Wimpernschlag der Geschichte und wenn wir sehen, welche Veränderungen die Art homo sapiens in kürzester Zeit über die Erde gebracht hat, dann sollten wir genügend biologische Fantasie entwickeln, um uns klar zu machen, dass wir eher ganz am Anfang einer Entwicklung stehen und nicht an deren Ende.

Mensch als Teil des Biologischen hat Technik als Teil von Kultur hervorgebracht: Generisch oder arbiträr. Technik ist effizient oder nicht
Mensch als Teil des Biologischen hat Technik als Teil von Kultur hervorgebracht: Generisch oder arbiträr. Technik ist effizient oder nicht

5. Der homo sapiens ist ganz wesentlich Teil eines größeren komplexen biologischen Systems von unfassbarer ‚Tiefe‘, wo alles ineinander greift, und wo der homo sapiens aufgrund seiner Leistungsfähigkeit aktuell dabei zu sein scheint, trotz seiner kognitiven Möglichkeiten seine eigenen biologischen Voraussetzungen zu zerstören, ohne die er eigentlich nicht leben kann (Umweltverschmutzung, Ausrottung vieler wichtiger Arten, Vernichtung der genetischen Vielfalt, …).

6. Die erst langsame, dann immer schneller werdende Entwicklung von leistungsfähigen und immer ‚effizienteren‘ Technologien eingebettet in einen ‚kulturellen Raum‘ von Zeichen, Formen, Interpretationen, Normen, Regelsystemen und vielerlei Artefakten zeigt eine immense Vielfalt z.T. ‚arbiträrer‘ Setzungen, aber auch einen harten Kern von ‚generischen‘ Strukturen. ‚Generisch‘ wäre hier die Ausbildung von gesprochenen und geschriebenen Sprachen; ‚arbiträr‘ wäre die konkrete Ausgestaltung solcher Sprachen: welche Zeichensysteme, welche Laute, welche Anordnung von Lauten oder Zeichen, usw. So sind ‚Deutsch‘, ‚Arabisch‘, ‚Russisch‘ und ‚Chinesisch‘ alles Sprachen, mithilfe deren sich Menschen über die Welt verständigen können, ihre gesprochene und geschriebene Formen weichen aber extrem voneinander ab, ihre Akzent- und Intonationsstrukturen, die Art und Weise, wie die Zeichen zu Worten, Sätzen und größeren sprachlichen Strukturen verbunden werden, sind so verschieden, dass der Sprecher der einen Sprache in keiner Weise in der Lage ist, ohne größere Lernprozesse die andere Sprache zu verstehen.

7. Bei der Entwicklung der Technologie kann man die Frage stellen, ob eine Technologie ‚effizienter‘ ist als eine andere. Nimmt man den ‚Output‘ einer Technologie als Bezugspunkt, dann kann man verschiedene Entwürfe dahingehend vergleichen, dass man z.B. fragt, wie viele Materialien (erneuerbar, nicht erneuerbar) sie benötigt haben, wie viel Energie und Arbeitsaufwand in welcher Zeit notwendig war, und ob und in welchem Umfang die Umwelt belastet worden ist. Im Bereich der Transporttechnologie wäre der Output z.B. die Menge an Personen oder Gütern, die in einer bestimmten Zeit von A nach B gebracht würden. Bei der Technologie Dampfeisenbahn mussten Locks und Wagen hergestellt werden, Gleise mussten hergestellt und verlegt werden; dazu mussten zuvor geeignete Trassen angelegt werden; ein System von Signalen und Überfahrtregelungen muss für den reibungslosen Ablauf sorgen; dazu benötigt man geeignet ausgebildetes Personal; zum Betrieb der Locks benötigte man geeignete Brennstoffe und Wasser; die Züge selbst erzeugten deutliche Emissionen in die Luft (auch Lärm); durch den Betrieb wurden die Locks, die Wagen und die Schienen abgenutzt. usw.

8. Ein anderes Beispiel wäre die ‚Technologie des Zusammenwohnens auf engem Raum‘, immer mehr Menschen können heute auf immer kleineren Räumen nicht nur ‚überleben‘, sondern sogar mit einem gewissen ‚Lebensstandard‘ ‚leben‘. Das ist auch eine Effizienzsteigerung, die voraussetzt, dass die Menschen immer komplexere Systeme der Koordinierung und Interaktion beherrschen können.

Das Herz jeder Demokratie ist eine funktionierende Öfentlichkeit. Darüber leitet sich die Legislative ab, von da aus die Exekutive und die Judikative. Alles muss sich hier einfügen.
Das Herz jeder Demokratie ist eine funktionierende Öfentlichkeit. Darüber leitet sich die Legislative ab, von da aus die Exekutive und die Judikative. Alles muss sich hier einfügen.

9. Im Rahmen der kulturellen Entwicklung kam es seit ca. 250 Jahren vermehrt zur Entstehung von sogenannten ‚demokratischen‘ Staatsformen (siehe auch die z.T. abweichenden Formulierungen der englischen Wikipedia zu Democracy). Wenngleich es nicht ‚die‘ Norm für Demokratie gibt, so gehört es doch zum Grundbestand, dass es als primäre Voraussetzung eine garantierte ‚Öffentlichkeit‘ gibt, in der Meinungen frei ausgetauscht und gebildet werden können. Dazu regelmäßige freie und allgemeine Wahlen für eine ‚Legislative‘ [L], die über alle geltenden Rechte abstimmt. Die Ausführung wird normalerweise an eine ‚Exekutive‘ [E] übertragen, und die Überwachung der Einhaltung der Regeln obliegt der ‚Judikative‘ [J]. Die Exekutive gewinnt in den letzten Jahrzehnten immer mehr Gewicht im Umfang der Einrichtungen/ Behörden/ Institutionen und Firmen, die im Auftrag der Exekutive Aufgaben ausführen. Besonderes kritisch waren und sind immer Sicherheitsbehörden [SICH] und das Militär [MIL]. Es bleibt eine beständige Herausforderung, das Handeln der jeweiligen Exekutive parlamentarisch hinreichend zu kontrollieren.

Oberstes Ziel ist es, eine Demokratie zu schüzen; was aber, wenn die Sicherheit zum Selbstzweck wird und die Demokratie im Innern zerstört?
Oberstes Ziel ist es, eine Demokratie zu schüzen; was aber, wenn die Sicherheit zum Selbstzweck wird und die Demokratie im Innern zerstört?

10. Wie es in vielen vorausgehenden Blogeinträgen angesprochen worden ist, erweckt das Beispiel USA den Eindruck, dass dort die parlamentarische Kontrolle der Exekutive weitgehend außer Kraft gesetzt erscheint. Spätestens seit 9/11 2001 hat sich die Exekutive durch Gesetzesänderungen und Verordnungen weitgehend von jeglicher Kontrolle unabhängig gemacht und benutzt das Schlagwort von der ’nationalen Sicherheit‘ überall, um sowohl ihr Verhalten zu rechtfertigen wie auch die Abschottung des Regierungshandelns durch das Mittel der auswuchernden ‚Geheimhaltung‘. Es entsteht dadurch der Eindruck, dass die Erhaltung der nationalen Sicherheit, die als solche ja etwas Positives ist, mittlerweile dazu missbraucht wird, das eigene Volk mehr und mehr vollständig zu überwachen, zu kontrollieren und die Vorgänge in der Gesellschaft nach eigenen machtinternen Interessen (auf undemokratische Weise) zu manipulieren. Geheimdienstaktionen gegen normale Bürger, sogar gegen Mitglieder der Legislative, sind mittlerweile möglich und kommen vor. Der oberste Wert in einer Demokratie kann niemals die ‚Sicherheit‘ als solche sein, sondern immer nur die parlamentarische Selbstkontrolle, die in einer funktionierenden Öffentlichkeit verankert ist.

GRÜNES GRUNDSATZPROGRAM VON 2002

11. Bei der Frage nach der genaueren Bestimmung des Freiheitsbegriffs verweist Bütikofer auf SS.7ff auf das Grüne Grundsatzprogramm von 2002, das in 3-jähriger Arbeit alle wichtigen Gremien durchlaufen hatte, über 1000 Änderungsanträge verarbeitet hat und einer ganzen Vielzahl von Strömungen Gehör geschenkt hat. Schon die Präambel verrät dem Leser, welch großes Spektrum an Gesichtspunkten und Werteinstellungen Berücksichtigung gefunden haben.

12. Im Mittelpunkt steht die Würde des Menschen, der sehr wohl auch als Teil einer umfassenderen Natur mit der daraus resultierenden Verantwortung gesehen wird; der Aspekt der Nachhaltigkeit allen Handelns wird gesehen. Grundwerte und Menschenrechte sollen Orientierungspunkte für eine demokratische Gesellschaft bilden, in der das Soziale neben dem Ökonomischen gleichberechtigt sein soll. Diese ungeheure Spannweite des Lebens impliziert ein Minimum an Liberalität, um der hier waltenden Vielfalt gerecht zu werden.

13. Die Freiheit des einzelnen soll einerseits so umfassend wie möglich unterstützt werden, indem die gesellschaftlichen Verhältnisse immer ein Maximum an Wahlmöglichkeiten bereit halten sollten, zugleich muss die Freiheit aber auch mit hinreichend viel Verantwortung gepaart sein, um die jeweiligen aktuellen Situationen so zu gestalten, dass Lebensqualität und Nachhaltigkeit sich steigern.

ENGAGIERTE POLITIK vs. LIBERALISMUS UND FREIHEIT?

14. Reinhard Loske wirft auf SS.10ff die Frage auf, ob und wie sich eine ökologisch verpflichtete Politik mit ‚Liberalismus‘ vereinbaren könnte. Natürlich wäre ein unbeschränkter ‚wertfreier‘ Liberalismus ungeeignet, da sich dann keinerlei Art von Verantwortung und einer daraus resultierenden nachhaltigen Gestaltung ableiten ließe. Doch muss man dem Begriff des Liberalismus historisch gerecht werden – was Loske im Beitrag nicht unbedingt tut – , denn in historischer Perspektive war ein liberales Denken gerade nicht wertfrei, sondern explizit orientiert am Wert des Individuums, der persönlichen Würde und Freiheit, das es gegenüber überbordenden staatlichen Ansprüchen zu schützen galt, wie auch übertragen auf das wirtschaftliche Handeln, das hinreichend stark zu schützen sei gegenüber ebenfalls überbordenden staatlichem Eingriffshandeln das tendenziell immer dazu neigt, unnötig viel zu reglementieren, zu kontrollieren, ineffizient zu sein, Verantwortung zu nivellieren, usw.

15. Zugleich ist bekannt, dass wirtschaftliches Verhalten ohne jegliche gesellschaftliche Bindung dazu tendiert, die Kapitaleigner zu bevorteilen und die abhängig Beschäftigten wie auch die umgebende Gesellschaft auszubeuten (man denke nur an das Steuerverhalten von Konzernen wie z.B. google, amazon und Ikea).

16. Es muss also in der Praxis ein ‚Gleichgewicht‘ gefunden werden zwischen maximaler (wertgebundener) Liberalität einerseits und gesellschaftlicher Bindung andererseits. Doch, wie gerade die hitzigen Debatten um die richtige Energiepolitik in Deutschland und Europa zeigen, sind die Argumente für oder gegen bestimmte Maßnahmen nicht völlig voraussetzungslos; je nach verfügbarem Fachwissen, je nach verfügbaren Erfahrungen, ja nach aktueller Interessenslage kommen die Beteiligten zu unterschiedlichen Schlüssen und Bewertungen.

17. Loske selbst erweckt in seinem Beitrag den Eindruck, als ob man so etwas wie einen ‚ökologisch wahren Preis‘ feststellen kann und demzufolge damit konkret Politik betreiben kann. Angesichts der komplexen Gemengelage erscheint mir dies aber als sehr optimistisch und nicht wirklich real zu sein. Wenn man in einer solch unübersichtlichen Situation unfertige Wahrheiten zu Slogans oder gar Handlungsmaximen erhebt und gar noch versucht, sie politische durchzudrücken, dann läuft man Gefahr, wie es im letzten Bundeswahlkampf geschehen ist, dass man vor dem Hintergrund einer an sich guten Idee konkrete Maßnahmen fordert, die nicht mehr gut sind, weil sie fachlich, sachlich noch nicht so abgeklärt und begründet sind, wie es der Fall sein müsste, um zu überzeugen. Dann besteht schnell die Gefahr, mit dem Klischee der ‚Ideologen‘, ‚Fundamentalisten‘, ‚Oberlehrer‘ assoziiert zu werden, obgleich man doch so hehre Ziele zu vertreten meint.

OBERLEHRER DER NATION – NEIN DANKE

18. Im Eingangsartikel SS.4ff stellt Katharina Wagner genau diese Frage, ob verschiedene während des Wahlkampfs angekündigten konkrete Maßnahmen nicht genau solch einen Eindruck des Oberlehrerhaften erweckt haben, als ob die Grüne Partei trotz ihrer großen Werte und Ziele letztlich grundsätzlich ‚anti-liberal‘ sei. Doch bleibt ihre Position unklar. Einerseits sagt sie sinngemäß, dass sich das grüne Programm auf Freiheit verpflichtet weiß, andererseits verbindet sie die ökologische Verantwortung mit der Notwendigkeit, auch entsprechend konkrete und verpflichtende Maßnahmen zu ergreifen. So hält sie z.B. Verbote im Kontext der Gentechnik für unumgänglich. Müssen die Verbote nur besser kommuniziert werden? Gibt es verschiedene ‚Formen‘ von Regeln in einer Skala von ‚gusseisern‘ bis ‚freundliche Einladung‘?

19. Ich finde diese Argumentation unvollständig. Ihr mangelt der Aspekt – genauso wie im Beitrag von Loske –, dass das Wissen um das ‚ökologisch Angemessene‘ in der Regel höchst komplex ist; unser Wissen um die Natur, die komplexen Technologien ist in der Regel unfertig, kaum von einzelnen alleine zu überschauen und in ständiger Weiterentwicklung. Absolut klare und endgültige Aussagen hier zu treffen ist in der Regel nicht möglich. Zwar ist es verständlich, dass das politische Tagesgeschäft griffige Formeln benötigt, um Abstimmungsmehrheiten zu erzeugen, aber dieser Artefakt unseres aktuellen politischen Systems steht im direkten Widerspruch zur Erkenntnissituation und zu den Erfordernissen einer seriösen Forschung ( Mittlerweile gibt es viele Fälle, wo die Politik erheblichen Druck auf die Wissenschaft ausgeübt hat und ausübt, damit auch genau die Ergebnisse geliefert werden, die politisch gewünscht sind; das ist dann nicht nur kontraproduktiv sondern sogar wissenschaftsfeindlich, anti-liberal und auf Dauer eine massive Gefährdung unser Wissensbasis von der Welt, in der wir leben).

20. Eine politische Partei wie die der Grünen, die sich der ökologischen Dimension unserer Existenz verpflichtet wissen will, muss meines Erachtens, um ihre Glaubwürdigkeit zu wahren, weniger darauf bedacht sein, umfassende Vereinfachung durchzudrücken, sondern gerade angesichts der Verpflichtung für das Ganze massiv die wissenschaftlichen Erforschung der Phänomene unterstützen und den sich daraus ergebenden Ansätzen in ihrer ganzen Breite und Vielfalt Raum geben. Dazu müssten viel mehr Anstrengungen unternommen werden, das relevante Wissen öffentlich transparent zu sammeln und so aufzubereiten, dass es öffentlich diskutiert werden könnte. Alle mir bekannten Texte greifen immer nur Teilaspekte auf, betrachten kurze Zeiträume, vernachlässigen Wechselwirkungen, geben sich zu wenig Rechenschaften über Unwägbarkeiten und Risiken. So vieles z.B. an den Argumenten gegen Kernenergie und Gentechnik richtig ist, so fatal ist es aber, dass damit oft ganze Gebiete tabuisiert werden, die als solche noch viele andere Bereiche enthalten, die für eine ökologische Zukunft der Menschheit möglicherweise überlebenswichtig sind.

21. Kurzum, das ‚Oberlehrerhafte‘ und ‚Anti-Liberale‘ erwächst nicht automatisch aus einer Maßnahme als solcher, sondern daraus, wie sie zustande kommt und wie sie sachlich, wissensmäßig begründet ist. In einer komplexen Welt wie der unsrigen, wo die Wissenschaften selbst momentan eine akute Krise der Konsistenz und Qualität durchlaufen, erscheint es nicht gut, mangelndes Wissen durch übertriebenen Dogmatismus ersetzen zu wollen.

FREIHEIT UND GERECHTIGKEIT

22. Die zuvor schon angesprochene Komplexität findet sich ungebremst auch in dem Gespräch zwischen Dieter Schnaas, Kerstin Andreae und Rasmus Andresen (vgl. SS.8f). Hier geht es um maximal komplexe Sachverhalte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, Beschäftigungsverhältnissen, Einkommensstrukturen, Besteuerungssystemen, Versorgungssystemen, Umverteilung, Bildungsprozessen, Wirtschaft im allgemeinen wie auch unterschiedlichen Unternehmensformen und Wirtschaftsbereichen. Diese komplexen Begriffe auf nur zwei Seiten zu diskutieren erscheint mir unangemessen. Schon eine einigermaßen Definition jedes einzelnen dieser Begriffe würde Seiten benötigen.

23. In diesem Bereich griffige Parolen zu formulieren ist zwar eine anhaltende Versuchung und Herausforderung für jeden Politiker, aber dies ist in meinen Augen zum Scheitern verurteilt. Was immer man parolenhaft vereinfachend propagieren möchte, man wird mehr Kollateralschäden anrichten als wenn man das System zunächst einmal sich selbst überlassen würde. Beteiligte Bürger sind in der Regel in der Lage, Schwachstellen des gesellschaftlichen Systems zu erkennen, vorausgesetzt, man lässt diese zu Wort kommen. Und in der Regel wissen auch alle Beteiligte recht gut, in welche Richtung Lösungsansätze gesucht werden müssten, vorausgesetzt, man führt einen realen Dialog, transparent, undogmatisch, mit den notwendigen unterstützenden wissenschaftlichen Exkursen. Die ‚herrschenden‘ Parteien zeichnen sich hingegen bislang überwiegend dadurch aus, dass sie im Kern Lobbypolitik machen, die sie nur notdürftig mit allgemeinen Floskeln kaschieren. Im Prinzip hat die Partei der Grünen sehr gute strukturelle – und motivationale – Voraussetzungen, eine solche transparente, basisdemokratische, wissenschaftlich unterstütze Lösungsfindung zu propagieren und zu praktizieren, wenn sie etwas weniger ‚Oberlehrer‘ sein würde und etwas mehr ‚passionierter Forscher‘ und ‚kreativer Lösungsfinder‘.

WIDER DIE KONTROLLGESELLSCAFT

24. Das Thema ‚Abhören‘ ist zwar seit dem Sommer 2013 mehr und mehr im Munde aller, aber selten übersteigt die Diskussion den rein technischen Charakter des Abhörens oder führt über das bloße Lamentieren hinaus. Selbst die Bundesregierung zusammen mit den einschlägigen Behörden hat bis zu den neuesten Äußerungen der Bundeskanzlerin zum Thema wenig Substanzielles gesagt; im Gegenteil, die politische Relevanz wurde extrem herunter gespielt, die Brisanz für eine zukünftige demokratische Gesellschaft in keiner Weise erkannt.

25. Vor diesem Hintergrund hebt sich der Beitrag von Jan Philipp Albrecht (vgl. SS.6f) wohltuend ab. Er legt den Finger sehr klar auf die Versäumnisse der Bundesregierung, macht den großen Schaden für die deutsche und europäische Industrie deutlich, und er macht u.a. auch auf das bundesweite Sicherheitsleck deutlich, dass durch die Verwendung von US-amerikanischer Software in allen wichtigen Behörden und Kommunen besteht, von der man mittlerweile weiß, dass diese Software schon beim Hersteller für die US-amerikanische Geheimdienste geschützte Zugänge bereit halten. Albrecht macht die Konsequenzen für die Idee einer demokratisch selbstbestimmten Gesellschaft deutlich.

26. Was auch Albrecht nicht tut, ist, einen Schritt weiter zu gehen, und den demokratischen Zustand jenes Landes zu befragen – die USA –, aus dem heraus weltweit solche massenhaft undemokratischen Handlungen bewusst und kontinuierlich geplant und ausgeführt werden. Sind die USA noch minimal demokratisch? Müssen wir uns in Deutschland (und Europa) als Demokraten nicht auch die Frage stellen, inwieweit wir eine Verantwortung für die US-Bevölkerung haben, wenn ihre Regierung sich anscheinend schrittweise von allem verabschiedet, was man eine demokratische Regierung nennen kann? Wie können wir über Demokratie in Deutschland nachdenken, wenn unsere Partner Demokratie mindestens anders auslegen, wie wir? Diese – und weitergehende – transnationale politische Überlegungen fehlen mir in der Debatte der Grünen völlig. Wir leben nicht auf einer Insel der Seeligen. Was heißt ökologische Verantwortung auf einem Planeten, der zu mehr als 50% aus Staaten besteht, die nicht als demokratisch gelten, wobei ja selbst die sogenannten demokratischen Staaten vielfache Mängel aufweisen. Wie sollen wir z.B. die Umwelt schützen, wenn die meisten anderen Staaten keinerlei Interesse haben? usw.

FAZIT

27. Klar, die vorausgehenden Überlegungen sind sehr kursorisch, fragmentarisch. Dennoch, so unvollkommen sie sind, will man sich heute in der kaum überschaubaren Welt als einzelner eine Meinung bilden, hat man keine andere Möglichkeit, als die verschiedenen Gesprächsangebote aufzugreifen und sie mit den eigenen unvollkommenen Mitteln für sich versuchen, durchzubuchstabieren. Am Ende steht gewöhnlich keine neue Supertheorie, sondern – vielleicht – ein paar zusätzliche Querbeziehungen, ein paar neue Eindrücke, der eine der andere neue Aspekt, an dem es sich vielleicht lohnt, weiter zu denken.

28. Jeder, der heute nicht alleine vor sich hin werkeln will, braucht Netzwerke, in denen er ‚Gleichgesinnte‘ findet. Ich selbst bin zwar seit vielen Jahren offizielles Mitglied der Grünen, habe aber bislang – aus Zeitgründen – nahezu nichts gemacht (außer dass ich viele meiner FreundeInnen bewundert habe, die auf kommunaler Ebene konkrete Arbeit leisten). In den nächsten Jahren kann ich mich möglicherweise politisch mehr bewegen. Dies sind erste Annäherungsversuche, um zu überprüfen, ob und wieweit die Partei der Grünen ein geeignetes Netzwerk sein könnte, um politisch ein klein wenig mehr ‚zu tun‘. Allerdings verstehe ich mich primär als Philosoph und Wissenschaftler und ich würde den Primat des Wissens niemals aufgeben, nur um ‚irgendetwas zu tun‘ ….

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nch Titeln findet sich HIER.

BAUSTEINE DER ‚UNLOGIK‘ VON GESCHICHTE: Philosophie und Politik, Einzelner und Geschichte, Das Beharrliche an Ungerechtigkeit

DENKEN, KÖRPER, WELT, POLITIK

1. Seit dem letzten Sommer schreibe ich in diesem Blog immer wieder und immer mehr über ‚politische‘ Themen, obgleich ich dies weder geplant hatte noch eigentlich will; die Tagesereignisse wirken jedoch auf das philosophierende Denken wie eine Art ‚Störfeuer‘; ich möchte Strukturen unseres Denkens, unseres Wissens, unseres Handelns weiter klären, aber dann rasen Meldungen durch die Medien von Ereignissen, die Auswirkungen auf viele haben, von Menschen, die Entscheidungen fällen, die ganze Nationen elementar betreffen, und dann ist irgendwie klar, dass das individuelle Denken und der reale Gang der Geschichte nun mal irgendwie zusammenhängen. Das individuelle Denken findet in einer realen Matrix von Gegebenheiten, Handlungen anderer statt, von denen man zwar im Denken bis zu einem gewissen Grad ‚abstrahieren‘ kann, aber trotz denkerischer Abstraktion bestehen diese realen Zusammenhänge. Auch wenn ich im ‚Denkraum‘ abtauche bleibt mein Körper ein realer Moment in realen Prozessen, verlangt er nach Nahrung, hat einen amtlich registrierten Namen, bin ich eine Nummer in einer Verwaltungsmaschinerie, unterliege ich den Spielregeln der aktuell jetzt und hier geltenden Gesetze. Im Denken kann ich ‚anders‘ sein als der Moment, als der Augenblick, als es die realen Situationen vorsehen und erlauben, aber das Denken als Denken verändert nicht notwendigerweise die Realität. Ich kann über Grundprinzipien der Demokratie ’nachdenken‘ und zugleich mit meinem Körper in einer Situation leben, in der Demokratie abgebaut wird, und ich dadurch zu diesem Abbau dadurch mit beitrage, dass mein Körper ’nichts tut‘, was diesen Prozess stoppt.

2. In dem Maße, wie ich meine, das Zusammenspiel von Realität und Denken besser zu verstehen, in dem Maße verliert die Realität ihre ‚Unschuld‘. In dem Maße wie man zu verstehen meint, wie die Prozesse des Alltags nicht ’naturgegeben‘ sind, nicht ‚unabwendbar‘, sondern auch von uns Menschen, von jedem einzelnen von uns, ‚erzeugt‘, in dem Masse wird Denken ‚über‘ diese Realität mehr und mehr zu einem Denken ‚der Realität‘, in der jedes Wort, jede Geste, jedes Handeln ‚bedeutsam‘ wird: wenn ich ’schweige‘ dann ‚rede‘ ich in der Form der Zustimmung; wenn ich rede, dann dann rede ich in Form der realen Interaktion. Dann tritt mein Denken in einem scheinbar ’schwachen‘ aber dennoch ‚realen‘ Dialog mit der Welt, in der mein Körper vorkommt. Es ist aktuell die Welt des Jahres 2014 (andere Kalender haben andere Zahlen).

3. Ich beginne für mich zu realisieren, dass die Zeit des ‚politikfreien‘ Denkens möglicherweise vorbei ist. Ich stelle fest, dass ich nicht mehr so abstrahieren kann wie früher. Ich stelle fest, dass das Denken der großen Entwicklungslinien des Lebens auf der Erde und das Alltagsgeschehen immer mehr verschmilzt. Der atemberaubende kosmologische Prozess dieser unserer Erde als Teil von Sonnensystem, Milchstraße usw. bricht sich in den scheinbar ‚geschichtslosen‘ Aktionen von Milliarden menschlicher Individuen jeden Tag neu, und je mehr man das Wunder des Lebens zu erkennen meint, umso unfassbarer wird die Perspektiv- und Verantwortungslosigkeit, die unser ‚Alltagshandel‘ zu haben scheint.

IMPLIZITES WISSEN UND EXPLIZITES HANDELN

4. Ich sage bewusst ’scheint‘, da nach aktuellem Kenntnisstand fast alles, was die Lebenssituation auf der Erde betrifft und die Strukturen des biologischen Lebens, stattgefunden hat und stattfindet ohne unser Zutun. Allerdings hat die Existenz der menschlichen Lebensform auf dieser Erde seit ein paar Millionen Jahren die Erde im Handlungsbereich eben von uns Menschen zunehmend verändert. Diese Änderungen sind mittlerweile so stark, dass wir drauf und dran sind, wichtige Teilprozesse des Gesamtprozesses so zu stören, dass der Gesamtprozess damit nachhaltig gestört wird.

5. Dennoch, obwohl das beobachtbare Verhalten von uns Menschen große Einwirkungen auf die eigene Lebensumwelt erkennen lässt, und es Menschen, Gruppierungen, größere Organisationen und Firmen gibt, deren Verhalten ‚planvoll‘ wirkt, kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass das ‚Planvolle‘ an dem Geschehen letztlich überwiegend wenig reflektiert ist und von individuellen Motiven einzelner angetrieben wird, die in der individuellen Psyche und deren individueller Geschichte wurzeln, und denen jeder Bezug zu einem größeren Ganzen abgeht. Dass ‚kleinwüchsige Männer‘ einen überhöhten Geltungsdrang haben, der viele Völker in einen Strudel von Kriegen und Zerstörung getrieben haben, ist nicht nur ein Klischee, sondern historische Realität. Dass persönliche Eitelkeiten und individuelles Machtstreben gepaart mit allerlei anderen individuellen Bedürfnissen Ländereien, Fabriken, ganze Völker ruiniert haben, ist auch real. Kurzum, das psychologische Format des einzelnen Menschen erscheint immer mehr als unzureichend für die Herausforderungen einer komplexen Massengesellschaft. Während die komplexen Prozesse einer Stadt, einer Region weitreichende vernetzte und rückgekoppelte Denkprozesse verlangen, die von Menschen ausgeführt und unterstützt werden, die in ihrem Denken und Fühlen dazu fähig sind, ist die normale psychologische Ausstattung eines einzelnen Menschen dafür im Normalfall gar nicht ausgelegt.

WENDEPUNKT DER EVOLUTION?

6. Immerhin, der Mensch, zumindest der homo sapiens sapiens, hat ca. 100.000 Jahre mit seiner psychologischen Ausstattung Erstaunliches bewegt und geleistet. Nun aber scheint homo sapiens sapiens sowohl mit seinem psychologischen Format wie auch mit seinen kognitiven Fähigkeiten wie ein Insekt um ein tödliches Licht zu kreisen, das im Fall des homo sapiens sapiens die in jedem Individuum eingebauten zeitlich eng begrenzten Bedürfnisse und Motive sind, die ihn wie ein unsichtbarer Magnet in ihrem Bann halten und letztlich im Alltag bestimmen. Die verschiedenen Religionen (alle, ohne Ausnahme!) haben bislang wenig dazu beigetragen, das Bild des Menschen real so aufzuhellen, dass wir diesem in unseren Genen eingeschriebenem Programm des ‚Handelns auf Kurzsicht, Nahbereich, triebhafter Elementarsteuerung‘ usw. irgendwie entkommen könnten. Letztlich haben sie es mit blumigen Worten und allerlei zufälligem Regelwerk festgeschrieben, den Status Quo zum Selbstzweck erklärt. Am allerschlimmsten, sie haben die ‚Erde‘ und den ‚Himmel‘ geteilt. Das ist die schlimmste Form des Atheismus, die es geben kann.

7. Historisch befindet sich der homo sapiens sapiens an dem bislang ‚höchsten Punkt‘ seiner Entwicklung. Zugleich ist dies eine Art ‚Scheitelpunkt‘ an dem ein nachhaltiger ‚Systemumbau‘ notwendig ist, soll das bislang Erreichte nicht im Desaster enden. Einerseits scheint es, als ob wir genügend Wissen ansammeln konnten, andererseits stecken wir alle in einer ‚unsichtbaren‘ psychologischen ‚Programmhülle‘, die die Gene in unserem Körper und Gehirn angelegt haben, die jeden einzelnen in seinem Bann hält und wie von einer unsichtbaren Macht gezogen täglich zu Gefühlen und Handlungen anregt, die sowohl individuell wie gemeinschaftlich eher ‚destruktiv‘ wirken als ‚konstruktiv‘.

8. Solange der gesellschaftliche Diskurs diese Problematik nicht offen und kompetent adressiert, solange werden wir das bisherige Programm unserer Gene weiter ausführen und damit unsere individuelle wie gemeinschaftliche Zukunft möglicherweise zerstören; nicht, weil wir dies explizit wollen, sondern weil wir implizit, ’nichtbewusst‘, Dinge tun, die unser genetisches Programm uns beständig ‚einflüstert‘, weil sich dieses Programm vor langer Zeit mal bewährt hatte. Moralisieren und die verschiedenen, aus dem Nichtwissen geborenen Religionen, helfen hier nicht weiter. Die Wissenschaft könnte helfen; alle bekannten Gesellschaftssysteme forcieren aber – wenn überhaupt – eine Wissenschaft, die auf kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolg programmiert ist, und sich in den fachlichen Details verliert und gerade nicht ein solches Wissen, das Disziplinen übergreifend nach Zusammenhängen sucht und das alltägliche Fühlen und Denken in seiner Gesamtheit im Zusammenhang sieht mit dem zugrunde liegenden genetischen Programm.

WEN FRAGEN ERWACHSENE?

9. Kinder können die Erwachsenen fragen, was sie tun sollen, und sie fragen auch. Wen können die Erwachsenen fragen? Und wenn wir alle gleich wenig wissen, wen fragen wir dann zuerst?
10. Alle Antworten sind im Prinzip schon da. Ich bin auch überzeugt, dass wir die Antworten irgendwann finden werden. Wann? Bei einem historischen Prozess von ca. 13.8 Mrd Jahren kommt es nicht auf ein paar tausend ode ein paar zehntausend oder auch mehr Jahre an. Solange wir als einzelne nicht begreifen (und fühlen), dass wir grundsätzlich Teil dieses größeren Ganzen sind, solange können diese Gedanken ’schrecklich‘ wirken.

SELBSTBEHARRUNG DER UNGERECHTIGKEIT

11. Zum letzten Teil der Überschrift: wenn man sich lange genug die vielen ‚Ungerechtigkeiten‘ in unserer Welt anschaut, so beruhen sie ja allesamt auf dem Schema, dass einige wenige sich ‚Vorteile’/ ‚Privilegien‘ auf Kosten einer Mehrheit herausnehmen. Die Begründungen für diese Privilegien variieren im Laufe der Geschichte (auch dafür musste oft Gott herhalten: ‚göttliche Abstammung‘, ‚gottgewollt‘ …). Letztlich sind alle diese Begründungen nicht viel wert. Wenn das Leben als Ganzen der oberste Wert ist und alle Teile grundsätzlich ‚gleichberechtigt‘, dann können nur solche Lösungen zählen, in denen für die Gesamtheit ein Optimum angestrebt wird. Die Tendenz individuell oder gruppenmäßig Privilegien anzuhäufen, huldigt der Überlebenslogik, dass nur die ‚eigene Gruppe‘ überleben kann und soll und dass alle ‚anderen‘ Feinde sind. Dies ist die implizit kurzsichtige Logik der Gene. Für komplexe Gesellschaften als Teil komplexer Abläufe ist dies, wie sich allenthalben zeigt, kontraproduktiv oder sogar tödlich. Allerdings scheint es so zu sein, dass privilegierte Gruppen von sich aus fast nie ‚freiwillig‘ auf ihre Privilegien verzichten. Änderungen kamen daher immer entweder dadurch, dass die Privilegienbesitzer sich selbst zugrunde gewirtschaftet haben oder weil Unzufriedene sich dieses Schauspiel nicht mehr länger ansehen wollten und versucht haben, sich ihre angestammten Rechte notfalls mit Gewalt zurück zu holen. Revolutionen, Kriege, Terrorismus sind daher immer auch Indikatoren für Ungleichgewichte. Nach erfolgreichen Aufständen wurden dann die ‚Aufrührer‘ selbst zu ‚Privilegierten‘, usw.

RUM-Music

Musik vom 13.Maerz 2014, kann man hören muss man nicht. Eines von vielen experimentellen Stücken.

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LOGBUCH 31.Dez.2013 – TRANSNATIONALE DEMOKRATIE und KOSMISCHER HUMANISMUS

1) Im vorausgehenden Blogbeitrag Demokratie im Abhörtest hatte ich versucht, ein paar ‚Fakten‘ im Umfeld der weltweiten Abhöraktion der NSA zusammen zu tragen. Ein zentraler Gedanke war dabei, dass es nicht eine rein ‚technische‘ Angelegenheit ist, sondern das Verhalten einer nationalen Behörde, deren Verhalten mittlerweile — so müssen wir aktuell annehmen — wirklich ALLE betrifft, alle Bürger und Institutionen und Staaten weltweit. Insofern kann niemand mehr sagen, es ginge ihn nichts an. Es gibt viele Spielarten der Globalisierung; dies ist die umfassendste und zugleich einseitigste.
2) Über diese Behörde und deren Verhalten kann man lamentieren (was immer mehr tun), aber, wie eben diese auch feststellen dürfen, es scheint ‚die Politik‘ nicht zu interessieren! Man hat den Eindruck (als Bürger), dass das politische System mehr mit seiner eigenen Machterhaltung beschäftigt ist als mit den Interessen der eigenen Bevölkerung (was auch im Syrienkrieg blutige Realität ist).
3) Ein anderer zentrale Gedanke im vorausgehenden Blogeintrag war, dass diese Behörde, die NSA, Teil des politischen Systems der USA ist. Die USA sind offiziell eine ‚Demokratie‘ mit einer Verfassung (siehe auch Verfassung 2, Verfassung 3). Das Verhalten dieser Behörde repräsentiert damit indirekt auch, wie sich das demokratische System der USA versteht. Und die USA sind historisch (trotz Vorlauf in Europa) die wichtigste Demokratie auf dieser Erde, noch immer. Wenn die Demokratie der USA sich in wesentlichen Punkten ändert, dann hat dies direkte weltweite Auswirkungen, z.B. im Verhalten einer Behörde wie der NSA.
4) Dies alles war mir persönlich irgendwie 64 Jahre lang nicht wirklich bewusst; irgendwie hatte ich es ‚ausgeblendet‘. Der NSA, und dann, nicht zu vergessen Snowden und die unterstützenden Zeitungen (!), kommt das Verdienst zu, mich ‚aufgeweckt‘ zu haben. Noch im Frühjahr 2013 wäre es undenkbar gewesen, dass ich Mitglied der ACLU := American Civil Rights Union werden würde, oder dass ich anfange, in der Washington Post zu lesen.
5) Was sich an diesem winzigen Beispiel andeutet (natürlich gibt es auf unserer Erde auch noch andere transnationale Probleme als das des Abhörens, natürlich gibt es erheblich mehr globale wichtige Bewegungen, denen man sich anschließen könnte…), ist, dass die nationale Betrachtung dieser Probleme (so sehr sie wichtig ist und keinesfalls national gelöst erscheint), deutlich über sich hinausweist. Wer die Grundlagen einer Demokratie ernst nimmt (und das ist eine grundsätzliche Vision, wie Menschen miteinander umgehen sollten (und wollen)), der kann letztlich diese Vision nicht innerhalb bestimmter Landesgrenzen ‚einsperren‘. Die Vision einer Gesellschaft von freien Menschen, die sich gegenseitig respektieren, die gemeinsam die Zukunft gestalten wollen, diese Vision betrifft Menschen überall. Die Vereinigte Staaten von Amerika sind ‚in sich‘ ein Beispiel dafür; es ist eine Gemeinschaft von Staaten. Sehr weit fortgeschritten auf dem Weg dahin sind die vereinigten Staaten von Europa. Indien und Südafrika wären zu nennen, die stark an inneren Problemen leiden und in vielen wichtigen Punkten vom demokratischen Ideal abweichen. Russland und China könnten wunderbare Demokratien sein. letztlich gibt es ja sogar die Vision der Vereinigten Nationen dieser Erde.
6) Wie die Geschichte uns lehrt, kann das größere Ganze nur entstehen, wenn es ‚im Kleinen‘ jene Menschen gibt, die ‚vor Ort‘ das Richtige tun. Damit aber die vielen vor Ort etwas tun, was sich zu einer großen Bewegung vereinigt, braucht es eine ‚Vision‘, eine ‚gemeinsame‘ Vision; das kann die Vision von etwas ‚Besserem‘ sein; meistens ist es aber ein konkretes Unheil, das viele so leiden lässt, dass sie sich deswegen aufraffen, um etwas zu tun um dadurch (meist nur für eine kurze Zeitspanne) ein Stück Solidarität mit vielen anderen zu erfahren. Jenseits der konkreten Nöte, im ‚Alltag‘, vergessen wir schnell wieder, worum es vielleicht dennoch gehen könnte oder sollte. Viele wirtschaftliche und politische Interessen tun das ihrige, um uns in unseren alltäglichen Bahnen fest zu halten. Nur keine Änderungen; es könnte ja die Machtspiele der aktuell Mächtigen beeinträchtigen.
7) Andererseits wissen wir anhand der Entstehungsgeschichte der US-amerikanischen Demokratie wie auch der der einzelnen europäischen Ländern und dann vom neuen Europa, dass der Weg zu einer menschlicheren Gesellschaft kein Automatismus ist. Massive herrschende wirtschaftliche und politische Interessen wollen natürlich nicht ‚freiwillig‘ ihre Privilegien ändern und wir selbst sind ‚gefangen‘ von den ‚Bildern in unserem Kopf‘. Was immer wir individuell wollen, wir werden geleitet von den Bildern, die wir aktuell in unseren Köpfen haben, und diese werden gespeist von der Welt, wie sie gerade ist, von den Medien, die uns täglich ihre Sichtweise eintröpfeln, von unseren alltäglichen Gewohnheiten. Ohne neue Visionen, ohne Anstrengungen, ohne Konflikte gab es noch nie eine Änderung. Das ‚Neue‘ muss ‚werden‘, individuell und global.
8) Die Preisfrage lautet also, wie können wir GEMEINSAM WAHRES denken und dann auch tun?
9) Ich lese gerade in einem Buch von Jansen (2013), das handwerklich schlecht gemacht ist, aber mich dennoch sehr anregt. Er reflektiert in diesem Buch über einige philosophisch-ethische Aspekte der Star-Trek Produktionen, wie ich es mal nennen möchte. In einem Zeitraum von nunmehr fast 50 Jahren gab und gibt es Fernsehserien, Kinofilme, Publikationen, Fan-Vereinigungen (und vieles mehr) im Umfeld dieser weltweiten Vision einer ‚Förderation der Planeten‘. Viele Jahre fand ich Teile dieser Serie faszinierend, da sie nicht nur platte Unterhaltung boten sondern immer wieder komplexe Fragestellungen durchspielten. Aber erst jetzt habe ich den Eindruck, dass wir mit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft auf der Erde uns letztlich jenen Themen nähern, die in Star-Trek zum Allgemeingut gehören.
10) Als Menschheit haben wir in den letzten Jahrhunderten eine Menge lernen können. Aber der immer noch — trotz stattfindender Globalisierung — herrschende ‚Nationalismus‘ wirkt sich immer noch hemmend aus. Die US-amerikanische Demokratie ist dafür das zur Zeit beste Beispiel: geboren aus einem Aufschrei der Menschen gegen englisches monarchisches Unrecht und später dann gegen die Unterdrückung von dunkelhäutigen Menschen durch hellhäutige entstand eine Verfassung, die erstmalig den Wert des/ der Menschen in neuer, radikaler Weise beim Namen nannte und unter Schutz stellte. Trotz dieser Verfassung brauchte es einen Martin Luther King, um den Geist dieser Verfassung im Alltag weiter zu klären. Ist heute Snowden ein weiterer ‚Martin Luther King‘ für den Bereich des Umgangs mit der Privatsphäre? Und wo ist der ‚Martin Luther King‘, der den USA klar macht, dass die Menschen jenseits der US-Grenzen auch Menschen sind?
11) Natürlich könnte man all die Kritik, die ich hier am Beispiel der USA äußere, auch gegenüber anderen Staaten äußern. Man müsste es auch. Aber den USA kommt bislang eine Vorreiterrolle zu, die kein anderes Land so einnehmen kann. Wenn China und/ oder Russland demokratischer wären, oder sogar ‚richtige‘ Demokratien, dann würde dies das Machtgefüge in der Welt stärker und nachhaltiger verändern als noch so große Militäretats oder noch so umfassende Abhöraktionen.
12) In Star Trek können die Menschen unterschiedlichster Herkünfte miteinander reden, weil es einen ‚universellen Übersetzer‘ gibt (Bei Jansen das Kapitel ‚Sternenzeit 67190‘). Dieser macht es möglich, dass unterschiedliche Menschen im Reden zueinander finden können. Die Verschiedenartigkeit muss dann kein Hindernis mehr sein, sie kann ‚bereichern‘. Für Staaten mit vielen unterschiedlichen Sprachen (Europa, Russland, Südafrika, Indien, ….) ist die Lösung des Sprachenproblems zentral. In der Welt ‚vor‘ Star-Trek haben wir noch keine wirklich gute Lösung. Und für das zentrale Problem jeder Sprache, ihre ‚Semantik‘ (die Wechselbeziehung zwischen Zeichen und realer Welt), hat die Wissenschaft bis heute keine wirkliche Lösung, auch nicht ein Gigant wie Google oder die NSA. Das Google und die NSA trotzdem, mit den begrenzten Methoden von heute, so viel Wirkung erzielen können, kann uns erzittern lassen vor einer Zukunft, in der die Sprachtechnologie weiter vorangeschritten sein wird, nämlich dann, wenn der Gedanke einer demokratischen Weltordnung sich nicht weiter entwickeln konnte. Wir brauchen transnationale Demokratien von hoher Qualität, wollen wir das wahre Potential des Lebens ausschöpfen.
13) Dies führt zurück zur Grundsatzfrage, was denn überhaupt das ‚Humanum‘ als Teil des gesamten biologischen Lebens in dem bekannten Universum ist. Ich glaube nicht, dass irgendjemand auf dieser Erde diese Frage momentan wirklich beantworten kann trotz vielzähliger ‚humanistisch‘ sich nennender Traditionen. Der Begriff des ‚kosmischen Humanismus‘ und einer ‚transnationalen Demokratie‘ hängen engstens zusammen.

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QUELLEN

Jansen, H. (2013), „Die Philosophie bei STAR TREK“,Weinheim: Wiley-VCH Verlag GmbH & Co., KGaA