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ABSTRAKTE MORAL in einer ENDLICHEN und VERÄNDERLICHEN WELT

(16.Juni 2023 – 19.Juni 2023, 15:15h)

KONTEXT

Die Bedeutung und die Befolgung von moralischen Werten im Kontext des alltäglichen Handelns hat schon immer für Spannungen, Diskussionen und handfeste Konflikte gesorgt.

In diesem Text soll kurz beleuchtet werden, warum dies so ist, und warum dies vermutlich nie anders sein wird, so lange wir Menschen so sind, wie wir sind.

ENDLICHE-UNENDLICHE WELT

In diesem Text wird angenommen, dass die Wirklichkeit, in der wir uns von Kindheit an ‚vorfinden‘, eine ‚endliche‘ Welt ist. Damit ist gemeint, dass kein Phänomen, auf das wir in dieser Welt stoßen — wir selbst mit eingeschlossen — ‚unendlich‘ ist. Anders ausgedrückt: alle Ressourcen, auf die wir stoßen, sind ‚begrenzt‘. Auch die ‚Sonnenenergie, die im heutigen Sprachgebrauch als ‚erneuerbar‘ angesehen wird, ist ‚begrenzt‘, wenngleich diese Begrenzung die Lebenszeit vieler Generationen von Menschen überdauert.

Diese ‚Endlichkeit‘ ist aber kein Gegensatz dazu, dass sich unsere endliche Welt kontinuierlich in einem ‚Veränderungsprozess‘ befindet, der von vielen Seiten gespeist wird. Eine ’sich-selbst-verändernde Endlichkeit‘ ist damit ein Etwas, was an und in sich irgendwie ‚über sich hinaus weist‘! Die ‚Wurzeln‘ dieser ‚immanenten Veränderlichkeit‘ sind weitgehend vielleicht noch unklar, aber die ‚Auswirkungen‘ der immanenten Veränderlichkeit‘ deuten an, dass das jeweils ‚konkret Endliche‘ nicht das Entscheidende ist; das ‚jeweils konkret Endliche‘ ist eher eine Art ‚Indikator‘ für eine ‚immanente Veränderungsursache‘, die sich mittels konkreter Endlichkeiten in Veränderung ‚manifestiert‘. Die ‚Formen konkreter Veränderungsmanifestationen‘ können daher vielleicht eine Art ‚Ausdruck‘ sein, von etwas, was ‚dahinter immanent wirkt‘.

In der Physik gibt es das Begriffspaar ‚Energie‘ und ‚Masse‘, letztere als Synonym für ‚Materie‘. Atomphysik und Quantenmechanik haben uns gelehrt, dass die verschieden ‚Manifestationen von Masse/ Materie‘ nur eine ‚Zustandsform von Energie‘ sein können. Die überall und immer angenommene ‚Energie‘ ist jener ‚Ermöglichungsfaktor‘, der sich in all den bekannten Formen von Materie ‚manifestieren‘ kann. ‚Sich-verändernde-Materie‘ kann man dann verstehen als eine Form von ‚Information‘ über die ‚ermöglichende Energie‘.

Setzt man das, was die Physik bislang über ‚Energie‘ herausgefunden hat, als jene Form von ‚Unendlichkeit‘, die sich uns über die erfahrbare Welt erschließt, dann sind die verschiedenen ‚Manifestationen von Energie‘ in diversen ‚Formen von Materie‘ Formen konkreter Endlichkeiten, die aber im Kontext der unendlichen Energie letztlich nicht wirklich endlich sind. Alle bekannten materiellen Endlichkeiten sind nur ‚Übergänge‘ (‚Transitionen‘) in einem nahezu unendlichen Raum von möglichen Endlichkeiten, der letztlich in der ‚unendlichen Energie‘ gründet. Ob es ’neben‘ oder ‚hinter‘ oder ‚qualitativ nochmals ganz anders zu‘ der ‚erfahrbaren Unendlichkeit‘ noch eine ‚andere Unendlichkeit‘ gibt, ist damit völlig offen.[1]

ALLTAGSERFAHRUNGEN

Unser normale Lebenskontext ist das, was wir heute ‚Alltag‘ nennen: ein Bündel von regelmäßigen Abläufen, vielfach verbunden mit charakteristischen Verhaltens-Rollen. Dazu gehört die Erfahrung, einen ‚endlichen Körper‘ zu haben; dass ‚Abläufe real Zeit benötigen‘; dass jeder Prozess durch seinen eigenen ‚typischen Ressourcenverbrauch‘ charakterisiert ist; dass ‚alle Ressourcen endlich‘ sind (wobei es hier unterschiedliche Zeit-Skalen geben kann (siehe das Beispiel mit der Sonnenenergie)).

Aber auch hier: das ‚Eingebettet-Sein‘ aller Ressourcen und ihr Verbrauch in eine umfassende Veränderlichkeit macht aus allen Angaben ‚Momentaufnahmen‘, die ihre ‚Wahrheit‘ nicht allein ‚im Moment‘ haben, sondern in der ‚Gesamtheit der Abfolge‘! An sich ‚kleine Veränderungen‘ im Alltag können, wenn sie andauern, Größen annehmen und Wirkungen erzielen, die einen ‚bekannten Alltag‘ soweit verändern, dass lang bekannte ‚Anschauungen‘ und ‚lang praktizierte Verhaltensweisen‘ irgendwann ’nicht mehr stimmen‘: Das Format des eigenen Denkens und Verhaltens gerät dann in zunehmendem Widerspruch zur erfahrbaren Welt. Dann ist der Punkt gekommen, wo die immanente Unendlichkeit sich in der alltäglichen Endlichkeit ‚manifestiert‘ und uns darin ‚demonstriert‘, dass der ‚gedachte Kosmos in unserem Kopf‘ eben nicht der ‚wahre Kosmos‘ ist. Letztlich ist diese immanente Unendlichkeit ‚wahrer‘ als die ’scheinbare Endlichkeit‘.

HOMO SAPIENS (Wir)

Neben den lebensfreien materiellen Prozessen in dieser endlichen Welt gibt es seit ca. 3.5 Mrd. Jahren die Erscheinungsformen, die wir ‚Leben‘ nennen, und sehr spät — quasi ‚gerade eben‘ — zeigte sich in den Milliarden von Lebensformen eine, die wir ‚Homo sapiens‘ nennen. Das sind wir.

Die heutigen Kenntnisse von dem ‚Weg‘, den das Leben in diesen 3.5 Mrd. Jahren ‚genommen‘ hat, waren und sind nur möglich, weil die Wissenschaft gelernt hat, das ’scheinbar Endliche‘ als ‚Momentaufnahme‘ eines andauernden Veränderungsprozesses zu begreifen, der seine ‚Wahrheit‘ nur in der ‚Gesamtheit der einzelnen Momente‘ zeigt. Dass wir als Menschen, als die ‚Spätlinge‘ in diesem Lebens-Entstehungs-Prozess‘, über die Fähigkeit verfügen, aufeinander folgende ‚Momente‘ ‚einzeln‘ wie auch ‚in Abfolge‘ ‚erkennen‘ zu können, liegt an der besonderen Beschaffenheit des ‚Gehirns‘ im ‚Körper‘ und der Art und Weise, wie unser Körper mit der umgebenden Welt ‚interagiert‘. Von der ‚Existenz einer immanenten Unendlichkeit‘ wissen wir also nicht ‚direkt‘, sondern nur ‚indirekt‘ über die ‚Prozesse im Gehirn‘, die auf eine ’neuronal programmierte Weise‘ Momente identifizieren, speichern, prozessieren und in möglichen Abfolgen ‚anordnen‘ können. Also: unser Gehirn ermöglicht uns aufgrund einer vorgegebenen neuronalen und körperlichen Struktur, ein ‚Bild/ Modell‘ einer möglichen immanenten Unendlichkeit zu ‚konstruieren‘, von dem wir annehmen, dass es die ‚Ereignisse um uns herum‘ einigermaßen gut ‚repräsentieren‘.

DENKEN

Eine Eigenschaft, die dem Homo Sapiens zugeschrieben wird, heißt ‚Denken‘; ein Begriff, der bis heute nur vage und sehr vielfältig durch verschiedene Wissenschaften beschrieben wird. Von einem anderen Homo Sapiens erfahren wir von seinem Denken nur durch seine Art des ‚Sich Verhaltens‘, und ein Spezialfall davon ist ’sprachliche Kommunikation‘.

Sprachliche Kommunikation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie grundsätzlich mit ‚abstrakten Begriffen‘ arbeitet, denen als solches direkt kein einzelnes Objekt in der realen Welt entspricht (‚Tasse‘, ‚Haus‘, ‚Hund‘, ‚Baum‘, ‚Wasser‘ usw.). Stattdessen ordnet das menschliche Gehirn ‚völlig automatisch‘ (‚unbewusst‘!) unterschiedlichste konkrete Wahrnehmungen dem einen oder anderen abstrakten Begriff so zu, dass ein Mensch A sich mit einem Menschen B darüber einigen kann, ob man dies konkrete Phänomen da vorne dem abstrakten Begriff ‚Tasse‘, ‚Haus‘, ‚Hund‘, ‚Baum‘, oder ‚Wasser‘ zuordnet. Irgendwann weiß im Alltag Mensch A welche konkrete Phänomene gemeint sein können, wenn Mensch B ihn fragt, ob er eine ‚Tasse Tee‘ habe, bzw. ob der ‚Baum‘ Äpfel trägt usw.

Diese empirische belegte ‚automatische Bildung‘ von abstrakten Konzepten durch unser Gehirn basiert nicht nur auf einem einzigen Moment, sondern diese automatischen Konstruktionsprozesse arbeiten mit den ‚wahrnehmbaren Abfolgen‘ von endlichen Momenten ‚eingebettet in Veränderungen‘, die das Gehirn selbst auch automatisch ‚erstellt‘. ‚Veränderung als solche‘ ist insofern kein ‚typisches Objekt‘ der Wahrnehmung, sondern ist das ‚Resultat eines Prozesses‘, der im Gehirn stattfindet, der ‚Folgen von einzelnen Wahrnehmungen‘ konstruiert, und diese ‚errechneten Folgen‘ gehen als ‚Elemente‘ in die Bildung von ‚abstrakten Begriffen‘ ein: ein ‚Haus‘ ist von daher kein ’statisches Konzept‘, sondern ein Konzept, das viele einzelne Eigenschaften umfassen kann, das aber als ‚Konzept‘ ‚dynamisch erzeugt‘ wird, so dass ’neue Elemente‘ dazu kommen können oder ‚vorhandene Elemente‘ möglicherweise wieder ‚weg genommen‘ werden.

MODELL: WELT ALS PROZESS

Obwohl es bislang keine allgemein akzeptierte umfassende Theorie des menschlichen Denkens gibt, gibt es doch viele unterschiedliche Modelle (alltäglicher Begriff für den korrekteren Begriff ‚Theorien‘), die versuchen, wichtige Aspekte des menschlichen Denkens anzunähern.

Das vorausgehende Bild zeigt die Umrisse eines minimal einfachen Modells zu unserem Denken.

Dieses Modell nimmt an, dass die umgebende Welt — mit uns selbst als Bestandteile dieser Welt — als ein ‚Prozess‘ zu verstehen ist, bei dem man zu einem gewählten ‚Zeitpunkt‘ in idealisierter Weise alle ‚beobachtbaren Phänomene‘ beschreiben kann, die dem Beobachter zu diesem Zeitpunkt wichtig sind. Diese Beschreibung eines ‚Weltausschnitts‘ sei hier ‚Situationsbeschreibung‘ zum Zeitpunkt t oder einfach ‚Situation‘ zu t genannt.

Dann benötigt man ein ‚Wissen über mögliche Veränderungen‘ von Elementen der Situationsbeschreibung in der Art und Weise (vereinfacht): ‚Wenn X Element der Situationsbeschreibung zu t ist, dann wird für eine nachfolgende Situation zu t entweder X gelöscht oder durch ein neues X* ersetzt‘. Möglicherweise gibt es für das Löschen oder die Ersetzung mehrere Alternativen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten. Solche ‚Beschreibungen von Veränderungen‘ werden hier vereinfachend ‚Veränderungsregeln‘ genannt.

Zusätzlich gibt es als Teil des Modells noch eine ‚Spielanleitung‘ (klassisch: ‚Folgerungsbegriff‘), die erklärt wann und wie man einer Veränderungsregel auf eine gegebene Situation Sit zu t so anwenden kann, dass zum nachfolgenden Zeitpunkt t+1 eine Situation Sit* existiert, in der die Veränderungen vorgenommen worden sind, die die Veränderungsregel beschreibt.

Im Normalfall gibt es mehr als eine Veränderungsregel, die gleichzeitig mit den anderen angewendet werden kann. Auch dies gehört zur Spielanleitung.

Dieses minimale Modell kann und muss man auch vor dem Hintergrund der durchgängigen Veränderung sehen.

Für diese Struktur von Wissen wird vorausgesetzt, dass man ‚Situationen‘ beschreiben kann, mögliche Veränderungen solch einer Situation, und dass man ein Konzept haben kann, wie man Beschreibungen von erkannte möglichen Veränderungen auf eine gegebene Situation anwenden kann.

Mit der Erkenntnis einer immanenten Unendlichkeit, die sich in vielen konkreten endlichen Situationen manifestiert, ist sogleich klar, dass die Menge der angenommenen Veränderungsbeschreibungen mit den beobachtbaren Veränderungen korrespondieren sollte, da ansonsten die Theorie nur einen geringen praktischen Nutzen hat. Ebenso ist es natürlich wichtig, dass die angenommenen Situationsbeschreibungen mit der beobachtbaren Welt korrespondieren. Die Korrespondenz-Anforderungen zu erfüllen bzw. ihr Zutreffen zu überprüfen ist alles andere als trivial.

ABSTRAKT – REAL – INDETERMINIERT

Zu diesen ‚Korrespondenz-Anforderungen‘ hier einige zusätzliche Überlegungen, in denen die Sicht der Alltagsperspektive zur Sprache kommt.

Zu beachten ist, dass ein ‚Modell‘ nicht die Umwelt selbst ist, sondern nur eine ’symbolische Beschreibung‘ eines Umweltausschnitts aus der Sicht und mit dem Verständnis eines menschlichen ‚Autors‘! Auf welche Eigenschaften der Umwelt sich eine Beschreibung bezieht, das weiß nur der Autor selbst, der die gewählten ‚Symbole‘ (Text oder Sprache) ‚in seinem Kopf‘ mit bestimmten Eigenschaften der Umwelt ‚verknüpft‘, wobei diese Eigenschaften der Umwelt ebenfalls ‚im Kopf‘ repräsentiert sein müssen, quasi ‚Wissensabbilder‘ von ‚Wahrnehmungsereignissen‘, die durch die Umwelteigenschaften ausgelöst worden sind. Diese ‚Wissensabbilder im Kopf‘ sind für den jeweiligen Kopf ‚real‘; verglichen mit der Umgebung sind sie aber grundsätzlich nur ‚fiktiv‘; es sei denn, es gibt zwischen aktuellen fiktiven ‚Bilder im Kopf‘ und den ‚aktuellen Wahrnehmungen‘ von ‚Umweltereignissen‘ aktuell einen Zusammenhang, der die ‚konkreten Elemente der Wahrnehmung‘ als ‚Elemente der fiktiven Bilder‘ erscheinen lässt. Dann wären die ‚fiktiven‘ Bilder ‚fiktiv und real‘.

Aufgrund des ‚Gedächtnisses‘, dessen ‚Inhalt‘ im ‚Normalzustand‘ mehr oder weniger ‚unbewusst‘ sind, können wir aber ‚erinnern‘, dass bestimmte ‚fiktive Bilder‘ in der Vergangenheit mal ‚fiktiv und real‘ waren. Dies kann dazu führen, dass wir im Alltag dazu tendieren, fiktiven Bilder, die in der Vergangenheit schon mal ‚real‘ waren, auch in der aktuellen Gegenwart eine ‚vermutliche Realität‘ zuzuschreiben. Diese Tendenz ist im alltäglichen Leben vermutlich von hoher praktischer Bedeutung. In vielen Fällen funktionieren diese ‚Annahmen‘ auch. Dieses ’spontan-für-real-Halten‘ kann aber auch oft daneben liegen; eine häufige Quelle für Fehler.

Das ’spontan-für-real-Halten‘ kann aus vielen Gründen nachteilig sein. So können die fiktiven Bilder (als unausweichlich abstrakte Bilder) schon als solche vielleicht nur ‚partiell angemessen‘ sein. Der Kontext der Anwendung kann sich geändert haben. Generell befindet sich die Umgebung ‚im Fluss‘: Sachverhalte, die gestern gegeben waren, können heute anders sein.

Die Gründe für die anhaltenden Veränderungen sind verschieden. Neben solchen Veränderungen, die wir durch unsere Erfahrung als ein ‚identifizierbares Muster‘ erkennen konnten, gibt es auch Veränderungen, die wir noch keinem Muster zuordnen konnten; diese können für uns einen ‚zufälligen Charakter‘ haben. Schließlich gibt es auch noch die verschiedenen ‚Lebensformen‘, die von ihrer Systemstruktur her bei aller ‚partiellen Determiniertheit‘ grundsätzlich ’nicht determiniert‘ sind (man kann dies auch ‚immanente Freiheit‘ nennen). Das Verhalten diese Lebensformen kann zu allen anderen erkannten Mustern konträr liegen. Ferner verhalten sich Lebensformen nur partiell ‚einheitlich‘, wenngleich Alltagsstrukturen mit ihren ‚Verhaltensregeln‘ — und viele anderen Faktoren — Lebensformen mit ihrem Verhalten in eine bestimmte Richtung ‚drängen‘ können.

Erinnert man sich an dieser Stelle nochmals an die vorausgehenden Gedanken zur ‚immanenten Unendlichkeit‘ und der Sicht, dass die einzelnen, endlichen Momente nur als ‚Teil eines Prozesses‘ verstehbar sind, dessen ‚Logik‘ bis heute weitgehend noch nicht entschlüsselt ist, dann ist klar, dass jegliche Art von ‚Modellbildung‘ von innerhalb der umfassenden Veränderungsprozesse immer nur einen vorläufigen Näherungscharakter haben kann, zumal erschwerend dazu kommt, dass die menschlichen Akteure ja nicht nur ‚passiv Aufnehmende‘ sind, sondern zugleich immer auch ‚aktiv Handelnde‘, die durch ihr Handeln mit auf den Veränderungsprozess einwirken! Diese menschlichen Einwirkungen resultieren aus der gleichen immanenten Unendlichkeit wie jene, die alle übrigen Veränderungen bewirkt. Die Menschen (wie das gesamte Leben) sind damit real ‚ko-Kreativ‘ …. mit all den Verantwortlichkeiten, die sich daraus ergeben.

MORAL ÜBER ALLEM

Was man unter ‚Moral‘ genau zu verstehen hat, muss man aus vielen hundert — oder gar mehr — verschiedenen Texten heraus lesen. Jede Zeit — und sogar jede Region in dieser Welt — hat dazu unterschiedliche Versionen entwickelt.

In diesem Text wird davon ausgegangen, dass mit ‚Moral‘ solche ‚Anschauungen‘ gemeint sind, die dazu beitragen sollen, dass ein einzelner Mensch (oder eine Gruppe oder …) in Fragen der ‚Entscheidung‘, soll ich eher A oder B tun, ‚Hinweise‘ bekommen soll, wie diese Frage ‚am besten‘ beantwortet werden kann.

Erinnert man sich an dieser Stelle daran, was zu vor gesagt wurde zu jener Denkform, die ‚Prognosen‘ erlaubt (das Denken in expliziten ‚Modellen‘ oder ‚Theorien‘) , dann müsste es unabhängig von eine aktuellen ‚Situationsbeschreibung‘ und unabhängig vom möglichen ‚Veränderungswissen‘ eine ‚Bewertung‘ der ‚möglichen Fortsetzungen‘ geben. Es muss also ’neben‘ der Beschreibung einer Situation, wie sie ‚ist‘ mindestens eine ‚zweite Ebene‘ (eine ‚Meta-Ebene‘) geben, die ‚über‘ die Elemente der ‚Objektebene so sprechen kann, dass z.B. gesagt werden kann, dass ein ‚Element A‘ aus der Objektebene ‚gut‘ oder ’schlecht‘ oder ’neutral‘ ist oder mit einer bestimmten graduellen ‚Abstimmung‘ ‚gut‘ oder ’schlecht‘ oder ’neutral‘. Dies kann auch mehrere Elemente oder ganze Teilmengen der Objektebene betreffen. Dies kann man machen. Damit es ‚rational akzeptierbar‘ ist, müssten diese Bewertungen aber mit ‚irgendeiner Form von Motivation‘ verknüpft sein, ‚warum‘ diese Bewertung angenommen werden soll. Ohne solch eine ‚Motivation von Bewertungen‘ würde solch eine Bewertung als ‚pure Willkür‘ erscheinen.

An dieser Stelle wird die ‚Luft‘ recht ‚dünn‘: in der bisherigen Geschichte wurde bislang kein überzeugendes Modell für eine moralische Begründung bekannt, das letztlich nicht auf die Entscheidung von Menschen zurück zu führen ist, bestimmte Regeln als ‚gültig für alle‘ (Familie, Dorf, Stamm, …) anzusetzen. Oft lassen sich die Begründungen noch in den konkreten ‚Lebensumständen‘ verorten, genauso oft treten die konkreten Lebensumstände im Laufe der Zeit ‚in den Hintergrund‘ und stattdessen werden abstrakte Begriffe eingeführt, die man mit einer ’normativen Kraft‘ ausstattet, die sich einer konkreteren Analyse entziehen. Ein rationaler Zugriff ist dann kaum bis gar nicht mehr möglich.

In einer Zeit wie im Jahr 2023, in dem das verfügbare Wissen dazu ausreicht, die wechselseitigen Abhängigkeiten von buchstäblich jedem von jedem erkennen zu können, dazu die Veränderungsdynamik, die mit der Komponenten ‚Erderwärmung‘ den ’nachhaltigen Bestand des Lebens auf der Erde‘ substantiell bedrohen kann bzw. bedroht, erscheinen ‚abstrakt gesetzte Normbegriffe‘ nicht nur ‚aus der Zeit‘ gefallen, nein, sie sind höchst gefährlich, da sie den Erhalt des Lebens für die weitere Zukunft substantiell behindern können.

META-MORAL (Philosophie)

Es stellt sich dann die Frage, ob dieses ‚rationale schwarze Loch‘ von ‚begründungsfreien Normbegriffen‘ die Endstation menschlichen Denkens markiert oder ob das Denken hier nicht gerade erst anfangen sollte?

Traditionell versteht sich eigentlich die Philosophie als jene Denkhaltung, in der jedes ‚Gegebene‘ — dazu gehören dann auch jegliche Art von Normbegriffen — zu einem ‚Gegenstand des Denkens‘ gemacht werden kann. Und gerade das philosophische Denken hat in Jahrtausende langem Ringen genau dieses Ergebnis hervorgebracht: es gibt keinen Punkt im Denken, aus dem sich alles Sollen/ alles Bewerten, ‚einfach so‘ ‚ableiten lässt.

Im Raum des philosophischen Denkens, auf der Meta-Moral-Ebene, kann man zwar immer mehr Aspekte unserer Situation als ‚Menschheit‘ in einer dynamischen Umwelt (mit dem Menschen selbst als Teil dieser Umwelt) ‚thematisieren‘, ‚benennen‘, in eine ‚potentielle Beziehungen‘ einordnen, ‚Denkexperimente‘ über ‚mögliche Entwicklungen‘ anstellen, aber dieses philosophische Meta-Moral-Wissen ist komplett transparent und immer identifizierbar. Die Folgerungen, warum etwas ‚besser‘ erscheint als etwas anderes, sind immer ‚eingebettet‘, ‚bezogen‘. Die Forderungen nach einer ‚autonomen Moral‘, nach einer ‚absoluten Moral‘ neben dem philosophischen Denken erscheinen vor diesem Hintergrund ‚grundlos‘, ‚willkürlich‘, der ‚Sache fremd‘. Eine rationale Begründung ist nicht möglich.

Ein ‚rational Unerkennbares‘ mag es geben, gibt es sogar unausweichlich, aber dieses rational Unerkennbare ist unsere schiere Existenz, das tatsächliche reale Vorkommen, für das es bislang keine rationale ‚Erklärung gibt‘, genauer: noch nicht gibt. Dies ist aber kein ‚Freifahrschein‘ für Irrationalität. In der ‚Irrationalität‘ verschwindet alles, sogar das ‚rational Unerkennbare‘, und dieses gehört mit zu den wichtigsten ‚Sachverhalten‘ in der Welt des Lebens.

DER AUTOR

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ANMERKLUNGEN

[1] Die verschiedenen Formen von ‚Unendlichkeit‘, die mit den Arbeiten von Georg Cantor in die Mathematik eingeführt und intensiv weiter untersucht wurden, haben mit der im Text beschrieben erfahrbaren Endlichkeit/ Unendlichkeit nichts zu tun: https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Cantor . Allerdings, will man die ‚Erfahrung‘ von realer Endlichkeit/ Unendlichkeit ‚beschreiben‘, dann wird man möglicherweise auf Beschreibungsmittel der Mathematik zurückgreifen wollen. Nur ist nicht von vornherein ausgemacht, ob die mathematischen Konzepte mit der zur Sache stehenden empirischen Erfahrung ‚harmonieren‘.

Das Ende der Evolution, von Matthias Glaubrecht,2021 (2019). Lesenotizen – Teil 2

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 17.September 2022 – 29. September 2022, 07:16h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Diesem Text geht ein erster Teil voraus.[1]

Die Zukunft hat viele Gesichter

Nach dem spektakulären Foto 1968 während der Apollo-8 Mission von der Erde als ‚blue marble‘ (auch als ‚blue button‘ bezeichnet), entstand 1990 ein nicht weniger spektakuläres Foto von der Erde während der Voyager Mission aus einer Entfernung von 6 Milliarden km genannt ‚pale blue button‘. 30 Jahre später wurden die Bilddaten neu überarbeitet: https://www.jpl.nasa.gov/images/pia23645-pale-blue-dot-revisited . Das Bild hier im Blog-Text zeigt einen Ausschnitt davon.

Nach mehr als 800 Seiten prall gefüllt mit Gedanken, Informationen, Fakten, eingebettet in Analysen komplexer Prozesse, unternimmt Glaubrecht das Wagnis, einen Blick in die Zukunft zu wagen. ‚Wagnis‘ deswegen, weil solch ein ‚Blick in die Zukunft‘ nach Glaubrechts eigener Überzeugung „nicht die Sache der Wissenschaft“ sei.(S.864 unten).

Die hier möglichen und notwendigen wissenschaftsphilosophischen Fragen sollen aber für einen Moment hintenan gestellt werden. Zunächst soll geschildert werden, welches Bild einer möglichen Lösung angesichts des nahenden Unheils Glaubrecht ab S.881 skizziert.

Umrisse einer möglichen Lösung für 2062

In seiner Lösungsvision kommen viele der großen Themen vor, die er zuvor im Zusammenhang des nahenden Unheils thematisiert hat: „Biodiversität“ (881), „Lebensstil“ (883), „Überbevölkerung“ (884), „Bildung“, speziell für Frauen (885), das „Knappheits-Narrativ“ (885), ökologische Landbewirtschaftung und „tropische Wälder“ (vgl. 886), nochmals „Biodiversität“ (887), große zusammenhängende Schutzgebiete, „working lands“ sowie neue Rechte für die Natur (vgl. 888-891), „Konsumverhalten“ und „neues Wirtschaften“ (892), „Bildungsreform“, „ökosystemares Denken“ (893), „Ungleichheit weltweit“ und neue „Definition von Wachstum“ (894).

Pale Blue Planet

Auf den SS. 900 – 907 hebt Glaubrecht dann nochmals hervor, dass biologische Evolution kein eindeutig prognostizierbarer Vorgang ist. Dass sich auf der Erde biologisches Leben entwickelt hat heißt keinesfalls, dass dies sich auf einem anderen Planeten mit ähnlichen Voraussetzungen einfach wiederholen würde. Weiterhin gibt er zu bedenken, dass die Suche nach einem alternativen Planeten zur Erde bislang kaum fassbare Ergebnisse gebracht hat. Von den 0.5% möglichen Kandidaten mit habitablen Zonen von 3640 bekannten Exoplaneten im April 2017 zeigte bislang keiner hinreichende Eigenschaften für biologisches Leben. Von diesen ’nicht-wirklich Kandidaten‘ befindet sich der nächst gelegene Kandidat 4 Lichtjahre entfernt. Mit heutiger Technologie bräuchte man nach Schätzungen zwischen 6.000 bis 30.000 Jahren Reisezeit.

Vor diesem Hintergrund wirkt insbesondere die Suche nach einer „anderen Intelligenz“ fast bizarr: ist schon die biologische Evolution selbst ungewöhnlich, so deutet die ‚Entwicklungszeit‘ des Menschen mit ca. 3.5 Milliarden Jahren an, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass es irgendwo anders etwas „wirklich Vergleichbares … zum Menschen“ geben kann.(vgl. S.905)

Visionen und ihre Bedingungen

Dass Glaubrecht nach seinen umfassenden und sehr beeindruckenden Analysen Zukunftsszenarien schildern kann, darunter auch eine ‚positive‘ Variante für das Jahr 2062, zeigt zunächst einmal, dass es überhaupt geht. Das ‚Geschichten erzählen‘ ist eine Eigenschaft des Menschen, die sich mindestens bis in die Vorzeit der Erfindung von Schriften zurück verfolgen lässt. Und wenn wir unseren Alltag betrachten, dann ist dieser randvoll mit ‚Geschichten‘ über mögliche zukünftige Szenarien (Zeitungen, Fernsehen, Videos, in privaten Dialogen,Bücher, …). Zugleich haben wir gelernt, dass es ‚falsche‘ und ‚wahre‘ Geschichten geben kann. ‚Wahre‘ Geschichten über eine mögliche Zukunft ‚bewahrheiten‘ sich, indem die Zustände, von denen man ‚zuvor‘ gesprochen hatte, ‚tatsächlich‘ eintreten. Mit der Feststellung, dass eine Geschichten über eine mögliche Zukunft ‚falsch‘ sei, ist es schwieriger. Nur wenn man einen klaren ‚zukünftigen Zeitpunkt‘ angeben kann, dann kann man entscheiden, dass z.B. das Flugzeug oder der Zug zum prognostizierten Zeitpunkt ’nicht angekommen‘ ist.

Über Zukunft reden

Schon die Alltagsbeispiele zeigen, dass das Reden von einem ‚möglichen Zustand in der Zukunft‘ verschiedene Voraussetzungen erfüllen muss, damit dieses Sprachspiel funktioniert:

  1. Fähigkeit, zwischen einer ‚erinnerbaren Vergangenheit‘, einem ‚aktuellen Gedanken über einen möglichen zukünftigen Zustand‘, und einer ’neuen Gegenwart‘ unterscheiden zu können, so, dass entschieden werden kann, dass eine ’neue Gegenwart‘ mit dem zuvor gefassten ‚Gedanken über einen möglichen zukünftigen Zustand‘ hinreichend viele ‚Ähnlichkeiten‘ aufweist.
  2. Verschiedene Akteure müssen sowohl über Kenntnisse der ‚Ausdrücke‘ einer ‚gleichen Sprache‘ verfügen, und zugleich müssen sie über ‚hinreichend ähnliche Bedeutungen‘ in ihren Gehirnen verfügen, die sie ‚auf hinreichend ähnliche Weise‘ mit den benutzten Ausdrücken ‚verbinden‘.
  3. Für den Bereich der ‚bekannten Bedeutungen‘ im Gehirn muss die Fähigkeit verfügbar sein, diese in ’neuen Anordnungen‘ so zu denken, dass diese neuen Anordnungen als Bedeutungen für ein Reden über ‚mögliche neue Zustände verfügbar‘ sind. Menschen, die so etwas können, nennt man ‚kreativ‘, ‚fantasievoll‘, ‚innovativ‘.

Dieses sind allgemeine und für alle Menschen notwendige Voraussetzungen. Die Kulturgeschichte der Menschheit zeigt aber eindrücklich, dass das ‚Erzählen von möglicher Zukunft‘ bis zum Beginn der modernen empirischen Wissenschaften sich jede Freiheit genommen hate, die sprachlich möglich ist. Dies machte den Umgang mit ‚wahren Prognosen‘ zu einer Art Glücksspiel. Eine Situation, die speziell für jene , die ‚mehr Macht haben‘ sehr günstig war: sie konnten die ‚vage Zukunft‘ sehr freizügig immer zu ihren Gunsten auslegen; keiner konnte klar widersprechen.

Empirische Wissenschaften – Bessere Prognosen

Mit dem Aufkommen der neueren empirischen Wissenschaften (beginnend ab ca. dem 15.Jahrhundert) wendete sich das Blatt ein wenig, da das ‚Reden über einen möglichen zukünftigen Zustand‘ jetzt stärker ’normiert‘ wurde. Von heute aus betrachtet mag diese Normierung einigen (vielen?) vielleicht ‚zu eng‘ erscheinen, aber als ‚Start‘ in ein Phase von ‚Prognosen mit größerer Zuverlässigkeit‘ war diese Normierung faktisch ein großer kultureller Fortschritt. Diese neue ‚Normierung‘ umfasste folgende Elemente:

  1. Als ‚akzeptierte Fakten‘ wurden nur solche ’sprachlichen Ausdrücke‘ anerkannt, die sich mittels eines von jedem ‚wiederholbaren Experiments‘ (klar definierte Handlungsfolgen) auf ‚für alle Beteiligte beobachtbare Phänomene‘ beziehen lassen (z.B. die ‚Länge eines Gegenstandes mit einem vereinbarten Längenmaß‘ feststellen; das ‚Gewicht eines Gegenstandes mit einem vereinbarten Gewichtskörper‘ feststellen; usw.). Ausdrücke, die auf diese Weise gemeinsam benutzt werden, heißen gewöhnlich ‚Messwerte‘, die in ‚Tatsachenbehauptungen‘ eingebettet werden (z.B. ‚Die Tischkante dort ist 2 m lang‘, ‚Gestern bei höchstem Sonnenstand wog dieser Beutel 1.5 kg‘, usw.).
  2. Tatsachenbehauptungen waren von da ab leichter ‚klassifizierbar‘ im Sinne von ‚zutreffend (wahr)‘ oder ’nicht zutreffend (falsch)‘ als ohne diese Normierungen. Mit der Einführung solcher ’normierter Beobachtungen‘ wurden implizit auch ‚Zahlen‘ eingeführt, was zu dem führte, was man heute auch ‚Quantifizieren‘ nennt. Statt alltagssprachlicher Ausdrücke wie ‚lang‘, ‚groß‘, ’schwer‘ usw. zu benutzen, deren Bedeutung im Alltag immer nur ‚fallweise kontextualisiert‘ wird (eigentlich die große Stärke der normalen Sprache), wurde mit der Quantifizierung mittels Zahlen und vereinbarten ‚Standard Größen‘ (heute oft ‚Einheiten‘ genannt) die gewohnte Vagheit der Normalsprache durch eine neue, ungewohnte Konkretheit ersetzt. Die Ersetzung von normalsprachlicher Flexibilität durch vereinbarte Konkretheit erlaubte dann — wie sich immer mehr zeigte — eine ganz neue Qualität in der Beschreibung von ‚messbaren Phänomenen‘ und deren ‚Verhalten in der Zeit‘.[4]
  3. Das Werk ‚Philosophiae Naturalis Principia Mathematica‘ (erstmals 1689, Latein) von Isaac Newton gilt als erste große Demonstration der Leistungsfähigkeit dieses normierten Vorgehens (nach berühmten Vorläufern wie z.B.. Galilei und Kepler). Dazu kommt, dass die quantifizierten Tatsachenbehauptungen in ‚Zusammenhänge‘ eingebracht werden, in denen in Form von ‚Lehrsätzen‘ (oft auch Axiome genannt)‘ so etwas wie ‚Wirkzusammenhänge‘ beschrieben werden, die quantifizierte Ausdrücke benutzen.
  4. Im Zusammenwirken von quantifizierten Beobachtungen mit quantifizierten Wirkzusammenhängen lassen sich dann vergleichsweise genaue ‚Folgerungen‘ ‚ableiten‘, deren ‚Zutreffen‘ sich in der beobachtbaren Welt als ‚quantifizierte Prognosen‘ besser überprüfen lässt als ohne solche Quantifizierungen.
  5. Ein solches quantifizierendes Vorgehen setzt voraus, dass man die Ausdrücke der normalen Sprache um Ausdrücke einer ‚formalen Sprache‘ ‚erweitert‘. Im Fall von Newton waren diese formalen Ausdrücke jene der damaligen Mathematik.
  6. Interessant ist, dass Newton noch nicht über einen ‚formalen Folgerungsbegriff‘ verfügte, wie er dann Ende des 19.Jahrhunderts, Anfang des 20.Jahrhunderts durch die moderne Logik eingeführt wurde, einhergehend mit einer weiteren Formalisierung der Mathematik durch explizite Einbeziehung eines meta-mathematischen Standpunkts.

Der ‚Elefant im Raum‘

Es gibt Gesprächszusammenhänge, von denen sagt man, dass vom ‚Elefant im Raum‘ nicht gesprochen wird; also: es gibt ein Problem, das ist relevant, aber keiner spricht es aus.

Wenn man den Text zur positiven Vision zum Jahr 2062 liest, kann man solch einen ‚Elefanten im Raum‘ bemerken.

Ausgangslage im Alltag

Man muss sich dazu das Folgende vergegenwärtigen: Ausgangslage ist die Welt im Jahr 2021, in der die Menschheit global wirksam Verhaltensweisen zeigt, die u.a. zur Zerstörung der Biodiversität in einem Ausmaß führen, welche u.a. die Atmosphäre so verändern, dass das Klima schrittweise das bisher bekannte Leben dramatisch bedroht. Die u.a. CO2-Abhängigkeit der Klimaveränderung führt zu notwendigen Kurskorrekturen in der Art der Energiegewinnung, was wiederum phasenweise zu einem Energieproblem führt; gleichzeitig gibt es ein Wasserproblem, ein Ernährungsproblem, ein Migrationsproblem, ein …

Das Bündel dieser Probleme und seiner globalen Auswirkungen könnte größer kaum sein.

Von ‚außen‘ betrachtet — eine fiktive Sicht, die sich natürlich vom allgemein herrschenden ‚Zeitgeist‘ nicht wirklich abkoppeln kann — gehen alle diese wahrnehmbaren ‚Wirkungen‘ zurück auf ‚Wirkzusammenhänge‘, die durch das ‚Handeln von Menschen‘ so beeinflusst wurden, dass es genau zu diesen aktuellen globalen Ereignissen gekommen ist.

Das ‚Handeln‘ von Menschen wird aber — das können wir im Jahr 2022 wissen — von ‚inneren Zuständen‘ der handelnden Menschen geleitet, von ihren Bedürfnissen, Emotionen, und von den ‚Bildern der Welt‘, die zum Zeitpunkt des Handelns in ihren Köpfen vorhanden und wirksam sind.

Die ‚Bilder von der Welt‘ — teilweise bewusst, weitgehend unbewusst — repräsentieren das ‚Wissen‘ und die ‚Erfahrungen‘ der Handelnden. Dieses Wissen projiziert ‚Vorstellungen‘ in die umgebende Welt (die Menschen sind Teil dieser Welt!), die ‚zutreffend sein können, dieses aber zumeist nicht sind. Wenn sich ein Mensch entscheidet, seinen Vorstellungen zu folgen, dann hätten wir den Fall eines ‚wissensbasierten (rationalen) Handelns‘, das so gut ist, wie das Wissen zutreffend ist. Tatsächlich aber entscheidet sich jeder Mensch fast ausschließlich — meist unbewusst — nach seinem ‚Gefühl‘! Im Jahr 2022 gehört es zum Alltag, dass Menschen — der Bildungsgrad ist egal (!) — in einer Situation völlig ‚konträre Meinungen‘ haben können trotz gleicher Informationsmöglichkeiten. Unabhängig vom ‚Wissen‘ akzeptiert der eine Mensch die Informationsquellen A und lehnt die Informationsquellen B ab als ‚falsch‘; der andere Mensch macht es genau umgekehrt. Ferner gilt in sehr vielen (allen?) Entscheidungssituationen, dass die Auswahl der nachfolgenden Handlungen nicht von den ‚wissbaren Optionen‘ abhängt, sondern von der emotionalen Ausgangslage der beteiligten Personen, die sehr oft (meistens?) entweder bewusst nicht kommuniziert werden oder aber — da weitgehend unbewusst — nicht explizit kommuniziert werden können.

Dazu kommt, dass globale Wirkungen nur durch ein ‚globales Handeln‘ erreicht werden können, das entsprechend ‚koordiniert‘ sein muss zwischen allen Beteiligten. Koordinierung setzt ‚Kommunikation‘ voraus, und Kommunikation funktioniert nur, wenn die ‚kommunizierten Inhalte (= Wissen)‘ sowohl hinreichend ‚ähnlich‘ sind und zugleich ‚zutreffend‘. Die Wirklichkeit des Jahres 2021 (und nachfolgend) demonstriert allerdings, dass schon alltäglich zwei Menschen Probleme haben können, zu einer ‚gemeinsamen Sicht‘ zu kommen, erst recht dann, wenn ihre ‚individuellen Interessen‘ auseinander laufen. Was nützt es dem einen, zu wissen, dass es in den Alpen wunderbare Wanderwege gibt, wenn der andere absolut nicht wandern will? Was nützt es dem einen, wenn er bauen will und die Gemeinde einfach kein neues Bauland ausweist? Was nützt es betroffenen Bürgern, wenn die Bürgermeisterin partout ein neues Unternehmen ansiedeln will, weil es kurzfristig Geldeinnahmen gibt, und sie die nachfolgenden Probleme gerne übersieht, weil zuvor ihre Amtszeit endet? …

Kurzum, es ist nicht das ‚Wissen alleine‘, was ein bestimmtes zukünftiges Verhalten ermöglicht (wobei Wissen tendenziell sowieso ’nie ganz richtig ist‘), sondern auch — und vor allem — sind es die aktiven Emotionen in den Beteiligten.

Was heißt dies für die positive Zukunftsversion für 2062 im Text von Glaubrecht?

Erste Umrisse des Elefanten

Auf den Seiten 881 – 908 finden wir Formulierungen wie: „es kam zu einem tiefgehenden Bewusstseinswandel“ (881), „Immer mehr Menschen wurde klar“ (882), „Klar war aber auch, dass“, „guter Wille allein reichte da nicht… auch zivilgesellschaftliches Handeln musste erst intensiv erarbeitet werden„, „weil die Industrieländern … zu Vorbildern wurden“ (883), „Erst als die Überbevölkerung endlich zum wichtigsten Thema gemacht wurde, erfolgte der Durchbruch“ (884), „dass der Mensch in der ganz großen Gruppe ein gemeinsames Ziel erreichen kann“ (906), „Das Artensterben bietet allenfalls ein diffuses Ziel“ (908)

Diese ‚Fragmente‘ der Lösungsvision deuten an, dass

  1. ‚Bewusstseinswandel‘ und ‚Klarheit im Verstehen‘ wichtige Komponenten zu sein scheinen
  2. ‚Individuelles Wollen‘ alleine nicht ausreicht, um eine konstruktive globale Lösung zu ermöglichen
  3. ‚Überindividuelles (= zivilgesellschaftliches) Verhalten‘ ist nicht automatisch gegeben, sondern muss ‚gemeinsam erarbeitet werden‘
  4. Es braucht ‚globale Vorbilder‘ zur Orientierung (ob dies wirklich die Industrieländer sein können?)
  5. Die ‚Größe der Weltbevölkerung‘ ist ein wichtiger Faktor
  6. Der Faktor ‚Artensterben (Abnahme der Biodiversität)‘ ist für die meisten noch sehr ‚diffus‘
  7. Aus der Geschichte ist bekannt, dass Menschen gemeinsam große Dinge erreichen können.

Neben dem Wissen selbst — das ein Thema für sich ist — blitzen hier eine Reihe von ‚Randbedingungen‘ auf, die erfüllt sein müssen, damit es zu einer Lösung kommen kann. Ich formuliere diese wie folgt:

  1. Was immer ein einzelner weiß, fühlt, und will: ohne einen handlungswirksamen Zusammenschluss mit genügend vielen anderen Menschen wird es zu keiner spürbaren Veränderung im Verhalten von Menschen kommen.
  2. Das ‚zusammen mit anderen Handeln‘ muss ‚erlernt‘ und ‚trainiert‘ werden!
  3. Damit die vielen möglichen ‚Gruppen‘ in einer Region (auf der Erde) sich ’synchronisieren‘, braucht es ‚Leitbilder‘, die eine Mehrheit akzeptiert.
  4. Für alle Beteiligten muss erkennbar und erfahrbar sein, wie ein ‚Leitbild des gemeinsamen Handelns‘ sich zu den individuellen Bedürfnissen und Emotionen und Zielen verhält.
  5. Eine Zivilgesellschaft muss sich entscheiden, wo sie sich zwischen den beiden Polen ‚voll autokratisch‘ und ‚voll demokratisch‘ — mit vielen ‚Mischformen‘ — ansiedeln will. Die biologische Evolution deutet an, dass auf ‚lange Sicht‘ eine Kombination aus ‚radikaler Diversität‚ verbunden mit einem klaren ‚Leistungsprinzip‚ über lange Zeitstrecken hin leistungsfähig ist.
  6. Im Fall von menschlichen biologischen Systemen spiel ferner eine radikale ‚Transparenz‘ eine wichtige Rolle: Transparenz ’sich selbst‘ gegenüber wie auch ‚Transparenz untereinander‚: ohne Transparenz ist kein ‚effektives Lernen‘ möglich. Effektives Lernen ist die einzige Möglichkeit, das verfügbare Wissen in den Köpfen an die umgebende Realität (mit dem Menschen als Teil der Umgebung) ansatzweise ‚anzupassen‘.
  7. Damit Wissen wirksam sein kann, muss es eine ‚Form‚ haben, die es für alle Menschen möglich macht, (i) ‚jederzeit und überall‘ dieses Wissen zu nutzen und ‚dazu beitragen zu können‘, sowie (ii) erlaubt, ‚Prognosen‘ zu erstellen, die überprüft werden können.

Die wahre Herausforderung

Der ‚Elefant im Raum‘ scheint also der ‚Mensch selbst‘ zu sein. Die heutige Tendenz, immer und überall von ‚Digitalisierung‘ zu sprechen und in den Begriff ‚Künstliche Intelligenz‘ all jene Lösungen hinein zu projizieren, die wir noch nicht haben, ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Mensch das ‚Verhältnis zu sich selbst‘ irgendwie nicht im Griff hat. Die kulturelle Erfahrung der letzten Jahrtausende, in vielen Bereichen heute deutlich ‚aufgehellt‘ durch empirische Wissenschaften, könnte uns entscheidend helfen, unser ‚eigenes Funktionieren‘ besser zu verstehen und unser individuelles wie gesellschaftliches Verhalten entsprechend zu organisieren. Das Problem ist weniger das Wissen — auch wenn dieses noch viel weiter entwickelt werden kann und entwickelt werden muss — als vielmehr unsere Scheu, die Motive von Entscheidungen und Verhalten transparent zu machen. Es reicht nicht, sogenannte ’sachliche Argumente‘ anzuführen (wenngleich sehr wichtig), es müssen zugleich auch die realen Interessen (und Ängste) auf den Tisch. Und wenn diese Interessen divergieren — was normal ist –, dann muss eine Lösung gefunden werden, die Interessen und Weltwissen (zusammen mit den bekannten Prognosen!) zu einem Ausgleich führt, der ein Handeln ermöglicht. Möglicherweise ist dies — auf längere Sicht — nur in eher demokratischen Kontexten möglich und nicht in autokratischen. Dies setzt aber in der Mehrheit der Bevölkerung einen bestimmten ‚Bildungsstand‘ voraus (was nicht nur ‚Wissen‘ meint, sondern z.B. auch die Fähigkeit, in diversen Teams transparent Probleme zu lösen).

Epilog

Vielleicht mag jemand nach der Lektüre dieses Textes den Eindruck haben, das Buch von Glaubrecht (hier wurde ja nur — im Teil 1 — die Einleitung und — im Teil 2 — der Schluss diskutiert!) würde hier kritisiert. Nein, das Buch ist großartig und ein wirkliches Muss. Aber gerade weil es großartig ist, lässt es Randbedingungen erkennen, die mindestens so wichtig sind wie das, was Glaubrecht mit dem Hauptthema ‚abnehmende Biodiversität‘ zur Kenntnis bringt.

Diese Randbedingungen — wir selbst mit unserer Art und Weise mit uns selbst und mit den anderen (und mit der übrigen Welt) umzugehen — sind gerade im Lichte der Biodiversität keine ‚Randbedingungen‘, sondern der entscheidende Faktor, warum es zur dramatischen Abnahme von Biodiversität kommt. Bei allen großartigen Errungenschaften ist der heutige Wissenschaftsbetrieb aktuell dabei, sich selbst zu ’neutralisieren‘, und die gesellschaftlichen Prozesse tendieren dazu, das Misstrauen untereinander immer weiter anzuheizen. Was wir brauchen ist möglicherweise eine wirkliche ‚Kulturrevolution‘, die ihren Kern in einer ‚Bildungsrevolution‘ hat. Fragt sich nur, wie diese beiden Revolutionen in Gang kommen können.[5]

KOMMENTARE

[1] Die Url lautet: https://www.cognitiveagent.org/2022/09/08/das-ende-der-evolution-von-matthias-glaubrecht2021-2019-lesenotizen/

[2] Ankündigung der Biodiversitätskonferenz Dezember 2022: https://www.unep.org/events/conference/un-biodiversity-conference-cop-15

[3] Joachim Radkau, 2017, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, Carl Hanser Verlag , eBook

[4] Es sei angemerkt, dass die Benutzung von ‚Zeitmarken‘ keinesfalls trivial ist. Abgesehen von dem ‚periodischen Ereignis‘, das für die Zeitmessung an einem bestimmten Ort benutzt wird, und dessen ‚Zuverlässigkeit‘ eigens geprüft werden muss, ist es eine wichtige Frage, wie sich zwei Zeitmessungen an verschiedenen Orten auf der Erde zueinander verhalten. Eine weltweit praktikable Lösung mit einer hinreichenden Genauigkeit gibt es erst ca. seit den 1990iger Jahren.

[5] Wenn im Epilog von einer notwendigen ‚Kulturrevolution‘ gesprochen wird, deren Kern eine ‚Bildungsrevolution‘ sein sollte, dann gibt es dazu eine Initiative Citizen Science 2.0, die — zumindest von der Intention her — genau auf solch eine neu sich formierende Zukunft abzielt. URL: https://www.oksimo.org/citizen-science-buergerwissenschaft/

Ein Überblick über alle Beiträge des Autors nach Titeln findet sich HIER.

Das Ende der Evolution, von Matthias Glaubrecht,2021 (2019). Lesenotizen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 8.September 2022 – 10. September 2022, 10:12h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Kontext

In dem Parallelblock uffmm.org entwickelt der Autor das Konzept einer nachhaltigen empirischen Theorie (siehe z.B. „COMMON SCIENCE as Sustainable Applied Empirical Theory, besides ENGINEERING, in a SOCIETY“, ein Beitrag, der hervorgegangen ist aus den Überlegungen zu „From SYSTEMS Engineering to THEORY Engineering“), in der die Menschheit eine zentrale Rolle spielt, nicht losgelöst von der Biosphäre, nicht losgelöst vom gesamten Universum, sondern als eine ‚Handlungsmacht‘, die in diesen empirischen Substrat genannt ‚empirische Wirklichkeit‘ eingebettet ist.

Vor diesem Hintergrund erscheint das Buch von Glaubrecht zum Ende der Evolution auf den ersten Blick wie eine willkommene Ergänzung, eine Geschichte aus der Sicht der biologischen Evolution, wie ein ‚missing link‘, in dem das aktuelle wissenschaftliche Chaos und die zerstörerischen Kräfte einer entfesselten menschlichen Population ihren Erzähler finden.

Doch, lässt man sich auf die ruhig und sachlich wirkende ‚Erzählungen‘ dieses Buches ein, dann begegnet man im geradezu epischen Prolog Gedankenmuster, die wie ‚Disharmonien‘ wirken, wie ‚falsche Töne‘ in einer ansonsten berauschenden Sinfonie von Klängen.

Ein Prolog wie eine Ouvertüre

Ausschnitt aus dem berühmten ‚blue marbel‘ Bild von William Anders Anders während der Appollo-8 Mission 1968 (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:NASA-Apollo8-Dec24-Earthrise.jpg)

Glaubrecht lässt seine Erzählung beginnen mit dem einem Foto von William Alison Anders, einem Astronauten der Apollo-8 Mission 1968, das um die Welt ging, und mittlerweile einen ‚Kultstatus‘ hat: die blaue Kugel im Schwarz des umgebenden interstellaren Raumes, wundersam, so unwirklich, ein Bild ‚wie im Traum‘. Und doch, es ist kein Traum. Es ist der Ort von etwas, was wir gelernt haben, ‚biologisches Leben‘ zu nennen. Ein multidimensionales Phänomen, das nach heutigem Kenntnistand einzigartig im gesamten bekannten Universum ist. Diesen ‚Gedanken der Einzigartigkeit‘ greift Glaubrecht auf und pointiert ihn sehr stark, indem er die neuesten Forschungen zu einem ‚möglichen extra-terrestrischen Leben‘ auswertet und diese Option eines ‚anderen Lebens irgendwo dort draußen‘ quasi ad absurdum führt. (vgl. SS.21-24)

Nach diesem argumentativen ‚knock down‘ für die Option eines Lebens außerhalb der Erde wendet er sich dann dem Phänomen des Lebens auf der blauen Erde zu, und rafft die ca. 3.5 Milliarden Jahre Entstehung des Lebens auf der Erde mit Akzentuierung des Homo sapiens in 14 Zeilen auf S.24 zusammen. Die 14 Zeilen schließen mit der Bemerkung „obgleich wir … im kosmischen Maßstab kaum mehr sind als eine Eintagsfliege der irdischen Evolution“.

Fast könnte man das Buch an dieser Stelle zuklappen, es beiseite legen, und vergessen, dass es dieses Buch gibt.

Was immer der Autor Glaubrecht an wunderbaren Dingen in seinem Kopf haben mag, weiß, denkt, fühlt, mit dieser Aussage am Ende seiner 14 Zeilen Evolution auf S.24 deutet er an, dass er den Menschen in seiner biologischen Erscheinungsweise sehr ‚klassisch biologisch‘ sieht, Produkt einer ‚biologischen Hervorbringung‘, von der viele Biologen zu glauben wissen, was biologisches Leben ist. Dieser sich hier nurmehr ‚andeutende Akzent‘, dieser ‚gedankliche Tonfall‘, wird die ganze ‚Sinfonie der Gedanken‘ im weiteren Gang begleiten, verfolgen, und zu Disharmonien führen, die das ganze Werk in einen Abgrund zu reißen drohen, aus dem es kein gedankliches Entkommen zu geben scheint. ‚Schwarze Löcher‘ sind nicht nur ein Problem der heutigen theoretischen Physik.

Nachdem Glaubrecht (SS.24-28) die großen Phänomene einer tiefgreifenden Störung der Biosphäre und ihrer planetarischen Umgebung ins Bewusstsein gerufen hat (Bevölkerungsentwicklung, Ressourcenverbrauch, dramatisches Artensterben, Klimaextreme), deutet er auf das widersprüchliche Phänomen hin, dass es gesellschaftlich zwar schon — auch seit längerem — eine gewisse Wahrnehmung dieser Phänomene gibt (vgl. z.B. S.27), dass diese partiellen gesellschaftlichen Wahrnehmungen aber noch zu keiner wirklich wirksamen gesellschaftlichen Verhaltensänderung geführt zu haben scheinen.

Wer sollte diese ‚Gegenbewegung‘ zu einer wahrnehmbaren globalen zerstörerischen Dynamik auslösen? Woher sollte sie kommen?

Auf den Seiten 28-30 bekennt sich Glaubrecht klar zum Faktor ‚Wissen‘: „Der Schlüssel zu allem ist Wissen; ohne Kenntnis der Fakten und Hintergründe, der Daten und Quellen ist ein sicherer Umgang mit den komplexen Szenarien unserer Gegenwart nicht möglich, geschweige denn, dass sich die Herausforderungen der Zukunft meistern lassen.“(S.28) Allerdings, diese Bemerkung ist wichtig, Wissenschaft kann wirklich verlässlich „nur Vergangenes und bereits Geschehenes deuten“.(S.29) Dies klingt eher resignativ und wäre möglicherweise kaum ein Hilfe, gäbe es nicht doch auch — so Glaubrecht — die Möglichkeit, aus der Vergangenheit zu „lernen“ und „mithin Vorhersagen erleichtern“.(vgl. S.29)

Glaubrecht sagt nicht viel — eigentlich gar nichts — zur Frage, wie denn überhaupt Prognosen möglich sein können, was ihre Randbedingungen sind. Und irgendwie scheint ihm diese Option der ‚Prognose‘ ein wenig suspekt zu sein, beginnt er doch dann den Abschnitt darüber, wie er in seinem Buch arbeiten will, mit einem verstärkten Zweifel an der Möglichkeit von Prognosen (sein Zitat von Niels Bohr, S.30, Zeilen 1-2) und stellt fest „Tatsächlich ist Wissenschaft immer nur im Rückblick wirklich gut“.(S.30)

Damit mehren sich die Fragen, was Glaubrecht denn genau unter ‚Wissenschaft‘ versteht? Prognosen bezweifelt er, und der ‚Rückblick‘ soll es richten? Und er betont, dass es hier nicht nur um sein eigenes „Bauchgefühl“ — das eines einzelnen Wissenschaftlers — geht, der „sein Bauchgefühl zur Wissensautorität erhebt“ (S.28), sondern darum „Evidenzen“ zu sichern.(vgl. S.28f) Er verweist dann auf die Wissenschaftstheorie, die betone, dass das Gute an Wissenschaft sei, „dass wir ein Verfahren haben, den Gegenständen unserer Forschung gerecht zu werden, und unsere Ansichten, Befunde und Meinungen methodisch zu testen gelernt haben, statt uns im Vagen und Wunschdenken zu verlieren.“(S.29)

Eine Formulierung wie „den Gegenständen unserer Forschung gerecht zu werden“ ist natürlich ‚vage‘, und der Hinweis „unsere Ansichten, Befunde und Meinungen methodisch zu testen gelernt haben“ soll vielleicht weiter beruhigend wirken, aber diese Formulierung ist auch vage. Eine Kernbedeutung von ‚Testen‘ ist normalerweise jene, dass ich aus ‚Annahmen‘, die ich als Wissenschaftler — warum auch immer — mache, eine ‚Folgerung‘ (eine ‚Prognose‘) ableite, die ich dann ‚teste‘. Dieses Konzept der Generierung von ‚Prognosen‘ setzt einen ‚Mechanismus‘ (ein ‚Verfahren‘) voraus, wie ich aus Annahmen eine Prognose ‚ableiten‘ kann. Wie zirka 2.500 Jahre Philosophie und etwa 150 Jahre Wissenschaftsphilosophie zeigen, ist dies alles andere als ein ‚trivialer Sachverhalt‘. Glaubrecht schweigt dazu. Was sagt dies über seine Wissenschaftlichkeit … und jene der Evolutionsbiologie und Biodiversitätsforschung? Fakten ja, aber keine Prognosen?

Und es gibt noch einen Punkt, der bedenklich stimmen kann, ja sollte. Nach seiner wissenschaftsphilosophischen Verortung, die sich in vagen Andeutungen erschöpft, kommt er zu folgender Feststellung: „Just beim Blick in die biohistorischen Vergangenheit ist die Evolutionsforschung in ihrem Metier. Ausgerüstet mit dem Blick des Evolutionsbiologen und dem Wissen des Biodiversitätsforschers zur Artenvielfalt ebenso wie Artenschwund soll es hier um den Menschen, seine Wurzeln in der Natur und die Entwicklung seiner Kultur sowie um unseren Umgang mit der Natur gehen; schließlich auch darum, wohin uns das zukünftig führt“.(S.30)

Dass „Evolutionsbiologen und … Biodiversitätsforscher“ besonders geschult sind, um ‚evolutionäre biologische Prozesse‘ sowie die ‚Entwicklung von biologischen Arten‘ zu identifizieren und zu beschreiben, das mag man zunächst noch glauben; den nächsten Schritt, nämlich solche ‚auf Beobachtung beruhenden Evidenzen‘ dann sogar in ‚geeignete voraussagefähige Modelle‘ einzuordnen, muss man nicht unbedingt glauben. Noch weniger sollte man so ohne weiteres glauben, dass ‚Evolutionsbiologen und Biodiversitätsforscher‘ einfach so auch befähigt sind, komplexe Phänomene wie ‚Kultur‘ bzw. überhaupt ‚menschliche Gesellschaften‘ zu beschreiben. Ein Schreiner mag zwar an einem Haus Aspekte erkennen, die mit seiner Profession als Schreiner Überschneidungen aufweisen, aber er wird damit nicht zum ‚Multi-Handwerker‘, keinesfalls automatisch zum ‚Architekt‘ oder ‚Bauingenieur‘.

Mit dieser Selbstüberschätzung einzelner Disziplinen steht Glaubrecht nicht alleine. Er reproduziert damit nur ein Muster, was sich heute — leider — in nahezu allen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen findet: jeder kultiviert seine eigene ‚Wissenschaftssprache‘, seine eigenen ‚wissenschaftlichen Methoden‘, aber die Fähigkeit zum ‚transdisziplinären‘ Denken und zu einer ‚gemeinsamen allgemeinen Theorie‘ existiert bislang eher nur in Absichtserklärungen. Eine der Folgen von dieser ’spendid isolation‘ der moderner Einzelwissenschaften ist genau das, was Glaubrecht — zu Recht — konstatiert: es gibt viele, verstreute Wahrnehmungen von ‚bedenklichen Entwicklungen‘ auf diesem Planeten, aber eine ‚Zusammenschau‘, die sich über ein ‚gemeinsames Wissen‘ organisieren müsste, findet nicht statt, weil wir als Menschen uns den Luxus leisten, in den Köpfen der überwältigenden Mehrheit ‚Weltbilder‘ zu hegen, die mit der realen Welt und ihrer Dynamik wenig zu tun haben. Für populistische und autokratische Gesellschaften eine ideale Umgebung.

Diese eher kritischen Bemerkungen zum wissenschaftlichen Setting des Buches sollten aber nicht davon ablenken, dass die Fülle der Fakten und Einsichten zu jenen Veränderungsprozessen planetarischen Ausmaßes, die Glaubrecht darbietet, wichtig sind. Diese Fülle ist atemberaubend. Doch diese wunderbare Seite des Buches darf nicht darüber hinweg täuschen, dass das schwierige wissenschaftlichen Setting des Buches sich voraussichtlich dort bemerkbar machen wird, wo es um eine Einschätzung der möglichen Zukunft gehen wird, ob und wie wir diese werden bewerkstelligen können. Auf dem Weg dahin wird es natürlich vielfach Sachverhalte geben, deren Einschätzung aufgrund seines Vorverständnisses vorzüglich in die Richtung seines Vorwissens laufen werden. Dies ist unausweichlich.

Auf den Seiten 30-35 lässt Glaubrecht umrisshaft erkennen, wie er sein Buch in drei Teilen organisieren will. Vor dem Blick in die Zukunft (Prognose!) ein langer Blick zurück in die Vergangenheit: Befunde, Fakten, Zusammenhänge. (vgl. S.30)

Im Rückblick auf den bisherigen Weg des Menschen zeichnet er das Bild eines „Pfadfinders“, der neugierig umherzieht, der sich überall aus einer scheinbar kostenlosen, unerschöpflichen Natur bedient, und der sich dabei rein zahlenmäßig dermaßen vermehrt, dass er nach und nach die gesamte planetarische Oberfläche in Besitz genommen und dabei so verändert hat, dass der Lebensraum nicht nur für erschreckend viele andere Arten genommen und zerstört wurde, sondern mittlerweile auch für sich selbst. Diese Auswirkungen des Menschen auf den Planeten sind so massiv, dass Geowissenschaftler eine neue erdgeschichtliche Epoche mit Namen „Anthropozän“ vorschlagen. (vgl.S.33) Alle Indizien deuten auf ein neues, sechstes, planetarisches Artensterben hin.(vgl. S.33) Dass es für uns Menschen scheinbar immer noch funktioniert trotz der aufweisbaren massiven Schäden überall lässt erahnen, wie komplex und redundant das gesamte biologische Ökosystem aufgebaut ist; in Milliarden von Jahren hat es sich in einer Weise ‚organisiert‘, die von einer großen ‚Resilienz‘ [1],[1.1], [1.2] zeugt. Doch diese ist nicht ‚unendlich‘; wenn die zerstörerischen Belastungen bestimmte Punkte — die berühmten ‚tipping points‘ — überschreiten, dann bricht das System so zusammen, dass eine Regenerierung — wenn überhaupt — möglicherweise nur über viele Millionen Jahre möglich sein wird und dann … (vgl. S.34f)

Wie dieser aktuell dramatische Prozess letztlich ausgehen wird: Glaubrecht lässt diese Frage bewusst unbeantwortet. Er plant zwar, einen ‚worst case‘ und ein mögliches ‚happy end‘ zu schildern (vgl.S36), aber welcher dieser beiden Fälle — oder womöglich noch ein dritter — letztlich eintreten wird, hängt vom Verhalten von uns Menschen in den nächsten Jahren ab. Wiederholt weist er darauf hin, dass der ‚Klimawandel‘, der heute in alle Munde ist, letztlich ja nur eine Nebenwirkung des eigentlichen Hauptproblems, der Verwüstung des Ökosystems ist. Eine Konzentration auf das Klima bei Vernachlässigung des ökologischen Problems kann daher kontraproduktiv sein.(vgl. S.36f)

Womit sich die Frage stellt, ob uns Menschen letztlich — biologisch und kulturell — die Mittel fehlen, mit dieser Problematik angemessen umzugehen? „Ist der Mensch letztlich ein vernunftloses Tier?“ (S.36)

(Paläo-)Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Religion …

Gefühlt könnte der Prolog auf S.37 enden. Glaubrecht bringt aber noch Gedanken ins Spiel, die mit Evolutionsbiologie und Biodiversität eigentlich nichts mehr zu tun haben. Sein methodologisches wissenschaftliches Programm von S.30 wird damit deutlich gesprengt. Es folgt eine Skizze des Homo sapiens in den letzten 12.000 Jahren in denen die „überschaubaren Jäger und Sammler Horden“ (S.37) sich in Bauern verwandelten, in immer komplexere Gesellschaften leben mit all den Phänomenen, die frühe komplexe Gesellschaften so mit sich brachten (Ungleichheit, Gewalt, Unterdrückung, Krankheiten, Soziales als Stress, ..). Diese Darstellung ist durchsät mit ‚Bewertungen‘, die all dies Neue eher ’negativ‘ erscheinen lassen gegenüber der vorausgehenden ‚positiven‘ Zeit der wenigen, frei umherziehenden Horden.(vgl. S.37f)

Mit Evolutionsbiologie und Biodiversität hat dies nicht mehr viel zu tun. Glaubrecht bezieht sich an dieser Stelle direkt und ausführlich auf Schalk und Michel (EN 2016, DE 2017), die das Buch der Bibel aus anthropologischer Sicht interpretieren. Dazu führen sie eine dreifache Typologie der menschlichen ‚Natur‘ ein: (i) ‚Biologisch‘, (ii) ‚Kultur‘, (iii) ‚Vernunft‘. Abgesehen davon, dass die für die Klassifikation benutzten Begriffe in ihrem Verwendungskontext und ihrem Bedeutungsfeld mehr als vage sind, erscheint die Zuschreibung dieser Begriffe zur biologischen Lebensform des homo sapiens philosophisch und wissenschaftsphilosophisch zunächst sehr willkürlich (wenngleich diese Art der Typisierung sehr populär ist). Die in der Anthropologie (und auch den Geisteswissenschaften) sehr beliebte Gegenübersetzung von ‚Biologisch‘ und ‚Kultur‘ und dann auch noch zur ‚Vernunft‘ sitzt tief in den Köpfen der Vertreter dieser Disziplinen, aber dies sind ‚Denkprodukte‘ einer Epoche, ‚Artefakte‘ eines Denkens, das viele Jahrhunderte, ja viele Jahrtausende, nichts anderes gekannt hat. Wenn man aber im 20.Jahrhundert, und jetzt sogar im 21.Jahrhundert, lebt, darf man sich über diese denkerische Naivität schon wundern.

Fast schon extrem ist in diesem Zusammenhang die Zurichtung des Blicks auf das Phänomen der jüdisch-christlichen Religion mit der ‚Bibel‘ als Referenzpunkt. Bedenkt man, wie umfassend und reichhaltig die verschiedenen Gesellschaften und Kulturen der Menschheit in allen Erdteilen schon ab -5000 waren (man denke z.B. an Indien, China, Ägypten,) dann erscheint diese Blickverengung nicht nur extrem, sondern auch willkürlich.

Die Interpretation der Bibel, die Schaik und Michel präsentieren (und die Glaubrecht durch sein ausführliches Zitieren mindestens wohlwollend zur Kenntnis nimmt)(vgl. SS.38ff), ist zwar bei vielen immer noch populär, ist aber wissenschaftlich in keiner Weise zu rechtfertigen. Wie die verdienstvolle Arbeit der kritischen Bibelwissenschaften (ab dem 18.Jahrhundert)[2],[3] zeigt, muss man den Text des Alten Testaments als das Produkt eines Entstehungsprozesses sehen, der inhaltlich bis in die Zeit vor -900 (oder sogar weiter) zurückverweist. Er dokumentiert das vielstimmige Ringen von Menschen aus vielen verschiedenen Regionen und Zeiten, um eine Antwort auf letzten und doch auch sehr konkrete Fragen des Verhaltens im Alltag zu finden. In diesen Texten wird deutlich, dass diese Sichten keinesfalls ‚monoton‘ waren, sondern vielstimmig, teilweise geradezu konträr.[4] Und sowohl am Beispiel der jüdisch-christlichen Tradition wie auch an den Beispielen der verschiedenen anderen Religionen ist unübersehbar, dass es letztlich nicht die sogenannten ‚religiösen Inhalte‘ waren, die ganze Völker ‚befriedet‘ haben, sondern massive Machtinteressen (eng gekoppelt an finanziellen Interessen), die sich die religiösen Erzählungen für ihre Zwecke nutzbar machten um damit viele Völker äußerst blutig zu unterwerfen bzw. die Unterworfenen dogmatisch-autokratisch zu regieren. Dass sich modernes Denken, moderne Wissenschaft trotz dieser gedanklichen Unterdrückung überhaupt entwickeln konnten, ist dann fast schon ein Wunder. Die destruktive Kraft der religiösen Traditionen erlebt heute in vielen populistisch-fundamentalistischen Strömungen immer noch eine globale Wirkung, die ein modernes, dem Leben zugewandtes kritisches Denken eher verhindert und freie Gesellschaften gefährdet.[6]

Die massive Unterdrückung von anderem Fühlen und Denken, die von der jüdisch-christlichen Tradition mindestens ausging (und das war nicht die einzige Religion, die sich so verhielt) basiert im Kern auf bestimmten Überzeugungen, was ‚der Mensch‘ und was ‚Geschichte‘ ist. Während die Bibel selbst — und hier insbesondere das alte Testament — noch vielstimmig und gar konträr daherkommt, entstanden in den Zeiten nach der ‚Kanonisierung‘ [7] der verschiedenen Schriften immer mehr ‚verfestigte‘ Interpretationen, die zwar geeignet waren, Machtansprüche der herrschenden Institutionen durchzusetzen, sie verkleisterten aber das ursprüngliche Bild, machten seine menschlichen Verwurzelungen eher unsichtbar, und leisteten damit einer starren Dogmatisierung Vorschub. ‚Anderes‘ Denken war erst einmal ‚fremd‘, ‚gefährlich‘, ‚falsch‘. Dass die ‚Intelligenz der mittelalterlichen Mönche‘ es über mehrere Jahrhunderte hin schaffte, das ‚Denken der Griechischen Philosophie, vor allem das Denken des Aristoteles‘, in einen konstruktiven Dialog mit dem christlichen Dogma zu bringen, grenzt schon fast an ein Wunder. Allerdings schafften diese großartigen Denker es nicht, das christliche Lehramt in zentralen Positionen zu erneuern. Die aufkommenden neuen empirischen Wissenschaften (bis hin zur Evolutionsbiologie) wurden ebenfalls zunächst verteufelt, verfolgt, gar auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die christliche Begleitung der europäischen Unterwerfung der Völker anderer Kontinente ermöglichte zwar neue Einsichten und Verhaltensweisen speziell des Jesuitenordens, der sich überall auf die Seiten der ursprünglichen Bewohner schlug (Nord- und Südamerika, Asien), indem sie diese Sprachen lernten, Wörterbücher herausgaben, deren Kleidung und religiösen Praktiken teilweise übernahmen, oder sie (in Südamerika) aktiv gegen die portugiesisch-spanischen Ausbeuter zu schützen versuchten, doch wurden sie dafür von der Institution gnadenlos abgestraft: ohne Vorankündigung wurden sie über Nacht überall verfolgt, eingekerkert, gefoltert, umgebracht. Die später aufkeimende kritischen Bibelwissenschaften hatten genug Erkenntnisse, um die naiven Grundanschauungen des christlichen Dogmas zu erschüttern und als haltlos zu erweisen. Aber auch diese wurden lange unterdrückt und innerhalb der Institution dann soweit ‚abgeschwächt‘, dass notwendige Korrekturen am Gesamtbild von ‚Mensch‘, ‚Geschichte‘, ‚Institution‘ dann doch wieder unterblieben.

Wenn die Autoren Schaik und Michels — mit Billigung von Glaubrecht — diese ‚finstere Maschine‘ einer dogmatischen christlichen Religion (mit vielen ihrer späteren Ablegern) letztlich ‚glorifizierend‘ preisen als einen ‚menschheitsverbindenden Verhaltenskodex‘, den man irgendwie zurück haben möchte (S.41), dann erscheint dies vor dem Hintergrund der massiven Fakten als ‚extrem naiv‘; mit Wissenschaft hat dies nicht das Geringste zu tun.

Typisierung: Natur – Kultur – Vernunft

Ich möchte hier nochmals auf die für Schaik und Michels grundlegende Typisierung der menschlichen ‚Natur‘ als (i) ‚Biologisch‘, (ii) ‚Kulturell‘, (iii) ‚Vernunft‘ (vgl. S.39f) zurück kommen, die sich prozesshaft in einem komplexen Phänomen von „kumulativer kultureller Evolution“ (S.40) niederschlägt.

Wenn ich ein technisches System wie einen Computer nehme, dann besteht dieser aus (i) Hardware, die festlegt, welche technischen Systemzustände im Prinzip möglich sind (Hardware, die mittlerweile partiell ‚adaptiv‘ sein kann), aus (ii) Software, die aus dem Raum der möglichen Systemzustände eine charakteristische Teilmenge von Zuständen auswählt, und — für den menschlichen Benutzer bedeutsam — (iii) das beobachtbare Input-Output-Verhalten des Systems, das mit dem menschlichen Verhalten eine ‚Symbiose‘ eingeht. Ein Mensch im Jahr 2022, der ein sogenanntes ‚Smartphone‘ benutzt, der denkt während der Nutzung weder über die Hardware noch über die Software nach; er erlebt das technische System direkt und unmittelbar als ‚Teil seines eigenen Handlungsraumes‘. Letztlich ‚verschwindet‘ in der Wahrnehmung das technische System als etwas ‚Anderes‘; es gehört zum Menschen so wie sein Arm, seine Hand, seine Beine.

Die Dreifach-Typologie von Schaik und Michel (literarisch approbiert von Glaubrecht) liese sich auf die Menge der Smartphones anwenden: (i) der menschliche Körper als Manifestation des ‚Biologischen‘ entspricht der Hardware als Manifestation des Technischen. (ii) Die ‚Kultur‘ entspricht der Software, deren Regelmengen die Menge der Systemzustände festlegen. (iii) die ‚Vernunft‘ entspricht jenen typischen ‚Reaktionen‘ des technischen Systems auf die Anforderungen seitens des menschlichen Benutzers, in denen das System ‚antwortet‘, ‚erinnert‘, ‚Konsequenzen sichtbar macht‘, ‚Assoziationen herstellt‘, usw.

Wer jetzt einwenden möchte, dass diese ‚Auslegung der Begriffe‘ in diesem Beispiel doch etwas ‚willkürlich‘ sei, der sollte sich fragen, wie denn Schaik und Michel die Verwendung ihrer Begriffe rechtfertigen. Ihre Verwendung der Begriffe ist absolut beliebig.

Im Smartphone-Beispiel wird allerdings klar, dass die unterschiedlichen ‚Erscheinungsweisen‘ dieses technischen Systems (Hardware, Software, Input-Output-Verhalten) zwar sprachlich unterschiedlich gehandhabt werden können, dass aber jede ‚Ontologisierung‘ dieser drei Erscheinungsweisen in Richtung eigenständiger ‚Naturen‘ die tatsächliche Funktionalität des Systems stark verzerren würde. Jeder Informatiker weiß, dass das beobachtbare Input-Output-Verhalten des Smartphones (so ‚klug‘ es auch erscheinen mag), letztlich nur eine spezielle Abbildung der inneren Systemzustände ist, die von der aktiven Software aus der Menge der möglichen technischen Systemzustände ausgewählt wird. Das eine kann man nicht ohne das andere verstehen. Das technische System bildet als solches ein einziges ‚funktionales Ganzes‘. Und in dem Maße wie Computersysteme über ‚Sensoren‘ verfügen (das Smartphone hat sehr viele), die ‚Signale der Außenwelt‘ messen können, und/ oder auch über ‚Aktoren‘ (hat ein Smartphone auch), auf die Außenwelt physikalisch einwirken kann, dann kann ein Smartphone ‚Zustände der Außenwelt‘ in seine ‚internen Systemzustände‘ ‚abbilden‘, und es kann — falls die Software so ausgelegt wurde — auch Eigenschaften der Außenwelt (und auch über sich selbst) ‚lernen‘. Nicht rein zufällig sprechen ja heute fast alle vom ‚Smart‘-Phone, also von einem ‚klugen‘ Phone, von einem klugen technischen System. Selbstfahrende Autos und ‚autonome Roboter‘ gehören auch in diese Rubrik der ‚klugen‘, ‚vernünftigen‘ Maschine.

Wenn jetzt wieder jemand (vorzugsweise Anthropologen und Geisteswissenschaftler) einwenden würden, dass man diese Begriffe ‚klug‘ und ‚vernünftig‘ hier nicht anwenden darf, da sie ‚unpassend‘ seien, dann kann man gerne zurückfragen, wie Sie denn diese Begriffe definieren? Die Verwendungen dieser Begriffe in der Literatur ist dermaßen vielfältig und vage, dass es schwer fallen dürfte, eine ’scharfe‘ Definition zu geben, die eine gewisse Mehrheit findet. Nichts anderes machen die Informatiker. Weitgehend ohne Kenntnis der philosophischen Literatur benutzen sie diese Begriffe in ihrem Kontext. Sie haben allerdings den Vorteil, dass ihre technischen Systeme schärfere Definitionen zulassen. Von einer ‚klugen‘ Maschine in einem Atemzug mit einem ‚klugen‘ Menschen zu sprechen, erhöht zwar den kulturellen Verwirrtheitsgrad, bislang scheint dies aber niemanden ernsthaft zu stören.

Um es klar zu sagen: das von mir konstruierte Beispiel ist genau das, ein Beispiel; es ersetzt keine umfassende ‚Theorie‘ über den Menschen als Moment der biologischen Evolution auf diesem blauen Planeten. Von einer solchen Theorie sind wir aktuell auch noch — so scheint es — gefühlte Lichtjahre entfernt. Auf jeden Fall dann, wenn Biologen und Anthropologen kein Problem damit zu haben scheinen, solch ein finsteres Phänomen wie die jüdisch-christliche Religion in ihrer historischen Manifestation (sind andere besser?) als positives Beispiel einer Bewältigung des Lebens auf diesem Planeten zu qualifizieren. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Biologen und Anthropologen sich mehr damit beschäftigen würden, wie denn alle diese — scheinbar widersprüchlichen Phänomene ‚biologische Systeme‘, ‚Kultur‘ und ‚Vernunft‘ tatsächlich zusammenhängen. Die — geradezu naive — Verherrlichung der frühen Phase des ‚vorgesellschaftlichen‘ homo sapiens und die — ebenso naiven — Kassandra-Rufen-ähnliche Klassifizierungen von zunehmend komplexen Gesellschaftsbildungen zerstört das Phänomen, was es wissenschaftlich zu erklären gilt, bevor man es überhaupt richtig zur Kenntnis genommen hat. Hier bleibt erheblich ‚Luft nach oben‘.[8]

KOMMENTARE

wkp := Wikipedia, [de, en, …]

[1] Resilienz: Dieser Begriff wird von verschiedenen Disziplinen in Anspruch genommen. Nach meinen Recherchen taucht er als erstes in der Ökologie auf [1.1], wo er sich als wichtiger theoretischer Begriff etabliert hat.[1.2]

[1.1] C.S. Holling. Resilience and stability of ecological systems. Annual Review of Ecology and Systematics, 4(1):1–23, 1973. Online: https://www.jstor.org/stable/2096802

[1.2] Brand, F. S., and K. Jax. 2007. Focusing the meaning(s) of resilience: resilience as a descriptive concept and a boundary object. Ecology and Society 12(1): 23. [online] URL: http://www.ecologyandsociety.org/vol12/iss1/art23/

[1.3] Peter Jakubowski. Resilienz – eine zusätzliche denkfigur für gute stadtentwicklung. Informationen zur Raumentwicklung, 4:371–378, 2013.

[2] Biblische Exegese in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Biblische_Exegese

[3] Historisch-kritische Methode in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Historisch-kritische_Methode_(Theologie)

[4] Ein sehr prominentes Beispiel sind die beiden verschiedenen Versionen der sogenannten ‚Schöpfungsgeschichten‘ zu Beginn des heutigen biblischen Textes, die aus ganz verschiedenen Zeiten stammen, eine ganz verschiedene Sprache benutzen (im hebräischen Text direkt sichtbar), und die ganz unterschiedliche Bilder von Gott, Mensch und Schöpfung propagieren.

[5] Carel van Schaik und Kai Michel, „Das Tagebuch der Menschheit: Was die Bibel über unsere Evolution verrät“, Rowohlt Taschenbuch; 8. Edition (17. November 2017)(Original: The Good Book of Human Nature. An Evolutionary Reading of the Bible, 2016)

[6] Sehr aufschlussreich ist der Umgang der christlichen Tradition mit der sogenannten ‚Spiritualität‘ und ‚Mystik‘: nahezu alle großen geistlichen Lebensgemeinschaften (oft ‚Orden‘ genannt) durften nur existieren, wenn sie sich vollständig der Kontrolle der Institution unterwarfen. Falls nicht, wurden sie verfolgt oder getötet. ‚Subjektivität‘, ‚individuelle Erfahrung‘, nichtautoritäre Praxis, andere Gesellschaftsformen, wurden kompromisslos unterdrückt, ebenso jede Art von abweichender Weltsicht (man denke z.B. nur an Galilei und Co.).

[7] Die ‚Kanonisierung‘ der Bibel meint den historischen Prozess, in dem festgelegt wurde, welche Schriften zum Alten und Neuen Testament gezählt werden sollten und welche nicht. Wie man sich vorstellen kann, war dieser Prozess in keiner Weise ‚trivial‘.(Siehe auch: wkp-de, https://de.wikipedia.org/wiki/Kanon_(Bibel))

[8] Eine sehr interessante alternative Sicht im Bereich (Kultur-)Antropologie und Soziologie zum Verständnis des Phänomens Mensch bietet das interessante Buch von Pierre Lévy  “Collective Intelligence. mankind’s emerging world in cyberspace” (translated by Robert Bonono),1997 (French: 1994), Perseus Books, 11 Cambridge Center Cambridge, MA, United States. Allerdings scheint auch dieses Buch — trotz seiner neuen Akzente — noch eher im ‚alten Denken‘ verhaftet zu sein als in einem ’neuen Denken‘.

[8.1] Eine Folge von Kommentaren zu Pierre Lévy’s Buch findet sich hier: Gerd Doeben-Henisch, 2022, „Pierre Lévy : Collective Intelligence – Chapter 1 – Introduction“, https://www.uffmm.org/2022/03/17/pierre-levy-collective-intelligence-preview/ (mit Fortsetzungs-Links)

Ein Überblick über alle Beiträge des Autors nach Titeln findet sich HIER.

BEFREIUNGSTECHNOLOGIE – Warum befreien wir uns nicht?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 14.November 2020
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

ACHTUNG: Ich habe jetzt eine eigene Seite ausschliesslich mit Daten zu SARS-CoV-2/Covit-19 angelegt! Die Daten auf dieser Seite werden daher künftig nicht mehr aktualisiert.

LOCKDOWN BLUES

In vielen Ländern — und auch in Deutschland, bei ‚uns‘ — greifen die Regierungen wieder zur Maßnahme des Lockdown, wie es so schön Neudeutsch heißt. Nach ersten Erfolgen in der Bekämpfung von Corona im März wurde zwar vieles versprochen, was man tun wolle, um einen weiteren Lockdown zu verhindern, aber geschehen ist weitgehend nichts. Da ein Virus ein reales Etwas ist, kein volles Lebewesen aber doch zu Interaktionen mit lebenden Zellen fähig, und dieses Virus mit dem Lockdown im März nun mal nicht vollständig ausgerottet war, kam es, wie es kommen musste: mit der Erhöhung der Kontakte untereinander — und mit einer offensichtlich höheren Sorglosigkeit — konnte das Virus sich wieder stärker verbreiten. Bis die Zahlen so hoch waren, dass es kaum noch zu übersehen war, war es natürlich zu spät. Das Virus war schon wieder im vollen Kontakt-Rausch und tat das, was ein Virus so tut: sich im Wirt austoben.

Da die Regierungen weltweit und auch in Deutschland bislang eher ein Wegsehen praktiziert hatten oder eine Art ‚Stillhalten‘ blieb ihnen beim Wiederanstieg der Zahlen scheinbar nichts anderes übrig, als zu einem erneuten Lockdown zu greifen. Die unfähigen — da nur einseitig denkenden — Berater waren die gleichen und so ein Lockdown bot immerhin Gelegenheit sich als ‚Fürsorglich‘ für die ‚anvertraute Bevölkerung‘ darzustellen. (Viele anstehenden Wahlen bleiben bei einem normalen Politiker sicher nicht unwirksam: wer will sich nicht in Position bringen? Im Prinzip demokratisch gerechtfertigt, aber die Art und Weise des Handelns ist dadurch nicht festgelegt…) Die ansteigenden Zahlen helfen, Angst und Schrecken zu verbreiten und das Einsperren in private Bereiche erscheint so einfach.

Dass dieses ‚Einsperren‘ und ‚Einschränken‘ zu wirtschaftlichen Dramen und psychologisch bedrohlichen Krisen führen kann und führt, wissen mittlerweile alle. Dass das Verhindern von normaler wirtschaftlicher Tätigkeit die Grundlagen unserer Gesellschaft bedrohen, sollten auch alle wissen. Dass das Hinausschleudern von Milliarden Euro ohne Konzept der Refinanzierung für die Zukunft nichts Gutes verheißt, könnten auch alle wissen. Dass man Ausgaben so tätigen sollte, dass sie unsere Ausgangsposition für die Zukunft mindestens halten, wenn nicht verbessern sollten, das verstehen viele Politiker — insbesondere auch viele Minister — nicht besonders gut.

FALSCHE PROGNOSEN?

Natürlich gibt es nicht erst seit heute Ansätze, die Dynamik der Ausbreitung von Krankheitserregern wissenschaftlich zu erfassen und im Computer zu simulieren (siehe z.B. [3]). Solche Simulationen können hilfreich sein, wenn man sie richtig einsetzt. Das Grundproblem aller Simulationen besteht aber darin, dass sie Annahmen darüber machen müssen, was sie als Ausgangslage und als Eigenschaften möglicher Veränderungen ansehen. Solange es sich bei dem Gegenstandsbereich um Faktoren handelt, die weitgehend deterministisch sind, d.h. sich durch Regeln beschreiben lassen, die wenig Abweichungen (Freiheitsgrade) unterstellen, dann kann eine Hochrechnung mögliche zukünftige Situationen berechnen, die so oder ähnlich mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit eintreten könnten. Sobald aber Faktoren in der Ausgangslage und in den möglichen Veränderungen auftreten, die im Laufe der Zeit stark von den ursprünglichen Annahmen abweichen, dann stimmen diese Hochrechnungen nicht mehr.

Wenn also z.B. Menschen zum Gegenstandsbereich gehören die zu Beginn einer Epidemie aufgrund von Unkenntnis der Situation falsche Verhaltensweisen zeigen (im Fall von Corona z.B. kein Abstand, keine Masken, keine Raumlüftung usw.), dann kann sich der Krankheitserreger u.U. exponentiell verbreiten. Dann können mathematische Modelle entsprechende Hochrechnungen liefern. Sobald die Menschen aber lernen, wie der Krankheitserreger funktioniert, und sie zusätzlich aufgrund ihrer Kreativität und ihrer technologischen Kapazität mögliche Schutzmechanismen erfinden können, verändert sich die Ausgangslage, verändert sich die Dynamik. Dann passt das mathematische Modell nicht mehr; die Hochrechnungen werden grob falsch.

Das Lernen zeigt immer deutlicher auf, dass die Quellen für die Ansteckung vornehmlich die Haushalte sind (60 – 70%) und die Freizeit (ca. 20%). Starke Quellen sind außerdem alle Orte, wo Menschen länger auf engem Raum verweilen müssen (Gefängnisse, Wohnheime, Pflegeheime, bestimmte Typen von Unternehmen, Schulen…). (Siehe z.B. [0] – [2]).

DEMOKRATIE STATT DIKTATUR

Während Diktaturen Menschen, ganze Stadtteile, Städte oder gar Regionen einfach mal weg sperren können, ist dies in Demokratien eigentlich grundsätzlich nicht möglich. Geschieht es doch (z.B. Deutschland, die meisten Länder in Europa), dann ist dies grenzwertig. Das Motto ‚Sicherheit über Freiheit‘ wurde durch terroristische Vorfälle seit spätestens 9/11 stark strapaziert und eine Abgrenzung zu einem totalitären Regime ist in der Situation kaum wirklich möglich. Selbst in Deutschland kann man beobachten, wie die Parlamente erlahmen in der Eingrenzung der staatlichen Übergrifflichkeit gegenüber der Freiheit der Bürger. Corona gehört auch in diesen Kontext. Wenn das erstmalige — mehr oder weniger überraschende — Auftreten von Corona vielleicht noch das eine oder andere entschuldigt haben mag, so ist die Leichtigkeit, mit der solche Lockdowns wiederholt werden — und gleichzeitig Gesetze zu Gunsten der Verfügungsgewalt der Regierung unbemerkt von der Öffentlichkeit verabschiedet werden (Siehe [5], [6]) — besorgniserregend und sollte uns alle wachrütteln.

INGENIEURE KÖNNEN HELFEN

Wie in der Analyse der Übertragungsbereiche und Übertragungswege deutlich wird (Siehe [2]) machen Maßnahmen eigentlich nur Sinn, wenn es (i) ein möglichst klares Bild über diese Bereiche und Wege gibt und (ii) man sich gezielt überlegt, wie man sich im jeweiligen Abschnitt verhalten sollte. Dann besteht sowohl für den einzelnen Bürger, wie auch für die Gesundheitsbehörden, die Möglichkeit, bewusst und angstfrei mit geringem Aufwand damit umzugehen und die Industrie kann gezielt Vorrichtungen entwickeln, die eine alltagsnahe Anti-Corona Strategie unterstützen.

BEISPIEL

Falls jemand schon Corona Viren in sich trägt und zu Hause ist, wird es kaum Schutzmöglichkeiten geben, solange man sich ‚wie üblich‘ verhält. Wenn jemand aber noch kein Virenträger ist, und er verlässt seine Wohnung, dann kann schon das ungelüftete Treppenhaus eines Mehrparteien Hauses ohne Maske zur Risikozone werden (Aerosole können sich sehr lange in der Luft halten (Siehe z.B. [12]-[14]). Sitzt man in seinem Auto wird es erst interessant, wenn man sein Auto wieder verlässt und Firmenräume betritt oder einen Einkaufsbereich (oder ein Restaurant, einen Kunstraum, …). Die primäre Gefahrenquelle ist hier die Übertragung durch die Luft (Stichwort: Aerosole). Gute Masken können hier begrenzt schützen, Lüftung durch das Öffnen von Fenster sind erwiesenermaßen auf Dauer nicht ausreichend; wirkliche Hilfe gibt es erst durch neuere Luftaustauscher, die eine völlige Umwälzung garantieren können.(Siehe [11]). Nach dem Verlassen der Räume empfiehlt es sich, die Hände zu reinigen. Da kaum ein Geschäft oder Büroraum eine zuverlässige Handdesinfektion anbietet, sollte man in seinem Auto über Desinfektionsmittel, auch Tücher, verfügen (im Kofferraum?), um vor dem Weiterfahren Hände und Autoschlüssel zu desinfizieren. Wieder zu Hause sollte man nach dem Betreten als erstes wieder die Hände desinfizieren (Haustür, Treppengeländer, Wohnungstür, …). Alle mitgebrachten Gegenstände zu desinfizieren (speziell bei Lebensmitteln) ist praktisch kaum möglich, oder doch?(Siehe [15])

DIE REGIERUNG SOLL IHREN JOB MACHEN … und wir natürlich auch

Statt also unspezifisch in den Bürgern Ängste zu schüren und flächendeckende Maßnahmen ohne Klärung der Details anzuordnen, sollte die Regierung ihren Job machen und alltagsnah mögliche Übertragungswege identifizieren und die Bürger mit praktischen Ratschlägen und eventuell mit geeigneten Hilfsmitteln unterstützen. Die Beibehaltung des Alltagsbetriebs und zielgerichtete Maßnahmen sind vermutlich effektiver als das aktuelle blinde um sich schlagen.

ALSO

Aktuell kann der Eindruck entstehen, die Regierung macht aus den Bürgern unmündige Kinder, die man nur über Angst und durch stark einschränkende Kontrollmaßnahmen zu ihrem Glück zwingen kann. Sie selbst aber unterlässt viele notwendige Maßnahmen, die aufklären und helfen könnten. Bei geeigneter Aufklärung könnten die Bürger sich leicht selbst helfen, könnten sie darin ihre Würde und ihre Sicherheit als demokratische Bürger zurück finden. Letztlich wird sich die Krise nur lösen lassen, wenn alle mitmachen. Dies erfordert aber einen modernen demokratischen Führungsstil, den die aktuelle Politikergeneration — so der Eindruck — irgendwie nicht zu kennen scheint. Die Demokratie stirbt in der Dunkelheit … ein Leitspruch der Washinton Post aus den letzten vier Jahren …

QUELLEN

(Achtung diese Quellenangaben sind eine kleine Auswahl aus ganz vielen Artikeln, die hier einschlägig sind; ich bin kein Experte für Corona!!!)

[0] orf.at, Die drei Haupttreiber der Pandemie, 22.10.2020 20.00, URL: https://science.orf.at/stories/3202478/

[1] AGES – Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH, URL: https://www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/epidemiologische-abklaerung-covid-19/

[2] The engines of SARS-CoV-2 spread, Elizabeth C. Lee, Nikolas I. Wada, M. Kate Grabowski, Emily S. Gurley and Justin Lessler, Science 370 (6515), 406-407, published: 23.Oct 2020, DOI: 10.1126/science.abd8755

[3] NIH Public Access, Innov J. 2011 ; 16(1): Information Integration to Support Model-Based Policy Informatics, Christopher L. Barrett, Stephen Eubank, Achla Marathe, Madhav V. Marathe, Zhengzheng Pan, and Samarth Swarup, Network Dynamics and Simulation Science Laboratory, Virginia Bioinformatics Institute, Virginia
Tech, Blacksburg, Virginia 24061

[4] Jorda, Oscar, Sanjay R. Singh, and Alan M. Taylor. 2020. „Longer-Run Economic Consequences of Pandemics,“ Federal Reserve Bank of San Francisco Working Paper 2020-09. Available at https://doi.org/10.24148/wp2020-09

[5] URL: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw45-de-terrorismusbekaempfung-802464

[6] zeit-online, Überwachung. Das Wasser kocht schon. Der Bundestag hat mal wieder neue Überwachungsgesetze beschlossen – warum interessiert das niemanden mehr?
Ein Kommentar von Kai Biermann, 6.November 2020

[7] Wissenschaft.de, https://www.wissenschaft.de/umwelt-natur/mit-blaulicht-gegen-bakterien-2/, 29.Januar 2013

[8] MEDILIGHT Press Release : Blue light for chronic wound healingBerlin, May 2017 –Being in its third year, theMEDILIGHT project,whichaims to develop a medical device for professional wound care,already brought about interesting research resultsin itsbiological part. URL: https://www.csem.ch/pdf/46428

[9] scinexx, 3.April 2019, Daniela Albat, Mit blauem Licht gegen Superkeime? Bestrahlung könnte MRSA-Erreger anfälliger für antibakterielle Mittel machen, URL: https://www.scinexx.de/news/medizin/mit-blauem-licht-gegen-superkeime

[10] Advanced science, Adv. Sci. 2019, 6, 1900030, Photolysis of Staphyloxanthin in Methicillin-Resistant Staphylococcus aureus Potentiates Killing by Reactive Oxygen Species,
Pu-Ting Dong, Haroon Mohammad, Jie Hui, Leon G. Leanse, Junjie Li, Lijia Liang, Tianhong Dai, Mohamed N. Seleem, and Ji-Xin Cheng, URL: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/advs.201900030 (Viele weiterführende Literatur, die diesen Artikel zitiert).

[11] Spiegel, 30.10.2020, Jens Radü, Mobile Raumluftfilter – die Winter-Wunderwaffe? Geschlossene Räume sind ein Treiber der Corona-Pandemie. Christian Kähler erforscht, wie sich Aerosole ausbreiten – und erklärt, ob kleine Raumluftfilter zu Hause gegen Viren helfen.

[12] medRxiv preprint doi: https://doi.org/10.1101/2020.08.03.20167395 ; this version posted August 4, 2020: Viable SARS-CoV-2 in the air of a hospital room with COVID-19 patients John A. Lednicky, PhD, Michael Lauzardo, MD, Z. Hugh Fan, PhD, Antarpreet Jutla, PhD, Trevor B. Tilly, PhD, Mayank Gangwar, Moiz Usmani, Sripriya Nannu Shankar, Karim Mohamed, Arantza Eiguren-Fernandez, PhD, Caroline J. Stephenson, Md. Mahbubul Alam, Maha A. Elbadry, PhD, Julia C. Loeb, Kuttinchantran Subramaniam, PhD, Thomas B. Waltzek, PhD, Kartikeya Cherabuddi, MD , J. Glenn Morris, Jr., MD, and Chang-Yu Wu, PhD

[13] medRxiv preprint doi: https://doi.org/10.1101/2020.08.03.20167395 ; this version posted August 4, 2020: Viable SARS-CoV-2 in the air of a hospital room with COVID-19 patients, John A. Lednicky, PhD, Michael Lauzardo, MD, Z. Hugh Fan, Ph, Antarpreet Jutla, PhD,Trevor B. Tilly, PhD, Mayank Gangwar, Moiz Usmani, Sripriya Nannu Shankar, Karim Mohamed Arantza Eiguren-Fernandez, PhD, Caroline J. Stephenson, Md. Mahbubul Alam, Maha A. Elbadry, PhD, Julia C. Loeb, Kuttinchantran Subramaniam, PhD, Thomas B. Waltzek, PhD, Kartikeya Cherabuddi, MD, J. Glenn Morris, Jr., MD, and Chang-Yu Wu, PhD

[14] Eine Schätzmodell für die Verteilung von Aerosolen und ihren Wirkungen auf die Menschen in den Räumen: https://docs.google.com/spreadsheets/d/16K1OQkLD4BjgBdO8ePj6ytf-RpPMlJ6aXFg3PrIQBbQ/edit#gid=519189277 (In diesem Spreadsheet ganz viele Fachliteratur über Links)

[15] Heraeus, UV-Lampen zur Entkeimung. Standard-Niederdrucklampen von Heraeus: URL: https://www.heraeus.com/media/media/hng/doc_hng/products_and_solutions_1/uv_lamps_and_systems_1/uv_niederdruckstrahler.pdf

[16] nature, 10.Nov.2020: This is an unedited manuscript that has been accepted for publication. Nature Research are providing this early version of the manuscript as a service to our authors and readers. The manuscript will undergo copyediting, typesetting and a proof review before it is published in its final form. Please note that during the production process errors may be discovered which could affect the content, and all legal disclaimers apply: Mobility network models of COVID-19 explain inequities and inform reopening, Serina Chang, Emma Pierson, Pang Wei Koh, Jaline Gerardin, Beth Redbird, David Grusky, Jure Leskovec. URL: https://www.nature.com/articles/s41586-020-2923-3

[17] SEIR-Modell, Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/SEIR-Modell

[18] RKI, 20.3.2020, Modellierung von Beispielszenarien der SARS-CoV-2-Epidemie 2020 in Deutschland, an der Heiden, Matthias und Buchholz, Udo, URL: https://edoc.rki.de/handle/176904/6547.2

ALLE BEITRÄGE VON CAGENT

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VOM MESSWERT ZUM MODELL – EMPIRIE UND KREATIVITÄT? MEMO: PHILOSOPHIEWERKSTATT: So, 29.April 2018

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild , ISSN 2365-5062
30.April 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

INHALT

I Aufgabenstellung
II Gespräch
II-A Messwert
II-B Modell – Theorie
II-C Verstehen
III Neue Fragestellungen

ÜBERBLICK

Bericht zum Treffen der Philosophiewerkstatt vom 29.April 2018 mit weiterführenden Interpretationen vom Autor. Weitere Feedbacks, Kommentare sind willkommen.

I. AUFGABENSTELLUNG

In der Einladung zur Philosophiewerkstatt am 29.April 2018   wurde einerseits Bezug genommen auf den ausführlichen Bericht der Sitzung vom 25.März 2018, andererseits wurde eine Fragestellung formuliert, die sich aus der letzten Sitzung ergeben hatte. Die vorausgehenden intensiven Gespräche zur möglichen Ersetzung eines Psychoanalytikers durch einen Roboter hatten immer stärker das Selbstverständnis des Psychoanalytikers in das Zentrum der Überlegungen gerückt, verbunden mit den Fragen, wie denn ein Psychoanalytiker sowohl den Prozess beschreibt, in dem er mit einem Analysanden interagiert, wie auch sich selbst als jemand, der in dieser Rolle agiert Es wurde sichtbar, dass ein Psychoanalytiker natürlich nicht ohne ein ’Vor-Verständnis’ agiert und dass die Beobachtungen sehr wohl im Lichte dieses Vorverständnisses zu sehen seien. Es stellte sich die Frage, wie man denn das Wechselspiel zwischen anzunehmendem Vor-Verständnis einerseits und beobachteten Vorkommnissen genauer zu verstehen sei. Für die nachfolgende Sitzung wurde diese Fragestellung dahingehend erweitert, dass dieses Wechselspiel zwischen Vorverständnis und Beobachtungswerten auf das generelle Problem des Wechselspiels zwischen ’Messwerten’ und ’Modell’ in allen wissenschaftlichen Disziplinen ausgedehnt wurde. Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass es in den empirischen Wissenschaften für den Weg von einzelnen Messwerten zu einem Modell ganz allgemein keinen Automatismus gibt! Aus Messwerten folgt nicht automatisch eine irgendwie geartete Beziehung, erst recht kein Modell mit einem ganzen Netzwerk von Beziehungen. In allen empirischen Disziplinen braucht es Fantasie, Mut zum Denken, Mut zum Risiko, Kreativität und wie all diese schwer fassbaren Eigenschaften heißen, die im ’Dunkel des Nichtwissens’ (und des Unbewussten) mögliche Beziehungen, mögliche Muster, mögliche Faktorennetzwerke ’imaginieren’ können, die sich dann in der Anwendung auf Messwerte dann tatsächlich (manchmal!) als ’brauchbar’ erweisen. Und, ja, persönliche Vorlieben und Interessen (unbewusste Dynamiken) können sehr wohl dazu beitragen, dass bestimmte mögliche ’interessante Beziehungs-Hypothesen’ von vornherein ausgeschlossen oder eben gerade gefunden werden. Anhand konkreter Beispiele – auch aus der Psychoanalyse ? – soll diese Thematik diskutiert werden. Es sei auch noch angemerkt, dass das große Thema der letzten Sitzung, inwieweit man die Psychoanalyse als ’empirische Wissenschaft’ verstehen kann oder sogar verstehen muss, noch nicht völlig zu Ende diskutiert ist. Es entstand der Eindruck, als ob die ExpertenInnen der Psychoanalyse die Einstufung der Psychoanalyse als empirische Wissenschaft selbst nicht so ganz akzeptieren wollten. Es sah so aus, als ob sie die Befürchtung haben, dass dadurch wesentliche Momente der Psychoanalyse verloren gehen könnten. Umgekehrt muss man aber auch bedenken, dass möglicherweise der empirischen Wissenschaft wichtige Aspekte verlorengehen, wenn man eine Disziplin wie die Psychoanalyse von vornherein ausklammert.

II. GESPRÄCH

Gedankenskizze zur Philosophiewerkstatt 29.April 2018
Gedankenskizze zur Philosophiewerkstatt 29.April 2018

Das Gespräch nahm seinen Ausgangspunkt bei den Begriffen ’Messwert’ und ’Modell’.

Im Fall des Begriffs ’Messwert’ ergab sich recht schnell fundamentale Unterscheidungen.

A. Messwert

In den ’empirischen Wissenschaften’ geht ein ’Messwert’ in der Regel aus einer ’Vergleichsoperation’ hervor in der ein ’Zielobjekt’ (das, was gemessen werden soll), und ein ’Referenzobjekt’ (ein zuvor vereinbarter ’Standard’ wie z.B. die Längeneinheit Meter [m], oder Gewichtseinheit Kilogramm [kg] usw..) miteinander verglichen werden. Das Ergebnis solch einer Vergleichsoperation ist dann immer ein Zahlenwert kombiniert mit einer Einheit, also z.B. ’3,3 m’ oder ’5,44 kg’. Dieser Sachverhalt wird in einen geeigneten ’sprachlichen Ausdruck’ übersetzt, der seine ’Bedeutung’ aus dieser Vergleichsoperation bezieht. In den modernen Wissenschaften hängen die Messoperationen oft an komplexen technischen Vorrichtungen, die selbst schon komplexe Theorien voraussetzen, so dass das Messergebnis stark ’Theorie-belastet’ ist. Es wird dann eine Vergleichsoperation mit einem vereinbarten Standard unterstellt, die von vielen komplexen Annahmen abhängt. Eine direkte Überprüfbarkeit ’vor Ort’ ist oft kaum noch möglich.

In jenen empirischen Wissenschaften, die kollektiv als ’Lebenswissenschaften’ charakterisiert werden, ist der Messgegenstand sehr oft ein komplexes System in einem Prozesskontext, wo die punktuelle Messung eines isolierten Faktums schwer bis gar nicht möglich ist. Die ’Beobachtungen’ solcher komplexer Systeme bekommt einen ’narrativen’ Charakter, nimmt die Form von ’Fallgeschichten’ an, im Grenzfall eine ganze ’Lebensgeschichte’. Ein Narrativ enthält also viele Einzelbeobachtungen im Kontext eines komplexen Ablaufs. Einzelne Begriffe in so einem Narrativ können in sich ’komplex’ sein, d.h. viele Eigenschaften und Randbedingungen voraussetzen, die sich oft nur einem ’geschulten/ erfahrenen’ Beobachter erschließen. Desgleichen sind die Beziehungen zwischen solchen komplexen deskriptiven begriffen oft ebenfalls ’komplex’: sie umfassen viele Detailaspekte simultan.

B. Modell – Theorie

Im Gespräch wurden die Begriffe ’Modell’ und ’Theorie’ (noch) nicht explizit definiert. Als Arbeitsbegriff wurde in den Raum gestellt, dass die ’Deutung’ von einzelnen Messwerten das ’Aufstellen von Beziehungen’ voraussetzt, durch die einzelne Beobachtungen in einem Zusammenhang gestellt werden können,also z.B. ’Wenn X, dann (evtl. mit Wahrscheinlichkeiten qualifiziert) Y’. Man kann solche Beziehungen ’Regeln’ nennen oder ’Funktionen’. Ein vorläufiger Begriff von ’Modell’ wäre dann, dass ein Modell eine Menge solcher Regeln verkörpert (mindestens eine). Modell stellen dann also ’Deutungen’ her, aus denen sich begrenzt ’Voraussagen’ herleiten lassen bzw. mit denen man ansatzweise ’erklären’ kann.

Eine ’Theorie’ stellt – Arbeitsdefinition – gegenüber einem ’Modell’ eine erweiterte ’Struktur’ dar, in der nicht nur die angenommenen Regeln vorkommen, sondern zugleich auch alle beteiligten Objektmengen.

Mit Blick auf ein Modell wurden viele zusätzliche Eigenschaften genannt.

1) Der ’Verwendungszusammenhang’ eines Modells kann eine ’Erklärung’ sein oder eine ’Prognose’. Beides kann man u.U. für eine ’Prophylaxe’, für eine ’Therapie’ nutzen.

2) Ein Modell kann ferner ’globale Eigenschaften’ besitzen indem das so beschriebene Objekt (das oft ein System ist), als ’zuverlässig’ charakterisierbar ist oder als ’sicher’ oder als ’resilient’ und dergleichen mehr.

3) Man kann auch die Frage nach der ’Entstehung eines Modells’ stellen: ist es eher ein ’Produkt’ des Wirkens der biologischen Strukturen’ oder der Einwirkungen der umgebenden ’Kultur’ oder ein Zusammenspiel von beiden? Inwieweit können sich Modelle ’selbst organisieren’? In diesem Zusammenhang auch die interessante Unterscheidung zwischen ’Modellen im Alltag’, die eher unbewusst, automatisch entstehen und benutzt werden, im Kontrast zu expliziten Modellen in der Wissenschaft, die grundsätzlich ’bewusst’ konstruiert werden, ’transparent’, mit ’Dokumentationen’. Hier beobachten wir aber in der Gegenwart das Phänomen der ’Zersplitterung’ der Einzeldisziplinen, die mit spezifischen Sprachspielen und spezifischen Modellen ’für sich’ recht erfolgreich sein können, aber im ’interdisziplinären Dialog’ oft vollständig versagen. Dies ist ein reales Problem.

4) Ferner kann man fragen, inwieweit ein Modell eine geeignete ’Sprache voraus setzt’ bzw. wie das Zusammenspiel von einem ’Modell im Kopf’ ist und einer Sprache, die über dieses Modell spricht?

C. Verstehen

Mit diesen vielen Teil-Klärungen von Begrifflichkeiten stellte sich dann das Problem des Wechselspiels zwischen Beobachtungen und benutztem Modell in der Psychoanalyse so dar, dass natürlich auch die Psychoanalyse vorab zum praktischen Einsatz eine explizite ’Modellpflege’ betreibt (Anmerkung: Durch Studien, spezielles Training, Supervision, und vielem mehr ), so dass dann der ausgebildete (trainierte) Psychoanalytiker sich seines Modells so ’bewusst’ sein kann, dass er in seinem ’Narrativ’ genügend viele Einzelaspekte ’identifizieren’ kann, um sie ’im Lichte seines Modells’ so ’deuten’ zu können, dass er im Sinne des psychoanalytischen Modells ’geeignete Schlüsse’ ziehen kann, aufgrund deren er sowohl zu ’Einschätzungen’ kommen kann wie auch dann zu jeweiligen ’Interventionen’. An diesem Punkt war leider die Zeit um.

III. NEUE FRAGESTELLUNGEN

Es bestand der Wunsch aller Beteiligten, an dieser Stelle das Gespräch fortzusetzen. Ideal wäre für die nächste Sitzung ein kleines Beispiel mit einem typischen ’Narrativ’ und ’Deutungen’ auf der Basis des ’vorausgesetzten psychoanalytischen Modells’. Es wäre dann interessant, ob man aufgrund dieses Beispiels die Struktur eines psychoanalytischen Modells beispielhaft rekonstruieren und ’hinschreiben’ könnte.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

KONTEXTE

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EARTH 2117 – ERDE 2117 – Erste Gedanken – Simupedia für alle?

KONTEXT

  1. Wie man als Leser des Blogs bemerken kann, fokussiert sich der Blog zur Zeit hauptsächlich auf drei Themenfelder: (i) Die Frage nach der technischen Superintelligenz (TSI); (ii) die Frage nach dem, was der Mensch ist bzw. werden kann, mit der speziellen Teilfrage nach der mystischen Erfahrung (gibt es die? Was sagt dies über den Menschen und die Welt?); sowie (iii) die Frage nach dem möglichen Zustand der Erde im Jahr 2117. Die Zahl 2117 ergab sich u.a. aus den aktuellen Prognosen, zu welchem Zeitpunkt Experten das Auftreten einer technischen Superintelligenz für hoch wahrscheinlich halten. Zu diesen drei Themenfeldern kommen dann noch die möglichen Wechselwirkungen zwischen (i), (ii) und (iii). Andere Themen sind grundsätzlich nicht ausgeschlossen, sind aber bis auf weiteres Nebenthemen.

PROGNOSEN GENERELL

  1. Die Frage nach dem möglichen Zustand der Erde setzt voraus, dass wir den Zustand der Erde als veränderlich ansehen, dass es ein Jetzt gibt, und dass es im jeweiligen Jetzt die Möglichkeit gibt, dass sich Eigenschaften der Erde im Jetzt so verändern, dass es zu einem nachfolgenden Jetzt andere Eigenschaften gibt als beim vorausgehenden Jetzt.

DER MENSCH UND DIE ZEIT

  1. Auf Seiten des Menschen ist es die Erinnerungsfähigkeit, die den Menschen in die Lage versetzt, zwischen einem aktuellen Jetzt und einem vorausgehenden Jetzt zu unterscheiden. Auf Seiten des Menschen sind es weitere kognitive Fähigkeiten, die den Menschen in die Lage versetzen, am Wahrgenommenen und Erinnerten kognitive Eigenschaften zu erfassen (durch Abstrahieren, Klassifizieren, Vergleichen usw.) mit denen sich kognitiv Veränderungen identifizieren lassen. Mittels solcher identifizierten kognitiven Konzepten der Veränderung kann der Mensch von angenommenen (kognitiven) Zuständen auf mögliche (kognitive) Zustände mittels der angenommenen Veränderungskonzepte schließen. Der Mensch ist also grundsätzlich in der Lage, aufgrund von Erfahrungen aus der Vergangenheit im Vergleich zur Gegenwart mögliche Veränderungen zu erschließen, die dann wiederum genutzt werden können, mögliche Zukünfte zu denken.
  2. Natürlich hängt die Qualität solche Hochrechnungen entscheidend davon ab, wie wirklichkeitsnah die Erfahrungen aus der Vergangenheit sind, die Art der Erinnerungen, die möglichen Denkoperationen des Selektierens, Abstrahierens, Vergleichens usw. Wie gut mögliche Veränderungen erfasst wurden, einschließlich der möglichen Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Faktoren.

TECHNISCHE HILFSMITTEL: COMPUTER

  1. Wie der Gang der Wissenschaften und der Technologie uns zeigen kann, können solche möglichen Hochrechnungen deutlich verbessert werden, wenn der Mensch für diese (kognitiven) Denkleistungen als Hilfsmittel formalisierte Sprachen benutzt und Computer, die mittels Algorithmen bestimmte Denkoperationen des Menschen modellhaft nachvollziehen können. Statt also per Hand auf dem Papier umfangreiche Rechnungen viele tausend Male selbst vorzunehmen (wozu in der Realität dann sehr schnell einfach die Zeit und Arbeitskraft fehlt), schreibt man einen Algorithmus (= Programm, Software), der diese Rechnungen für das Arbeiten eines Computers übersetzt und die Maschine dann die Rechnungen automatisch (= maschinell) machen lässt.

BEGRIFF DER ZEIT

  1. Ein nicht unwesentlicher Faktor in diesen Überlegungen zu möglichen Zukünften ist der Begriff der Zeit.
  2. Der Begriff der Zeit ist viel schillernd und je nach Kontext kann er etwas ganz Verschiedenes bedeuten.
  3. Im Kontext des menschlichen Denkens haben wir die grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem aktuellen Jetzt und dem vorausgehenden Jetzt in Form von verfügbaren Erinnerungen. Dazu kommen dann mögliche Jetzte aufgrund der Möglichkeit, im (kognitiven) Denken mittels dem (kognitiven) Konzept von Veränderung, aus der Vergangenheit und der Gegenwart denkbare (= mögliche) neue Zustände zu berechnen (zu denken, vorzustellen, …). Im Denken sind diese möglichen Zustände rein gedacht (virtuell), aber, sofern sie genügend nahe an der empirischen Wirklichkeit sind, könnten diese möglichen Zustände real werden, d.h. Zu einem neuen aktuellen Jetzt.

UHREN-MASCHINEN

  1. Um das Reden über diese unterschiedliche Formen von Jetzten zu vereinfachen, wurde sehr früh das Hilfsmittel der Uhr eingeführt: die Uhr ist eine Maschine, die periodisch Uhren-Ereignisse erzeugt, denen man Zahlzeichen zuordnen kann, also z.B. 1, 2, 3, … Es hat sich dann eingebürgert, ein Zeitsystem zu vereinbaren, bei dem man Jahre unterscheidet, darin 12 Monate, darin Wochen, darin 7 Wochentage, darin 24 Stunden pro Tag, darin 60 Minuten pro Stunde, darin 60 Sekunden pro Minute, und noch feinere Unterteilungen.
  2. Nimmt man an, dass eine Uhren-Maschine periodisch Sekunden erzeugt, dann würde jede Sekunde ein Ereignis angezeigt, dem dann nach 60 Sekunden eine Minute entsprechend würde, 60 Minuten dann eine Stunde, usw.
  3. Sofern man dann noch das praktische Problem lösen kann, wie die Uhren-Maschinen überall auf der Erde die gleiche Zeit anzeigen, und man einen gemeinsamen Referenzpunkt für den Beginn der Zeitrechnung hat, dann könnten alle Menschen nach der gleichen Zeitgebung leben.
  4. Unter Voraussetzung solcher einer Technologie der Zeiterzeugung könnte man dann abstrakt immer von definierten Zeitpunkten in diesem vereinbarten Zeitsystem sprechen.

(TECHNISCHE) SIMULATION

  1. Verfügt man über Computer und Zeit-Maschinen, dann kann man den Computer dazu nutzen, im Raum von definierten Zeitpunkten Hochrechnungen vorzunehmen. Man definiert Ausgangssituationen zu bestimmten Zeitpunkten (die Startzeit), man definiert angenommene mögliche Veränderungen in der Zeit, die man dann in Form eines Algorithmus aufschreibt, und dann lässt man den Computer für einen gewünschten Zeitraum ausrechnen, welche Veränderungen sich ergeben.
  2. Will man z.B. errechnen, wie sich die Bevölkerungszahl in einer bestimmten Population im Laufe von 10 Jahren berechnen, und man weiß aufgrund der Vergangenheit, wie hoch die durchschnittlichen Geburten- und Sterberaten für ein Jahr waren, dann kann man die Veränderungen von Jahr 1 zu Jahr 2 berechnen, dann wieder von Jahr 2 zu Jahr 3, usw. bis man das Zieljahr erreicht hat.
  3. Diese Rechnungen sind natürlich nur solange genau, wie sich die Geburten- und Sterberaten in diesem angenommenen Zeitraum nicht verändern. Wie wir aus der Geschichte wissen können, gibt es zahllose Faktoren, die auftreten können (Hunger, Krankheit, Kriege, …), die eine Veränderung mit sich bringen würden.
  4. Ferner sind Populationen immer seltener isoliert. Der Austausch zwischen Populationen nimmt heute immer mehr zu. Eine ganz normale Gemeinde im Kreis Offenbach (Land Hessen, Deutschland) kann z.B. eine Migrationsrate von 15% pro Jahr haben (Menschen die wegziehen oder herziehen), bei einer Geburtenrate von 0,7% und einer Sterberate von 0,8%. Die Größe einer Population hängt dann weniger vom Geborenwerden und Sterben ab, sondern von Standortfaktoren wie Verfügbarkeit von Arbeit, Höhe der Mietpreise, Verkehrsanbindung, Qualität der Schulen, ärztliche Versorgung usw.

DIE ERDE

  1. Will man nun die Erde als ganze betrachten, und hat man sowohl ein vereinbartes Zeitsystem zur Verfügung basierend auf einer gemeinsamen globalen Uhren-Technologie, wie auch Computer, die geeignete Algorithmen ausführen können, dann braucht man ’nur noch‘ (i) hinreichend gute Beschreibungen des Zustands der Erde jetzt, (Daten IST) (ii) von möglichst vielen Zuständen in der Vergangenheit (DATEN VORHER), und (iii) von möglichst allen wichtigen wirkenden Veränderungen zwischen diesen Zuständen (VREGELN). Unter der Annahme, dass alle diese Daten und Veränderungsregeln hinreichend realistisch sind, kann man dann Hochrechnungen für angenommene Zeiträume machen. In unserem Fall von 2017 bis 2117.
  2. Da schon das kleine Beispiel einer winzigen Gemeinde in Deutschland leicht erkennen lässt, wie fragil viele erkannten Veränderungsregeln sind, kann man vermuten, dass dies auf ein so komplexes System wie die ganze Erde sicher auch zutreffen wird.
  3. Betrachten wir ein paar (stark vereinfachte, idealisierte) Beispiele.
  4. Ganz allgemein gehen wir aus von einer globalen Veränderungsregel V_erde für die Erde, die den Zustand der Erde im Jahr 2017 (ERDE_2017) hochrechnen soll auf den Zustand der Erde im Jahr 2117 (ERDE_2117), als Abbildung geschrieben: V_erde : ERDE_2017 —> ERDE_2117.
  5. Der Zustand der Erde im Jahr 2017 (ERDE_2017) setzt sich zusammen aus einer ganzen Menge von Eigenschaften, die den Zustand charakterisieren. Abstrakt könnten wir sagen, die Erde besteht zu jedem Zeitpunkt aus einer Menge charakteristischer Eigenschaften Ei (ERDE_Zeit = <E1, E2, …, En>), und je nachdem, welche Veränderungen zwischen zwei Zeitpunkten stattgefunden haben, verändern sich in dieser Zeitspanne bestimmte Eigenschaften Ei.
  6. Beispiele für solche charakteristischen Eigenschaften Ei könnten sein das Klima (E_Klima), das wiederum selbst in unterscheidbare Eigenschaften zerfällt wie z.B. die durchschnittliche Sonneneinstrahlung, Beschaffenheit der Atmosphäre, Niederschlagsmenge, Wassertemperatur der Ozeane, Verdunstungsgrad des Wassers, usw. Zusammenhängend damit kann von Bedeutung sein die Bodenbeschaffenheit, verfügbare Anbauflächen, Pflanzenwachstum, mögliche Ernten, usw. Dazu wichtig die Verteilung der biologischen Populationen, deren Nahrungsbedarf, die Wechselwirkung zwischen Populationen und Pflanzenwachstum, usw. Hier fällt einem sofort auch die Frage der Lagerung von Nahrungsmitteln auf, deren Verarbeitung und Transport, deren Verteilung und deren Marktpreise.
  7. Schon diese sehr kleine Liste von Eigenschaften und angedeuteten Wechselwirkungen lassen erahnen, wie unterschiedlich mögliche Verläufe der Veränderungen in der Zukunft sein können. Von Heute aus gesehen gibt es also nie nur eine Zukunft, sondern sehr, sehr viele mögliche Zukünfte. Welche der vielen möglichen Zukünfte tatsächlich eintreten wird, hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt auch vom Verhalten der Menschen selbst, also von uns, von jedem von uns. (An diesem Punkt lügt die deutsche Sprache! Sie spricht nur von einer Zukunft im Singular (in der Einzahl), in Wahrheit sind es sehr viele und wir können mit bewirken, welche der vielen Zukünfte eintreten wird).

WARUM ÜBER ZUKUNFT SPEKULIEREN?

  1. Angesichts so vieler Unwägbarkeiten hört man oft von Menschen (speziell auch von Politikern!), dass Versuche der Hochrechnungen (= Simulation) auf mögliche Zukünfte sinnlos seien; eine unnötige Verschwendung von Zeit und damit Ressourcen.
  2. Auf den ersten Blick mag dies tatsächlich so erscheinen. Aber nur auf den ersten Blick.
  3. Der Wert von solchen Modellrechnungen über mögliche Zukünfte liegt weniger im Detail der Endergebnisse, sondern im Erkenntniswert, der dadurch entsteht, dass man überhaupt versucht, wirkende Faktoren und deren Wechselwirkungen mit Blick auf mögliche Veränderungen zu erfassen.
  4. Wie oft hört man Klagen von Menschen und Politikern über mögliche gesellschaftliche Missstände (keine Maßnahmen gegen Autoabgase, falsche Finanzsysteme, falsche Verkehrspolitik, falsche Steuerpolitik, falsche Entwicklungspolitik, fragwürdige Arzneimittelmärkte, …). Vom Klagen alleine ändert sich aber nichts. Durch bloßes Klagen entsteht nicht automatisch ein besseres Verständnis der Zusammenhänge, der Wechselwirkungen. Durch bloßes Klagen gelangt man nicht zu verbesserten Modellvorstellungen, wie es denn überhaupt anders aussehen könnte.

SIMUPEDIA FÜR ALLE

  1. Was die Not zumindest ein wenig lindern könnte, das wären systematische (wissenschaftliche) Recherchen über alle Disziplinen hinweg, die in formalen Modellen aufbereitet werden und dann mittels Algorithmen getestet werden: Was wäre, wenn wir die Eigenschaften E1, …, En einfach mal ändern und hier und dort neue Wirkmechanismen (durch Bildung, durch Gesetze, …) ermöglichen würden? Das Ganze natürlich transparent, öffentlich nachvollziehbar, interaktiv für alle. Nicht nur ein ‚Wikipedia‘ der Texte, sondern zusätzlich  eine Art ‚Simupedia‘ der Simulationen für alle.

Interessante  Ergänzung zu diesen ersten Überlegungen finden sich in den folgenden Beiträgen:  EIN HOMO SAPIENS – VIELE BILDER. Welches ist wahr? ,   WAHRHEIT ALS UNABDINGBARER ROHSTOFF EINER KULTUR DER ZUKUNFTWENN PHILOSOPHISCHE SACHVERHALTE POLITISCH RELEVANT WERDEN  sowie ‚Informelle Kosmologie‘; hier der erste Teil mit einer Fortsetzung Teil 2 .

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DONALD A.NORMAN, THINGS THAT MAKE US SMART – Teil 6

Diesem Beitrag ging voraus Teil 5.

BISHER
(ohne kritische Anmerkungen)

In den vorausgehenden Teilen wurden bislang zwei Aspekte sichtbar: einmal die ‚Menschenvergessenheit‘ in der Entwicklung und Nutzung von Technologie sowie die Einbeziehung von ‚wissensunterstützenden Dingen‘ sowohl außerhalb des Körpers (physisch) wie auch im Denken selber (kognitiv). Ferner hatte Norman die Vielfalt des Denkens auf zwei ‚Arbeitsweisen‘ reduziert: die ‚erfahrungsorientierte‘ Vorgehensweise, ohne explizite Reflexion (die aber über ‚Training‘ implizit in die Erfahrung eingegangen sein kann), und die ‚reflektierende‘ Vorgehensweise. Er unterschied ferner grob zwischen dem Sammeln (‚accretion‘) von Fakten, einer ‚Abstimmung‘ (‚tuning‘) der verschiedenen Parameter für ein reibungsloses Laufen, Schreiben, Sprechen, usw., und einer Restrukturierung (‚restructuring‘) vorhandener begrifflicher Konzepte. Ferner sieht er in der ‚Motivation‘ einen wichtigen Faktor. Diese Faktoren können ergänzt werden um Artefakte, die Denkprozesse unterstützen. In diesem Zusammenhang führt Norman die Begriffe ‚Repräsentation‘ und ‚Abstraktion‘ ein, ergänzt um ‚Symbol‘ (nicht sauber unterschieden von ‚Zeichen‘) und ‚Interpreter‘. Mit Hilfe von Abstraktionen und Symbolen können Repräsentationen von Objekten realisiert werden, die eine deutliche Verstärkung der kognitiven Fähigkeiten darstellen. Allerdings, und dies ist ein oft übersehener Umstand, durch die Benutzung eines Artefaktes werden nicht die kognitiven Eigenschaften des Benutzers als solchen geändert, sondern – bestenfalls – sein Zugang zum Problem. Wenn in einem solchen Fall zwischen den wahrnehmbaren Eigenschaften eines Artefakts und den korrelierenden ‚Zuständen‘ des Problems ein Zusammenhang nur schwer bis gar nicht erkennbar werden kann, dann führt dies zu Unklarheiten, Belastungen und Fehlern. Norman wiederholt dann die Feststellung, dass die Art wie das menschliche Gehirn ‚denkt‘ und wie Computer oder die mathematische Logik Probleme behandeln, grundlegend verschieden ist. Im Prinzip sind es drei Bereiche, in denen sich das Besondere des Menschen zeigt: (i) der hochkomplexe Körper, (ii) das hochkomplexe Gehirn im Körper, (iii) die Interaktions- und Kooperationsmöglichkeiten, die soziale Strukturen, Kultur und Technologie ermöglichen. Die Komplexität des Gehirns ist so groß, dass im gesamten bekannten Universum nichts Vergleichbares existiert. Mit Bezugnahme auf Mervin Donald (1991) macht Norman darauf aufmerksam dass die auffälligen Eigenschaften des Menschen auch einen entsprechenden evolutionären Entwicklungsprozess voraussetzen, innerhalb dessen sich die heutigen Eigenschaften schrittweise herausgebildet haben. Nach kurzen Bemerkungen zur Leistungsfähigkeit des Menschen schon mit wenig partiellen Informationen aufgrund seines Gedächtnisses Zusammenhänge erkennen zu können, was zugleich ein großes Fehlerrisiko birgt, Norman dann den Fokus auf die erstaunliche Fähigkeit des Menschen, mit großer Leichtigkeit komplexe Geschichten (’stories‘) erzeugen, erinnern, und verstehen zu können. Er erwähnt auch typische Fehler, die Menschen aufgrund ihrer kognitiven Struktur machen: Flüchtigkeitsfehler (’slips‘) und richtige Fehler (‚mistakes‘). Fehler erhöhen sich, wenn man nicht berücksichtigt, dass Menschen sich eher keine Details merken, sondern ‚wesentliche Sachverhalte‘ (’substance and meaning‘); wir können uns in der Regel nur auf eine einzige Sache konzentrieren, und hier nicht so sehr ‚kontinuierlich‘ sondern punktuell mit Blick auf stattfindende ‚Änderungen‘. Dementsprechend merken wir uns eher ‚Neuheiten‘ und weniger Wiederholungen von Bekanntem.(vgl. S.131) Ein anderes typisches Fehlerverhalten ist die Fixierung auf eine bestimmte Hypothese.

VERTEILTES WISSEN IN GETEILTEN SITUATIONEN

1) Am Beispiel von Flugzeugcockpits (Boeing vs. Airbus) und Leitständen großer technischer Anlagen illustriert Norman, wie eine durch die gemeinsam geteilte Situation gestützte Kommunikation alle Mitglieder eines Teams auf indirekte Verweise miteinander verbindet, sie kommunizieren und verstehen lässt. Ohne dass ausdrücklich etwas erklärt werden muss erlebt jeder durch die gemeinsame Situation Vorgänge, Vorgehensweisen, Zustände, kann so indirekt lernen und man kann sich indirekt wechselseitig kontrollieren. Im Allgemeinen sind diese indirekten Formen verteilten Wissens wenig erforscht. (vgl. SS.139-146)
2) Eine solche verteilte Intelligenz in einer realen Situation unter Benutzung realer Objekte hat einen wesentlichen Vorteil gegenüber einer rein simulierten Welt: die Benutzung realer Objekte ist eindeutig, auch wenn die begleitende Kommunikation vieldeutig sein mag.(vgl. S.146 -148)
3) In einer simulierten Situation muss man die impliziten Gesetze der realen Welt explizit programmieren. Das ist nicht nur sehr aufwendig, sondern entsprechend fehleranfällig. Eine Kommunikation wird vieldeutiger und damit schwieriger. (vgl. SS.148-151)

ZU VIEL DETAILS

4) Norman greift dann nochmals das Thema des unangemessenen, falschen Wissens auf mit Blick auf die Art und Weise, wie das menschliche Gedächtnis funktioniert. Am Beispiel der mündlichen Überlieferung die strukturell, typologisch vorging verweist er auf die heutige ‚Überlieferung‘ in Form von immer detaillierteren Texten, immer mehr technisch bedingten Details, die eigentlich unserer menschlichen Art des Erinnerns widersprechen. (vgl. SS.151-153)

ORGANISATION VON WISSEN

5) Auf den SS.155-184 diskutiert Norman anhand von Beispielen das Problem, wie man Wissen so anordnen sollte, dass man dann, wenn man etwas Bestimmtes braucht, dieses auch findet. Es ist ein Wechselspiel zwischen den Anforderungen einer Aufgabe, der Struktur des menschlichen Gedächtnisses sowie der Struktur der Ablage von Wissen.

DIE ZUKUNFT VORAUSSAGEN

6) Das folgende Kapitel (SS.185-219) steht unter der Hauptüberschrift, die Zukunft voraus zu sagen; tatsächlich enthält es auch eine ganze Reihe von anderen Themen, die sich nur sehr lose dem Thema zuordnen lassen.
7) Nach Norman ist es generell schwer bis unmöglich, die Zukunft vorauszusagen; zu viele Optionen stehen zur Verfügung. Andererseits brauchen wir Abschätzungen wahrscheinlicher Szenarien. (vgl. S.185f)
8) Als Begründung für seine skeptische These wählt er vier Beispiele aus der Vergangenheit (Privater Hubschrauber, Atomenergie, Computer, Telephon), anhand deren er das Versagen einer treffenden Prognose illustriert.(vgl.186-192) Der größte Schwachpunkt in allen Voraussagen betrifft den Bereich der sozialen Konsequenzen. Hier liegt überwiegend ein Totalversagen vor. Und er bemerkt, dass man den Ingenieuren zwar nicht vorwerfen kann, dass sie sich mit sozialen Folgen nicht auskennen, aber dass sie ihr Nichtwissen in diesem Bereich nicht ernst nehmen.(vgl. S.186).
9) Der andere Aspekt ist die Umsetzungsdauer von einer Idee bis zu einer verbreiteten alltäglichen Nutzung. Anhand von Beispielen (Fernsehen, Flugzeug, Fax) zeigt er auf, dass es zwischen 40 – 140 Jahren dauern konnte. denn neben der Idee selbst und einem arbeitsfähigen Prototypen muss ja der bestehende Alltag unterschiedlich weit ‚umgebaut‘ werden, evtl. müssen alte bestehende Strukturen (verbunden mit starken Interessen) durch neue ersetzt werden.(vgl. S.192-195)
10) [Anmerkung: Wir erleben z.B. seit den 60iger Jahren des 20.Jahrhunderts die Diskussion zur Frage erneuerbarer Energien, der eine bestehende Struktur von ölbasierten Technologien, Atomkraft, Kohle und Gas entgegen stehen, jeweils verbunden mit sehr starken ökonomischen und politischen Interessen.]
11) Er macht dann selber einige Voraussagen (Verfügbarkeit von digitaler Information, von hohen Bandbreiten, von noch mächtigeren immer kleineren Computern, von 3D-Ansichten unter Einbeziehung der eigenen Position, von elektronischen Publikationen, von mehr computergestütztem Lernen, noch raffiniertere Unterhaltung, von Videogesprächen im privaten Bereich, von mehr kollaborativen Arbeitsplätzen).(vgl. SS.195-201)
12) [Anmerkung: 20 Jahre später kann man sagen, dass alle diese Voraussagen entweder voll umgesetzt wurden oder wir dabei sind, sie umzusetzen.]
13) Norman spielt dann die möglichen sozialen Folgen von diesen neuen Technologien anhand von sehr vielen konkreten Beispielen durch. Ein Trend ist der zunehmende Ersatz des Menschen im Handeln durch künstliche Charaktere, was schließlich dazu führen kann, dass in der Öffentlichkeit dann nur noch die Software handelt, während die ‚realen‘ Menschen mehr und mehr aus der Öffentlichkeit verschwinden. (vgl. SS. 201-210)
14) [Anmerkung: Diese Art von Auswüchsen, wie sie Norman plastisch schildert, werden in immer mehr Science-Fiction Filmen thematisiert. Ein Beispiel war die 10-teilige Folge ‚Real Humans – Echte Menschen‘, eine schwedische Produktion, die von arte im Frühjahr 2013 gezeigt wurde. Darin wurde die Existenz von menschenähnlichen Robotern im alltäglichen Leben sehr konkret durchgespielt. Ein sehr ähnliches Thema hatte auch der Film Surrogates (2009), wenn auch mit einer anderen Rahmengeschichte. Es gibt hierzu zahllose weitere Beispiele.]

NEUROINTERFACE

15) Norman greift auch das Thema ‚Neurointerface‘ auf, eine direkte Verbindung des menschlichen Nervensystems mit einem Computer. (vgl. SS.210-214)

KOLLABORATIVE SOFTWARE

16) Natürlich wird die neue Technologie auch Auswirkungen für die Arbeit von sozialen Gruppen haben. Hier sieht er aber besonders viele Schwierigkeiten, da das Arbeiten in einer Gruppe besonders komplex ist und sensitiv für viele Faktoren. (vgl. SS. 214-217)

TRÄUMEN MACHT MEHR SPASS ALS REALE NUTZUNG

17) Abschließend bemerkt Norman noch, das der Hype um neue Technologien sich häufig an den visionären Szenarien entzündet; wenn es zur tatsächlichen Nutzung kommt, flaut dieser Hype sehr schnell wieder ab. (vgl. SS.217-219)
18) [Anmerkung: Die Themen zersplittern zunehmend. Dennoch stellen Sie allesamt wertvolle Erfahrungen und Einsichten dar. s wird Aufgabe der Schlussreflexion sein, die Vielfalt dieser Aspekte auszuwerten und für eine Gesamttheorie nutzbar zu machen.]

Fortsetzung folgt im Teil Teil 7

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