Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 17.Sept. 2018
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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Wie im Beitrag vom vom 10.Sept. 2018 festgestellt, kann man die Praxis der Psychoanalyse, wie sie im Rahmen der Philosophiewerkstatt im Jahr 2018 vorgestellt wurde, sehr wohl in das Konzept einer empirischen Wissenschaft ‚einbetten‘, ohne den Faktor des ‚Un-Bewussten‘ aufgeben zu müssen. Nach Ansicht des Autors des Beitrags dort ist das Haupthindernis dafür, dies nicht umzusetzen, einerseits das mangelnde Verständnis der Psychoanalytiker für moderne Konzepte empirischer Theorien, andererseits sind die aktuellen Theoriekonzepte empirischer Theorien zu einfach; sie müssten weiter entwickelt werden.
Man kann dieser Diskussion weitere ‚Nahrung‘ geben, wenn man Themen der letzten Schrift von Sigmund Freud selbst aufgreift. Dieser Deutsche Text hatte den Englischen Titel ‚Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis‘ (GW XVII, 1938-40). Ich wurde auf diesen Text aufmerksam durch Jürgen Hardt, der dazu 1996 einen historisch-systematischen Artikel verfasst hatte (Hardt 1996).
In einer sehr detaillierten textnahen Analyse kann Jürgen Hardt es plausibel erscheinen lassen, dass dieser Text ‚Some …‘ kein nachträglicher Kommentar zu dem zeitlich früheren ‚Abriß der Psychoanalyse‘ (GW VVII, 1938-40) darstellt, sondern letztlich einen methodisch neuen Ansatz bildet, wie Freud die Psychoanalyse darstellen wollte, ohne dies vollenden zu können.
Die zentrale Idee besteht darin, dass die Psychoanalyse sehr wohl am Alltagsverständnis ansetzt, beim alltäglichen Bewusstsein, der individuellen ‚Selbstbeobachtung‘, dass sie aber nicht bei der ‚Lückenhaftigkeit‘ der Phänomene stehen bleibt, sondern die Lücken einem ‚Un-Bewussten‘ zurechnet, das für die Auswahl und das Zustandekommen der bewussten Phänomene verantwortlich ist. Mit diesem Ansinnen und mit der Umsetzung dieses Ansinnens, begibt sich die Analyse in das Gebiet der ‚theoretischen Deutung‘ von ‚Erfahrbarem‘. Damit tut sich auf den ersten Blick ein Gegensatz von ‚Bewusstsein‘ und ‚Un-Bewusstem‘ auf: das Un-Bewusste ist dem Bewusstsein ‚etwas Fremdes‘. Dieser Gegensatz wird umso provozierender, wenn man – wie Freud – dieses ‚Un-Bewusste‘ mit dem ‚Seelischen‘ gleichsetzt, denn dann ist auch ‚das Seelische‘ dem Bewusstsein ‚fremd‘. Es ist dann das hehre Ziel der Psychoanalyse die ‚Lücken im Bewusstsein‘ dadurch zu schließen, dass man das ‚Un-Bewusste‘ und seinen funktionellen Beitrag für das Bewusstsein ’sichtbar macht‘. Dazu gibt es die weitere Position Freuds, dass das ‚Un-Bewusste‘ und seine Prozesse ‚zur Natur‘ gehören (über den Körper, der Teil der Natur ist). Insofern ist die Psychoanalyse nach Freud von ihrem Gegenstand her eine ‚Naturwissenschaft‘.
Soweit diese Position, wie sie sich anhand der detaillierten Analyse von Jürgen Hardt rekonstruieren lässt.
Angenommen diese meine Rekonstruktion der Interpretation von Jürgen Hardt ist zutreffend, dann kann man – speziell auch vor dem Hintergrund der vorausgehenden Diskussion – einige Fragen stellen.
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Beginnt man mit dem Ende der obigen Argumentation, dann scheint Freud die These von der Psychoanalyse als ‚Naturwissenschaft‘ von dem Sachverhalt herzuleiten, dass ihr ‚Gegenstandsbereich‘ (das ‚Un-Bewusste‘ als das ‚Seelische‘, dieses verortet in Prozessen des Körpers) dem geläufigen Verständnis von ‚Natur‘ zuzurechnen sei.
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Nun definiert sich die moderne Naturwissenschaft allerdings nicht nur über ihren Gegenstandsbereich (die diffuse, zu Beginn nicht definierte, ‚Natur‘), sondern zugleich und wesentlich auch über die ‚Methode des Gewinnens und Aufbereitens von wissenschaftlichem Wissen‘ über diese intendierte Natur.
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In diesen Prozessen des ‚Gewinnens und Aufbereitens von wissenschaftlichem Wissen‘ spielen ‚experimentelle empirische Messprozesse‘ eine zentrale Rolle. Nicht erst seit Galilei beginnt man etwas Neues, ein zu Untersuchendes (die Natur, Teilaspekte der Natur) mit einem zuvor festgelegten ‚objektiven Standard‘ zu vergleichen und benutzt die Ergebnisse dieses Vergleichs als ‚empirisches Faktum‘, wobei man von dem ausführenden ‚Beobachter/ Theoriemacher‘ absieht.
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Im von Freud proklamierten Ausgang beim ‚Alltagsbewusstsein‘, das sich primär in der ‚Selbstbeobachtung‘ erschließt, innerhalb einer Therapie aber auch parallel in einer ‚Fremdbeobachtung‘ des ‚Verhaltens‘ eines anderen, stellt sich die Frage nach einem ‚zuvor vereinbarten Standard‘ neu.
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An das beobachtbare Verhalten eines Anderen kann man zuvor vereinbarte Standards anlegen (man denke beispielsweise an die mehr als 100 Jahre psychologische Intelligenzforschung: ohne die einem Verhalten zugrunde liegenden Strukturen und Prozesse direkt untersuchen zu können, kann man Kataloge von Verhaltensweisen definieren, die man mit dem Begriff ‚Intelligent‘ korreliert. Dieses Verfahren hat gezeigt, dass es erstaunlich stabile Prognosen künftiger Verhaltensweisen erlaubt). So wäre denkbar, dass man Bündel von Verhaltensmerkmalen und typische Abfolgen in typischen Situationen mit bestimmten Begriffen verknüpft, die sich mit unterstellte unbewussten Prozessen assoziieren lassen.
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Allerdings, da ‚unbewusste‘ Prozesse per Definition ’nicht bewusst‘ sind, stellt sich die Frage, wann und wie ein psychoanalytischer Beobachter/ Theoriemacher einen Zugriff auf diese unbewussten Prozesse bekommen kann?
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Im Fall der Intelligenzforschung gibt es diesen Zugriff auf interne Prozesse letztlich auch nicht, da z.B. niemand direkt in die Arbeitsweise seines ‚Gedächtnisses‘ hineinschauen kann. Was wir vom Gedächtnis wissen, wissen wir nur über die ‚Reaktionen des Systems‘ in bestimmten Situationen und Situationsfolgen.
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Hier kann man vielleicht an dem Begriff ‚Fehlleistung‘ anknüpfen, der für Freud solche Verhaltensweisen charakterisiert, die nach ’normalem Verständnis‘ eine ‚Abweichung‘ vom ’normalen Muster‘ darstellen. Da ja – das wäre das grundlegende Axiom – keine Leistung einfach aus einem ‚Nichts‘ kommt, sondern ‚Prozesse im Innern‘ voraussetzt, würde man aufgrund des Axioms die Hypothese bilden, dass es Prozesse gibt, die von den ’normalen Prozessen‘ abweichen.
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In diesen Kontexten gehört dann auch die Traumanalyse, sofern man das Axiom aufstellt, dass Träume Verarbeitungsprozesse von erlebter Erfahrung darstellen, die ‚intern erlebte Spannungen, Konflikte, Ängste, …‘ widerspiegeln und ‚verarbeiten‘.
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Die bisherigen Überlegungen führen über das Muster einer verhaltensorientierten Psychologie nicht hinaus, wenngleich die ‚Arten des Verhaltens‘ mit ‚Fehlleistungen‘ und ‚Träumen‘ als Indikatoren schon bestimmte ‚Axiome‘ voraussetzen, die zusammen genommen ein ‚Modell des Akteurs‘ darstellen. Empirische Modelle – so auch dieses – können falsch sein.
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Fasst man den Begriff der ‚Fehlleistung‘ weiter indem man alles, was irgendwie ‚auffällig‘ ist (Stimmfärbung, Redeweise, Bewegungsweise, Zeit und Ort der Äußerung, …), dann ergibt sich ein weites, ‚offenes‘ Feld von potentiellen Verhaltensphänomenen, das zu jedem Beobachtungszeitpunkt ‚mehr‘, ‚größer‘ sein kann als das, was zuvor vereinbart worden ist.
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Schließlich, welche Verhaltensweisen auch immer man zuvor als potentielle ‚Indikatoren für unbewusste Prozesse‘ vereinbart haben mag, solange keiner der Beteiligten an irgendeiner Stelle eine ‚Verbindung‘ zu einem ‚realen unbewussten Prozess‘ herstellen kann, hängen diese Indikatoren – bildhaft gesprochen – ‚in der Luft‘. Vergleichbar wäre dies mit einem Quantenphysiker, der aufgrund seines mathematischen Modells eine bestimmte ‚Eigenschaft‘ im Quantenraum postuliert und es ihm bislang noch nicht gelungen ist, ein Experiment durchzuführen, das diese ‚theoretisch begründete Vermutung‘ ‚bestätigt‘.
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In der Darstellung von Jürgen Hardt bleibt offen, wie Freud sich eine Lösung dieses Bestätigungsproblems vorstellt.
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Aus den zurückliegenden Gesprächen mit PsychoanalyternInnen weiß ich, dass die ‚Wirkung einer hergestellten Beziehung‘ zwischen ‚bewussten Verhaltensanteilen‘ und ‚zuvor unbewussten Faktoren‘ einmal an objektiven Verbesserungen der Gesamtsituation des Anderen festgemacht wird (dazu ließe sich ein zuvor vereinbarter Katalog von Standards denken), und dieser Wirkung geht ein bestimmtes ‚Identifikations- und Erkennungserlebnis‘ voraus. Mit einem solchen Erlebnis ist gemeint, dass es irgendwann (eine nicht planbare und nicht erzwingbare Konstellation) dem Anderen gelingt, durch eine Vielzahl von Indikatoren und begleitenden Verhaltensweisen jene ‚interne Faktoren‘ ‚ans Bewusstsein‘ zu holen, die für die abweichenden Verhaltensweisen (die in der Regel mit vielfachen negativen Begleiteffekten im Alltagsleben verbunden waren) in kausaler Weise ‚verantwortlich‘ ist. Aufgrund der ungeheuren Variabilität von individuellen Persönlichkeitsstrukturen und -biographien können diese Faktoren so unterschiedlich sein, dass ein alle Fälle von vornherein beschreibendes Modell/Muster praktisch unmöglich erscheint. Nur insofern als das Alltagsleben Stereotype aufweist, die viele Menschen teilen, kann es ähnliche Phänomene im Rahmen einer Population geben.
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Wichtig ist hier, dass ein solches ‚Identifikations- und Erkennungserlebnis‘ ein subjektiver Prozess im Bereich der Selbstbeobachtung ist, dessen Gehalt sich nur indirekt in der Kommunikation und in den nachfolgenden ‚objektiven und subjektiven‘ Eigenschaften des Alltagslebens manifestiert.
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Der anhaltende Konflikt zwischen verhaltensbasierter Psychologie und Psychoanalyse, ob sich die im Rahmen einer Psychoanalyse erwirkten Verhaltensänderungen auch im Rahmen der ’normalen‘ verhaltensbasierten Psychologie ermöglichen lassen, wirkt ein bisschen künstlich. Eine verhaltensbasierte Psychologie, die ‚Fehlleistungen‘ und ‚Träume‘ als Indikator-Phänomene ernst nehmen würde, käme nicht umhin, axiomatisch unbewusste Prozesse anzunehmen (was sie ansonsten bei vielen komplexen Verhaltensweisen auch tun muss). Diese unbewussten Prozesse in ihrer ‚verursachenden Funktion‘ für das Alltagsverhalten zu ‚erschließen‘ braucht es sehr viel ‚kreatives‘ Experimentieren mit vielen Unbekannten, für das die Einbeziehung des ‚Unbewussten‘ des Therapeuten (zusätzlich zu den zuvor erarbeiteten Modellen) sich bislang als beste Strategie erweist, insbesondere dann, wenn man die Kommunikation zwischen den beiden ‚Unbewussten‘ zulässt und nutzt.
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Als Wissenschaftsphilosoph würde ich sagen, dass die Abgrenzung zwischen empirischer Psychologie und (empirischer) Psychoanalyse ‚künstlich ist. Die gewöhnliche verhaltensbasierte Psychologie kann sich von einer sich als ‚empirisch‘ verstehenden Psychoanalyse nur abgrenzen, wenn sie ihr eigenes Selbstverständnis in bestimmten Punkten künstlich beschneidet.
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Eine sich empirische verstehende Psychoanalyse (Freuds Postulat von Psychoanalyse als Naturwissenschaft) wiederum sollte die ideologisch erscheinenden Abgrenzungsversuche gegen die normale empirische Psychologie aufgeben und vielmehr konstruktiv zeigen, dass ihr psychoanalytisches Vorgehen nicht nur voll im Einklang mit einem empirisch-experimentellen Selbstverständnis steht, sondern darüber hinaus die Mainstream-Psychologie um wertvolle, grundlegende Erkenntnisse zum Menschen bereichern kann. Dann hätten alle etwas davon.
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Die weitere Forderung der empirischen Wissenschaft, die ‚gemessenen Fakten‘ systematisch zu ‚ordnen‘ in Form eines ‚Modells‘, einer ‚Theorie‘ ließe sich von der Psychoanalyse auch bei introspektiven Phänomenen sehr wohl einlösen. Allerdings sind bislang nur wenige Beispiele von formalisierten Modellen zu psychoanalytischen Sachverhalten bekannt (eines stammt von Balzer).
LIT:
Balzer, Wolfgang (1982), Empirische Theorien: Modelle, Strukturen, Beispiele,Friedr.Vieweg & Sohn, Wiesbaden
Hardt, Jürgen (1996), Bemerkungen zur letzten psychoanalytischen Arbeit Freuds: ‚Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis‘, 65-85, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd.35, Frommann-holzboog
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