Archiv der Kategorie: Rollen – soziale

WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1988/1990

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 16.-17.Februar 2022, 18:00h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Vorbemerkung

In einer Welt voller Bücher — gefühlt: unendlich viele Bücher — ist kaum voraussagbar, welches Buch man im Februar 2022 lesen wird. Dass es dann das Büchlein ‚A World of Propensities‘ (1990 (reprint 1995))[2a] von Karl Popper [1] sein würde, hing von einem ganzen Bündel von Faktoren ab, von denen jeder für sich ‚eine Rolle‘ spielte, aber dass es dann zu diesem konkreten Buch zu diesem konkreten Zeitpunkt gekommen ist, war aus Sicht der einzelnen Faktoren nicht direkt ableitbar. Auch das ‚Zusammenspiel‘ der verschiedenen Faktoren war letztlich nicht voraussagbar. Aber es ist passiert.

Im Rahmen meiner Theoriebildung für das oksimo-Paradigma (einschließlich der oksimo-Software)[4] Hatte ich schon viele Posts zur möglichen/ notwendigen Theorie für das oksimo-Paradigma in verschiedenen Blocks geschrieben [3a], sogar einige zum frühen Popper [3b], aber mir scheint, so richtig bin ich mit der Position von Popper in seiner ‚Logik der Forschung‘ von 1934 bzw. dann mit der späteren Englischen Ausgabe ‚The Logic of Scientific Discovery‘ (1959)[2b] noch nicht klar gekommen.

Im Frühjahr 2022 war es eine seltene Mischung aus vielerlei Faktoren, die mich über den Umweg der Lektüre von Ulanowizc [5], und zwar seines Buches „Ecology: The Ascendant Perspective“ (1997), auf den späten Popper aufmerksam machten. Ulanowizc erwähnt Popper mehrfach an prominenter Stelle, und zwar speziell Poppers Büchlein über Propensities. Da dieses schmale Buch mittlerweile vergriffen ist, kam ich dann nur durch die freundliche Unterstützung [6b] der Karl Popper Sammlung der Universität Klagenfurt [6a] zu einer Einsicht in den Text.

Der nachfolgende Text beschäftigt sich mit dem ersten der beiden Aufsätze die sich in dem Büchlein finden: „A World of Propensities: Two New Views of Causality“.[7][*]

Wahrscheinlichkeit, Wahrheit, Hypothese, Bekräftigung, … Vorgeplänkel

In seiner Einleitung im Text erinnert Popper an frühere Begegnungen mit Mitgliedern des Wiener Kreises [1b] und die Gespräche zu Theme wie ‚absolute Theorie der Wahrheit‘, ‚Wahrheit und Sicherheit‘, ‚Wahrscheinlichkeitsbasierte Induktion‘, ‚Theorie der Wahrscheinlichkeit‘ sowie ‚Grad der Bekräftigung einer Wahrscheinlichkeit‘.

Während er sich mit Rudolf Carnap 1935 noch einig wähnte in der Unterscheidung von einer Wahrscheinlichkeit im Sinne einer Wahrscheinlichkeitstheorie und einem ‚Grad der Bestätigung‘ (‚degree of confirmation‘) , war er sehr überrascht — und auch enttäuscht — 1950 in einem Buch von Carnap [8], [8b] zu lesen, dass für Carnap dies alles das Gleiche sei: mathematische Wahrscheinlichkeit und empirische Bestätigung eines Ereignisses. Hatte Carnap mit dieser Veränderung seiner Auffassung auch die Position einer ‚Absolutheit der Wahrheit‘ verlassen, die für Popper 1935 immer noch wichtig war? Und selbst in der Rede von 1988 hält Popper das Postulat von der Absolutheit der Wahrheit hoch, sich dabei auf Aristoteles [9], Alfred Tarski [10] und Kurt Gödel [11] beziehend (S.5f).

In einer Welt mit einem endlichen Gehirn, in einem endlichen Körper (bestehend aus ca. 36 Billionen Zellen (10^12)[12], in einer Welt von nicht-abzählbar vielen realen Ereignissen, war mir nie klar, woran (der frühe) Popper (und auch andere) die Position einer ‚absoluten Wahrheit‘ fest machen konnten/ können. Dass wir mit unserem endlichen – und doch komplexen, nicht-linearem — Gehirn von ‚Konkretheiten‘ ‚abstrahieren‘ können, Begriffe mit ‚offenen Bedeutungen‘ bilden und diese im Kontext der Rede/ eines Textes zu Aussagen über Aspekte der Welt benutzen können, das zeigt jeder Augenblick in unserem Alltag (ein für sich außergewöhnliches Ereignis), aber ‚absolute Wahrheit‘ … was kann das sein? Wie soll man ‚absolute Wahrheit‘ definieren?

Popper sagt, dass wir — und wenn wir uns noch so anstrengen — in unserem „Ergebnis nicht sicher“ sein können, das Ergebnis kann sogar „nicht einmal wahr“ sein.(vgl. S.6) Und wenn man sich dann fragt, was dann noch bleibt außer Unsicherheit und fehlender Wahrheit, dann erwähnt er den Sachverhalt, dass man von seinen „Fehlern“ auf eine Weise „lernen“ kann, dass ein „mutmaßliches (‚conjectural‘) Wissen“ entsteht, das man „testen“ kann.(vgl. S.6) Aber selbst dann, wenn man das Wissen testen kann, sind diese Ergebnisse nach Popper „nicht sicher“; obwohl sie „vielleicht wahr“ sind, diese Wahrheit aber ist damit dennoch „nicht endgültig bestätigt (‚established‘)“. Und er sagt sogar: „Selbst wenn sie [ergänzt: die Ergebnisse] sich als nicht wahr erweisen, … eröffnen sie den Weg zu noch besseren [ergänzt: Ergebnissen].“ (S.6)

Diese ‚changierende Sprechweise‘ über ‚wahre Ergebnisse‘ umschreibt das Spannungsfeld zwischen ‚absoluten Wahrheit‘ — die Popper postuliert — und jenen konkreten Sachverhalten, die wir im Alltag zu ‚Zusammenhängen (Hypothesen)‘ verdichten können, in denen wir einzelne Ereignisse ‚zusammen bringen‘ mit der ‚Vermutung‘, dass sie auf eine nicht ganz zufällige Weise zusammen gehören. Und, ja, diese unsere alltägliche Vermutungen (Hypothesen) können sich ‚alltäglich bestätigen‘ (wir empfinden dies so) oder auch nicht (dies kann Zweifel wecken, ob es ‚tatsächlich so ist‘).(vgl. S.6)

Das Maximum dessen, was wir — nach Popper — in der alltäglichen Erkenntnis erreichen können, ist das Nicht-Eintreten einer Enttäuschung einer Vermutung (Erwartung, Hypothese). Wir können dann „hoffen“, dass die Hypothese „wahr ist“, aber sie könnte sich dann beim nächsten Test vielleicht doch noch als „falsch“ erweisen. (vgl. S.6)

In all diesen Aussagen, dass ein Ergebnis ’noch nicht als wahr erwiesen wurde‘ fungiert der Begriff der ‚Wahrheit‘ als ein ‚Bezugspunkt‘, anhand dessen man eine vorliegende Aussage ‚vergleichen‘ kann und mit diesem Vergleich dann zum Ergebnis kommen kann, dass eine vorliegende Aussage ‚verglichen mit einer wahren Aussage‘ nicht wahr ist.

Messen als Vergleichen ist in der Wissenschaft der Goldstandard, aber auch im ganz normalen Alltag. Wo aber findet sich der Vergleichspunkt ‚wahr Aussage‘ anhand dessen eine konkrete Aussage als ’nicht dem Standard entsprechend‘ klassifiziert werden kann?

Zur Erinnerung: es geht jetzt hier offensichtlich nicht um einfache ‚Sachverhaltsfeststellungen‘ der Art ‚Es regnet‘, ‚Es ist heiß‘, ‚Der Wein schmeckt gut‘ …, sondern es geht um die Beschreibung von ‚Zusammenhängen‘ zwischen ‚isolierten, getrennten Ereignissen‘ der Art (i) ‚Die Sonne geht auf‘, (ii) ‚Es ist warm‘ oder ‚(i) ‚Es regnet‘, (ii) ‚Die Straße ist nass‘.

Wenn die Sonne aufgeht, kann es warm werden; im Winter, bei Kälte und einem kalten Wind kann man die mögliche Erwärmung dennoch nicht merken. Wenn es regnet dann ist die Straße normalerweise nass. Falls nicht, dann fragt man sich unwillkürlich, ob man vielleicht nur träumt?

Diese einfachen Beispiele deuten an, dass ‚Zusammenhänge‘ der Art (i)&(ii) mit einer gewissen Häufigkeit auftreten können, aber es keine letzte Sicherheit gibt, dass dies der Fall sein muss.

Wo kommt bei alldem ‚Wahrheit‘ vor?

‚Wahrheit an sich‘ ist schwer aufweisbar. Dass ein ‚Gedanke‘ ‚wahr‘ ist, kann man — wenn überhaupt — nur diskutieren, wenn jemand seinem Gedanken einen sprachlichen Ausdruck verleiht und der andere anhand des sprachlichen Ausdrucks (i) bei sich eine ‚Bedeutung aktivieren‘ kann und (ii) diese aktivierte Bedeutung dann entweder (ii.1) — schwacher Fall — innerhalb seines Wissens mit ‚anderen Teilen seines Wissens‘ ‚abgleichen‘ kann oder aber (ii.2) — starker Fall — seine ‚interne Bedeutung‘ mit einer Gegebenheit der umgebenden realen Ereigniswelt (die als ‚Wahrnehmung‘ verfügbar ist) vergleichen kann. In beiden Fällen kann der andere z.B. zu Ergebnissen kommen wie (a) ‚Ja, sehe ich auch so‘ oder (b) ‚Nein, sehe ich nicht so‘ oder (c) ‚Kann ich nicht entscheiden‘.

In diesen Beispielen wäre ‚Wahrheit‘ eine Eigenschaft, die der Beziehung zwischen einem sprachlichen Ausdruck mit seiner möglichen ‚Bedeutung‘ ‚zu etwas anderem‘ zukommt. Es geht in diesen Beispielen um eine dreistellige Beziehung: die beiden Größen (Ausdruck, gewusste Bedeutung) werden in Beziehung gesetzt zu (wahrgenommenem oder erinnertem oder gefolgertem Sachverhalt).[13]

‚Wahrgenommenes‘ resultiert aus Interaktionen unseres Körpers mit der umgebenden realen Ereigniswelt (wobei unsere Körper selbst ein Ereignis in der umgebenden realen Ereigniswelt ist).[14]

‚Bedeutungen‘ sind ‚gelernte Sachverhalte‘, die uns über unsere ‚Wahrnehmung‘ ‚bekannt geworden sind‘ und in der Folge davon möglicherweise auf eine schwer bestimmbare Weise in unser ‚Gedächtnis‘ übernommen wurden, aus dem Heraus wir sie auf eine ebenfalls schwer bestimmbaren Weise in einer ‚erinnerten Form‘ uns wiederholt wieder ‚bewusst machen können‘. Solche ‚wahrnehmbaren‘ und ‚erinnerbaren‘ Sachverhalte können von unserem ‚Denken‘ in schwer bestimmbarer Form eine spezifische ‚Bedeutungsbeziehung‘ mit Ausdrücken einer Sprache eingehen, welche wiederum nur über Wahrnehmung und Erinnern uns bekannt geworden sind.[15]

Aus all dem geht hervor, dass dem einzelnen Akteur mit seinen gelernten Ausdrücke und ihren gelernten Bedeutungen nur das ‚Ereignis der Wiederholung‘ bleibt, um einem zunächst ‚unbestimmt Gelerntem‘ eine irgendwie geartete ‚Qualifikation‘ von ‚kommt vor‘ zu verleihen. Kommt also etwas vor im Lichte von gelernten Erwartungen neigen wir dazu, zu sagen, ‚es trifft zu‘ und in diesem eingeschränkten Sinne sagen wir auch, dass ‚es wahr ist‘. Diese gelernten Wahrheiten sind ’notorisch fragil‘. Jene, die ‚im Laufe der Zeit‘ sich immer wieder ‚bewähren‘ gewinnen bei uns ein ‚höheres Vertrauen‘, sie haben eine ‚hohe Zuverlässigkeit‘, sind allerdings nie ganz sicher‘.

Zusätzlich erleben wir im Alltag das ständige Miteinander von ‚Konkretheiten‘ in der Wahrnehmung und ‚Allgemeinheiten‘ der sprachlichen Ausdrücke, eine ‚Allgemeinheit‘ die nicht ‚absolut‘ ist. sondern als ‚Offenheit für viel Konkretes‘ existiert. In der Sprache haben wir Unmengen von Worten wie ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘, ‚Tisch‘, Hund‘ usw. die sich nicht nur auf ein einziges Konkretes beziehen, sondern auf — potentiell unendlich — viele konkrete Gegebenheiten. Dies liegt daran, dass es viele verschiedene konkrete Gegebenheiten gibt, die trotz Unterschiede auch Ähnlichkeiten aufweisen, die dann als ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘ usw. bezeichnet werden. Unser Gehirn verfügt über ‚automatische (= unbewusste) Prozesse‘, die die Konkretheiten aus der Wahrnehmung in ‚Muster‘ transformieren, die dann als ‚Repräsentanten‘ von verschiedenen wahrgenommenen Konkretheiten fungieren können. Diese Repräsentanten sind dann das ‚Material der Bedeutung‘, mit denen sprachliche Ausdrücke — auch automatisch — verknüpft werden können.[15]

Unser ‚Denken‘ kann mit abstrakten Repräsentanten arbeiten, kann durch Benutzung von sprachlichen Ausdrücken Konstruktionen mit abstrakten Konzepten und Ausdrücken bilden, denen bedeutungsmäßig direkt nichts in der realen Ereigniswelt entsprechen muss bzw. auch nicht entsprechen kann. Logik [17] und Mathematik [18] sind bekannte Beispiele, wie man mit gedanklich abstrakten Konzepten und Strukturen ‚arbeiten‘ kann, ohne dass ein Bezug zur realen Ereigniswelt bestehe muss oder jemals bestehen wird. Innerhalb dieser Welt abstrakter Strukturen und abstrakter Ausdrücke kann es dann sogar in einem eingeschränkten Sinne ‚Wahrheit‘ als Übereinstimmung von abstrakten Ausdrücken, deren abstrakten Bedeutungen und den anderen gedachten abstrakten Strukturen geben, aber diese ‚abstrakten Wahrheiten‘ sind in keiner Weise auf die reale Ereigniswelt übertragbar. Für uns gibt es nur das Modell der Alltagssprache, die mit ihren ‚offenen abstrakten‘ Bedeutungen auf Konkretes Bezug nehmen kann und zwischen Gegenwart und Vergangenheit eine ‚gedachte Beziehung‘ herstellen kann, ebenso auch zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu einer gedachten Zukunft. Inwieweit sich diese gedachten Beziehungen (Vermutungen, Hypothesen, …) dann in der realen Ereigniswelt bestätigen lassen, muss fallweise geprüft werden.

Die Welt der Wissenschaften erweckt den Eindruck, dass es mittlerweile eine große Zahl von solchen Hypothesen gibt, die allesamt als ‚weitgehend zuverlässig‘ angesehen werden, und aufgrund deren wir nicht nur unser bisheriges Wissen beständig ‚erweitern‘, sondern auch in einer Vielzahl von praktischen Anwendungen nutzen (Technologie, Landwirtschaft, Medizin, …).

Und an dieser Stelle greift Popper sehr weit aus, indem er diese für die Wissenschaften charakteristische „mutige, und abenteuerliche Weise des Theoretisierens“, ergänzt um „seriöse Tests“, im „biologischen Leben selbst“ am Werke sieht (vgl. S.7): die beobachtbare Entwicklung zu immer „höheren (‚higher‘) Formen“ des Lebens geschah/ geschieht durch Schaffung von „neuen Versuchen“ (‚trials‘), deren „Einbringung in die Realität“ (‚exposure‘), und dann das „Ausmerzen von Irrtümern“ (‚errors‘) durch „Testen“.(vgl. S.7) Mit dieser permanenten Kreativität neuer Lösungsansätze, deren Ausprobieren und dem daraus Lernen im Beseitigen von Fehlschlägen hat es nicht nur das biologische Leben als Ganzes geschafft, nach und nach die Welt quasi zu erobern, sondern in der Variante moderner empirischer Wissenschaft ist die Lebensform des Homo sapiens dabei, diese Eroberung auf neue Weise zu ergänzen. Während die biologische Evolution vor dem Homo sapiens primär um das nackte Überleben kämpfen musste, kann der Homo sapiens zusätzlich ‚reines Verstehen‘ praktizieren, das dann als ‚Werkzeug‘ zum Überleben beitragen kann. Für Popper ist ‚Verstehen‘ (‚understand‘) und ‚Lernen‘ (‚to learn more‘) das entscheidende Charakteristikum der Lebensform des Homo sapiens (als Teil des gesamten biologischen Lebens). Und in diesem Verstehensprojekt geht es um alles: um den ganzen Kosmos bis hin zum letzten Atom, um die Entstehung des Lebens überhaupt, um den ‚menschlichen Geist‘ (‚human mind‘) und die Art und Weise wie er stattfindet.(vgl. S.7)

Nach dieser ‚Einstimmung‘ wendet sich Popper dem speziellen Problem der Kausalität zu.

Kausalität – Ein wissenschaftliches Chamäleon

Der Begriff der ‚Kausalität‘ ist uns allen über den Alltag in vielfältigen Formen bekannt, ohne dass wir dazu gewöhnlich ein klares begriffliches Konzept entwickeln.

Geht es hingegen ‚um Etwas‘, z.B. um Geld, oder Macht, oder um eine gute Ernte, oder die Entwicklung einer Region, usw. , dann ist die Frage ‚Was was wie bewirkt‘ nicht mehr ganz egal. ‚Soll ich nun investieren oder nicht?‘ ‚Ist dieses Futter für die Tiere besser und auf Dauer bezahlbar oder nicht?‘ ‚Wird die neue Verkehrsregelung tatsächlich Lärm und CO2-Ausstoß reduzieren oder nicht?‘ ‚Ist Aufrüstung besser als Neutralität?‘ ‚Wird die Menge des jährlichen Plastikmülls die Nahrungsketten im Meer und damit viele davon abhängige Prozesse nachhaltig zerstören oder nicht?‘

Wenn Philosophen und Wissenschaftler von Kausalität sprechen meinten sie in der Vergangenheit meist viel speziellere Kontexte. So erwähnt Popper die mechanistischen Vorstellungen im Umfeld von Descartes; hier waren alle Ereignisse klar bestimmt, determiniert.(vgl. S.7) Mit der Entwicklung der Quantenmechanik — spätestens ab 1927 mit der Entdeckung des Unsicherheitsprinzips durch Werner Heisenberg [19], [19a] — wurde bewusst, dass die Ereignisse in der Natur keinesfalls vollständig klar und nicht vollständig determiniert sind. (vgl. S7f)

Damit trat eine inhärente Unsicherheit hervor, die nach einer neuen Lösung verlangte. Die große Zeit des Denkens in Wahrscheinlichkeiten begann.[20] Man kann das Denken in Wahrscheinlichkeiten grob in drei (vier) Sichtweisen unterscheiden: (i) In einer theoretischen — meist mathematischen — Sicht [21] definiert man sich abstrakte Strukturen, über die man verschiedene Operationen definieren kann, mit denen sich dann unterschiedliche Arten von Wahrscheinlichkeiten durchspielen lassen. Diese abstrakten (theoretischen) Wahrscheinlichkeiten haben per se nichts mit der realen Welt der Ereignisse zu tun. Tatsächlich erweisen sich aber viele rein theoretische Modelle als erstaunlich ’nützlich‘ bei der Interpretation realweltlicher Ereignisfolgen. (ii) In einer subjektivistischen Sicht [22] nimmt man subjektive Einschätzungen zum Ausgangspunkt , die man formalisieren kann, und die Einschätzungen zum möglichen Verhalten des jeweiligen Akteurs aufgrund seiner subjektiven Einschätzungen erlauben. Da subjektive Weltsichten meistens zumindest partiell unzutreffend sind, z.T. sogar überwiegend unzutreffend, sind subjektive Wahrscheinlichkeiten nur eingeschränkt brauchbar, um realweltliche Prozesse zu beschreiben.(iii) In einer (deskriptiv) empirischen Sicht betrachtet man reale Ereignisse, die im Kontext von Ereignisfolgen auftreten. Anhand von diversen Kriterien mit der ‚Häufigkeit‘ als Basisterm kann man die Ereignisse zu unterschiedlichen Mustern ‚gruppieren‘, ohne dass weitergehende Annahmen über mögliche Wirkzusammenhänge mit ‚auslösenden Konstellationen von realen Faktoren‘ getätigt werden. Nimmt man eine solche ‚deskriptive‘ Sicht aber zum Ausgangspunkt, um weitergehende Fragen nach möglichen realen Wirkzusammenhängen zu stellen, dann kommt man (iv) zu einer eher objektivistischen Sicht. [23] Hier sieht man in der Häufigkeiten von Ereignissen innerhalb von Ereignisfolgen mögliche Hinweise auf reale Konstellationen, die aufgrund ihrer inhärenten Eigenschaften diese Ereignisse verursachen, allerdings nicht ‚monokausal‘ sondern ‚multikausal‘ in einem nicht-deterministischem Sinne. Dies konstituiert die Kategorie ‚Nicht deterministisch und zugleich nicht rein zufällig‘.[24]

Wie der nachfolgende Text zeigen wird, findet man Popper bei der ‚objektivistischen Sicht‘ wieder. Er bezeichnet Ereignisse, die durch Häufigkeiten auffallen, als ‚Propensities‘, von mir übersetzt als ‚Tendenzen‘, was letztlich aber nur im Kontext der nachfolgenden Erläuterungen voll verständlich wird.

Popper sagt von sich, dass er nach vielen Jahren Auseinandersetzung mit der theoretischen (mathematischen) Sicht der Wahrscheinlichkeit (ca. ab 1921) (vgl. S.8f) zu dieser — seiner — Sicht gelangt ist, die er 1956 zum ersten Mal bekannt gemacht und seitdem kontinuierlich weiter entwickelt hat.[24]

Also, wenn man beobachtbare Häufigkeiten von Ereignissen nicht isoliert betrachtet (was sich angesichts des generellen Prozesscharakters aller realen Ereignisse eigentlich sowieso verbietet), dann kommt man wie Popper zu der Annahme, dass die beobachtete — überzufällige aber dennoch auch nicht deterministische — Häufigkeit die nachfolgende ‚Wirkung‘ einer realen Ausgangskonstellation von realen Faktoren sein muss, deren reale Beschaffenheit einen ‚Anlass‘ liefert, dass ‚etwas Bestimmtes passiert‘, was zu einem beobachtbaren Ereignis führt.(vgl. S.11f, dazu auch [25]) Dies schließt nicht aus, dass diese realen Wirkungen von spezifischen ‚Bedingungen‘ abhängig sein können, die erfüllt sein müssen, damit es zur Wirkung kommt. Jede dieser Bedingungen kann selbst eine ‚Wirkung‘ sein, die von anderen realen Faktoren abhängig ist, die wiederum bedingt sind, usw. Obwohl also ein ‚realer Wirkzusammenhang‘ vorliegen kann, der als solcher ‚klar‘ ist — möglicherweise sogar deterministisch — kann eine Vielzahl von ‚bedingenden Faktoren‘ das tatsächliche Auftreten der Wirkung so beeinflussen, dass eine ‚deterministische Wirkung‘ dennoch nicht als ‚deterministisch‘ auftritt.

Popper sieht in dieser realen Inhärenz von Wirkungen in auslösenden realen Faktoren eine bemerkenswerte Eigenschaft des realen Universums.(vgl. S.12) Sie würde direkt erklären, warum Häufigkeiten (Statistiken) überhaupt stabil bleiben können. (vgl. S.12). Mit dieser Interpretation bekommen Häufigkeiten einen objektiven Charakter. ‚Häufigkeiten‘ verwandeln sich in Indikatoren für ‚objektive Tendenzen‘ (‚propensities‘), die auf ‚reale Kräfte‘ verweisen, deren Wirksamkeit zu beobachtbaren Ereignissen führen.(vgl. S.12)

Die in der theoretischen Wahrscheinlichkeit verbreitete Charakterisierung von wahrscheinlichen Ereignissen auf einer Skala von ‚1‘ (passiert auf jeden Fall) bis ‚0‘ (passiert auf keinen Fall) deutet Popper für reale Tendenzen dann so um, dass alle Werte kleiner als 1 darauf hindeuten, dass es mehrere Faktoren gibt, die aufeinander einwirken, und dass der ‚Nettoeffekt‘ aller Einwirkungen dann zu einer realen Wirkung führt die kleiner als 1 ist, aber dennoch vorhanden ist; man kann ihr über Häufigkeiten sogar eine phasenweise Stabilität im Auftreten zuweisen, so lange sich die Konstellation der wechselwirkenden Faktoren nicht ändert.(vgl. S.13) Was hier aber wichtig ist — und Popper weist ausdrücklich darauf hin — die ‚realen Tendenzen‘ verweisen nicht auf einzelne konkrete, spezielle Eigenschaften inhärent in einem Objekt, sondern Tendenzen korrespondieren eher mit einer ‚Situation‘ (’situation‘), die als komplexe Gesamtheit bestimmte Tendenzen ‚zeigt‘.(vgl. SS.14-17) [26]

Schaut man nicht nur auf die Welt der Physik sonder lenkt den Blick auf den Alltag, in dem u.a. auch biologische Akteure auftreten, speziell auch Lebensformen vom Typ Homo sapiens, dann explodiert der Raum der möglichen Faktoren geradezu, die Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen können. Nicht nur bildet der Körper als solcher beständig irgendwelche ‚Reize‘ aus, die auf den Akteur einwirken, sondern auch die Beschaffenheit der Situation wirkt in vielfältiger Weise. Insbesondere wirkt sich die erworbene Erfahrung, das erworbene Wissen samt seinen unterschiedlichen emotionalen Konnotationen auf die Art der Wahrnehmung aus, auf die Art der Bewertung des Wahrgenommenen und auf den Prozess möglicher Handlungsentscheidungen. Diese Prozesse können extrem labil sein, so dass Sie in jedem Moment abrupt geändert werden können. Und dies gilt nicht nur für einen einzelnen Homo sapiens Akteur, sondern natürlich auch für die vielen Gruppen, in denen ein Homo sapiens Akteur auftreten kann bzw. auftritt bzw. auftreten muss. Dieses Feuerwerk an sich wechselseitig beständig beeinflussenden Faktoren sprengt im Prinzip jede Art von Formalisierung oder formalisierter Berechnung. Wir Menschen selbst können dem ‚Inferno des Alles oder Nichts‘ im Alltag nur entkommen, wenn wir ‚Konventionen‘ einführen, ‚Regeln des Verhaltens‘, ‚Rollen definieren‘ usw. um das praktisch unberechenbare ‚Universum der alltäglichen Labilität‘ partiell zu ‚zähmen‘, für alltägliche Belange ‚berechenbar‘ zu machen.

Popper zieht aus dieser Beschaffenheit des Alltags den Schluss, das Indeterminismus und freier Wille zum Gegenstandsbereich und zum Erklärungsmodell der physikalischen und biologischen Wissenschaften gehören sollten.(vgl. S.17f)

Popper folgert aus einer solchen umfassenden Sicht von der Gültigkeit der Tendenzen-Annahme für vorkommende reale Ereignisse, dass die Zukunft nicht determiniert ist. Sie ist objektiv offen.(vgl. S.18)

Näher betrachtet ist die eigentliche zentrale Einsicht tatsächlich gar nicht die Möglichkeit, dass bestimmte Wirkzusammenhänge vielleicht tatsächlich determiniert sein könnten, sondern die Einsicht in eine durchgängige Beschaffenheit der uns umgebenden realen Ereigniswelt die sich – dies ist eine Hypothese! — durchgängig als eine Ansammlung von komplexen Situationen manifestiert, in denen mögliche unterscheidbare Faktoren niemals isoliert auftreten, sondern immer als ‚eingebettet‘ in eine ‚Nachbarschaften‘, so dass sowohl jeder Faktor selbst als auch die jeweiligen Auswirkungen dieses einen Faktors immer in kontinuierlichen Wechselwirkungen mit den Auswirkungen anderer Faktoren stehen. Dies bedeutet, dass nicht nur die starke Idealisierungen eines mechanistischen Weltbildes — auch eine Hypothese — als fragwürdig angesehen werden müssen, sondern auch die Idealisierung der Akteure zu einer ‚ Monade‘ [27],[27b], die die Welt letztlich nur ‚von sich aus‘ erlebt und gestaltet — eine andere Hypothese –.[27c]

Denkt man gemeinsam mit Popper weiter in die Richtung einer totalen Verflechtung aller Faktoren in einem kontinuierlich-realen Prozess, der sich in realen Tendenzen manifestiert (vgl. S.18f), dann sind alle üblichen endlichen, starren Konzepte in den empirischen Wissenschaften letztlich nicht mehr seriös anwendbar. Die ‚Zerstückelung‘ der Wirklichkeit in lauter einzelne, kleine, idealisierte Puzzle-Teile, wie sie bis heute Standard ist, führt sich relativ schnell ad absurdum. Die übliche Behauptung, auf andere Weise könne man eben nichts Verwertbares Erkennen, läuft beständig Gefahr, auf diese Weise die reale Problematik der konkreten Forschungspraxis deutlich zu überdehnen, nur weil man in der Tat Schwierigkeiten hat, die vorfindliche Komplexität ‚irgendwie experimentell nachvollziehbar‘ zu rekonstruieren.

Popper dehnt seine Beispiele für die Anwendbarkeit einer objektivistischen Sicht von realen Tendenzen weiterhin aus auf die Chemie (vgl. S.19f) und auf die Evolution des Lebens. (vgl. S.20) Und auch wenn er zuvor sagte, dass die Zukunft objektiv offen sei, so ist sie dennoch in der realen Gegenwart implizit gegenwärtig in den Aktivitäten der vorhandenen realen Faktoren.(vgl. S.20) Anders formuliert, jede Zukunft entscheidet sich immer jetzt, in der Gegenwart, auch wenn die lebenden Akteure zu einem bestimmten Zeitpunkt vielleicht das Geflecht der vielen Faktoren und Wirkungen nur unvollständig durchschauen. Mangelndes Wissen ist auch ein realer Faktor und kann als solcher u.U. wichtige Optionen übersehen, die — würde man sie kennen — vielleicht viel Unheil ersparen würden.

Nachbemerkung – Epilog

Verglichen mit den vielen Seiten Text, die Popper im Laufe seines Lebens geschrieben hat, erscheint der hier kommentierte kurze Text von 27 Seiten verschwindend kurz, gering, möglicherweise gar unbedeutend.

Betrachtet man aber die Kernthesen von Poppers theoretischem Prozess, dann tauchen diese Kernthesen in diesem kurzen Text letztlich alle auf! Und seine Thesen zur Realität von beobachtbaren Tendenzen enthalten alles, was er an Kritik zu all jenen Wissenschaftsformen gesagt hat, die dieser Kernthese nicht folgen. Der ganze riesige Komplex zur theoretischen Wahrscheinlichkeit, zu subjektiver Wahrscheinlichkeit und zu den vielfältigen Spezialformen von Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit sagen letztlich nicht viel, wenn sie die objektivistische Interpretation von Häufigkeiten, dazu im Verbund mit der Annahme eines grundlegenden realen Prozesses, in dem sich alle realen Faktoren in beständiger realer Wechselbeziehung befinden, nicht akzeptieren. Die moderne Quantenmechanik wäre in einer realen Theorie der objektiven Tendenzen tatsächlich eine Teiltheorie, weil sie nur einige wenige — wenngleich wichtige — Aspekte der realen Welt thematisiert.

Poppers Mission einer umfassenden Theorie von Wahrheit als Innensicht einer umfassenden prozesshaften Realität bleibt — so scheint es mir — weiterhin brandaktuell.

Fortsetzung Popper 1989

Eine Kommentierung des zweiten Artikels aus dem Büchlein findet sich HIER.

Anmerkungen

Abkürzung: wkp := Wikipedia, de := Deutsche, en := Englische

[*] Es gibt noch zwei weiter Beiträge vom ’späten‘ Popper, die ich in den Diskurs aufnehmen möchte, allerdings erst nachdem ich diesen Beitrag rezipiert und in das finale Theorieformat im Kontext des oksimo-Paradigmas eingebunden habe.

[1] Karl Popper in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper (auch in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper )

[1b] Wiener Kreis (‚vienna circle‚) in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Kreis und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Vienna_Circle

[2a] Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[2b] Karl Popper, The Logic of Scientific Discovery, zuerst publiziert 1935 auf Deutsch als  Logik der Forschung, dann 1959 auf Englisch durch  Basic Books, New York (viele weitere Ausgaben folgten; ich benutze die eBookausgabe von Routledge (2002))

[3a] Die meisten wohl im uffmm.org Blog.

[3b] Oksimo und Popper in uffmm.org: https://www.uffmm.org/2021/03/15/philosophy-of-science/

[4] Das oksimo-Paradigma und die oksimo-Software auf oksimo.org: https://www.oksimo.org/

[5] Robert Ulanowizc in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Ulanowicz

[5b] Robert Ulanowizc, Ecology: The Ascendant Perspective, Columbia University Press (1997) 

[6a] Karl-Popper Sammlung der Universität Klagenfurt in wkp-de: https://www.aau.at/universitaetsbibliothek-klagenfurt/karl-popper-sammlung/

[6b] An dieser Stelle möchte ich die freundliche Unterstützung von Mag. Dr. Thomas Hainscho besonders erwähnen.

[7] Eine kürzere Version dieses Artikels hat Popper 1988 auf dem Weltkongress der Philosophie 1988 im Brighton vorgetragen (Vorwort zu [2a]).

[8] Rudolf Carnap in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Carnap

[8b] Rudolf Carnap,  Logical Foundations of Probability. University of Chicago Press (1950)

[9] Aristoteles in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Aristoteles

[10] Alfred Tarski in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Tarski

[11] Kurt Gödel in wkp-ed: https://en.wikipedia.org/wiki/Kurt_G%C3%B6del

[12] Aus dem Buch von Kegel „Die Herrscher der Welt…“: Siehe https://www.cognitiveagent.org/2015/12/06/die-herrscher-der-welt-mikroben-besprechung-des-buches-von-b-kegel-teil-1/

[13] Natürlich ist die Sachlage bei Betrachtung der hier einschlägigen Details noch ein wenig komplexer, aber für die grundsätzliche Argumentation reicht diese Vereinfachung.

[14] Das sagen uns die vielen empirischen Arbeiten der experimentellen Psychologie und Biologie, Hand in Hand mit den neuen Erkenntnissen der Neuropsychologie.

[15] Hinter diesen Aussagen stecken die Ergebnisse eines ganzen Bündels von wissenschaftlichen Disziplinen: vorweg wieder die experimentelle Psychologie mit hunderten von einschlägigen Arbeiten, ergänzt um Linguistik/ Sprachwissenschaften, Neurolinguistik, ja auch verschiedene philosophische ‚Zuarbeiten‘ aus dem Bereich Alltagssprache (hier unbedingt der späte Wittgenstein [16] als großer Inspirator) und der Semiotik.

[16] Ludwig Wittgenstein in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Wittgenstein

[17] Logik ( ‚logic‚) in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Logik und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Logic

[18] Mathematik (‚mathematics‚) in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Mathematik und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Mathematics

[19] Werner Heisenberg in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Werner_Heisenberg

[19b] Unsicherheitsprinzip (‚uncertainty principle‘) in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Uncertainty_principle

[20] Natürlich gab es schon viele Jahrhunderte früher unterschiedliche Vorläufer eines Denkens in Wahrscheinlichkeiten.

[21] Theoretische Wahrscheinlichkeit, z.B. in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Probability

[22] Subjektive Wahrscheinlichkeit, z.B. in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Subjektiver_Wahrscheinlichkeitsbegriff; illustrieret mit der Bayeschen Wahrscheinlichkeit in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Bayesian_probability

[23] Objektivistische Wahrscheinlichkeit, nur ansatzweise erklärt in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Objektivistischer_Wahrscheinlichkeitsbegriff

[23b] Deskriptive Statistik in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Deskriptive_Statistik (siehe auch ‚descriptive statistics in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Descriptive_statistics

[24] Zu verschiedenen Sichten von Wahrscheinlichkeiten sie auch: Karl Popper, The Open Universe: An Argument for Indeterminism, 1956–57 (as privately circulated galley proofs;) 1982 publiziert als Buch

[25] Hier sei angemerkt, dass ein Akteur natürlich nur dann ein bestimmtes Ereignis wahrnehmen kann, wenn er (i) überhaupt hinschaut und (ii) er über geeignete Beobachtungsinstrumente (= Messgeräte) verfügt, die das jeweilige Ereignis anzeigen. So sah die Welt z.B. ohne Fernglas und Mikroskop ‚einfacher‘ aus als mit.

[26] Diese Betonung einer Situation als Kontext für Tendenzen schließt natürlich nicht aus, dass die Wissenschaften im Laufe der Zeit gewisse Kontexte (z.B. das Gehirn, der Körper, …) schrittweise immer mehr auflösen in erkennbare ‚Komponenten‘, deren individuelles Verhalten in einem rekonstruierbaren Wechselspiel unterschiedliche Ereignisfolgen hervorbringen kann, die zuvor nur grob als reale Tendenz erkennbar waren. Tatsächlich führt eine zunehmende ‚Klarheit‘ bzgl. der internen Struktur einer zuvor nicht analysierbaren Situation auch zur Entdeckung von weiteren Kontextfaktoren, die zuvor unbekannt waren.(vgl. S.14f)

[27] Gottfried Wilhelm Leibniz in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Wilhelm_Leibniz

[27b] Monadenlehre von Leibnuz in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Monade_(Philosophie)

[27c] Allerdings muss man bemerken, dass die Leibnizsche Monadenlehre natürlich in einem ziemlich anderen ‚begrifflichen Koordinatensystem‘ einzubetten ist und die Bezugnahme auf diese Lehre nur einen stark vereinfachten Aspekt trifft.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

DER VERSTECKTE BEOBACHTER UND AKTEUR. Wo Denken sich verabschiedet. Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
12.April 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: cagent

Philosophie des Beobachters - Vogelperspektive
Philosophie des Beobachters – Vogelperspektive

DER  BEOBACHTER

In den Wissenschaften ist klar, dass es ohne einen Beobachter nichts gibt: keine Experimente mit Messungen, die Daten generieren, und keine Modelle, Theorien, die Daten in Zusammenhänge setzen und damit Deutungs- oder gar Erklärungshypothesen liefern.

Weniger klar ist, dass und wieweit der Beobachter konstitutiv in eine Theorie eingeht und dass eine ’normale‘ Theorie nicht in der Lage ist, ihren eigenen Beobachter zu thematisieren.

Besonders krass ist der Fall in der Physik. Die standardisierten physikalischen Messeinheiten erlauben interessante Modellbildungen zu Strukturen und Dynamiken der realen Welt, es ist mit diesen Daten und Modellen jedoch nicht möglich, den physik- spezifischen Beobachter angemessen zu beschreiben.

Andere Disziplinen wie z.B. die Biologie, die Psychologie oder die Soziologie kommen den komplexen Phänomenen eines Beobachters zwar ’näher‘, aber auch diese – wenn sie denn als empirische Wissenschaften arbeiten – können ihre jeweiligen spezifischen Beobachter nicht mir eigenen ‚Bordmitteln‘ erschöpfend beschreiben. Würden sie es tun, würden sie ihr Wissenschaftsparadigma sprengen; dann müssten sie aufhören, empirische Wissenschaften zu sein.

IRREFÜHRUNG INTERDISZIPLINARITÄT

Im übrigen muss man auch fragen, ob nicht alle Disziplinen auf ihre spezifische Weise Sichten zum Beobachter entwickeln, die  jeweils spezifisch  ‚Recht‘ haben. Nur eine Zusammenschau aller dieser verschiedenen Sichten würde dem komplexen Phänomen ‚Beobachter‘ gerecht, wenngleich prinzipiell unvollständig. Allerdings wäre keine der einzelnen Disziplinen je für sich in der Lage, eine ‚Gesamtschau‘ zu organisieren. Das gibt der normale Theoriebegriff nicht her. Das Reden vom ‚Interdisziplinären‘ ist insofern eine Farce. Hier wird eine Disziplinen-Übergreifende Einheit angedeutet, die es zwischen Einzeldisziplinen prinzipiell nicht geben kann (und auch in der Praxis nie erreicht wird; das scheitert schon an den verschiedenen Sprachen der Disziplinen).

ROLLEN

In der Praxis der Gesellschaft und der Industrie manifestiert sich das Dilemma des versteckten Beobachters im Phänomen der unterschiedlichen Rollen. An einem Systems-Engineering Prozess (SEP) kann man dies verdeutlichen.

Die Manager eines SEP legen Rahmenbedingungen fest, geben Ziele vor, überwachen den Ablauf. Der Prozess selbst wird von unterschiedlichen Experten (Akteuren) gelebt. Diese Experten setzen den ‚durch die Manager gesetzten Rahmen‘ für die Dauer des Prozesses voraus, als gültiges Referenzsystem, innerhalb dessen sie ihre Problemlösung in Kooperation mit anderen Akteuren ‚leben‘.

Innerhalb eines SEP gibt es Akteure , z.B. die Mensch-Maschine Interaktions (MMI) Experten, heute auch schon Akteur-Akteur-Interaktions (AAI) Experten genannt (Akteure können Menschen (biologische Systeme) oder auch mittlerweile Roboter (nicht-biologische Systeme) sein. ‚Cyborgs‘ bilden neuartige ‚Zwitterwesen‘, wo noch nicht ganz klar ist, ob es ‚erweiterte biologische Systeme‘ sind oder es sich hier um eine neue hybride Lebensform als Ergebnis der Evolution handelt). Die MMI oder AAI Experten entwickeln Konzepte für ‚potentielle Benutzer (User)‘, also ‚andere Akteure‘, die in ‚angedachten Abläufen‘ mit ‚angedachten neuen Schnittstellen (Interface)‘ aktiv werden sollen. Werden die Pläne der AAI Experten akzeptiert und realisiert, entstehen für die angedachten Abläufe neue Schnittstellen, mit denen dann andere – dann ‚reale‘ – Akteure‘ arbeiten werden. Tritt dieser Fall ein, dann übernehmen die ‚Anwender (User)‘ einen ‚von anderen Akteuren gesetzten‘ Rahmen für ihr Handeln.

Vom Auftraggeber (Ebene 1) zum Manager eines SEP (Ebene 2) zu den Experten des SEP (Ebene 3) zu den intendierten Anwendern (Ebene 4). Wie sich dies dann wieder auf die umgebende Gesellschaft (Ebene 5) auswirkt, die sowohl Auftraggeber (Ebene 1) als auch Manager von Prozessen (Ebene 2) als auch die verschiedenen Experten (Ebene 3) beeinflussen kann, ist im Normalfall weitgehend unklar. Zu vielfältig sind hier die möglichen Verflechtungen.

Andere Querbeziehungen in einen SEP hinein (kleine Auswahl) treten dort auf, wo z.B. die AAI Experten andere Wissenschaften zu Rate ziehen, entweder über deren ‚Produkte‘ (Artikel, Bücher, Verfahren) oder direkt durch Einbeziehung der Akteure (Psychologie, Psychologen, Soziologie, Soziologen, usw.).

An keiner Stelle in diesem überaus komplexen Rollengeflecht gibt es normalerweise eine Rolle, die offiziell sowohl die spezifischen Aufgaben ‚innerhalb‘ einer Rolle wie auch die ‚Rolle selbst‘ beobachtet, protokolliert, untersucht. Eine solche Rolle würde jeweils vorgegebene Rollen ‚durchbrechen‘, ‚aufbrechen‘, ‚verletzten‘. Das verwirrt, schafft Unruhe, erzeugt Ängste und Abwehr.

HOFNARREN, PHILOSOPHEN

Andererseits gibt es historisch diese Formen in allen Zeiten. In der einen Form ist es der ‚Hofnarr‘, der kraft seiner Rolle grundsätzlich anders sein darf, dadurch feste Muster, Klischees durchbrechen darf, bis zum gewissen Grad wird dies auch erwartet, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Unterschwellige Machtstrukturen dürfen in der Regel nicht angetastet werden.

In der anderen Rolle haben wir die Philosophen. Das philosophische Denken kann das einzelwissenschaftliche Denken ‚imitieren‘, es kann aber jederzeit aus diesem Muster ausbrechen und nach den Voraussetzungen des einzelwissenschaftlichen Denkens fragen. Ein Philosoph kann — von seinem Denken her — die immer und überall wirksamen ‚Voraussetzungen‘ von Verhalten und Denken ‚hinterfragen‘, ‚thematisieren‘ und auf diese Weise einer expliziten Reflexion und sogar bis zu einem gewissen Grade einer Theoriebildung zugänglich machen. Der Philosoph als Teil einer Gesellschaft mit seiner Nähe zum ‚Hofnarren‘ darf meistens aber nur soviel anders sein (Schulphilosophie), die die Gesellschaft ihm zugesteht. Vom Standpunkt eines philosophischen Denkens aus kann man unterschiedliche einzelwissenschaftliche Modelle und Theorien ‚als Objekte‘ untersuchen, vergleichen, formalisieren und man kann auf einer ‚Metaebene‘ zu den Einzelwissenschaften ‚integrierte Theorien‘ schaffen; nur so. Interdisziplinarität ist von hier aus betrachtet eine Form von Ideologie, die genau solche Integrationen  verhindert.

WISSENSCHAFTLICHE EINZELSTAATEREI

Der Versuch der Einzelwissenschaften, sich der ‚Gängelei‘ eines philosophischen Denkens zu entziehen, führt bei aller Positivität der einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse zu dem großen Wirrwarr, das wir heute um uns herum beobachten können. Ein komplexes Phänomen wie der Homo sapiens wird zwischen den einzelwissenschaftlichen Mühlsteinen zu Sand zerrieben; übrig bleibt nichts. Die verschiedenen biologischen, psychologischen, neurologischen, soziologischen usw. ‚Substrate‘ bilden unterschiedliche Zerrformen, die in keinem Gesamtbild integriert sind. Das kommt einer Abschaffung des Menschen durch den Wissenschaftsbetrieb gleich. Dies erinnert ein wenig an den kleinstaatlichen Flickenteppich, bevor Deutschland ein integrierter Staat wurde; jeder war sein eigener Fürst; sehr schön; komplexere Einheit fand nicht statt. Das menschliche Gehirn bevorzugt Vereinfachungen, und das subjektive Machtgefühl eines jeden fühlt sich geschmeichelt, wenn es sich als (wenn auch kleiner und beschränkter) ‚Fürst‘ fühlen kann.

SEXUALITÄT – REKONSTRUKTION – DER GEIST BEGINNT DURCHZUSCHIMMERN oder: Memo zur Philosophiewerkstatt vom 10.Mai 2014

TERMIN: die nächste Philosophiewerkstatt findet am Sa, 14.Juni 2014, 19:00h im Gewölbekeller des Confetti statt (letzte Philosophiewerkstatt vor der Sommerpause)

PRÄLUDIUM

1. Der Tag war bewölkt, regnerisch, kühl, und dann an einem Samstagabend sich aufzuraffen … aber das Confetti-Gewölbe empfing alle angenehm warm, in einer Mischung aus Atelier, Kleinkunstbühne und Wohnzimmer.

2. Da ich es geschafft hatte, meine Materialien nicht richtig abzuspeichern, waren sie irgendwie weg und es verlief trotzdem sehr spannend ….

3. Nach der üblichen Begrüßung und kurzen Einstimmung auf die gemeinsame Suche nach der Wahrheit haben wir uns zunächst das ‚Soundgemälde‘ angehört, das ich von den Tonaufnahmen der spontanen Wortspielen zum Schluss der letzten Sitzung gemacht hatte. Ich habe dem Stück spontan den Titel Die Wucht der einzelnen Momente gegeben. Es entstand – wie gesagt – zunächst als relativ schlechte Aufnahme von mehreren spontanen Äußerungen im Rahmen der Philosophiewerkstatt vom 12.April 2014. Ich hatte dann einzelne Momente aus diesen Aufnahmen extrahiert (dabei gab es Probleme mit der SW; es funktionierte nicht so wie im Handbuch beschrieben). Stoppte dann auch bald mit dem Extrahieren, da dies eine riesige Aufgabe ist; habe dann mit den Fragmenten herumgespielt, die ich hatte. Auffallend war, wie rhythmisch diese Stimmschnipsel wirkten. Ich habe dann ein Mosaik von solchen Stimmschnipseln erstellt, einzelne Worte oder Wortteile, in Wiederholung, wie in einem Gespräch; das Ganze umrahmt von etwas Orgel (mit viel Hall) und einem Streichbass. Es ist jetzt wie es ist. Wenn man die Personen kennt, die zu den Stimmen gehören, dann sind diese Personen in diesen Stimmen ‚wie sie wirklich sind‘; selbst im Fragment leuchtet das ‚Ganze‘ durch…

5. Die Reaktion auf dieses ‚Klangbild‘ war überraschend positiv.

SEXUALITÄT ALS SUBJEKTIVES PHÄNOMEN

Vom 'Bewusstsein' zu 'Modellen', die helfen, die Einzelphänomene zu deuten
Vom ‚Bewusstsein‘ zu ‚Modellen‘, die helfen, die Einzelphänomene zu deuten

6. Entsprechend der aktuellen Diskussion benutze ich das Schema Bewusstsein – Nichtbewusstsein (mit individuellem Unterbewusstsein) als roten Faden bei der Analyse des Phänomens ‚Sexualität‘.

7. Der primäre Ausgangspunkt für alle Menschen ist ihr eigenes subjektives Erleben, ihr individuelles Bewusstsein, mit dem sie sich als Kind und junger Mensch vorfinden, das sich im Laufe des Lebens weiterentwickeln kann. Zum Einstieg sprachen wir kurz über das folgende Bild, das ich für einen früheren Blogeintrag mal entwickelt hatte.

Augen der Begierde 1
Augen der Begierde 1

8. Im subjektiven Erleben zeigt sich neben vielem anderen auch die ‚Sexualität‘ in verschiedenen Gefühlsäußerungen, Spannungen, Erregungen, Ekstasen, Abfall von Erregungen, …. ein breites Spektrum. Das Ganze aber eingeflochten in die unterschiedlichen individuellen Situationsgeflechte, mit anderen Menschen. Diese anderen Menschen können nah – fern sein, können freundlich – unfreundlich – gewalttätig sein, anerkennend oder verachtend, liebevoll oder gemein, kalt; zustimmend oder ablehnend; positiv oder negativ Angst machend. Die individuelle Sexualität wird also immer verflochten sein mit all diesem und so wird jeder sein individuelles Bild haben.

9. Solange man im individuellen Erleben verharrt, erlebt man zwar all dieses, aber oft, meistens, wird man nicht verstehen, warum dies so passiert. Warum hat man diese Bedürfnisse, Spannungen, Erregungen, usw.? Warum hat man sie so? Muss das so sein? Auch wenn man nicht will, können sexuell bezogene Bwusstseinszustände auftreten, eintreten, stattfinden; sie haben eine gewisse ‚Autonomie‘ unserem Wollen gegenüber; sie sind unserer Subjektivität gegenüber ein ‚Etwas‘, oder ein ‚Es‘, wie Freud es mal sagte. Es ist zwar ‚Teil von uns‘, aber aus Sicht des individuellen Erlebens ist es ’selbständig‘, ‚fremd‘, kann ‚bedrohlich‘ wirken, wenn man es nicht ‚im Einklang mt geltenden gesellschaftlichen Normen‘ auflösen kann; es kann punktuell schön und berauschend wirken, wenn es gelingt.

10. Eine Teilnehmerin M.S-J. zeigte ein weiteres Bild, das sie zum Thema Sexualität gemalt hatte und wir sprachen darüber.

SOZIALE ROLLEN, DEUTUNGEN, NORMEN

11. Solange es keine moderne empirische Wissenschaft gab, waren die Menschen dem Phänomen ausgeliefert, so wie einem ‚Naturereignis‘, einer ‚Naturgewalt‘, und sie haben von Anfang an versucht, sich mit dem Phänomen zu arrangieren. In allen Kulturen, zu allen Zeiten finden sich ‚Rollenzuweisungen‘, was eine Frau bzw. was ein Mann zu tun hat, Verhaltensregeln in sozialen Gruppen mit z.T. drastischen Sanktionen, wenn man die Regeln nicht einhält. Von Anfang an gab es neben den ’schönen‘ Aspekten von Sexualität immer auch viel Aggressivität und Gewalt von Seiten der Männer gegenüber Frauen.

12. In den beiden Blogbeiträgen SEXARBEITERiNNEN – SIND WIR WEITER? und SEXARBEITERiNNEN – Teil 2 – GESCHICHTE UND GEGENWART habe ich von einigen Beispielen aus der Gegenwart und er Geschichte berichtet; Auffällig ist, dass die Verbindung von Sexualität und Gewalt von Männern gegenüber Frauen dominant ist. Hier nur zur Erinnerung: Aus dem ersten Weltkrieg gibt es Berichte, dass Zwangsprostitution im großen Stil durch die Regierung eingeführt werden musste, um die Gesundheit, Kampfkraft und Moral der Soldaten zu erhalten. Aus dem zweiten Weltkrieg und aus vielen lokalen Kriegen wird dies ebenfalls berichtet. Vergewaltigungen gehören fast überall dazu. Selbst in den deutschen KZs wurden Bordelle eingerichtet, um die Arbeitsleistung zu steigern, und die Frauen, die darin arbeiten mussten, waren KZ-Insassinnen gewesen, die dazu zwangsverpflichtet worden sind. Nach offiziellen Zahlen des US-Militärs kam es allein im Jahr 2010 zu rund 20.000 Vergewaltigungen von Soldatinnen innerhalb des US-Militärs. Schätzungen gehen von eine viel höheren Dunkelziffer aus,da das Militär sein eigener Richter ist, d.h. die Täter sind hier z.T. die Richter. Das ZDF berichtete im Rahmen einer Heute-Sendung (siehe: Vergewaltigungen in Kenia (im Rahmen des Oberthemas ‘Gewalt gegen Frauen’) von Kenia, wonach jede dritte Frau in ihrem Leben mindestens einmal vergewaltigt worden ist. Im Rahmen der großen europäischen Auswanderungswelle in der Zeit 1850 – 1930 nach Süd- und Nordamerika (65 Millionen Europäer) wurden viele junge Frauen gegen ihren Willen über entsprechende Schlepperbanden in die Bordelle Südamerikas (besonders in Buenos Aires) vermittelt; der größte Anteil sind junge jüdische Frauen, weil deren Situation in den osteuropäischen Ländern und Russland aufgrund von Diskriminierung und wirtschaftlicher Not katastrophal war. Das Schema einer Verschleppung von jungen Frauen durch Vorspielung falscher Tatsachen, findet sich heute in Europa, insbesondere Deutschland, wieder. Viele zehntausend junge Frauen werden aus anderen Ländern unter Vortäuschung falscher Tatsachen nach Deutschland gelockt und dort zur Zwangsprostitution vermittelt. Während junge Frauen in Thailand aus freien Stücken in Bordellen arbeiten können (als einem Beruf neben anderen), sind die Frauen in Bangladesch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Lage dazu quasi verurteilt. Sie haben praktisch keine andere Wahl. usw.

13. Interessant wäre hier eine ausführlich Analyse der verschiedenen Deutungen und Normensysteme, mit denen Gesellschaften auf das Phänomen Sexualität reagiert haben, speziell auch die Religionen wie Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam. Eine ‚Erklärung‘ hat keine der großen Religionen geliefert (was ihnen zu ihren Zeiten auch nicht möglich war). Sie haben letztlich das Phänomen ‚benannt‘ und sie haben es mit ‚Bewertungen‘ versehen und einigen ‚Verhaltensregeln‘. Die Grundrichtung geht dahin, Sexualität als Bedürfnis, Trieb und sexuelle Handlungen möglichst zu ‚kanalisieren‘: Ausübung nur in einer gesellschaftlich regulierten Form des Zusammenlebens (‚Ehe‘) mit minimalen Pflichten der Beteiligten bei eindeutiger Bevorzugung des Mannes und Benachteiligung der Frauen (entsprechend den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen). Ausübung von Sexualität außerhalb der ‚regulierten Verhältnisse‘ wurde stark negativ gesehen und wurde massiv sanktioniert (schwere Sünde, Ausschluss aus der Gemeinschaft, bis hin zu Steinigung und Todesstrafe). Andere Formen der Sexualität als zwischen Mann und Frau wurden grundsätzlich als widernatürlich ausgeschlossen. Die Radikalität dieser Verhaltensregeln kann man eventuell als Gradmesser sehen für die ‚Stärke des Sexualtriebs‘, zumindest in der Wahrnehmung dieser alten Gesellschaften. Auffällig ist aber die Asymmetrie in der Bewertung und Sanktionierung. Bei Übertretungen wird in der Regel weniger der Mann als Täter bestraft, sondern die Frau als ‚Auslöser‘ für die Tat des Mannes. Diese Tradition findet heute in vielen islamischen Ländern noch ihre Fortsetzung in der frauenfeindlichen Tradition, dass nicht die Männer bestraft werden, wenn sie Frauen vergewaltigt haben, sondern die Frauen werden geächtet und ausgeschlossen oder gar zusätzlich bestraft (Afghanistan, Bangladesch, Indien, Irak, …). Eine Verantwortung der Männer wird quasi von vornherein ausgeschlossen.

WISSENSCHAFTLICHE REKONSTRUKTION

14. Seit dem Aufkommen der modernen empirischen Wissenschaften, insbesondere seit den großen Fortschritten in der Physik, Chemie, Molekularbiologie, Biologie, Neurowissenschaften und Psychologie – um nur die wichtigsten zu nennen – wurde es möglich, die Frage nach dem Woher, Wie und Warum des subjektiven Erlebens mehr und mehr aufzuhellen. Zwar gibt es noch genügend viele ungeklärte Fragen, was aber die Sexualität angeht, so konnte man dort vieles klären (siehe auch den Blogbeitrag BEWUSSTSEIN – NICHTBEWUSSTSEIN AM BEISPIEL VON SEXUALITÄT UND GESCHLECHT). So wissen wir seit den letzten ca. 50 Jahren (! Leben gibt es seit mindestens ca. 3.8 Milliarden Jahren auf der Erde!), dass es das menschliche Genom ist, ein Molekül, das als Informationsspeicher die Anleitung für die Konstruktion möglicher Körper liefert. Diese Körper haben Strukturen, zu denen geschlechtsspezifische Sexualorgane gehören, die über das Gehirn gesteuert werden. Das Gehirn wiederum reagiert auf Körperzustände und auf Signale aus der Außenwelt und kann dadurch unterschiedliche Erregungszustände im Körper und dann auch im Bewusstsein auslösen. Dies geschieht ‚automatisch‘.

15. Die Wissenschaft weiß mittlerweile, dass der einzelne durch sein Verhalten und sein ‚Denken‘ auf diese körperbedingten Abläufe bis zum gewissen Grad einwirken kann, das genaue Ausmaß, die Stärke dieser Einwirkung, und die möglichen Randbedingungen sind noch nicht endgültig geklärt.

16. Was die Wissenschaft aber klären konnte, ist, dass der Weg vom Informationsspeicher Genom bis zum endgültigen Körper mit seinem Gehirn sehr komplex ist und die Ausformung von geschlechtsspezifischen Organen und das zugehörige Verhalten nicht vollständig deterministisch ist. Zunächst gilt, dass die männlichen geschlechtsspezifischen Merkmal die sind, die im Nachhinein (!) eingeführt werden. Das sogenannte ‚Weibliche‘ ist der normale Grundzustand, und dieser wird bedingt durch die Steuerung durch spezielle Hormone (= Moleküle) geringfügig abgeändert, so dass dann die männlichen Sexualorgane und die spezifischen männlichen Gehirnstrukturen entstehen. Kommt es bei diesem Prozess zu Störungen (die bei solchen komplexen Prozessen unausweichlich sind), dann können diese sehr vielfältig sein (zwar sind die Sexualorgane vielleicht da, aber die Gehirnstrukturen stimmen nicht oder sie sind zwar da aber die steuernden Hormone funktionieren anders oder oder oder).

17. Für Menschen, die sich selbst und die Umwelt zunächst über ihr individuelles Erleben kennen lernen, können solche ‚Störungen‘ erheblich irritierend sein; speziell dann, wenn die Umgebung darauf negativ, ausgrenzend, verächtlich, aggressiv reagiert. Der/ die Betreffende kann ja nichts dafür, das der biologische Entwicklungsprozess bei ihm ‚kreativ‘ war. Die moderne Medizin kann solche Entwicklungsvariationen immer besser erkennen und kann z.T. durch chirurgische eingriffe oder durch entsprechende Hormonpräparate hier ‚gestaltend‘ eingreifen. Nur, solche wissenschaftliche ‚Gestaltungsmöglichkeiten‘ nützen dem einzelnen nur dann etwas, wenn die ‚Öffentlichkeit‘, d.h. alle anderen Mitmenschen, sich klar machen, dass Abweichungen von der statistischen Mehrheit nichts ‚Böses‘ sind, sondern Variationen unserer biologischen Struktur, die systemimmanent sind.

18. Bezüglich der heute immer mehr um sich greifenden Verhaltensweise von ‚gleichgeschlechtlichen‘ Partnerschaften konnte die Wissenschaft zwar einerseits feststellen, dass sich bei solche Menschen Änderungen in der Biochemie der Gehirne finden, man konnte aber nicht eindeutig klären, ob dies nun von den Genen her ‚erzwungen‘ ist oder ob diese Veränderungen schlicht und einfach durch ein verändertes Verhalten induziert wurden.

19. Sollten die neuesten Erkenntnisse einer verhaltensinduzierten Variabilität stimmen, wirft dies ein zusätzliches Licht auf die menschliche Sexualität: sie ist nicht nur im Rahmen der Embryogenese und Ontogenese genetisch gerichtet, sondern sie ist auch verhaltens- (und damit umwelt-) bedingt modifizierbar.

20. Befreit man sich von den unsachlichen Denkverboten der alten Religionen, dann kann man diese Sachverhalte auch so deuten, dass es ein Stück unsere ‚Verantwortung‘ ist, immer wieder neu zu klären, wie wir als Menschheit in der Zukunft leben wollen bzw. sollten. Seit hundert Jahren verzeichnet die menschliche Gesellschaft Veränderungen in der Lebensform, die es so vorher noch nie gegeben hat. viele der biologisch vorprogrammierten Verhaltensweisen (einschliesslich der Sexualität) passen immer schlechter oder sind sogar störend und gefährlich. D.h. der Gang der Dinge erzwingt von uns Kurskorrekturen, Anpassungen. Darüber muss man offen reden, müssen wir uns Austauschen. es geht nicht um irgendwelche ‚Lust‘, es geht um das gemeinsame Leben in einer möglichst gemeinsamen Zukunft.

PHILOSOPHISCHES UND THEOLOGISCHES

21. Neben der Perspektive des individuellen Erlebens in einem individuellen (alternden, durch Verletzungen oder genetisch bedingt verändertem) Körper und der sozialen Dimension des Miteinanders durch Rollenzuweisungen gibt es auch noch die evolutionäre Dimension des ‚Werdens‘ des Lebens auf der Erde.

22. Der Kern des evolutionären Prozesses besteht aus dem Wechselspiel zwischen den Informationsspeichern und den daraus resultierenden Körpern. Die Veränderung der Informationsspeicher geschieht in der Regel über Austauschprozesse, wobei es natürlicherweise zu ‚Veränderungen‘ (‚Mutationen‘) kommt. Dieser Veränderungsprozess ist lokal und als solcher ‚blind‘ für den Kontext und eine mögliche Zukunft. Es ist wie ein gigantischer Würfelprozess, bei dem ein Teil der resultierenden Körper ganz gut ‚zurecht kommt‘, ein kleiner Teil ‚weniger gut‘ bis ‚gar nicht‘, und ein anderer kleiner Teil ‚gut‘ bis ’sehr gut‘. Auf diese Weise hat es ca. 3.8 Mrd Jahre von den ersten biologischen Zellen bis zum homo sapiens sapiens gebraucht.

23. Zwar kann man praktisch bei allen Tieren irgendwelche Formen von Intelligenz konstatieren, aber nur beim homo sapiens sapiens können wir bislang solche Formen von Intelligenz feststellen, die zu komplexen Theorien geführt haben, mit Hilfe von Theorien zu Technologien und komplex organisierten Regelsystemen, Abläufen und Megastädten.
24. Die auffälligste Errungenschaft aber ist, dass der homo sapiens sapiens durch seine geistigen Fähigkeiten in der Lage ist, seinen eigenen Körper, seine eigene Herkunft bis auf die Ebene der Moleküle und Atome so zu rekonstruieren, dass er (als Population) in der Lage ist, das ‚blinde Würfeln der Gene‘ mit Hilfe seiner theoretischen Fähigkeiten aktiv zu verändern und damit evtl. zu ‚beschleunigen‘.

25. Dies bedeutet, die ‚belebte Natur‘ in Form des biologischen Lebens auf der Erde hat sich selbst kontinuierlich so ‚umgebaut‘, dass sie jetzt ihre eigene Entstehung ‚lenken‘ kann. Ein ungeheuerlicher Vorgang. Nach insgesamt 13.8 Mrd Jahren seit dem ‚Big Bang‘ hat die Materie des Universums im homo sapiens sapiens eine ‚Form‘, eine ‚Gestalt‘ angenommen, die die Materie in die Lage versetzt, ’sich selbst‘ anzuschauen und ’sich selbst‘ bis zu einem gewissen Grad zu ‚manipulieren‘ (Schimmert hier nicht etwas durch, was wir eher ‚Geist‘ nennen sollen anstatt ‚Materie‘?).

26. Sollte jemand an ‚Gott‘ glauben, dann wird es spätestens jetzt Zeit, sich klar zu machen, dass dies bedeutet, dass dieser ‚Gott‘ ihn auf diese Weise unmittelbar auffordert, am weiteren Gang der Dinge mit zu wirken. In Gestalt des homo sapiens sapiens beginnt das Universum ’sich selbst‘ anzuschauen und versetzt den homo sapiens sapiens in die Lage, ansatzweise am weiteren Gang der Dinge mit zu wirken.

27. Bedenkt man, wie dieser homo sapiens sapiens gerade dabei ist, die Ressourcen dieser Erde nachhaltig zu zerstören, sozusagen seine eigene Lebensgrundlage, und bedenkt man, dass dieser homo sapiens sapiens noch immer ganz schnell bereit ist, andere Menschen zu Feinden zu erklären, dass er statt zu Kooperationen zu Konfrontationen neigt, dass er statt Wahrheit zu kultivieren, sich mit Fantasiegeschichten über die Welt abspeist, dass er statt sich im internationalen Miteinander wechselseitig zu stärken, dazu neigt, die aktuell Schwächeren brutal auszubeuten, usw. … bedenkt man dies alles, dann erscheint es einem auf den ersten Blick grotesk, dass dieser unfähige wilde Geselle homo sapiens sapiens ernsthaft an der substantiellen Gestalt dieses Universums mitwirken soll.

28. Fakt ist, dass der Gesamtprozess genau diese Dramaturgie bietet: der homo sapiens sapiens, also auch wir, wurden in die Lage versetzt, substantiell einzugreifen (was keiner wollte, es liegt im Prozess!) und es sind nicht unsere aktuellen ‚Idiotien‘, die uns daran hindern werden, sondern es ist das ungeheuerliche Potential des Universums, was uns in eine Richtung ‚drückt‘, in der wir die ‚Schatten der Vergangenheit‘ ablegen müssen und von dem egoistischen Hordendenken zu einer globalen Ethik finden müssen, zu einer globalen Gesellschaft, mit einem ‚fortgeschritteneren Körper‘, ermöglicht durch eine weiter entwickelten Genetik.

29. Neben den vielen Hausaufgaben, die dabei zu lösen sind, gibt es eine, die zentral und maximal schwierig ist: woher wollen wir besser wissen als die ‚würfelnden‘ Gene, in welche Richtung die Reise gehen soll?

NACHBEMERKUNG

Dieser kurze Bericht gibt nicht alle Aspekte wieder, die wir diskutiert haben, aber er kann einen groben Eindruck vermitteln, worüber wir gesprochen haben.

Einen Überblick über alle Blogbeiträge nach Titeln findet sich HIER