1. Seit dem Besuch des ersten religionspolitischen Kongresses der GRÜNEN gab es sehr viele anregende Impulse. Einer berührt das Thema ‚Säkularisierung‘. Im letzten sehr langen Telefonat mit einem Mitglied der säkularen GRÜNEN skizzierte dieser das Spektrum der verschiedenen Bewegungen und Initiativen, die sich in Deutschland irgendwie der Wortmarke ’säkular‘ zuordnen lassen. Nach einem beeindruckenden Überblick entstand unter dem Strich der Eindruck, dass alle diese verschiedenartigen Bewegungen irgendwie mit der Kritik an den bekannten Religionen auch gleich ‚Gott selbst‘ eliminiert hatten und haben. Am radikalsten vielleicht die ‚Naturalisten im engeren Sinne‘ mit einer ‚Geist- und Gottfreien Materie‘.
2. Im Hin und Her des Gesprächs deutete sich an, dass wir der Überzeugung sind, dass eine Kirchen- und Religionskritik nicht automatisch auch eine ‚Abschaffung Gottes‘ impliziert, da ‚Religiosität‘ etwas so Fundamentales in Empfinden der Menschen ist, dass diese Empfindsamkeitsstruktur nicht schon durch Kritik an institutionellen Fehlformen von Religion betroffen sein muss (was im übrigen die Frage, ob und wie ‚Gott‘ sei, noch weitgehend im Hintergrund lässt).
3. Auch bieten die neuen Entwicklungen in der Wissenschaft sowie der Wissenschaftsphilosophie neue Ansatzpunkte, um die schroffe Gegenüberstellung von naturwissenschaftlichem Wissen hier und religiösem Weltverständnis dort zumindest in Frage zu stellen (ein Thema in diesem Blog seit langem).
4. Dazu kommt, dass – zumindest im Bereich der christlichen Kirchen, und hier besonders im Bereich der römischen Papstkirche – das Verhältnis zwischen ‚kirchlichem Amt‘ und ‚Spiritualität‘ – also eigener religiöser Erfahrung – seit Anbeginn problematisch war. Spätestens ab dem 5. Jahrhundert befand sich das religiöse Empfinden des einzelnen unter der vollständigen Kontrolle des Amtes. Was immer ein einzelner erleben mochte, es spielte künftig keine Rolle mehr. Es galt nur noch das, was dem Amt ‚genehm‘ war. Abweichungen wurden mit Bestrafung oder direktem Ausschluss bzw. mit dem Tod bestraft.
5. Ein prominentes Opfer dieser Verhältnisse ist der Jesuitenorden. Lange Zeit und für Viele galten die Jesuiten als besonders papsttreu und ’nah an der Macht‘. Die Wahrheit ist aber komplexer.
6. Es stimmt, dass die Jesuiten aufgrund ihrer Ordenssatzung sich dem Papst direkt ‚unterworfen‘ hatten, und es stimmt, dass diese ‚Unterwerfung‘ von ihrer Spiritualität weitgehend gedeckt wurde.
7. Was man aber nicht übersehen sollte, ist, dass das Spiritualitätsmodell der Jesuiten – soweit man es an der Autobiographie des Ordensgründers Ignatius von Loyola und seinem konkreten Wirken (und dem seiner Ordensmitglieder) ablesen kann – vom Ansatz her hochmodern ist, ganz und gar erfahrungsbasiert, und ein Modell darstellt, wie es jeder Mensch – auch heute – praktizieren könnte. Dieses Modell war so leistungsfähig, dass die Jesuiten im 16. und 17.Jahrhundert in der Lage waren, in allen Kontinenten Sprachen zu lernen, sich neue Kulturen anzueignen, sich anderen Lebensformen anzupassen, neue Gesellschaftsformen zu erfinden, also auf breiter Front Dinge zu tun, die mit dem damaligen engen Kirchen- und Religionsverständnis eigentlich nicht vereinbar waren. Diese Kreativität und Dynamik wurde ihnen dann schließlich zum Verhängnis, als die Differenz zu anderen ‚konkurrierenden‘ Orden und zu verschiedenen staatlichen Machtpositionen zu groß wurde. Es kam zum ersten weltweiten Verbot des Ordens ohne einen wirklichen Prozess, für viele völlig überraschend, verbunden mit Einkerkerungen und Tod.
8. Man kann natürlich die Frage aufwerfen, warum die Jesuiten, wenn sie doch so eine großartige Spiritualität hatten, dann nicht die Problematik der römischen Papstkirche erkannt und daraus ihre Konsequenzen gezogen haben? Eine Antwort auf diese Frage würde es erfordern, tiefer in dieses Spiritualitätsmodell einzusteigen, was an dieser Stelle jetzt nicht geschehen soll. Fakt ist nur, dass auch das jesuitische Spiritualitätsmodell von jedem einzelnen mehrjährige ‚Lernphasen‘ abverlangt in Wechselwirkung mit kognitiver Verarbeitung. Die Erfahrung der ‚Nähe Gottes‘ ersetzt keine analytische Erkenntnis! (Dies erklärt auch, warum Mohammed als Prophet sehr wohl unmittelbare Gotteserfahrungen gehabt haben kann ohne deswegen zugleich auch die volle Weite der möglichen analytischen Erkenntnisse besessen zu haben. Schon die großen islamischen Theologen des 11. Jahrhunderts gingen weit über Mohammed hinaus. Aber auch hier gilt: die mögliche berechtigte Kritik an Aussagen eines Menschen ändert nichts an der Tatsache, dass dieser Mensch genuine, authentische Erfahrungen gemacht haben kann, die für diesen Menschen sehr wichtig waren).
9. Außerdem sollte man bedenken, dass das allgemeine ‚religionsunabhängige‘ wissenschaftliche Weltwissen sich ja auch erst – nimmt man das Wirken von Galilei als einen Bezugspunkt – über ca. 350 Jahre mühsam im direkten Kampf gegen die römische Papstkirche entwickeln musste, d.h. selbst wenn es eine ’spirituelle Richtung‘ gegeben haben mag, ein ‚passendes Wissen‘ war schwer verfügbar.
10. Das, was man exemplarisch an der Geschichte des Jesuitenordens beobachten kann, kann man weitgehend auf alle Menschen in der römischen Papstkirche übertragen, die versucht haben, eine eigene, authentische Spiritualität zu leben: entweder mussten sie die Kirche verlassen oder die eigene Spiritualität so weitgehend verleugnen, dass von der Sprengkraft, die einer authentischen Spiritualität innewohnt, nicht mehr viel übrig blieb. Verständlicherweise ist diese destruktive Wirkung einer Amtskirche auf die Spiritualität ihrer Mitglieder in der offiziellen Theologie nie untersucht worden.
11. Im übrigen steht im Raum, dass dieses negative, menschenverachtende Verhalten gegenüber der individuellen Erfahrung – wie wir mittlerweile wissen können – ein durchgehender Zug vieler (aller?) organisierter (Offenbarungs-)Religionen ist, und sich auch in politischem Kontext in allen Staaten wiederfindet, die versuchen ohne demokratische Strukturen mit purer Macht die Bürger zu befehligen und zu bevormunden. Pluralität, Pressefreiheit, Toleranz usw. sind äußere Kennzeichen einer Gesellschaft, in der die subjektive Erfahrung des einzelnen – zumindest im Ansatz und grundsätzlich – akzeptiert und geachtet wird. Die formale Trennung von Staat und Religion in demokratischen Staaten ist daher nicht ein ‚weniger an Religion‘, sondern die einzige Voraussetzung für eine ‚wahre Religion‘, die in der Subjektivität des einzelnen wurzelt.
12. Allerdings kann man den Eindruck haben, dass die Bürger demokratischer Staaten, die sich von erfahrungsfeindlichen Religionen gelöst haben, deswegen nicht automatisch zu ihrer eigenen, authentischen Religiosität finden. Die negativen Beispiele der organisierten Religionen können – trotz Ablehnung – so blockierend wirken, dass trotz der Ablehnung von etwas Menschenfeindlichem deswegen noch nicht der Blick, das Gefühl, der Verstand frei ist für die konstruktive Alternative (in diesem Sinne kann/ muss man fragen, ob nicht die offiziellen Religionen selbst das größte Hindernis sind, um zur eigenen, wahren Religiosität zu finden? Natürlich haben die bekannten Religionen auch Großartiges hervorgebracht; das macht die Sache nicht einfach).
13. Hier wäre viel zu tun. Die nächsten Monate und Jahre werden zeigen, ob und wie wir alle in diesen Fragen weiterkommen werden. Aktuell kann man den Eindruck gewinnen, dass die ‚Regression‘ auf die alten, menschenverachtende Religionsmuster mehr Attraktivität besitzen als der Aufbruch in eine neue Religiosität, die dort beginnt, wo die Aufklärung, die Wissenschaft, die demokratischen Staatsformen uns hingebracht haben, in einen Raum, in dem individuelle, subjektive Erfahrung geduldet, gefördert und offiziell geschützt wird, begleitet von einem großartigen empirischen Wissen über die Welt im Universum, eingebettet in neue globale Kommunikationsformen.
14. Angeregt durch diese Gedanken fiel mir ein Soundtrack auf, den ich im April 2014 aufgezeichnet hatte und der im Kontext dieser Gedanken eine Anregung für ein ’säkulares Glaubensbekenntnis‘ sein könnte. Hier der Soundtrack (Warnung: Laufzeit 18 Minuten! Eine entspannte, ruhige Situation wird empfohlen):
15. Soundtrack vom April 2014: Säkulares Glaubensbekenntnis?.
16. ANMERKUNG: Der Soundtrack wurde nach der Methode ‚radically unplugged‘ generiert. Diese Methode hat einen direkten Bezug zum Thema dieses Blogeintrags, da die radically unplugged Methode hier einen Musikbegriff repräsentiert, der sich gegen die etablierten Dogmen von Musik stellt und den einzelnen mit seiner Subjektivität zur primären authentischen Quelle von Musik erklärt. Radically unplugged Aufnahmetechnik bedeutet, dass jeder jederzeit jede Art von Klang erzeugen und aufzeichnen kann, Manipulationen vornehmen kann, und der entstehende Klang ist immer ‚richtig‘. Natürlich kann man solche Radically Unplugged Musik (= RUM) dann nach beliebigen Kriterien diskutieren, und natürlich wird es immer Menschen geben, die aufgrund von spezieller Begabung und langjährigem Training bestimmte Klänge hervorbringen, die ohne diese Begabung und Motorik von keinem anderen live so hervorgebracht werden können. Dennoch erscheint es mir falsch, solche – irgendwo bewunderungswürdigen – Leistungen zum einzigen Maßstab zu erklären. Ziel sollte es sein, dass jeder angeregt wird, seine individuelle Klangfähigkeit zu entwickeln, da sie, wie Lesen und Schreiben, zu Grundfähigkeiten des individuellen Selbsterfahrens und Kommunizierens gehören.
17. Im übrigen leben wir in einer Zeit, in der die moderne Technik es möglich macht, dass jeder einzelne auch ohne reale Orchester und teuerste Instrumente heute Klangräume durchwandern kann, die weit über das hinaus gehen, was klassische Musikinstrumente ermöglicht haben. Die junge Generation hat dies vielfach schon erkannt und geht hier unbekümmert neue Wege, abseits der ‚Feuilletonpäpste‘ und ‚Radiooberlehrer’…
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