Archiv der Kategorie: Spiritualität

ZWISCHENREFLEXION: DEMOKRATIE – MEHR ALS NUR EIN WORT!

Letzte Änderungen (als Kommentar): 9.Sept.2013

1) In den letzten Wochen der Lektüre und Reflexionen zum Thema USA – Demokratie – Missbrauch von Demokratie – emergente Komplexität – Zukunft des Lebens auf der Erde habe ich nicht nur eine neue Nähe zu diesem alten Thema bekommen, sondern — vielleicht muss ich dies so direkt sagen — fast habe ich das Gefühl, dass ich überhaupt zum ersten Mal meine zu erahnen, welch ungeheuerliche Errungenschaft demokratische Gesellschaftsformen im Laufe der Evolution waren.
2) Für alle, die in Demokratien leben oder gar darin aufgewachsen sind, besteht allerdings immer die Gefahr, sich an das Wunderbare so zu gewöhnen, dass man es irgendwie gar nicht mehr wahrnimmt, es wird zum Alltag, ein Grau in Grau, in dem alltägliche Ereignisse die Wahrnehmung anfüllen und die ermöglichende Hintergründe verschwinden, verblassen, unwirklich werden, bis dahin, dass irgendwann niemand mehr so richtig weiß, dass man tatsächlich in einer Demokratie lebt; dass man noch versteht, was es bedeutet, in einer Demokratie zu leben, und welch ungeheure Prozesse in der Vergangenheit notwendig waren, dass es dazu kommen konnte.
3) Und es ist genau der Alltag, in dem sich einerseits der ‚Sinn von Demokratie‘ ‚erfüllt‘, indem die Menschen in einer Demokratie in einer Weise frei leben können, wie sie es in keinem anderen Gesellschaftssystem können; zum anderen ist es aber auch diese Freiheit — gerade dann, wenn sie zur ‚Normalität‘ wird — die in gewisser Weise Ertauben und Erblinden lässt für das Kostbare an ihr. Solange man genug zu Essen und zu Trinken hat wird man sich kaum darum kümmern, wo Essen und Trinken herkommt; erst wenn das Wasser knapp wird, wenn Essen ausbleibt, fängt man an, danach zu suchen. Dann kann es zu spät sein. Ohne Wasser kein Essen, ohne Essen kein Leben. Dann fehlt auch die Kraft zu allem anderen.
4) Neben der ‚Gewohnheit‘ schlechthin, die alle Gehirne einlullt (ob Reich oder Arm, ob ‚einfach‘ oder ‚gebildet‘, ob ‚machtfern‘ oder ‚machtvoll‘), sind es die Eigenart von Institutionen, die jedes Mitglied durch ihre Rollen und Regeln in ihren Bann ziehen. Davor ist keine Institution gefeit. Selbst eine ’staatliche‘ Einrichtung, die von ihrer juristischen Begründung her, dem ‚Staat dienen‘ soll, kann einem Staat nur in dem Masse dienen, wie ihre Mitglieder auch in der Weise ‚denken‘ und ‚fühlen‘, wie sie ihrem staatlichen Auftrag entspricht. Wie die Geschichte uns lehrt, gibt es zwischen dem ‚Auftrag‘ und dem ‚Denken‘ und ‚Fühlen‘ keinen Automatismus; das Handeln und das Selbstverständnis von Mitgliedern jeder Institution kann sich sehr weit von dem entfernen, was mit dem Auftrag gemeint ist. Und wenn die Leiter oder ‚Chefs‘ von Institutionen schon ’schiefliegen‘ (was sehr schnell der Fall sein kann), dann kann dies eine Institution sehr direkt und sehr schnell ‚prägen‘.
5) Da alle Institutionen diese Sollbruchstelle ‚Irrtum‘, ‚Fehlinterpretation‘, ‚unkritische Gewohnheiten‘ usw. besitzen, würde eine Demokratie versuchen, eine maximale Transparenz zwischen allen Institutionen herzustellen, Verfahren einrichten, die bewusst mit Irrtümern rechnen und die es erlauben, Irrtümer zu korrigieren. Dem steht die ’natürliche Eigentendenz‘ von Institutionen und ihren ‚Gewohnheiten‘ entgegen, sich ‚abzuschotten‘, da die Mitglieder von Institutionen ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt genau der Existenz dieser Institution verdanken. Je weniger Alternativen sie für sich sehen, umso mehr werden sie ‚ihre‘ Institution ’schützen‘. Alle ‚Abweichler‘ sind bedrohlich, alle ‚Neuerer‘ gefährlich! Transparenz und Erfolgskontrollen werden als ‚feindlich‘ interpretiert.
6) Diese ‚Selbstverliebtheit‘ von Institutionen ist unabhängig von ethnischen, ideologischen, politischen oder sonstigen Randbedingungen; es sind wir Menschen selbst mit unseren Bedürfnissen und Ängsten, die wir uns mit Institutionen ’solidarisieren‘, wenn wir den Eindruck haben, sie helfen uns.
7) In einer Demokratie braucht es genauso Institutionen wie in jeder anderen Gesellschaftsform. Während aber in einer Nicht-Demokratie Institutionen ausschließlich an den jeweiligen ‚Machthabern‘ und ‚Geldgebern‘ ausgerichtet sind (bei Beachtung der starken Eigeninteressen), ist in einer Demokratie eine Institution zwar auch dem ‚juristischen Auftraggeber‘ verpflichtet, daneben aber auch und nicht zuletzt der Bevölkerung, dem diese Institution ‚dienen‘ soll. Das schafft eine höhere Verantwortung, stellt eine größere Herausforderung dar, verlangt mehr von allen Beteiligten. Demokratische Gesellschaften setzen immer und überall ‚freie Bürger‘ voraus, die sich den grundlegenden Werten verpflichtet fühlen.
8) Und damit wird deutlich, wo die primäre Schwachstelle jeder Demokratie — wie aber auch letztlich jeder menschlichen Vereinigung — liegt: der ‚freie‘ und ‚wertebewusste‘ Bürger fällt nicht einfach so vom Himmel, er muss ‚entstehen‘ durch langwierige Lernprozesse, die nie aufhören. Er muss lernen, sich eine eigene Meinung zu bilden, die wirklichkeitsbezogen (= wahr) ist und zugleich ‚kritisch‘ in dem Sinne, dass er/sie weiß, warum er/sie das so sieht; er/sie hat Begründungen, kann begründen, kann Fragen stellen und kann Antworten finden.
9) Doch im Alltagsgeschäft — siehe die vielen früheren Blogeinträge –, in dem jeder um seinen Lebensunterhalt kämpfen muss, ist der Raum und die Zeit für notwendige Informations-, Kommunikations- und Denkprozesse mehr als knapp. Faktisch lässt jeder auf irgendeine Weise vieles ‚von anderen Denken‘ im Vertrauen, dass diese es schon richtig machen…. und das erscheint fast unausweichlich angesichts der — selbst erzeugten — wachsenden Komplexität der Umwelt.
10) Und in dem Masse, wie jeder auf den anderen angewiesen ist, muss er darauf vertrauen können, dass der andere das ‚Richtige‘ meint und tut. Vertrauen ist eine Grundkategorie in modernen komplexen Gesellschaften — auch wenn Vertrauen per se keine Korrektheit oder Richtigkeit garantiert. Selbst wenn der andere, dem man vertraut, beste Absichten hat, kann er irren.
11) Und hier wird wiederum deutlich, dass eine funktionierende, transparente, qualitativ hochwertige Öffentlichkeit die wichtigste Schlagader jeder lebendigen Demokratie ist. Beginnt diese zu leiden, wird diese geschwächt, wird sie verzerrt und manipuliert, dann zerbricht eine Demokratie quasi an ‚inneren Blutungen‘. Alle Mitglieder einer Demokratie — einschließlich ihrer Institutionen — werden desintegriert und partikuläre Interessen gewinnen die Oberhand (vorzugsweise Geheimdienste und Militär verbunden mit jenen Unternehmen, die dadurch profitieren (Paradebeispiel der zweit Irakkrieg)).
12) In solchen ‚verzerrten‘ undemokratischen Situationen können nur außergewöhnliche Maßnahmen (wie z.B. die von Martin Luther King oder anderen politischen Bewegungen) helfen, das allgemeine Bewusstsein so zu beeinflussen, dass eine Mehrheit sich für die notwendigen demokratischen Werte bereit findet. Demokratie ohne entsprechenden Einsatz kann es auf Dauer nie geben. Ein demokratisches Bewusstsein entsteht nicht von selbst. Es muss sich anlässlich von Fragestellungen aktiv und öffentlich formen (in diesem Kontext sind z.B. Polizeikräfte, die Demonstranten nicht mehr als ‚Bürger‘ wahrnehmen und nicht als solche behandeln, keine ‚demokratischen‘ Kräfte mehr, genauso wenig jene, die sie befehligen).
13) Doch zurück zum Grundsätzlichen: wenn die biologische Evolution nun mal diese exponentiell wachsende Komplexität aus sich heraus gesetzt hat und wir wissen, dass es ein ‚Optimum‘ nur geben kann, wenn alle Beteiligten sich dem Prozess — letztlich auf ‚demokratische‘ Weise !!! — nicht ‚unterwerfen‘, sondern sich bewusst und verstehend und motiviert ‚einordnen‘, dann ist Demokratie nicht nur ein polit-technisches Problem der hinreichenden Kommunikation, sondern auch ein Problem der ‚Motivation‘, der ‚Werte‘, ja sicher auch eines der geeigneten ‚Spiritualität‘. Woher soll all die Motivation kommen? Wie soll jemand sich für eine ‚gemeinsame Sache‘ einsetzen, wenn viele wichtige Vertreter in der Öffentlichkeit — meist aus Dummheit — ‚Egoismus‘ predigen, ‚Gewalt‘ verherrlichen, ‚Misstrauen‘ sähen, und Ähnliches mehr.
14) Nah betrachtet kann man ja niemanden zu einer ‚demokratischen Gesinnung‘ zwingen; noch so viele Anregungen und Lernprozesse bleiben ‚unvollendet‘, wenn die betreffende Person ‚von sich aus‘ ’nicht will‘. Umgekehrt heißt dies, eine demokratische Überzeugung und ein bewusstes demokratisches Verhalten sind Persönlichkeitsmerkmale von großem Wert, die einem ‚Geschenk‘ an die Gesellschaft gleich kommen. Die Menschen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die vielen Menschen und Bewegungen weltweit, die sich für die Rechte der Menschen und eine menschliche Gesellschaft einsetzen, sind alle nicht ‚Geschickte‘, sondern aus eigenem Antrieb ‚Berufene‘ für eine bessere menschliche Gesellschaft, letztlich für uns alle. ‚Demokraten‘ sind Menschen, die sich ihrer ‚Menschlichkeit‘ im Kontext aller anderen Menschen — auf die eine oder andere Weise — ‚bewusst‘ geworden sind und die mit ihrem Leben dazu beitragen wollen, dass wir ‚gemeinsam‘ eine Zukunft als ‚Menschen auf dieser Erde‘ haben.
15) Alle wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin, dass wir den aktuellen Komplexitätssprung der Evolution nur in dem Umfang werden bewältigen können, in dem wir es schaffen, möglichst viele Bereiche der Menschheit ‚von innen her‘ dazu zu befähigen, die alltäglichen Prozesse entsprechend zu gestalten. Die Zukunft ist in diesem Sinne nicht nur eine technologische Herausforderung, sondern auch — und vielleicht je länger um so mehr — eine ‚personale‘, ’spirituelle‘ Herausforderung. Die Moral, Ethiken, Verhaltensmuster, Machtspiele der Vergangenheit werden nicht ausreichen, um die nächste Hürde zu nehmen. Bislang haben wir ‚Heilige‘ und ‚Helden‘ gern ins Museum gestellt als die großen Ausnahmen, auf möglichst hohe Podeste, dass nur ja niemand auf die Idee kommen könnte, solches Verhalten mit dem Alltag zu nahe in Verbindung zu bringen. Aber die Wahrheit ist, wir brauchen dieses ‚Heroisch-Heilige‘ für jeden von uns, letztlich. Es ist nur nicht ganz klar, wie wir diese ‚von innen getriebene‘ Bewegung wirksam fördern können. Möglicherweise müssen wir das auch gar nicht, weil jeder von uns dies ja letztlich verkörpert. Er muss sich seiner nur ‚bewusst werden‘. Der ‚freie Mensch‘ ist etwas ‚Unverfügbares‘, ein Stück ‚wahrhafter Offenbarung‘, und jede Religion, jedes politische System muss sich daran messen lassen. Ein am Leben interessiertes System kann nur in dem Masse ‚gut‘ sein, als es ‚freie Menschen‘ zulässt und fördert.

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

NACHÜBERLEGUNGEN ZUM VORTRAG „NOTION OF GOD“ von GIUSEPPE TANZELLA-NITTI, Prof. für Dogmatische Theologie der Theologischen Fakultät der Päpstlichen Universität vom Heiligen Kreuz (Rom); Vortrag gehaltem am 17.Aug.2013 an der Universität UNICAMP (Campinas, Brasilien)

Letzte Änderung: Einfügung zweier Musikstücke am 24.August 2013

Als Begleitmusik (Variante 1)

PERSÖNLICHER NACHHALL

1) Die folgenden Überlegungen beabsichtigen nicht, den Vortrag als solchen wieder zu geben (als Hintergrundlektüre für den Vortrag war angegeben worden God, Notion of), sondern Gedanken, die sich für mich aus dem Vortrag ergeben haben, auch in Verbindung mit einem der anschließenden Gesprächskreise (der zum Glück auf Englisch war, da sich mein Portugiesisch bislang nur auf wenige Worte beschränkt).
2) Aufgrund meiner Biographie vermeide ich es eher, mich mit kirchlichen Themen zu beschäftigen, da das offiziell-kirchliche Denken — ich muss es so sagen — in meiner Erfahrung aufklärendes Denken eher verhindert als befördert. Aber da ich nun mal hier war und mein Freund den Vortrag besuchen wollte, bin ich mal mitgegangen.

EINSCHRÄNKUNG AUF GRENZEN DER WISSENSCHAFTEN

3) Eine kleine Überraschung war, dass der Vortrag selbst sich nur auf Aussagen der Wissenschaft beschränkte, und hier besonders auf die großen Diskussionen in der Physik bis ca. Ende des 20.Jahrhunderts. Alle anderen Wissenschaften wie die Geologie und Biologie mit dem evolutionären Veränderungsgeschehen auf der Erde, die Molekularbiologie und Neurowissenschaften mit den neuen Erkenntnissen zu den Grundlagen des Menschseins samt den Auswirkungen auf die moderne Philosophie, dies alles fehlte in dem Vortrag. Erst recht fehlte die Position der Kirche, die Theologie, wie diese sich zu dem Ganzen verhält (die in dem oben genannten Artikel ‚Notion of God‘ sehr wohl vorkommt).

GRENZEN UND IHRE ÜBERWINDUNG

4) Der Vortrag artikulierte im Munde des Vortragenden besonders drei Leitthemen: (i) Die Wissenschaft leistet aus Sicht der Kirche sehr wohl einen Beitrag zur Erkenntnis der Welt, wie sie ist; (ii) aufgrund der verwendeten empirischen Methoden in Kombination mit der Mathematik hat die Wissenschaft aber eingebaute Erkenntnisgrenzen, die verhindern, dass man das ‚große Ganze‘ sehen kann; (iii) die Lücken, die die Wissenschaft lässt, verlangen dennoch nach einer ‚Füllung‘, die mittels philosophischem und theologischen Denken geschlossen werden können.
5) Akzeptiert man die Annahmen, die der Vortragenden in seinem Vortrag stillschweigend macht (Anmerkung: Er hat nirgends seine eigenen Voraussetzungen offengelegt (und dies geschieht auch nicht in dem angegebenen Hintergrundartikel)), dann ist dies ein recht plausibler, schlüssiger Gedankengang.
6) Er brachte dann eine Fülle von Originalzitaten aus Briefen und Büchern berühmter Forscher, die alle mit je eigenen Worten ihre persönliche Position bezüglich der Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Ausdruck brachten; diese mündeten in den einen Tenor, dass sie ‚hinter allem‘ letztlich eine alles übergreifende Ordnung vermuten oder gar direkt von ‚Gott‘ sprechen. Abgerundet wurde der Zitatenstrauss durch eine Episode während einer wissenschaftlichen Konferenz im Vatikan, bei der Stephen Hawking, bekennender Atheist und aus Sicht der Kirche illegal ein zweites Mal verheiratet eine Begegnung mit Papst Paul II. hatte und der Papst Hawking entgegen Hawkings Erwartungen nicht kritisierte (in der Vergangenheit hatte Hawking von einem Papst sogar eine hohe kirchliche Auszeichnung bekommen, die der Papst (Foto war da) ‚kniend‘ überreicht hatte).

EINE FALSCHE ‚HEILE WELT‘?

7) So nett dies alles klingt, es führt letztlich an der Sache vorbei und gaukelt eine ‚heile Welt‘ vor, die so nicht existiert.

KOMMENTAR: HISTORISCHE EINORDNUNG DER WISSENSCHAFT FRAGWÜRDIG

8) In meinem ersten Kommentar in der Vortragsrunde habe ich versucht deutlich zu machen, dass die Fokussierung auf die ‚Grenzen‘ wissenschaftlichen Erkennens — so lehrreich sie in gewissen Details sind — letztlich aber die Sicht auf den tatsächlichen Gang der historischen Entwicklung verstellt. Das, was aus einer vom Vortragenden bewusst gewählten Sicht als ‚Begrenzung‘ des Wissens durch die moderne Wissenschaften erscheint, erweist sich im realen historischen Kontext als gewaltige Befreiung! Vor dem systematischen Betrieb von empirischer Wissenschaft — wobei man Galileo Galilei (1564– 1642) als einen Bezugspunkt für den historischen Beginn setzen kann (natürlich gab es auch vor Galileo andere, die schon empirische Untersuchungen angestellt haben, die Mathematik zur Beschreibung benutzt haben, aber mit seiner Person, seinen Werken und seinem Schicksal verbindet sich die Geschichte der modernen Wissenschaften in besonderer Weise) — gab es ein Sammelsurium von Wissen, stark dominiert von einem philosophischen Denken, das trotz der Klarheit eines Aristoteles (384-322BC) stark in den Fallstricken der natürlichen Denkens verhaftet war und mittels einer sogenannten Meta-Physik alle die Fragen löste, die das übrige Wissen zu dieser Zeit noch nicht lösen konnte. Dies vermittelte zwar den Eindruck von ‚Klarheit‘ und ‚Sicherheit‘, da man ja alles meinte ‚erklären‘ zu können. Der große Nachteil dieses Wissens war, dass es nicht ‚falsch‘ werden konnte. Unter der Flagge der Meta-Physik konnten also auch größte Unsinnigkeit geäußert werden und man konnte sie nicht widerlegen. So schlimm dies in sich schon ist, so schlimm wird dies dann, wenn eine politische oder kirchliche Macht (oder beide zusammen, was geschehen ist), ihre eigenen Wahrheits- und Machtansprüche mit solch einer Denkform, die nicht falsch werden kann, verknüpft. Eine kirchliche Macht formal verknüpft mit einem ‚abgeleiteten‘ Aristoteles konnte jedes ’neue‘ und ‚andersartige‘ Denken im Ansatz unterbinden. Vor diesem Hintergrund war das Aufkommen der empirischen Wissenschaften eine wirkliche Befreiung, eine Revolution und das harte unerbittliche Vorgehen der Kirche gegen die ersten Wissenschaftler (bis hin zum Tod auf dem Scheiterhaufen) belegt, dass die Inhaber der Macht sehr wohl gespürt haben, dass ein empirisch wissenschaftliches Denken trotz seiner eingebauten Grenzen mächtig genug ist, die metaphysischen Kartengebäude der Vergangenheit zum Einsturz zu bringen. Und die weitere Entwicklung zeigt überdeutlich, dass es genau dieses empirische-wissenschaftliche Denken war, das im Laufe der letzten 400 Jahre schrittweise immer mehr unser gesamtes Denken über das Universum, die Erde, das Leben und den Menschen ‚umgegraben‘ hat; wir haben atemberaubende Einblicke erlangt in ein universelles Geschehen und in einen Mikrokosmos, der alles übersteigt, was frühere Zeiten nicht einmal ahnen konnten. Wenn ein Aristoteles heute leben könnte, er wäre sicher besinnungslos vor Glück angesichts all dieser aufregenden Erkenntnisse (und natürlich würde er seine Meta-Physik komplett neu schreiben; er würde es sicher tun, nicht so die vielen philologischen Philosophen, die immer nur neue Ausgaben editieren (so wertvoll dies für sich auch sein mag)).
9) Von all dem hat der Vortragende nichts gesagt! Er hat es tunlichst vermieden, hätte er doch unweigerlich die hochproblematische Rolle der realen Kirche in diesem historischen Prozess zur Sprache bringen müssen, noch mehr, er hätte sich unangenehmen Fragen danach stellen müssen, wie es denn die Kirche heute mit der wissenschaftlichen Erkenntnis hält. Dies war mein zweiter Punkt, den ich im Plenum angemerkt habe.

KOMMENTAR: AUSLASSUNG DER NEUEREN WISSENSCHAFTSENTWICKLUNG; SCHWEIGEN ÜBER WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE IN ANWENDUNG AUF DIE BIBEL

10) In dem zitierten Dokument God, Notion of) werden einige kirchliche Dokumente aufgelistet, die auf die eine oder andere Weise — zumindest in Worten — eine grundlegende Wertschätzung von allgemeinen wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen zum Ausdruck bringen. Allerdings, wie oben schon angemerkt, werden viele neue wissenschaftliche Disziplinen, speziell jene im Umfeld der chemisch-biologischen Evolution, Neurowissenschaften, künstliche Intelligenzforschung, ausgeklammert. Und — dies fällt vielen Nicht-Theologen vermutlich gar nicht auf — die Anwendung wissenschaftlicher Methoden auf die sogenannten ‚Offenbarungsschriften‘ des alten und Neuen Testaments (kurz ‚Bibel‘ von Griechisch ‚biblos‘ = Buch) und die theologische Lehre insgesamt wird nahezu vollständig ausgeblendet. In allen offiziellen kirchlichen Texten spielen die gut 100 Jahre andauernden wissenschaftlichen Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der biblischen Dokumente, ihre historischen Kontexte, ihre literarische Formen, ihre redaktionellen Be- und Überarbeitungen, ihre Übernahme vorgegebener Themen aus dem Umfeld, usw. keine ernsthafte Rolle (Anmerkung: Diese Feststellung bezieht sich wohlgemerkt auf die offiziellen kirchlichen Verlautbarungen. In den meisten theologischen Hochschulen — zumindest im deutschsprachigen Bereich –werden diese Methoden im Rahmen der Wissenschaften von der Bibel (Exegese) sehr wohl gelehrt und angewendet, allerdings, wie man sieht, im offiziell kirchlichen Denken ohne Konsequenzen). Das gleiche zieht sich fort in den theologischen Disziplinen, die zum dogmatischen Denken gehören. Hier wird Wissenschaft und moderne Philosophie — wenn überhaupt — nur sehr selektiv einbezogen. Diese gelebten Realitäten einer Kirche sprechen eine andere Sprache als die schönen Worte der offiziell kirchlichen Verlautbarungen. Würde man die hier in den letzten 100 Jahren gewonnenen Erkenntnisse ernst nehmen, dazu die übrigen neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, dann würde man viele gewohnte kirchliche Positionen ziemlich sicher korrigieren müssen. Während die einen dies als ‚Verlust‘ empfinden mögen, als ‚Bedrohung‘, werden andere daran einen möglichen Weg sehen, die ursprüngliche Sprengkraft eines christlichen Glaubens auch unter veränderten Erkenntnisbedingungen wieder besser denken und dann vielleicht auch besser leben zu können. Auf diesen ganzen Komplex von Wissenschaftsverachtung durch die reale Kirche heute ist der Vortragende mit keinem Wort eingegangen (in dem von ihm angegebenen Text lässt der abschließende Abschnitt über die Sicht der Theologie den Eindruck entstehen, als ob er selbst als Autor diese 100 Jahre umfangreichster wissenschaftlicher Arbeiten zur Bibel auch völlig ausklammert und stattdessen nur klassische metaphysische Muster wiederholt, deren Gültigkeit heute mehr als fragwürdig ist).

KOMMENTAR: SCHLIESSEN DER LÜCKEN MIT UNGEEIGNETEN MITTELN

11) Damit kommen wir zum dritten Themenkreis, dem Schließen der ‚Lücken‘, die das wissenschaftliche Denken angeblich lässt. Nu muss man an dieser Stelle selbstkritisch einräumen, dass die vielen empirisch-wissenschaftlichen Disziplinen bis heute keinen einheitlichen, überall anerkannten ‚meta-wissenchaftlichen‘ Überbau in Form einer allgemein verbreiteten ‚Wissenschaftstheorie‘ oder ‚Philosophy of Science‘ haben; sofern es solche Professuren gibt, sind diese oft vereinzelt, isoliert, eher der Philosophie zugeschlagen und abgetrennt von den Wissenschaften, die dieses Denken eigentlich brauchen. Die ohne Zweifel in jedes wissenschaftliche Erkennen einfließenden philosophischen Anteile sind oft wenig thematisiert oder gar nicht thematisiert. Andererseits ist es aber so, dass de reale Gang der empirischen Wissenschaften beständig begleitet war von allerlei methodologischen Diskussionen. Die große Mannigfaltigkeit der Disziplinen und der hohe Veränderungsgrad machen es allerdings schwierig, hier mit einer Reflexion Schritt zu halten (zumal diese von den Universitäten zum Leidwesen der Wissenschaften kaum honoriert oder unterstützt wird). Aus dieser, sich aus der Sache heraus ergebenden, Schwierigkeit dann abzuleiten, dass es so etwas wie eine Philosophie der realen Wissenschaften nicht geben kann und dass man stattdessen doch lieber Vorlieb nimmt mit den ‚Philosophen der Vergangenheit‘ (die können sich ja nicht mehr wehren), ist verständlich, wenngleich für den Wissenschaftsbetrieb unglücklich. Statt die Kluft zwischen ‚Denken in der Vergangenheit und Denken heute‘ zu schließen, wird diese Kluft dann eher zementiert. Aus dieser unbefriedigenden Situation heraus entstehen dann solche Lösungsvorschläge, die ‚Erkenntnislücken‘ der heutigen Wissenschaften mit den Konzepten der alten klassischen Metaphysik zu ‚überbrücken‘ (zu ‚transzendieren‘), da man ja letztlich (so die stillschweigende Annahme) aus dem vorausgesetzten allgemeinen ‚Logos‘ (ein Begriff aus der griechischen Philosophie, zusätzlich aufgeladen durch die biblischen Schriften, u.a. vom Johannesevangelium her, das im griechischen Text auch vom ‚logos‘ spricht) existentiell und logisch meint allgemeine Zusammenhänge herleiten zu können, um die Erkenntnislücken empirischer Wissenschaften zu schließen.
12) Wie gesagt, die empirischen Wissenschaften bieten leider kein ideales Bild, aber die Einbeziehung von klassischen philosophischen Positionen ohne weitere Begründung ist nicht sehr rational. Da werden mindestens 400 Jahre kritische methodische Reflexionen komplett unterschlagen. Hier nur ein paar Anmerkungen (eine korrekte Darstellung könnte ganze Bücher füllen):

EINWÄNDE GEGEN NAIVE INANSPRUCHNAHME VON ‚LOGOS‘ UND METAPHYSIK
– ERKENNTNISTHEORIE

13) (i) ein Einspruch kommt von der modernen Erkenntnistheorie (etwa ab Descartes, über Hume, Kant, Locke und vielen anderen bis hin zur evolutionären Erkenntnistheorie). Hier hat man erkannt, dass unsere subjektive Erlebnis- und Denkwelt ganz konkrete Voraussetzungen hat, die in der Struktur und der Funktion des Gehirns begründet sind, das wiederum zusammen mit dem umgebenden Körper eine Entwicklung von vielen Millionen Jahren hinter sich hat. Die Art und Weise unseres Denkens ist ein Produkt, und die heutigen Erlebnis- und Denkformen bilden keinen endgültigen Schlusspunkt, sondern repräsentieren eine Übergangsform, die in einigen Zehntausend Jahren (falls die Gentechnik nicht schon früher Änderungen hervorbringt) anders aussehen werden als heute. Beispielsweise sehen wir (durch die Kodierung des Gehirns) beständig ‚Objekte‘, aber in der physikalischen Welt gibt es keine Objekte, nur Eigenschaftsmengen, Energiefelder. Eine klassische Metaphysik konnte unter Voraussetzung des subjektiven Denkens mit Objekten in Form einer ‚Ontologie‘ operieren, eine moderne Philosophie muss erst einmal erklären, wie sie damit klar kommt, dass unser Gehirn subjektiv überall Objekte konstruiert, obwohl es physikalisch eigentlich keine Objekte gibt (und eine moderne Philosophie muss natürlich noch erheblich mehr erklären als dieses).

– SPRACHPHILOSOPHIE

14) (ii) Ein zweiter Einspruch kommt von der Sprachphilosophie. Der Vortragende erwähnte zwar auch den frühen Wittgenstein (1889-1951) als Kronzeugen für die Einsicht in die Grenzen dessen, was man mit Sprache sagen kann, um damit einmal mehr die Grenzen der empirisch-wissenschaftlichen Methode zu thematisieren, er versäumte es dann aber, auch den späten Wittgenstein zu erwähnen, der nachhaltig aufzeigen konnte, wie die Grenzen des Sagbaren alle Sprachspiele durchziehen, auch die Alltagssprache, auch — und nicht zuletzt! — die Sprache der Philosophen. Konnte man in früheren Zeiten als Philosoph einfach einen Satz hinschreiben mit der trügerischen Annahme, das könne wohl jeder verstehen, der verstehen will, kann nach Wittgenstein jeder, der es wissen will, wissen, dass dies eine wenig haltbare Position ist. Nicht nur jeder Satz, sondern sogar jedes einzelne Wort unterliegen dem Problem, dass ein Sprecher A das, was er mit bestimmten Lauten oder Zeichen verbunden wissen will (die Bedeutung), in keinem einzigen Fall als selbstverständlich gegeben bei einem anderen Sprecher B voraussetzen kann. Dies liegt daran, dass die Zuordnung von sprachlichem Ausdruck und das mit dem Ausdruck Gemeintem nicht zwangsweise mit dem Ausdruck selbst verknüpft ist, sondern in jedem einzelnen Fall mühsam gelernt werden muss (was jeder, der mühsam eine neue Sprache lernen will auf Schritt und Tritt erfährt). Mag dies bei Bezugnahme auf empirische Sachverhalte noch einigermaßen gehen, wird es bei nicht-empirischen Sachverhalten zu einem Rate- und Glücksspiel, das umso abenteuerlicher ist, je weniger Bezugspunkte zu etwas anderem, was schon bekannt ist, vorliegen. Wer schon einmal klassische philosophische Texte gelesen hat, der weiß, dass philosophische Texte in der Regel NICHT von empirischen Sachverhalten sprechen, sondern von Erlebnis- und Denkstrukturen, die als solche nicht wie Objekte aufzeigbar sind. Die Vielzahl unterschiedlicher Interpretationen ein und desselben klassischen philosophischen Textes ist von daher kein Zufall sondern resultiert aus dieser schwierigen Bedeutungslage. Klassische philosophische Texte sind ’schön‘, solange man sie nicht ernsthaft analysiert; tut man dies, verliert man sich unweigerlich in immer mehr Aporien.
15) [Anmerkung: Ich selbst war Teilnehmer des folgenden Experimentes an derjenigen deutschen Universität, die als einzige unter den ersten 50 Plätzen internationalen Universitätsrankings vorkommt. Teilnehmer waren zwei bekannte Philosophieprofessoren, zwei habilitierte Assistenten und mindestens drei Doktoranden der Philosophie. Es ging um die Frage, ob man die Einleitung in Kants Kritik der reinen Vernunft so interpretieren könne, dass alle ausnahmslos zustimmen müssten. Das Experiment lief zwei Semester lang. An Methoden war alles erlaubt, was bekannt war und dienlich erschien. Natürlich wurden u.a. auch alle bisher verfügbaren Kommentare berücksichtigt. Nach zwei Semestern gab es nicht einmal ansatzweise eine gemeinsame Sicht der Dinge. Beweisen tut dies im strengen Sinne nichts. Ich fand es damals sehr ernüchternd.]
16) Fasst man die Erkenntnisse der modernen Erkenntnistheorie und die der modernen Sprachphilosophie zusammen, dann erscheint es nicht nachvollziehbar und geradezu gewagt, anzunehmen, man könne die bislang erkannten Grenzen der modernen empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnis durch einen unreflektierten Rekurs auf einen alles übergreifenden ‚Logos‘ einfach so überbrücken. Diese Art von ’naiver‘ (sprich ‚unreflektierter‘) Meta-Physik (und Ontologie) ist vorbei.
17) Bedenkt man die Bedeutungs-Probleme, die die Alltagssprache besitzt, ist die Situation in den empirisch-wissenschaftlichen Disziplinen ja geradezu noch ‚idyllisch‘. Bis zu einem gewissen Grad gibt es hier noch aufzeigbare und kontrollierbare ‚Bedeutung‘, wenn auch nicht vollständig.

VERZICHT AUF ‚LOGOS‘ ODER METAPHYSIK BEDEUTET NICHT GOTTLOSIGKEIT

18) Akzeptiert man die kritischen Argumente, dann folgt daraus NICHT — wie der Vortragende zu unterstellen scheint –, dass sich damit die Frage nach einem letzten ‚Sinn‘ oder gar die Frage nach etwas, das wir ‚Gott‘ nennen, grundsätzlich erledigt hat. Was sich allerdings weitgehend erledigt hat, ist, dass man tiefgreifende Fragen, die sich durch das Fortschreiten der Wissenschaften dem Wahrheitssuchenden öffnen weder durch Rekurs auf eine vor-kritische naive Metaphysik ‚überspielen‘ kann, noch dass man theologische Positionen als Antworten benutzen kann, die sowohl die wissenschaftliche kritische Analyse der religiösen Überlieferungsgeschichte wie auch der sich aus den Wissenschaften ergebenden neuen Erkenntnisse zur Struktur des Menschen, seiner Erkenntnisfähigkeit, seinen Erlebnisstrukturen usw. unberücksichtigt lassen. Das, was der Vortragende in dem zitierten Artikel tut, ist aber genau dies: er benutzt die alte naive Metaphysik, als ob es die letzten 400 Jahre nicht gab, und er benutzt eine theologische Interpretation, die genau jene Wissenschaft, die zuvor als so wichtig gepriesen wird, vollständig ausklammert. Das ist in meinen Augen nicht seriös, das ist nicht rational, das ist unwissenschaftlich, das hilft all den Menschen nicht, die ernsthaft nach Wahrheit suchen und nicht nur eine ‚psychologische Beruhigung‘ mit ‚einlullenden Bildern‘ (obwohl das Erzählen von Märchen sehr wohl der Wahrheitsfindung dienen kann; man muss sie nur richtig erzählen. Viele der Gleichnisse (einfache Form von Märchen?), die der Gestalt Jesus von Nazareth zugeschrieben werden, sind z.B. von dieser Natur: sie machen Punkte im Verhalten von Menschen deutlich, denen man eine gewisse Lebensweisheit nicht absprechen kann (eine Weisheit, die nicht jeder mögen muss)).

DIE GRENZEN DER SPRACHE IMPLIZIEREN NICHT EINE BEGRENZTHEIT DER WELT

19) Der Gesprächskreis im Anschluss an den Vortrag war sehr heterogen. Ich selbst habe aus den vielen Aussagen folgenden Gedanken mitgenommen: Die Grenzen der Sprache (Für die Mathematik aufgezeigt durch Gödel (und auch Turing)), für die allgemeine Sprache durch Wittgenstein) bedeuten nicht das Ende der Erkenntnis, sie machen uns nur deutlich, dass die grundsätzlichen Möglichkeiten des Erkennens für uns Menschen (bisher, unter Voraussetzung des aktuellen Erkenntnisapparates) nicht beliebig sind und dass wir, wenn wir ‚wahre‘ Erkenntnis wollen, jene, die uns aus den Wirrungen des alltäglichen naiven Weltbildes tatsächlich herausführen kann, dass wir dann diese Grenzen beherzigen und berücksichtigen sollten. Dass die scheinbare Begrenzung des wahren Erkennens auf die empirisch-wissenschaftliche Vorgehensweise uns gegenüber dem Vorgehen mit der nur scheinbar alles umfassenden naiven metaphysischen Denkweise in geradezu explosionsartiger Weise in Denkräume hinein katapultiert hat, von denen keiner der alten Philosophen auch nur träumen konnte, dies sollte uns Ermutigung und Anstoß sein, diesen Weg beherzt weiter zu gehen. Darüber hinaus zeigt sich aber ein fundamentaler Tatbestand: explizites, sprachlich vermitteltes Denken kann letztlich nur jener Wirklichkeit folgen, in der wir uns vorfinden und die allem Denken voraus ist. Was wir nicht aufzeigen können, ist letztlich nicht greifbar. Mehr noch, nur im Erfahren des ‚wirklich Anderen‘ — dem Empirisch-widerständigen — erfahren wir uns selbst als das ‚Andere zum anderen‘, als ‚Selbst‘ und das, ‚was‘ wir sind bzw. sein können, wissen wir erst dann, wenn wir selbst in unserem konkreten Dasein uns selbst sichtbar werden. Dies aber bedeutet, nur wenn wir ‚aus uns heraus‘ gehen, nur wenn wir ‚uns aufs Spiel setzen‘, nur wenn wir etwas ‚Probieren‘, nur dann kann sichtbar werden, ‚was‘ bzw. ‚wer‘ wir ‚tatsächlich sind‘. Nur weil das ‚biologische Leben‘ beständig weiter ‚aus sich heraus‘ gewachsen ist, immer mehr ‚Varianten probiert‘ und ‚Komplexitäten geschaffen‘ hat sind Formen des Lebens entstanden, von denen wir ein kleiner Teil sind. Dass das DNA-Molekül und der zugehörige Übersetzungsmechanismus ‚begrenzt‘ ist (verglichen mit den klassischen metaphysischen Konzepten geradezu lächerlich primitiv) war — und ist — kein Hindernis dafür, dass immer komplexere Lebensformen entstanden sind, so komplex, dass unser heutiges Denkvermögen sie nicht vollständig beschreiben kann. Die Grenzen der Sprache sind NICHT die Grenzen des Lebens und der Wahrheit. Die Wahrheit geht jeder Sprache — und erst recht jeder Metaphysik — um Lichtjahre voraus.

JEDER KANN SEIN ‚GOTTESEXPERIMENT‘ MACHEN

20) Sollte es so etwas wie einen ‚Gott‘ geben, so brauchen wir uns mit Sicherheit keine Sorgen darum machen, ob er ‚ist‘, was er ‚tut‘ oder ob wir ihn ‚richtig erkennen‘. Wenn es einen ‚Gott‘ als das letztlich Unbegreiflich alles Umfassende geben sollte, dann kann man davon ausgehen, dass er schon immer handelt (auch ohne uns zu fragen), er ist schon immer bei und in uns, ohne dass wir darum bitten müssen, und er lässt die ‚Wahrheit‘ auch in Lebensformen aufscheinen und sich entwickeln, die wir uns nicht ausgedacht haben und über die wir keine Verfügungsgewalt haben. Mit Sicherheit ist dieser Gott nicht an eine spezielle ethnische Gruppe gebunden, mit Sicherheit interessiert diesen Gott nicht, was wir essen und trinken, mit Sicherheit spielt Jungfrauengeburt und ähnliche Folklore keine Rolle. Für diesen Gott, so es ihn gibt, geht es um wirklich Grundlegendes. Aus meiner beschränkten Wahrnehmung sehe ich nicht, dass irgendeiner der heute lebenden Religionen (Judentum, Christentum, Islam…) wirklich ernsthaft an Gott interessiert ist. Dazu ist viel zu viel Hass unterwegs, zu viel Menschenverachtung, zu viele gruppenspezifische Egoismen, zu viele Herrschaftsstrukturen, die nur denen dienen, die herrschen, zu viel Folklore, zu viel Geldmacherei, zu wenig echtes Wissen.
21) Alles in allem — das habe ich in einem andren Blogeintrag auch schon mal ausgeführt — kann man den Eindruck gewinnen, dass es heute weniger die alten Religionen sind, die uns etwas Interessantes über den Sinn dieser Welt und über Gott zu sagen haben, als vielmehr die modernen Wissenschaften, die trotz ihrer Unvollkommenheiten ein Fenster der Erkenntnis aufgestoßen haben, dass alle Räume sehr weit aufmacht, so weit, dass wir noch gar nicht alles fassen können, was wir da sehen, zugleich werden die Grundrisse einer neuen Spiritualität sichtbar, die zu erkunden und auszuprobieren noch viel zu tun bleibt.
22) Das wäre mein letzter Punkt (zu dem es auch schon frühere Blogeinträge gibt). Wenn das alles stimmt, was uns die empirischen Wissenschaften sagen, dann ist die Annahme einer direkten Kommunikation ‚Gottes‘ — was immer man alles über ihn im Detail noch sagen kann — mit jedem Punkt des Universums — und damit natürlich auch mit jedem Lebewesen, auch mit uns Menschen — grundsätzlich möglich, und zwar jederzeit und überall. Niemand braucht eine vermittelnde Instanz dazu, da wir durch unsere Körper (die ja alle aus Zellen bestehen, diese aus Molekülen, diese aus Atomen, diese aus subatomaren Teilchen) jederzeit mit jedem Punkt im Universum kommunizieren können. Die grundlegenden Regeln der — zumindest christlichen — Mystik sind mit diesem empirischen Befund deckungsgleich. Es macht ja auch keinen Sinn, ‚Gott‘ als alles umfassenden und ermöglichenden Grund allen Seins zu postulieren und ihm dann zu verbieten, sich mit jedem Punkt des Universums verbinden zu können. Von der Quantenphysik her gibt es jedenfalls keine grundlegenden Einwände (was nicht bedeutet, dass wir in der Quantenphysik soweit wären, eine solche Kommunikation vollständig beschreiben zu können). Das gute daran ist, man muss dies nicht ‚glauben‘, sondern man kann es ‚tun‘, d.h. jeder kann sein privates ‚Gottesexperiment‘ machen und mit Gott in Kontakt treten. Man muss dafür kein Geld bezahlen, man braucht dazu keine ‚Genehmigung‘, man muss dazu keinen Universitätsabschluss gemacht haben, man muss dazu keiner bestimmten politischen Partei angehören, man muss dazu kein Millionär sein; das ‚einfache Menschsein‘ genügt. Die einzige Bedingung, man muss es einfach ‚tun‘, womit wir wieder bei dem zentralen Sachverhalt sind: Leben gibt es nur dort, wo es sich ‚ereignet‘, indem man seine Möglichkeiten ausübt…

Eine Übersicht über alle bishergen Blogeinträge nach Titeln gibt es HIER

Variante Nr.2

Fitness – Materie – Geist

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062,

11.März 2010
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

FITNESS

(1) Im Rahmen von GENETISCHEN ALGORITHMEN betrachtet man Mengen (= Populationen, POP) von Individuen (= I), wie diese sich im Laufe der ZEIT relativ zur vorgegebenen UMGEBUNG (E = ENVIRONMENT) ‚bewähren‘.

(2) Das gröbste Raster für ERFOLG bzw. MISSERFOLG ist das Überleben in Form von Nachkommen (- NOT-DELETED) bzw. eben keine Nachkommen (+DELETED). Dasjenige Individuum, das nicht überlebt, kann sein ‚Programm‘ nicht weiter ‚optimieren‘.

(3) Hat ein Individuum Nachkommen (-NOT-DELETED) ist die Skala des Fitnesswertes (FIT), je nach Betrachtung, beliebig fein.

(4) Denn die NACHKOMMEN eines Individuums im Rahmen einer Population können zahlreicher (MORE OFFSPRINGS) sein als die von anderen Individuen, oder sie können an mehr verschiedenen Orten (MORE PLACES) lebensfähig sein, oder sie können sich gegen mehr Feinde länger schützen (MORE PROTECTION), oder sie können sich untereinander besser koordinieren (MORE COORDINATION), usw.

(5) Der genetische Algorithmus selbst kümmert sich NICHT darum, WELCHER Fitnesswert vorliegt, auch nicht WIE dieser zustande kommt. Er nimmt nur an, dass es EINEN GIBT. Von daher ist ein genetischer Algorithmus nur eine Methode, einen vorliegenden Fitnesswert bezüglich vorgegebenen Strukturen so zu VERRECHNEN, dass eine STRUKTUR-ÄNDERUNG entsteht, die das Verhältnis zur Umgebung möglichst ‚positiv‘ beeinflusst. Betrachtet man ein Individuum formal als ein Input-Output-System, was mathematisch einer FUNKTION entspricht, dann ist ein genetischer Algorithmus eine von vielen OPTIMIERUNGSMETHODEN für Funktionen.

(6) Während die theoretischen Disziplinen, die Optimierungsmethoden benutzen, sich in der Regel mit den formalen (= mathematischen)  Eigenschaften der Optimierungsmethoden begnügen, stellt sich natürlich METATHEORETISCH (PHILOSOPHISCH) die Frage, WAS denn genau diese Fitnesswerte sind, die im Falle von biologischen Systemen zu deren Veränderungen im Laufe der Jahrmillionen bzw. Jahrmiliarden (!) beigetragen haben? Diese Frage ist nicht ganz ohne, da es zwar mittlerweile viele mathematische ‚Optimierungstheorien‘ (auch im Gewande von ‚mathematischen LERNTHEORIEN‘) gibt, aber KEINE dieser Theorien stellt sich der Frage nach der ‚Natur‘ der Fitnesswerte. Im einfachen Fall eines konkreten LEHRERS (SUPERVISORS) bzw. von sogenannten TRAININGS-MENGEN reduziert sich die Frage auf das konkrete Verhalten dieses Lehrers bzw. auf die vorliegenden Trainings-ITEMS, doch ist die Frage damit in keiner Weise beantwortet. Den wer sagt uns, was die RICHTIGEN Antworten des Lehrers sind bzw. die RICHTIGEN Trainings-Items?

(7) In konkreten Optimierungs- bzw. Lerntheorien gibt man von daher immer ganz konkrete Szenarien (Umgebungen) so vor, dass die zu optimierenden Verhaltenseigenschaften von vornherein definiert sind. Im Falle biologischer Systeme gibt es keine expliziten LEHRMEISTER DER STRUKTUREN. Entweder ERWEIST sich eine bestimmte vorkommende Struktur als ÜBERLEBENSFÄHIG relativ zu einer VORGEGEBENEN UMGEBUNG oder nicht. In dem Moment, wo der ‚Beweis‘ der Überlebensfähigkeit erbracht wurde wurde die überlebensfähige Struktur durch ihre Nachkommen ERSETZT. Dies bedeutet im WECHSELSPIEL zwischen vorgegebener Umgebung(zu der auch andere Populationen gehören können)  und dem individuellen Verhalten muss die individuelle Struktur es schaffen, sich so fortzupflanzen, dass die NACHKOMMEN (OFFSPRINGS) miteinander eine ähnliche Leistung erbringen können.

(8) Stellt sich die Frage, WO diese Strukturen herkommen, deren aktives Verhalten zu einer erfolgreichen Fortpflanzung führt? Dass es diese Strukturen gibt liegt offensichtlich an der grundlegenden Fähigkeit, die eigene Struktur (evtl. vermischt mit anderen Strukturen) zu VERERBEN. Das Vererben ist in sich ein hochkomplexer Prozess, den technische Systeme bis heute noch nicht beherrschen. Wie auch immer dieser beschaffen ist verlagert die Annahme eines VERERBUNGSMECHANISMUS die Frage nach dem HERKOMMEN der Strukturen aber nur.

(9) Grundsätzlich muss man wohl sagen, dass diese sich vererbenden Strukturen AUS der Umgebung GENOMMEN sind, MIT der sie in WECHSELWIRKUNG treten. Diese Strukturen fallen also nicht völlig ‚aus dem Rahmen‘, sondern sie sind als solche vererbenden Strukturen ‚aus der Umgebung‘ genommen und bleiben letztlich sogar ‚Teil der Umgebung‘, auch wenn man sie in einer abstrahierenden Betrachtung von der Umgebung ‚gedanklich abtrennen‘ kann. Unter anderem gewinnen Sie beständig ‚Energie‘ aus der Umgebung, um das ‚Funktionieren‘ ihrer Strukturen ‚aufrecht
zu erhalten‘.

(10) Die Vielfalt der biologischen Strukturen, die bislang bekannt geworden sind, ist atemberaubend. Alleine heute –wo wir doch allenthalben ein großes rapides Artensterben verzeichnen– schätzen Biologen die Artenvielfalt z.B. im brasilianischen Regenwald ‚unter‘ den Baumkronen auf einige Millionen, ‚in‘ den Baumkronen –dem eigentlichen Lebensraum– vermutet man nach neuesten Untersuchungen aber noch viel mehr verschiedene Arten.

(11) Was immer also an konkreten biologischen Strukturen entstehen kann, es sind Strukturen, die ‚aus dem genommen sind‘, was ‚vorgegeben‘ ist, eben die ‚Erde‘ mit ihren unterschiedlichen Substanzen angereichert mit Substanzen, die im Laufe der Zeit aus dem ‚umgebenden Weltall‘ gekommen ist.

(12) Eine wichtige TEILSTRUKTUR der allgemeinen Struktur von biologischen Systemen sind die NEURONALEN Strukturen, die eine bio-chemische Signalverarbeitung ermöglichen. Damit kann eine biologische Struktur in ihrem ‚INNEREN‘ Erregungszustände erzeugen, die WIRKUNGEN DER UMGEBUNG AUF DEN KÖRPER ‚KODIEREN‘ bzw. es ist auch mögliche, KÖRPER-INTERNE Wirkungen und Vorgänge gleicherweise zu ‚Kodieren‘. Zusätzlich ist es möglich WECHSELWIRKUNGEN zwischen diesen verschiedenen KODIERTEN WIRKUNGEN auch zu kodieren. Generell: KODIERTES kann WIEDER KODIERT werden. Damit sind die Grundlagen für KOGNITION gegeben: Welcher Wirkungen immer  von der Umgebung auf die Struktur des Individuums zu verzeichnen sind, welche Wirkungen immer innerhalb der Struktur des Individuums vorkommen können, mit dieser Technik der KÖRPER-INTERNEN KODIERUNG einschließlich der KODIERUNG DER KODIERUNG machen die biologischen Systeme eine Eigenschaft sichtbar, die sie quasi zu ‚AKTIVEN SPIEGELN‘ der Umgebung macht, aus der sie kommen und deren Teil sie sind.

(13) Eine Folgerung aus dieser Überlegung (neben vielen anderen) ist die, dass die sogenannte MATERIE –was immer das im einzelnen sonst noch sein mag– offensichtlich das Potential besitzt, solche Kodierungsprozesse zu ermöglichen, die wir dann KOGNITION nennen. Inwieweit damit die alten Begriffe von  GEIST (griechisch PSYCHE und NOUS, hebräisch RUACH ) ihre vollständige Deutung gefunden haben, ist schwer zu entscheiden, da diese Begriffe keine klaren Definitionen besitzen. Sicher ist nur, dass die viele tausend Jahre währende Gegenübersetzung von GEIST  und MATERIE für sehr viele Bereich    unserer Welterfahrung vollständig irreführend ist. Alles, was wir bislang wissenschaftlich von ‚Geist‘ wissen erweist sich bislang als eine Eigenschaft der ‚Materie‘, aus der alles kommt. Allerdings ist das dann keine ‚Reduktion‘ von etwas ‚Grösserem‘ auf etwas ‚Kleineres‘, sondern, wir müssen lernen, dass diese ‚Materie‘ (was wissen wir bislang davon überhaupt?) offensichtlich erheblich komplexer ist, als die meisten Menschen sich bislang vorstellen konnten (oder wollten). Im übrigen ist die Idee einer GEIST-MATERIE in keiner Weise neu.

(14) Hier müssten jetzt allerlei Überlegungen zur Ethik, zu Normen etc. anknüpfen.

Grafik für Fitness

Die direkte Fortsetzung dieses Beitrags findet sich HIER.

Selbstbewusstsein – Bewusstseinsinhalte – Schlüssel zur Welt

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062

31.Dezember 2009
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

(1) Wenn wir davon ausgehen, dass das Selbstbewusstsein eine Funktion des Gehirns ist, dann muss mit jedem wahrnehmbaren Aspekt des Selbstbewusstseins ein neuronaler Prozess korrelieren (Üblicherweise spricht man bei Phänomenen des Selbstbewusstseins von ‚mentalen‘, ‚phänomenalen‘, ‚psychischen‘ oder ‚geistigen‘ Phänomenen).

(2) Da die gleiche Funktion von unterschiedlichen Strukturen realisiert werden kann muss die Zuordnung von  ‚geistigen‘ Phänomenen zu korrelierenden neuronalen Strukturen nicht eindeutig sein.

(3) Viele Fakten sprechen dafür, dass die ‚mentalen‘ Phänomene nicht einer einzelnen neuronalen Struktur zugeordnet sind, sondern sehr vielen verschiedenen neuronalen Strukturen gleichzeitig.

(4) Die konkrete aktuelle Zusammensetzung jener neuronalen Substrukturen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit dem  ‚Selbstbewusstsein‘ korrelieren, ist ‚dynamisch‘, d.h. sie verändert sich beständig, abhängig von körperlichen Zuständen und wahrgenommenen Umgebungsmerkmalen.

(5) Neben den veränderlichen physiologischen und sensorisch erfassbaren Umweltzuständen ist das Gehirn grundsätzlich ‚lernfähig‘; dadurch verändert sich das Gehirn beständig und ist zu keinem Zeitpunkt im gleichen Zustand wie vorher.

(6) Bis zum Tod des Trägerorganismus ist das Gehirn ferner dem ‚ontogenetischen‘ Prozess unterworfen; dies impliziert Wachstumsprozesse, die niemals vollständig zum Stillstand kommen.

(7) Die individuelle Ontogenese ist eingebettet in die ‚Phyologenese‘ der betreffenden Art. Diese beinhaltet evolutionäre Elemente, die zur Veränderung des grundlegenden genetischen Bauplans mit beitragen.

(8) Zu keinem Zeitpunkt sind alle neuronalen Substrukturen gleichzeitig im Selbstbewusstsein präsent.

(9) Was Inhalt des Selbstbewusstseins sein kann hängt von seinen verschiedenen ‚Modi‘ ab: ‚Wachzustand‘, ‚Schlafzustand‘, ‚Träumen‘, ‚Meditieren‘, “Ekstase‘, und vieles mehr. Alle diese verschiedenen Bewusstseins-Modi weisen charakteristische reproduzierbare Eigenschaften auf, durch die sie sich unterscheiden lassen.

(10) Abhängig von den verschiedenen Bewusstseinsmodi ändern sich die ‚Bewusstseinsinhalte‘.

(11) Während schon im Wachzustand der ‚Schluss‘ von einem bestimmten ‚Bewusstseinsinhalt‘ auf eine ‚Eigenschaft der umgebenden Welt‘ nicht unproblematisch ist und immer überprüft werden muss, stellt sich die Frage des Zusammenhanges zwischen einem Bewusstseinsinhalt und einer darüber hinausweisenden (transzendenten) Realität jenseits des Bewusstseins im Falle der anderen Bewusstseinsmodi  verschärft. Selbst schon die Frage, welchem Bewusstseinsinhalt welcher körperliche Vorgang korrespondieren kann ist in der Regel nicht leicht zu beantworten.

(12) Die Fähigkeit des Gehirns, zu ‚lernen‘, indem Wahrnehmungsmaterial zu allgemeineren Mustern (Modellen) verarbeitet werden, die zu späteren Zeitpunkten benutzt werden können, um aktuelle Wahrnehmungsmuster zu ‚interpretieren‘, ist einerseits eine große Hilfe, kann aber auch zur ‚Last‘ werden, wenn aktuelle Wahrnehmungsmuster ‚falsch‘ gedeutet werden (dies bezieht sich sowohl auf ‚Deutung‘ der ‚umgebenden‘ Welt wie auch auf Deutungen des ‚Ich‘, d.h. des ‚eigenen Organismus‘).

(13) In den ‚Inhalten‘ des Bewusstseins zusammen mit den ‚Formen des Auftretens‘ reproduzieren sich die grundlegenden ‚Verarbeitungsweisen‘ der zugrunde liegenden neuronalen Strukturen. Diese waren –aus der Innensicht des Bewusstseins– immer wieder Gegenstand erkenntnistheoretischer Analysen im Rahmen der klassischen Philosophie (z.B. Descartes, Locke, Hume, Kant, Berckeley, usw.). Besonders die Überlegungen von Kant in seiner ‚Kritik der reinen Vernunft‘ erscheinen auf der Basis der modernen Hirnforschung und Neuropsychologie in neuem Licht.

(14) Während eine Aufklärung dahingehend, wie welche neuronale Strukturen alle diese komplexen mentale Phänomene erzeugen können sicher mehr als spannend ist (und ganz in den Anfängen steckt), kann diese interessante Problemstellung möglicherweise aber ablenken von der viel fundamentaleren Fragestellung, warum und wieso sich diese komplexen geistigen Strukturen aus den bekannten materiellen Strukturen ‚herausbilden‘ können und was dies wiederum für das Ganze des Kosmos sagt.

(15) Nachdem die modernen Wissenschaften die klassischen Ausdrucks- und Interpretationsformen der religiösen Erlebnis- und Erfahrungsformen der Menschheit einige zeit ‚hinter sich‘ gelassen hatte, scheint es nun so zu sein, dass es gerade die ‚vorderste Front‘ der modernen Wissenschaften ist, die die Fragen nach dem ‚Gesamtzusammenhang‘ des Kosmos mit einem ‚innewohnenden geistigen Prinzip‘ von neuem geradezu aufzwingt: diese mögliche neue ‚Kosmologie‘ nimmt dabei die ‚alte‘ ‚theologia naturalis‘ in sich auf und macht die lang gepflegte Gegenübersetzung von ‚Wissenschaft‘ und ‚Theologie‘ obsolet. Visionen wie die von z.B. Teilhard de Chardin –wenngleich mit Modifikationen– könnten eine nachträgliche Rechtfertigung bekommen.

(16) Das gern gepflegte Stereotyp von der ‚ich-zentrierten westlichen Rationalität‘ gegenüber der ‚ich-freien östlichen Spiritualität‘ würde in diesem Zusammenhang auch als überholt eingeordnet werden innerhalb eines dynamischeren Konzeptes von ‚Bewusstsein‘, ‚Geist‘ und ‚Materie‘ (zumal auch innerhalb der westlichen Mystik (jüdisch, christlich und muslimisch!) die ‚Auflösung‘ des ‚Ich‘ innerhalb einer dynamischen Einheit von ‚Schöpfer und Geschöpf‘ schon immer bekannt war, wenngleich von der institutionalisierten Religion in Form von institutionellen Hierarchien  mehr unterdrückt als gefördert wurde).

(17) Audio-Datei: Hier

Consciousness as part of the brain

Some soundexperiment from the past …

Die direkte Fortsetzung zu diesem Beitrag findet sich HIER.