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SPRACHSPIEL und SPRACHLOGIK – Skizze. Teil 1

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 26.-29.Januar 2021
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

KONTEXT

Im vorausgehenden Beitrag Ingenieure und das Glück wird ab dem Abschnitt KOMMUNALE PLANUNG UND BÜRGER? das Problem der Kommunikation zwischen vielen Menschen angesprochen, speziell in dem Kontext, dass diese Menschen — z.B. Bürger einer Kommune — sich auch gemeinsam ein Bild ihrer möglichen Zukunft bzw. ihrer möglichen Zukünfte machen wollen, ist doch Zukunft grundsätzlich unbekannt und der Versuch einer Klärung, welche Ereignisse in der Zukunft planerisch vorweg genommen werden sollten, kann wichtig bis lebenswichtig sein. In diesem Zusammenhang wird das Konzept einer neuen Software [SW] eingeführt, die Menschen bei diesen Kommunikationen und Planungen unterstützend zur Seite stehen soll. Diese Software hat als eine — von mehreren — Besonderheit die, dass sie ausschließlich mit Alltagssprache funktioniert. Dies soll in diesem Text zum Anlass genommen werden, die menschliche Intelligenz am Beispiel von alltäglichen Sprachspielen und der darin waltenden Sprachlogik anhand von Beispielen etwas näher zu betrachten.

ALLTAG UND SPRACHSPIEL(E)

Nimmt man den Begriff Sprachspiel(e) in den Mund, dann ruft dies im modernen philosophischen Denken unweigerlich die Assoziation mit Ludwig Wittgenstein hervor, der im Zeitraum 1936 bis 1946 in Cambridge, in England, dabei war, ein weit verbreitetes Bild vom Funktionieren der Sprache zu zertrümmern. Seine posthum veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen [1] sind wie Mahlsteine für jegliches naives Sprachdenken. Aufs Ganze können sie geradezu nihilistisch wirken, da sie zwar alles Gewohnte niederreißen, aber keinerlei Anstalten treffen, zu schauen, wie man denn aus diesem Trümmerfeld einer naiven Sprachauffassung wieder herauskommen kann. Dazu muss man wissen, dass Wittgenstein mit seinem Frühwerk, dem tractatus logico-philosophicus von 1921 [2] selbst dazu beigetragen hatte, unter Voraussetzung des Konzepts der modernen formalen Logik, ein extrem naives Bild von Sprache zu zeichnen. Man darf zumindest die Frage stellen, ob Wittgenstein bei seiner Zertrümmerungsaktion eigentlich weniger die Alltagssprache zertrümmert hat, sondern nur dieses sehr einseitige Bild von Sprache, wie es die moderne formale Logik propagiert.Während die moderne sprach-analytische Philosophie sich in vielfacher Weise abgemüht hat, unter dem Einfluss von Wittgenstein die Alltagssprache neu zu sezieren, hat die moderne formale Logik bis heute in keiner aufweisbaren Weise auf die sprach-kritischen Überlegungen Wittgensteins reagiert.

Anstatt hier jetzt die vielen hundert Artikeln und Bücher in der Nachfolge Wittgensteins zu referieren gehen wir hier zurück auf Start und betrachten verschiedene Alltagssituation, so wie Wittgenstein es getan hat, allerdings mit anderen philosophischen Prämissen als er es tat.

Situation 1: Einfache Alltagssituation mit zwei Personen A und B und einem Tisch.

SITUATION … nach von Uexküll

Über eine Alltagssituation als Situation zu sprechen ist nur so lange trivial, als man nicht darüber nachdenkt.

Im Fall des obigen Bildes fängt es schon mit der Frage an, ob man die Situation von außen, von der Position eines externen Beobachters beschreiben will mit der Fiktion, man könne etwas beobachten ohne Teil der Situation zu sein, oder ob wir uns entscheiden, eine der abgebildeten Personen A oder B als unseren Beobachtungspunkt zu wählen. Ich wähle hier für den Start Person B als unseren Beobachter.

Wie wir spätestens seit von Uexkülls Buch Umwelt und Innenwelt der Tiere, veröffentlicht 1909 [3b], wissen, gibt es für ein biologisches System nicht die Umwelt, sondern nur jene spezifische Umwelt, die diesem biologischen System — hier also A oder B — aufgrund seiner Sensorik, seinen inneren Zuständen, und seiner Handlungsmöglichkeiten zugänglich sind. Aufgrund moderner Messgeräte, anspruchsvoller empirischen Theorien und einem vergleichsweise reich ausgestatteten körperlichen Organismus sind wir als homo sapiens in der Lage, die Fiktion einer objektiven Umwelt aufzubauen, die unabhängig von uns besteht und die weit mehr Eigenschaften umfasst, als wir mit unseren angeborenen Sinnesorganen und Nervenleistungen erfassen können.

Von Uexküll untersucht in seinem Buch sehr viele Lebensformen aus dem Bereich der Wirbellosen, die — verglichen mit einem menschlichen Körper — als ‚einfach‘ oder sogar ’sehr einfach‘ klassifiziert werden könnten. Er betont immer wieder, dass solche Kategorien letztlich am Phänomen vorbeigehen. Entscheidend ist nicht, wie quantitativ komplexer ein Organismus A verglichen mit einem Organismus B ist, sondern ob der Bauplan von z.B. Organismus A zu seiner Umwelt passt. Ein Organismus mag noch so einfach sein — er beschreibt viele schöne Beispiele –, wenn der Organismus mit seiner jeweiligen individuellen Ausstattung (Bauplan) in der jeweiligen Umgebung genügend Nahrung finden kann, sich fortpflanzen kann, dann hat er zunächst mal den Hauptzweck eines biologischen Systems erfüllt. In der Sicht von Uexkülls — die einflussreich war und ist — können also 10 verschiedene biologische Systeme die gleiche äußere Umgebung U teilen und jeder dieser Organismen hat eine komplett anderes inneres Bild B(U)=U* in seinem Inneren und reagiert daher in der Regel anders als einer der anderen Organismen. Für Naturforscher ist es daher immer eine ziemliche Herausforderung, zu ermitteln, was denn die spezifische Umwelt B(U)=U* eines bestimmten Organismus ist.

REALE WELT … als Artefakt

Von der Biologie können wir also lernen, dass die sogenannte reale Welt [RW] aus Sicht eines biologischen System zunächst eine konstruierte Fiktion ist, ein Artefakt des Denkens, ermöglicht durch die neuronalen Aktivitäten im Innern eines Organismus und dass die neuronal kodierte Welt nur so viele Eigenschaften umfasst, wie diese neuronale Kodierung ermöglicht. Anders formuliert: die neuronalen Strukturen fungieren als Repräsentanten von jenen korrespondierenden verursachenden Reizquellen, die von außerhalb des Nervensystems zu neuronalen Erregungsleistungen führen. Die spontan unterstellte Welt da draußen existiert also für den Organismus primär als die Menge der Repräsentationen in unserem Innern (Für eine etwas ausführlichere Erläuterung siehe [8]).

SPRACHLICHE ÄUSSERUNG … Ein Signal von ganz innen

Übernehmen wir diese theoretischen Postulate, dann müssen wir annehmen, dass die Person A nicht weiß, welche inneren Zustände die Person B gerade als ‚die Welt da draußen‘ ansieht, und umgekehrt. Insofern es in der angenommenen Situation aber ein Objekt gibt, das aussieht wie ein Objekt, das wir im Deutschen als Tisch bezeichnen würden, und wir annehmen, dass beide Personen als Menschen über einigermaßen ähnliche Wahrnehmungsstrukturen verfügen und hinreichend viel Deutsch gelernt haben, dann könnte es passieren, dass das Tisch-ähnliche Objekt als Reizquelle genügend korrespondierende neuronale Reizenergie im Innern von Person A aufbaut, die dann möglicherweise die die von A gelernte Bedeutungsfunktion für die Deutsche Sprache aktiviert, die dann wiederum den Sprachapparat aktiviert, was zu der sprachlichen Äußerung führen könnte: Da ist ein Tisch.

Situation 2: Person A macht eine Äußerung über einen Teilaspekt von Situation 1.

Unter den angenommenen Bedingungen besteht dann eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Person B aufgrund der Schallwellen, erzeugt von A, einen Schallreiz empfängt, den B aufgrund seiner gelernten Bedeutungsfunktion des Deutschen mit jenen internen neuronalen Repräsentanten assoziiert, die von dem Tischobjekt durch die visuelle Wahrnehmung erfasst und ins Innere geleitet werden. Falls dies so geschehen würde, dann könnte sich die Person B denken, dass die Person A ein externes Objekt wahrnimmt, das seiner aktuellen Wahrnehmung entspricht. Ansonsten wüsste Person B nicht wirklich, was Person A gerade wahrnimmt bzw. wofür sie sich interessiert.

Dies ist eine — zugegeben — stark vereinfachende Darstellung des Sachverhalts, dass interne Strukturen in uns Menschen uns zu bestimmten Formen von Wahrnehmungen und internen Verarbeitungsprozessen befähigen. Eine etwas ausführlichere Darstellung — wenngleich immer noch vereinfachend — findet sich bei Gage und Baars (2018). [4] Die für unseren Zusammenhang wichtige Botschaft ist allerdings, dass auch wir Menschen keine beliebige Umgebung wahrnehmen und keine beliebigen geistigen Prozesse ausführen können, sondern nur solche, die unser Körperbau und unser zentrales Nervensystem zulassen.

THEORETISCHE ANNAHMEN – Vereinfacht …

Das folgende Schaubild deutet die wirksamen Strukturen an, durch die wir sprachlich kommunizieren.

Schaubild zu internen kognitiven Strukturen. Siehe zusätzlich auch [8].

Es gibt die angenommene reale Welt [RW], in der es einen aktuellen Ort gibt, der für die vorkommenden Organismen eine aktuelle Umwelt [U], eine Situation [S] bildet. Ein wahrnehmender Organismus — hier die Personen A und B — zerlegen diese Situation in jene Grundeinheiten, die sie aufgrund ihrer körperlichen Ausstattung wahrnehmen können. Diese Grundeinheiten werden hier Fakten [F] (eine Kombination von Eigenschaften (Qualitäten), die einen Sachverhalt ergeben) genannt. Während die Phase der Wahrnehmung — das Stattfinden von neuronalen Erregungen als Reizenergie in verschiedenen Verarbeitungsstufen — teilweise bewusst (mit Bewusstsein [BEW]) stattfinden kann, sind die neuronalen Prozesse standardmäßig unbewusst [UBW]. (Das genaue Verhältnis zwischen Bewusstem und Unbewusstem ist bis heute nicht klar bestimmbar. Am Beispiel des Gedächtnisses kann man nur ahnen, dass nahezu alles unbewusst ist, und nur bei Vorliegen von Reizen, werden davon unter bestimmten Bedingungen einige Fragmente bewusst).

Es wird heute davon ausgegangen, dass die Menge des verfügbaren Wissens (hier vereinfacht angenommen als die Menge der möglichen Fakten) zumindest im homo sapiens ergänzt wird um eine zeitlich versetzte Sprachstruktur. Eine Sprachstruktur umfasst sowohl Ausdrücke (Expressions) [E] als auch einen Abbildungsmechanismus [Π], hier auch Bedeutungsfunktion genannt. Der Abbildungsmechanismus ordnet den verfügbaren Ausdrücken E einer Sprache L Wissenselemente F zu und umgekehrt. Dabei ist zu beachten, dass Ausdrücke einer Sprache ein Doppelleben führen: als Ereignis — gesprochen oder geschrieben — sind sie erst einmal Objekte der Wahrnehmung wie alle anderen Objekte auch. Als Objekte, die intern im Einflussbereich einer Bedeutungsfunktion verortet sind, stellt die Bedeutungsfunktion eine Beziehung zu anderen neuronalen Strukturen her; im Grenzfall kann sich ein sprachliches Objekt dadurch sogar auf ein anderes Sprachobjekt beziehen, z.B. Deine Äußerung ‚Da ist ein Tisch‘ trifft zu.

Der Aspekt der zeitlichen Versetzung von Sprache gegenüber allgemeinem Erkennen und Wissen (Kognition) wurde von der Entwicklungspsychologie im Laufe der Jahrzehnte herausgefunden, da das Erlernen von Sprache zeitlich verzögert zur übrigen Entwicklung von Wissen auftritt. Dies erklärt sich daraus, dass die sprachlichen Ausdrücke, die auf Wissen Bezug nehmen, erst dann wirken können, wenn es erste innere Wissensbestände gibt.

Wenn also zwei Personen alt genug sind, dass sie sowohl über Wissen als auch über hinreichend viele gelernte Ausdruckselemente zusammen mit einer Bedeutungsfunktion verfügen, dann kann es zu solchen Sprachereignissen kommen wie jenes, dass Person A äußert Da ist ein Tisch.

Natürlich haben die einschlägigen Disziplinen (wie Psychologie, Sprachpsychologie, Gedächtnispsychologie, Entwicklungspsychologie, Neurolinguistik, Neuropsychologie, usw.) ungeheuer viel mehr Details zu diesem Thema gefunden. Für das grundlegende Verständnis der neuen Software können diese vereinfachenden Annahmen aber vielleicht ausreichen.

SPRACHLICHE FAKTEN

Bevor zum nächsten Aspekt der Veränderung weiter gegangen wird, wird hier noch eine Zwischenreflexion zur besonderen Rolle von Fakten, die sprachliche Ausdrücke sind, eingefügt.

Wenn in Situation 2 Person A die Äußerung Da ist ein Tisch macht, dann hat diese Äußerung einen doppelten Charakter (wie oben schon mal festgestellt): (i) als Äußerung ist sie ein reales Ereignis in der Situation und ist damit ein normales Faktum, so wie der Tisch oder die beiden Personen A und B. (ii) Das Faktum der Äußerung ist aber zugleich auch ein Ausdruck einer Sprache L, die — laut Annahme — A und B beide kennen. D.h. sowohl A und B können aufgrund ihrer erworbenen (= gelernten) Bedeutungsfunktion dieser Sprache L das Faktum der Äußerung mit neuronalen Repräsentationen in ihrem jeweiligen Inneren, als Teil ihres individuellen Weltbildes UA* und UB*, verknüpfen, so dass das Faktum der Äußerung für sie eine Bedeutung bekommt, die sich in diesem Fall auf etwas in der aktuellen Situation bezieht, nämlich auf das Objekt, das beide als Tisch zu bezeichnen gelernt haben.

Ein sprachliches Objekt wie die Äußerung Da ist ein Tisch ist als ein reales Ereignis, ein Faktum, das als solches ’neu‘ ist und als Faktum die bisherige Situation 1 zur neuen Situation 2 ‚verändert‘ — zu Veränderung siehe den nachfolgenden Abschnitt –. Zugleich nimmt die Äußerung Da ist ein Tisch Bezug auf Teilaspekte der aktuellen Situation. Dadurch kann B — falls seine individuelle Welt UB* hinreichend weit mit der individuellen Welt von UA* übereinstimmt — diese Äußerung als eine Botschaft aus dem Innern von A auffassen, die anklingen lässt, was Person A aktuell beschäftigt, und dass Person A etwas wahrnimmt, was er B auch wahrnimmt. Dabei ist zu beachten, dass eine Person keinerlei Zwang hat, alles in Sprache zu fassen, was sie wahrnimmt oder denkt. Innerhalb von konkreten Situationen werden normalerweise nur jene Aspekte (Fakten) der Situation sprachlich thematisiert, die besonders hervorgehoben werden sollen, weil ja ansonsten angenommen wird, dass die konkrete Situation allen Beteiligten gleicherweise zugänglich ist.

Da gesprochene Äußerungen die Eigenschaft haben, nur für die Zeitdauer des Sprechens real in der gemeinsam geteilten realen Situation vorzukommen, und dann nur — vielleicht — als gespeicherte Erinnerung in den Personen, die die gesprochene Äußerung gehört haben, ist die zeitliche Erstreckung von Situation 2 sehr kurz. Sobald der Schall verklungen ist, gibt es wieder nur eine Situation 3, die äußerlich wie Situation 1 aussieht, die aber dennoch anders ist: diese Situation 3 ist eine Folgesituation von Situation 2. Neben diesem zeitlichen Aspekt können sich aber auch die inneren Zustände der beteiligten Personen verändert haben und ’normalerweise‘ haben sie sich verändert.

Situation 3: Nach der Äußerung des gesprochenen Ausdrucks ‚Da ist ein Tisch‘. Äußerlich ähnelt diese Situation 3 der Situation 1, aber sie ist zeitlich später und kann Änderungen in den inneren Zuständen der Beteiligten beinhalten.

Diese inneren Veränderungen können sich z.B. dadurch manifestieren, dass die Person B antworten könnte: Ja, Du hast Recht. Ein Konflikt könnte entstehen, wenn Person B stattdessen sagen würde: Nein, ich sehe keinen Tisch.

Dank der Erfindung von Schrift [7] könnte z.B. Person B sich auch schriftlich notieren, was Person A gesagt hat. Dann gäbe es eine schriftliche Aufzeichnung, die auch dann noch als reales Faktum existieren würde, wenn das Ereignis des Sprechens bzw. dann auch des Schreibens zeitlich vorbei ist. Würden wir die Abkürzungen Fwritten (geschriebenes Faktum) einführen für eine geschriebene Äußerung und Fspoken (gesprochenes Faktum) für eine gesprochene Äußerung, dann könnten wir notieren Fspoken(Da ist ein Tisch) und Fwritten(Da ist ein Tisch). Im gesprochenen Fall dauert das Ereignis nur kurz, im geschriebenen Fall dauert es so lange an, wie das Geschriebene erhalten bleibt.

Hier deutet sich eine weitere Besonderheit sprachlicher Fakten an: (i) gesprochene Fakten Fspoken dauern zwar kurz, aber der Sachverhalt, auf den sie sich aktuell beziehen, kann mit dem Moment des Sprechens korrespondieren. Ein typischer Fall, wo wir sagen könnten: Du hast Recht oder Das stimmt nicht. (ii) Geschriebene Fakten Fwritten können sehr lange andauern, aber das, worauf sie sich beziehen, kann sich zwischenzeitlich geändert haben. Obwohl man ‚zu Beginn‘ der schriftlichen Fixierung vielleicht sagen konnte Das stimmt, wird man irgendwann später vielleicht sagen müssen Das stimmt nicht, etwa wenn es um 12:00 regnet und um 12:15 nicht mehr.

VERÄNDERUNG

Für den weiteren Vorgang nehmen wir an,dass Person A zu Beginn unserer Betrachtungen tatsächlich eine erste schriftliche Fixierung zur Situation 1 vorgenommen hat, die als Faktum Teil der Situation ist und sich auch in einer entsprechenden Beschreibung der Situation manifestiert.

Situation 1*: Wie Situation 1, nur ergänzt um eine schriftliche Aufzeichnung.

Eine Grunderfahrung von uns Menschen ist, dass sich etwas ändern kann. Dies erscheint uns so selbstverständlich, so natürlich, dass wir darüber normalerweise gar nicht nachdenken. Mit den Worten von v.Uexküll im Ohr, kann man sich aber leicht vorstellen, dass es Organismen gibt, deren neuronalen Repräsentationen zwar aktuelle Reize zur Wirkung bringen können (ist das schon Bewusstsein?), die aber nicht in der Lage sind, aktuelle Reize so speichern zu können, dass sie diese bei Bedarf wieder aktivieren und mit anderen gespeicherten oder aktuell wahrgenommenen Reizenergien irgendwie vergleichen können. Für Organismen, die über keine Speicherung (Gedächtnis!) verfügen, gibt es keine Vergangenheit. Anders gesagt, der homo sapiens — wir — verfügt über ausgeklügelte Mechanismen der Speicherung von wahrgenommenen Reizen und zusätzlich über ausgeklügelten neuronalen Prozessen und Strukturen, um diese gespeicherten Reize anzuordnen, in Beziehung zu setzen, zu abstrahieren, zu bündeln und vieles mehr.

Die funktionellen Wirkungen dieser neuronalen Mechanismen werden in der Psychologie, speziell der Gedächtnispsychologie, untersucht und dargestellt. Als Begründer der modernen Gedächtnispsychologie gilt Hermann Ebbinghaus (1850 – 1909), der in jahrelangen Selbstversuchen grundlegende Erkenntnisse über das beobachtbare Funktionieren jener neuronalen Strukturen gewann [5], [5b], die in seinem Gefolge dann von zahllosen Forschern*innen immer weiter verfeinert wurden, und die heute zusätzlich durch neurolinguistische Untersuchungen ergänzt werden.

In diesem Zusammenhang ist die Tatsache wichtig, dass die neuronalen Strukturen des homo sapiens — also unsere — die Reizenergien aus den verschiedenen Sensoren in reizspezifischen Puffern (Buffer) zwischenspeichern, so dass die aktuelle Inhalte der Puffer für einen bestimmten Zeitraum — zwischen 50 bis vielen hundert Millisekunden — bestehen bleiben, um dann mit neuen Reizenergien überschrieben zu werden. Einige dieser Reizenergien aus einem Puffer werden vorher — weitgehend unbewusst — vom Gehirn auf unterschiedliche Weise mit dem bisher gespeicherten Material auf unterschiedliche Weise ‚verarbeitet‘. Eine sehr anschauliche Darstellung dieser Sachverhalte — wenngleich nicht mit den aller neuesten Daten — findet sich in dem Buch von Card, Moran und Newell (1983), die grundlegende Untersuchungen im Bereich Mensch-Maschine Interaktion angestellt und dabei u.a. diese Sachverhalte untersucht haben.[6]( Für neuere Modelle siehe auch [4])

Die entscheidende Erkenntnis aus diesem Komplex der Pufferung von Reizenergie mit partieller anschließender Speicherung besteht darin, dass unser Nervensystem die wahrnehmbare Wirklichkeit — unsere spezielle Umwelt B(U)=U* — letztlich in Zeitscheiben zerlegt, und aus diesen Zeitscheiben Grundeigenschaften (Qualitäten) extrahiert, die in unterschiedlichen Kombinationen dann unsere Fakten über die Umwelt bilden, einschließlich der Differenzierung in Gegenwart und Vergangenheit.

Betrachtet man das Bild von Situation 1 und das Bild von Situation 2, dann werden wir als Betrachter beider Bilder sofort spontan sagen, dass zwischen beiden Situationen eine Veränderung festgestellt werden kann: In Bild zwei gibt es das neue Symbol für eine Äußerung ‚Da ist ein Tisch‘. Die Person B im Bild wird — angenommen sie sei ein ‚normaler‚ Mensch — ebenfalls eine Veränderung wahrnehmen, da sie aktuell, gegenwärtig, jetzt etwas hört, was sie zuvor nicht gehört hat, d.h. in ihrem Gedächtnis der vorausgehenden Zeit (wie lange vorausgehend?) kann sie sich nicht an eine vergleichbare Äußerung ‚erinnern‘. Wäre die Person B schwerhörig oder gar taub, würde sich für Person B aber dennoch nichts ändern, da diesem Fall die persönliche Umwelt BB(U)=UB* von Person B grundsätzlich keine Schallereignisse enthält.

Nimmt man die Bilder von Situation 1 und 2 als Darstellungen der realen Situation S, wie sie von dem jeweiligen Organismus — hier A oder B — als S* wahrgenommen werden, also z.B. BB(S)=SB*, dann könnte die Menge der Ausdrücke der deutschen Sprache zu Situation 1, die eine Beschreibung der Situation 1 darstellen, vielleicht so aussehen (umgesetzt in Situation 1*):

Beschreibung zu S1*:

{Es gibt eine Person A., Es gibt eine Person B.}

Person A empfindet diese Beschreibung als unvollständig und ergänzt die Beschreibung durch die Äußerung: ‚Da ist ein Tisch‘.

Dies ist eine Veränderung in der Beschreibung (!), die aber mit der Situation 1* korrespondiert.

Situation 2*: Neben der schriftlichen Aufzeichnung gibt es jetzt auch eine gesprochene Äußerung.

Wir erhalten:

Beschreibung zu 2*:

{Fwritten(Es gibt eine Person A.), Fwritten(Es gibt eine Person B.) , Fspoken(Da ist ein Tisch.)}

Eine Veränderung drückt sich also dadurch aus, dass man den vorhandenen Ausdrücken einen neuen Ausdruck hinzufügt. Während im Bild Situation 2* die reale Situation sich nicht geändert hat, nur die Intention des Sprechers, mehr zu sagen als bislang, kann sich die Situation 2* ja auch real durch ein neues Ereignis zu Situation 3 ändern, was Sprecher B zu einer neuen Aussage veranlasst.

Situation 3: Ein neues Ereignis führt zur Veränderung der Situation 2*.

Damit ändert sich auch die Beschreibung der Situation 2* zu der Äusserungsmenge:

Beschreibung zu 3:

{Es gibt eine Person A., Es gibt eine Person B. , Unsere Katze ist da.}

Katzen haben die Angewohnheit, dass sie genauso plötzlich auch wieder verschwinden, wie sie gekommen sind.

Situation 4: Die Katze ist wieder weg

Während die Frage der Vollständigkeit einer Beschreibung zu einer realen wahrgenommenen Situation in das Belieben der beteiligten Personen gestellt ist — man kann, man muss aber nicht notwendigerweise etwas sagen –, soll für die Korrektheit einer Beschreibung gelten, dass nichts gesagt werden soll, was nicht auch in der Situation zutrifft. Wenn also die Katze plötzlich wieder verschwunden ist, dann sollte die Beschreibung der Situation S4 entsprechend angepasst werden. Dies bedeutet: Veränderungen können je nach Gegebenheiten entweder (i) durch Hinzufügung einer Aussage angezeigt werden oder (ii) durch Entfernen einer Aussage. Dies führt zu dem Ergebnis:

Beschreibung von S4:

{Es gibt eine Person A., Es gibt eine Person B. }

VERÄNDERUNGSREGELN

Wenn man eine Beschreibung einer aktuellen Situation S vorliegt, dann kann man eine gewünschte oder eine stattgefundenen Veränderung durch folgende Veränderungsregel beschreiben:

Bedingung —> +Eplus -Eminus

  • Die Bedingung beinhaltet eine Menge von Ausdrücken, die in S vorkommen müssen
  • Eplus umfasst Ausdrücke, die zu S hinzugefügt werden sollen
  • Eminus umfasst Ausdrücke, die von S entfernt werden sollen

Beispiele:

(1) {Es gibt eine Person A.} —> {Da ist ein Tisch}, {}

Wenn die Bedingung ‚Es gibt eine Person A.‘ in einer aktuellen Situation S zutrifft, dann soll für die Nachfolgesituation S‘ die Äußerung ‚Da ist ein Tisch‘ hinzugefügt werden. Zum Entfernen wird nichts gesagt.

(2) {Es gibt eine Person A., Es gibt eine Person B.} —> {Unsere Katze ist da.}{}

Wenn die Bedingung ‚Es gibt eine Person A. Es gibt eine Person B.‘ in einer aktuellen Situation S zutrifft, dann soll für die Nachfolgesituation S‘ die Äußerung ‚Unsere Katze ist da‘ hinzugefügt werden. Zum Entfernen wird nichts gesagt.

(3) {Unsere Katze ist da.} —> {}{Unsere Katze ist da.}

Wenn die Bedingung ‚Unsere Katze ist da.‘ in einer aktuellen Situation S zutrifft, dann soll für die Nachfolgesituation S‘ die Äußerung ‚Unsere Katze ist da.‘ entfernt werden. Zum Hinzufügen wird nichts gesagt.

FORTSETZUNG

Im zweiten Teil wird ein konkretes Beispiel mit der Software gezeigt.

QUELLENANGABEN

[1] Ludwig Wittgenstein (1989 – 1951),Entstanden in den Jahren 1936 bis 1946, veröffentlicht 1953, zwei Jahre nach dem Tod des Autors: Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition. Herausgegeben von Joachim Schulte. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Frankfurt 2001

[2] Ludwig Wittgenstein (1989 – 1951), 1918 fertig, 1921 erste Veröffentlichung, 1992 offizielle kritische Ausgabe: Logisch-philosophische Abhandlung. (Tractatus Logico-Philosophicus), bei Kegan Paul, Trench, Trubner & Co. in London in der Reihe International Library of Psychology, Philosophy and Scientific Method

[3] Jakob Johann Baron von Uexküll (1864 – 1944) : https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Johann_von_Uexk%C3%BCll (zuletzt: 11.1.2021)

[3b] Jakob von Uexküll, 1909, Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin: J. Springer. (Download: https://ia802708.us.archive.org/13/items/umweltundinnenwe00uexk/umweltundinnenwe00uexk.pdf )(Zuletzt: 26.Jan 2021)

[4] Gage, Nicole M. und Baars, Bernard J., 2018, Fundamentals of Cognitive Neuroscience: A Beginner’s Guide, 2.Aufl., Academic Press – Elsevier, London – Oxford – San Diego – Cambridge (MA), ISBN = {ISBN-10: 0128038136, ISBN-13: 978-0128038130}

[5] Hermann Ebbinghaus (1850 – 1909): Er gilt als Pionier der kognitiv-psychologischen Forschung. Ebbinghaus begründete die experimentelle Gedächtnisforschung mit seinen Arbeiten zur Lern- und Vergessenskurve und bereitete den Weg für die empirische Lehr-, Lern- und Bildungsforschung: https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Ebbinghaus (zuletzt: 27.Jan 2021)

[5b] Hermann ‚Ebbinghaus (1885), Über das Gedächtnis. Leipzig: https://www.deutschestextarchiv.de/book/show/ebbinghaus_gedaechtnis_1885

[6] Stuart K.Card, Thomas P.Moran, Allen Newell [1983], The Psychology of Human-Computer Interaction, Lawrence ERlbaum Associates, Inc.; Mahwah, New Jersey

[7] Zur Entstehung der Schrift, ein erster Ansatz: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Schrift (zuletzt: 28.Jan 2021)

[8] Gerd Doeben-Henisch, (1.Febr.2021), REAL-VIRTUELL. Ein Einschub, https://www.cognitiveagent.org/2021/02/01/real-virtuell-ein-einschub/

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

WAS IST DER MENSCH?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

AKTUALISIERUNGEN: Letzte Aktualisierung 21.7.2020 (Korrekturen; neue Links)

KONTEXT

In den vielen vorausgehenden Beiträgen in diesem Blog wurde die Frage nach dem Menschen, was das angemessene Bild vom Menschen sein könnte, schon oft gestellt. Möglicherweise wird diese Frage auch in der Zukunft sich immer wieder neu stellen, weil wir immer wieder auf neue Aspekte unseres Menschseins stoßen. Ich bin diese Tage auf einen Zusammenhang gestoßen, der mir persönlich in dieser Konkretheit neu ist (was nicht ausschließt, dass andere dies schon ganz lange so sehen). Hier einige weitere Gedanken dazu.

DER MENSCH IN FRAGMENTEN

In der evolutionsbiologischen Perspektive taucht der homo sapiens — also wir — sehr, sehr spät auf. Vom Jahr 2020 aus betrachtet, bilden wir den aktuellen Endpunkt der bisherigen Entwicklung wohl wissend, dass es nur ein Durchgangspunkt ist in einem Prozess, dessen Logik und mögliche Zielrichtung wir bislang nur bedingt verstehen.

Während man bei der Betrachtung der letzten Jahrtausende Menschheitsgeschichte bisweilen den Eindruck haben könnte, dass die Menschen sich als Menschen als etwas irgendwie Besonderes angesehen haben (was die Menschen aber nicht davon abgehalten hat, sich gegenseitig zu bekämpfen, sich zu bekriegen, sich regelrecht abzuschlachten), könnte man bei der Betrachtung der letzten 100 Jahre den Eindruck gewinnen, als ob die Wissenschaft die Besonderheit des Menschen — so es sie überhaupt gab — weitgehend aufgelöst hat: einmal durch die Einbettung in das größere Ganze der Evolution, dann durch einen vertieften Blick in die Details der Anatomie, des Gehirns, der Organe, der Mikro- und Zellbiologie, der Genetik, und schließlich heute durch das Aufkommen digitaler Technologien, der Computer, der sogenannten künstlichen Intelligenz (KI); dies alles lässt den Menschen auf den ersten Blick nicht mehr als etwas Besonders erscheinen.

Diese fortschreitende Fragmentierung des Menschen, des homo sapiens, findet aber nicht nur speziell beim Menschen statt. Die ganze Betrachtungsweise der Erde, des Universums, der realen Welt, ist stark durch die empirischen Wissenschaften der Gegenwart geprägt. In diesen empirischen Wissenschaften gibt es — schon von ihrem methodischen Ansatz her — keine Geheimnisse. Wenn ich nach vereinbarten Messmethoden Daten sammle, diese in ein — idealerweise — mathematisches Modell einbaue, um Zusammenhänge sichtbar zu machen, dann kann ich möglicherweise Ausschnitte der realen Welt als abgeschlossene Systeme beschreiben, bei denen der beschreibende Wissenschaftler außen vor bleibt. Diese partiellen Modelle bleiben notgedrungen Fragmente. Selbst die Physik, die für sich in Anspruch nimmt, das Ganze des Universums zu betrachten, fragmentiert die reale Welt, da sich die Wissenschaftler selbst, auch nicht die Besonderheiten biologischen Lebens generell, in die Analyse einbeziehen. Bislang interessiert das die meisten wenig. Je nach Betrachtungsweise kann dies aber ein fataler Fehler sein.

DER BEOBACHTER ALS BLINDE FLECK

Die Ausklammerung des Beobachters aus der Beschreibung des Beobachtungsgegenstands ist in den empirischen Wissenschaften Standard, da ja das Messverfahren idealerweise invariant sein soll bezüglich demjenigen, der misst. Bei Beobachtungen, in denen der Beobachter selbst das Messinstrument ist, geht dies natürlich nicht, da die Eigenschaften des Beobachters in den Messprozess eingehen (z.B. überall dort, wo wir Menschen unser eigenes Verhalten verstehen wollen, unser Fühlen und Denken, unser Verstehen, unser Entscheiden, usw.). Während es lange Zeit eine strenge Trennung gab zwischen echten (= harten) Wissenschaften, die strikt mit dem empirischen Messideal arbeiten, und jenen quasi (=weichen) Wissenschaften, bei denen irgendwie der Beobachter selbst Teil des Messprozesses ist und demzufolge das Messen mehr oder weniger intransparent erscheint, können wir in den letzten Jahrzehnten den Trend beobachten, dass die harten empirischen Messmethoden immer mehr ausgedehnt werden auch auf Untersuchungen des Verhaltens von Menschen, allerdings nur als Einbahnstraße: man macht Menschen zwar zu Beobachtungsgegenständen partieller empirischer Methoden, die untersuchenden Wissenschaftler bleiben aber weiterhin außen vor. Dieses Vorgehen ist per se nicht schlecht, liefert es doch partiell neue, interessante Einsichten. Aber es ist gefährlich in dem Moment, wo man von diesem — immer noch radikal fragmentiertem — Vorgehen auf das Ganze extrapoliert. Es entstehen dann beispielsweise Bücher mit vielen hundert Seiten zu einzelnen Aspekten der Zelle, der Organe, des Gehirns, aber diese Bücher versammeln nur Details, Fragmente, eine irgendwie geartete Zusammenschau bleibt aus.

Für diese anhaltende Fragmentierung gibt es sicher mehr als einen Grund. Einer liegt aber an der Wurzel des Theoriebegriffs, der Theoriebildung selbst. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Anschauung entstehen Theorien, Modelle, also jene begrifflichen Gebilde, mit denen wir einzelne Daten deuten, nicht aus einem Automatismus, sondern sie beruhen auf gedanklichen Entscheidungen in den Köpfen der Wissenschaftler selbst: grundsätzlich gibt es immer mehr als eine Option, wie ich etwas angehen will. Jede Option verlangt also eine Entscheidung, eine Wahl aus einem großen Bereich von Möglichkeiten. Die Generierung einer Theorie ist von daher immer ein komplexer Prozess. Interessanterweise gibt es in kaum einer der heutigen empirischen Disziplinen das Thema Wie generieren wir eine Theorie? als eigene Themenstellung. Obwohl hier viele Grundentscheidungen fallen, obwohl hier viel Komplexität rational aufgehellt werden müsste, betreiben die sogenannten harten Wissenschaften hier ein weitgehend irrationales Geschäft. Das Harte an den empirischen Wissenschaften gründet sich in diesem Sinne nicht einmal in einer weichen Reflexion; es gibt schlicht gar keine offizielle Reflexion. Die empirischen Wissenschaften sind in dieser Hinsicht fundamental irrational. Dass sie trotz ihrer fundamentalen Irrationalität interessante Detailergebnisse liefern kann diesen fundamentalen Fehler in der Wurzel nur bedingt ausgleichen. Die interessante Frage ist doch, was könnten die empirischen Wissenschaften noch viel mehr leisten, wenn sie ihre grundlegende Irrationalität an der Wurzel der Theoriebildung schrittweise mit Rationalität auffüllen würden?

HOMO SAPIENS – DER TRANSFORMER

(Ein kleiner Versuch, zu zeigen, was man sehen kann, wenn man die Grenzen der Disziplinen versuchsweise (und skizzenhaft) überschreitet)

Trotz ihrer Irrationalität an der Wurzel hat die Evolutionsbiologie viele interessante Tatbestände zum homo sapiens sichtbar gemacht, und andere Wissenschaften wie z.B. Psychologie, Sprachwissenschaften, und Gehirnwissenschaft haben weitere Details beigesteuert, die quasi ‚auf der Straße‘ herumliegen; jeder produziert für sich fleißig partielle Modelle, aber niemand ist zuständig dafür, diese zusammen zu bauen, sie versuchsweise zu integrieren, mutig und kreativ eine Synthese zu versuchen, die vielleicht neue Aspekte liefern kann, mittels deren wir viele andere Details auch neu deuten könnten. Was Not tut ist eine Wissenschaft der Wissenschaften, nicht als Privatvergnügen eines einzelnen Forschers, sondern als verpflichtender Standard für alle. In einer Wissenschaft der Wissenschaften wäre der Beobachter, der Forscher, die Forschergruppe, selbst Teil des Untersuchungsgegenstandes und damit in der zugehörigen Meta-Theorie aufzuhellen.

Anmerkung: Im Rahmen der Theorie des Engineering gibt es solche Ansätze schon länger, da das Scheitern eines Engineeringprozesses ziemlich direkt auf die Ingenieure zurück schlägt; von daher sind sie äußerst interessiert daran, auf welche Weise der Faktor Mensch — also auch sie selbst — zum Scheitern beigetragen hat. Hier könnte die Wissenschaft eine Menge von den Ingenieuren lernen.

Neben den vielen Eigenschaften, die man am homo sapiens entdecken kann, erscheinen mir drei von herausragender Bedeutung zu sein, was sich allerdings erst so richtig zeigt, wenn man sie im Zusammenspiel betrachtet.

Faktor 1: Dass ein homo sapiens einen Körper [B, body] mit eingebautem Gehirn [b, brain] hat, unterscheidet ihn nicht unbedingt von anderen Lebensformen, da es viele Lebensformen im Format Körper mit eingebautem Gehirn gibt. Dennoch ist schon mal festzuhalten, dass der Gehirn-Körper [b_B] eines homo sapiens einen Teil der Eigenschaften seiner Realwelt-Umgebung [RW] — und der eigene Körper gehört aus Sicht des Gehirns auch zu dieser Realwelt-Umgebung — ausnahmslos in neuronale Zustände [NN] im Gehirn verwandelt/ transformiert/ konvertiert und diese neuronale Zustände auf vielfältige Weise Prozesshaft bearbeitet (Wahrnehmen, Speichern, Erinnern, Abstrahieren, Assoziieren, bewerten, …). In dieser Hinsicht kann man den Gehirn-Körper als eine Abbildung, eine Funktion verstehen, die u.a. dieses leistet: b_B : RW —–> RW_NN. Will man berücksichtigen, dass diese Abbildung durch aktuell verfügbare Erfahrungen aus der Vergangenheit modifiziert werden kann, dann könnte man schreiben: b_B : RW x RW_NN —–> RW_NN. Dies trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass wir das, was wir aktuell neu erleben, automatisch mit schon vorhandenen Erfahrungen abgleichen und automatisch interpretieren und bewerten.

Faktor 2: Allein schon dieser Transformationsprozess ist hochinteressant, und er funktioniert bis zu einem gewissen Grad auch ganz ohne Sprache (was alle Kinder demonstrieren, wenn sie sich in der Welt bewegen, bevor sie sprechen können). Ein homo sapiens ohne Sprache ist aber letztlich nicht überlebensfähig. Zum Überleben braucht ein homo sapiens das Zusammenwirken mit anderen; dies verlangt ein Minimum an Kommunikation, an sprachlicher Kommunikation, und dies verlangt die Verfügbarkeit einer Sprache [L].

Wir wir heute wissen, ist die konkrete Form einer Sprache nicht angeboren, wohl aber die Fähigkeit, eine auszubilden. Davon zeugen die vielen tausend Sprachen, die auf dieser Erde gesprochen werden und das Phänomen, dass alle Kinder irgendwann anfangen, Sprachen zu lernen, aus sich heraus.

Was viele als unangenehm empfinden, das ist, wenn man als einzelner als Fremder, als Tourist in eine Situation gerät, wo alle Menschen um einen herum eine Sprache sprechen, die man selbst nicht versteht. Dem Laut der Worte oder dem Schriftzug eines Textes kann man nicht direkt entnehmen, was sie bedeuten. Dies liegt daran, dass die sogenannten natürlichen Sprachen (oft auch Alltagssprachen genannt), ihre Bedeutungszuweisungen im Gehirn bekommen, im Bereich der neuronalen Korrelate der realen Welt RW_NN. Dies ist auch der Grund, warum Kinder nicht von Geburt an eine Sprache lernen können: erst wenn sie minimale Strukturen in ihren neuronalen Korrelaten der Außenwelt ausbilden konnten, können die Ausdrücke der Sprache ihrer Umgebung solchen Strukturen zugeordnet werden. Und so beginnt dann ein paralleler Prozess der Ausdifferenzierung der nicht-sprachlichen Strukturen, die auf unterschiedliche Weise mit den sprachlichen Strukturen verknüpft werden. Vereinfachend kann man sagen, dass die Bedeutungsfunktion [M] eine Abbildung herstellt zwischen diesen beiden Bereichen: M : L <–?–> RW_NN, wobei die sprachlichen Ausdrücke letztlich ja auch Teil der neuronalen Korrelate der Außenwelt RW_NN sind, also eher M: RW_NN_L <–?–>RW_NN.

Während die grundsätzliche Fähigkeit zur Ausbildung einer bedeutungshaltigen Sprache [L_M] (L :_ Ausrucksseite, M := Bedeutungsanteil) nach heutigem Kenntnisstand angeboren zu sein scheint, muss die Bedeutungsrelation M individuell in einem langen, oft mühsamen Prozess, erlernt werden. Und das Erlernen der einen Sprache L_M hilft kaum bis gar nicht für das Erlernen einer anderen Sprache L’_M‘.

Faktor 3: Neben sehr vielen Eigenschaften im Kontext der menschlichen Sprachfähigkeit ist einer — in meiner Sicht — zusätzlich bemerkenswert. Im einfachen Fall kann man unterscheiden zwischen den sprachlichen Ausdrücken und jenen neuronalen Korrelaten, die mit Objekten der Außenwelt korrespondieren, also solche Objekte, die andere Menschen zeitgleich auch wahrnehmen können. So z.B. ‚die weiße Tasse dort auf dem Tisch‘, ‚die rote Blume neben deiner Treppe‘, ‚die Sonne am Himmel‘, usw. In diesen Beispielen haben wir auf der einen Seite sprachliche Ausdrücke, und auf der anderen Seite nicht-sprachliche Dinge. Ich kann mit meiner Sprache aber auch sagen „In dem Satz ‚die Sonne am Himmel‘ ist das zweite Wort dieses Satzes grammatisch ein Substantiv‘. In diesem Beispiel benutze ich Ausdrücke der Sprache um mich auf andere Ausdrücke einer Sprache zu beziehen. Dies bedeutet, dass ich Ausdrücke der Sprache zu Objekten für andere Ausdrücke der Sprache machen kann, die über (meta) diese Objekte sprechen. In der Wissenschaftsphilosophie spricht man hier von Objekt-Sprache und von Meta-Sprache. Letztlich sind es zwei verschiedenen Sprachebenen. Bei einer weiteren Analyse wird man feststellen können, dass eine natürliche/ normale Sprache L_M scheinbar unendlich viele Sprachebenen ausbilden kann, einfach so. Ein Wort wie Demokratie z.B. hat direkt kaum einen direkten Bezug zu einem Objekt der realen Welt, wohl aber sehr viele Beziehungen zu anderen Ausdrücken, die wiederum auf andere Ausdrücke verweisen können, bis irgendwann vielleicht ein Ausdruck dabei ist, der Objekte der realen Welt betrifft (z.B. der Stuhl, auf dem der Parlamentspräsident sitzt, oder eben dieser Parlamentspräsident, der zur Institution des Bundestages gehört, der wiederum … hier wird es schon schwierig).

Die Tatsache, dass also das Sprachvermögen eine potentiell unendlich erscheinende Hierarchie von Sprachebenen erlaubt, ist eine ungewöhnlich starke Eigenschaft, die bislang nur beim homo sapiens beobachtet werden kann. Im positiven Fall erlaubt eine solche Sprachhierarchie die Ausbildung von beliebig komplexen Strukturen, um damit beliebig viele Eigenschaften und Zusammenhänge der realen Welt sichtbar zu machen, aber nicht nur in Bezug auf die Gegenwart oder die Vergangenheit, sondern der homo sapiens kann dadurch auch Zustände in einer möglichen Zukunft andenken. Dies wiederum ermöglicht ein innovatives, gestalterisches Handeln, in dem Aspekte der gegenwärtigen Situation verändert werden. Damit kann dann real der Prozess der Evolution und des ganzen Universums verändert werden. Im negativen Fall kann der homo sapiens wilde Netzwerke von Ausdrücken produzieren, die auf den ersten Blick schön klingen, deren Bezug zur aktuellen, vergangenen oder möglichen zukünftigen realen Welt nur schwer bis gar nicht herstellbar ist.

Hat also ein entwickeltes Sprachsystem schon für das Denken selbst eine gewisse Relevanz, spielt es natürlich auch für die Kommunikation eine Rolle. Der Gehirn-Körper transformiert ja nicht nur reale Welt in neuronale Korrelate b_B : RW x RW_NN —–> RW_NN (mit der Sprache L_B_NN als Teil von RW_NN), sondern der Gehirn-Körper produziert auch sprachliche Ausdrücke nach außen b_B : RW_NN —–> L. Die sprachlichen Ausdrücke L bilden von daher die Schnittstelle zwischen den Gehirnen. Was nicht gesagt werden kann, das existiert zwischen Gehirnen nicht, obgleich es möglicherweise neuronale Korrelate gibt, die wichtig sind. Nennt man die Gesamtheit der nutzbaren neuronalen Korrelate Wissen dann benötigt es nicht nur eine angemessene Kultur des Wissens sondern auch eine angemessene Kultur der Sprache. Eine Wissenschaft, eine empirische Wissenschaft ohne eine angemessene (Meta-)Sprache ist z.B. schon im Ansatz unfähig, mit sich selbst rational umzugehen; sie ist schlicht sprachlos.

EIN NEUES UNIVERSUM ? !

Betrachtet man die kontinuierlichen Umformungen der Energie-Materie vom Big Bang über Gasnebel, Sterne, Sternenhaufen, Galaxien und vielem mehr bis hin zur Entstehung von biologischem Leben auf der Erde (ob auch woanders ist komplexitätstheoretisch extrem unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich), dort dann die Entwicklung zu Mehrzellern, zu komplexen Organismen, bis hin zum homo sapiens, dann kommt dem homo sapiens eine einzigartig, herausragende Rolle zu, der er sich bislang offensichtlich nicht richtig bewusst ist, u.a. möglicherweise auch, weil die Wissenschaften sich weigern, sich professionell mit ihrer eigenen Irrationalität zu beschäftigen.

Der homo sapiens ist bislang das einzig bekannte System im gesamten Universum, das in er Lage ist, die Energie-Materie Struktur in symbolische Konstrukte zu transformieren, in denen sich Teile der Strukturen des Universums repräsentieren lassen, die dann wiederum in einem Raum hoher Freiheitsgrade zu neue Zuständen transformiert werden können, und diese neuen — noch nicht realen — Strukturen können zum Orientierungspunkt für ein Verhalten werden, das die reale Welt real transformiert, sprich verändert. Dies bedeutet, dass die Energie-Materie, von der der homo sapiens ein Teil ist, ihr eigenes Universum auf neue Weise modifizieren kann, möglicherweise über die aktuellen sogenannten Naturgesetze hinaus.

Hier stellen sich viele weitere Fragen, auch alleine schon deswegen, weil der Wissens- und Sprachaspekt nur einen kleinen Teil des Potentials des homo sapiens thematisiert.