1. In der Tradition der Aufklärung, der französischen und nordamerikanischen Revolution, dann der UN-Menschenrechtsdeklaration – um nur einige wichtige Momente der Geschichte zu nennen – spielte u.a. der Gedanke des Individuums und der Freiheit eine prominente, wenn nicht zentrale, Rolle.
2. Vor dem Hintergrund der Erfahrung von absolutistisch-autokratischen Gesellschaftssystemen, in denen die ‚Spitze‘, die ‚oberen Klassen‘ alles waren und der Rest ein gesellschaftliches Nichts, war die Einsicht – die Rückbesinnung? – auf den Wert des einzelnen, auf die grundlegende Bedeutung jedes einzelnen im Ganzen, ein innovativer Gedanke mit revolutionärer Sprengkraft. Angesichts der Selbstherrlichkeit einer Aristokratie, in der sich die soziale Rollenbilder verselbständigt hatten gegenüber der Dynamik einer vielfältigen und komplexer werdenden Gesellschaft, war der Gedanke einer ‚Umwertung‘ von Rollen und Rechten zur Umformatierung des gesellschaftlichen Handelns kritisierend, umstürzend, Voraussetzung für ein ‚Change Management‘ ohne geordneten Prozess. Ein System mit Änderungsbedarf ohne geordneten Änderungsmechanismus erlaubt entweder nur ‚Weiter so‘ oder ‚abrupter Umsturz‘.
3. Das Großartige – und zugleich potentiell Selbstzerstörerische – der Formel ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ lag in der Erkenntnis der grundlegenden Wertigkeit eines Individuums als Ursprung von gesellschaftlicher Wirklichkeit, als Potential gemeinsamen Lebens, als ‚Wunder in sich‘, das Wert war verteidigt und erhalten zu werden.
4. Dieser Impuls führte zum Zusammenbruch starrer absolutistischer-autokratischer Strukturen und zum Aufbruch in eine erhoffte und visionierte Alternative, die als solche natürlich noch nicht existierte. Zu wissen, was man nicht will ist ein unverzichtbares Veränderungsmoment; aber daraus ergibt sich nicht notwendigerweise automatisch der perfekte Plan für eine konstruktive Alternative.
5. Es verwundert daher nicht, dass dem Veränderungsimpuls der Bevölkerung zunächst viel Gewalt, viel Chaos, viele neues Unrecht folgte. Und es verwundert auch nicht, dass es mehrere kriegsreiche Generationen dauerte, bis es auf der Erde Gesellschaftssysteme gab, die man – plus minus – als ‚demokratische Gesellschaften‘ bezeichnen konnte.
6. Das eine war die Idee des grundlegenden Wertes des Individuums im Ganzen; das andere, neue, unbekannte, schwer zu Realisierende, war das komplexe Zusammenspiel einer ganzen Gesellschaft, um dem grundlegenden Recht auf individueller Freiheit ein gesellschaftliches Format zu geben, in dem sowohl elementare Bedürfnisse nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ein realer Raum gewährt wird, zugleich aber auch die sachlichen Notwendigkeiten eines gesamtgesellschaftlichen Funktionierens das nötige Gewicht und die notwendige alltägliche Realität gewinnt, damit der einzelne sich in einer funktionierenden Gesamtheit vorfindet, die tatsächlich grundlegende Freiheit zulässt, wo ‚Gleichheit‘ umgesetzt ist, wo ‚Brüderlichkeit‘ möglich ist. Das Zauberwort hier heißt ‚Struktur‘.
7. In der Naturgeschichte des Lebens auf der Erde kann man klar erkennen, dass die Komplexität des Lebens nur dort und nur dann ‚zunehmen‘ konnte, wenn es gelang, zuvor getrennte Elemente zu einem neuen funktionierenden Ganzen zu vereinen. Markant ist der Übergang von einer Zelle zu Vielzellern (wozu e 2.8Mrd Jahre gebraucht hat!); dann der Übergang von den kleinen Gruppen, Horden zu größeren Ansiedlungen, Ackerbau, Handel und Städten. Zeitgleich die Entwicklung von Regelsystemen (Gesetzen, Recht), symbolischen Sprachen, von komplexen Produktionsprozessen, usw.
8. Während man bei Pflanzen und einfacheren Tieren ‚Symbiosen‘, ‚Netzwerke‘, ‚Schwärme‘ und ‚Staatenbildungen‘ auf vergleichsweise einfache deterministische Strukturen zurückführen kann, beobachten wir beim Menschen neben seiner Fähigkeit des ‚einfachen Funktionierens‘ in einem ‚Prozess‘ die zusätzliche besondere Fähigkeit, des andauernden Lernens, des sich andauernden Veränderns, des potentiellen Verstehens und Erneuerns, eines flexiblen Kooperierens, eines potentiellen komplexen Verstehens, einer grundlegenden Fantasie zum Visionieren von impliziten Strukturen und völlig neuer Szenarien. Spielerisches, Wertschätzendes, und vieles mehr. Ja, man kann den Menschen zwangsweise auf elementare Verhaltensweisen und elementares Funktionieren reduzieren, aber damit verschleudert man ein unglaubliches Potential zu erheblich mehr. Kurzum, wenn man sieht, wie aus jedem Kind etwas Besonderes werden kann, wenn man ihm nur die Möglichkeit gibt, dann kann man erahnen, welches Potential in jeder Gesellschaft steckt.
9. Auf der anderen Seite können wir heute auch konkret anschaulich sehen, dass die Entwicklung des Potentials einzelner nur möglich ist, wenn der einzelne entsprechende ‚Kontexte‘ vorfindet, Ressourcen, Handlungsräume, Zeit, sie zu nutzen, Anleitungen, wie man sie nutzt, Wertschätzungen als Moment der Handlungsräume. D.h. die grundlegende Einsicht in das Potential eines Menschen, JEDES Menschen, muss ergänzt werden durch die Bereitstellung jener STRUKTUREN, die eine individuelle Entfaltung unter Berücksichtigung von Gleichheit und Brüderlichkeit ermöglichen.
10. Da ein ‚Anpassungsdruck‘ auf der Gesellschaft als ganzer lastet, müssen diese Strukturen so beschaffen sein, dass sie der freien Entfaltung maximalen Raum geben und zugleich dem ‚Überlebensdruck‘ einer Gesellschaft angemessen Rechnung trägt. In einer demokratischen Gesellschaft kann dies ausschließlich geschehen über öffentliche, geregelte, transparente Kommunikations- und Entscheidungsprozesse, in denen der gesellschaftliche Anpassungsdruck übersetzt wird in effektive Prozesse des gesellschaftlichen Überlebens, die aber dem individuellen Potential maximal Rechnung tragen. Je klarer der Überlebensdruck ist, je leistungsfähiger die transparenten Kommunikations-, Lern- und Entscheidungsprozesse, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass das Zusammenwirken von allen optimale Lösungen generiert.
11. Demokratische Gesellschaften verlangen von daher ein Maximum an Zusammenspiel im Medium von Kommunikation und transparenten Entscheidungen. Sie leben davon, dass eine hinreichende Mehrheit sowohl ‚motiviert‘ ist, sich ins Ganze einzubringen, als auch ‚fähig‘, die herausfordernden Aufgaben zu bewältigen.
12. Betrachtet man gegenwärtige demokratische Gesellschaftssysteme, so fallen einem viele Phänomene auf, die man als ‚Störsignale‘ deuten könnte, die einem Funktionieren des Ganzen widersprechen können bzw. tatsächlich widersprechen.
13. Das Phänomen der ‚Wahlmüdigkeit‘ aus Enttäuschung findet sich in den meisten demokratischen Gesellschaften und kann ein Indiz sein, dass aus Sicht des einzelnen nicht genügend Motivation vorhanden ist, sich mit dem Ganzen zu identifizieren.
14. Dazu gehört eine offensichtlich zunehmende neue Klassenbildung, dass Erfolgreiche in Politik und Wirtschaft sich abzusondern suchen von den ‚anderen‘. Dies wird noch verstärkt durch die Tendenz, Subgesellschaften zu bilden, in denen man mehr und mehr alle Lebensprozesse in ‚reiche Enklaven‘ verlagert, die zu einer Entfremdung von Teilmengen der ‚Erfolgreichen‘ mit dem Rest führt.
15. Man beobachtet die Tendenz, dass die Wirtschaft sich zunehmend verselbständigt: sie versteht sich nicht mehr sozial-politisch als konstruktives Element einer Gesellschaft, die als Ganzes funktionieren und Erfolg haben soll, sondern als ein isoliertes Subsystem, das sich global aufstellt und global Macht allokiert und dies nicht nur ohne Berücksichtigung lokaler Gesellschaftssysteme sondern mit dem immer offeneren Ziel, die lokalen Gesellschaften zu neutralisieren. Eine neue Form von absolutistischen-aristokratischen Zügen, einhergehend mit offener Menschenverachtung, nacktem Egoismus, ohne jede Verantwortung für das Ganze. Naturgeschichtlich erscheint dies wie eine bösartige Entartung, wie ein Krebsgeschwür, das sich aus dem größeren Zusammenhang des Lebens heraus zu lösen versucht.
16. Man beobachtet das enorme Anwachsen im Konsum von Drogen aller Art, die Zunahme von ethischer Zersplitterung, von einer Neutralisierung von Wissen durch ein Zuwenig an Wissensvermittlung, ein Zerbrechen klassischer sozialer Räume ohne erkennbarem gleichwertigen Ersatz, eine Zunahme an interkulturellem ‚Clash‘ von Verschiedenheit, die zum Bewältigen geeignete Prozesse benötigt, und manches mehr.
17. Neutral kann man alle diese Phänomene interpretieren als ‚Phänomene eines Veränderungsprozesses‘: das Anwachsen von ‚Neuem‘ erfordert neues Lernen, neues Verstehen, neues sich Verständigen, neues Regulieren, und dies alles braucht seine Zeit. Aber – und das lehrt uns die bekannte Geschichte – es gibt keine Garantie, dass sich komplexe Kulturen ‚halten‘ können. Viele großartige Gesellschaftssysteme der Vergangenheit, die ‚ewig‘ erschienen, sind dann irgendwann vollständig zusammen gebrochen, weil die konstruktiv-integrierenden Mechanismen sich als zu schwach erwiesen, um offensichtliche Herausforderungen konstruktiv unter Beteiligung von allen zu meistern. Missachtung der inneren Integration führt zwangsläufig zum Zerfall; da spielen ein paar Jahrzehnte keine Rolle.
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