Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de
Sa 22.Februar 2020
In diesen Tagen ist wieder einmal das passiert, was in den letzten Jahren immer wieder passiert ist: Nachbarn, Freunde, Väter, Schwestern, Mütter, Brüder, …. werden aus dem Nichts von einem anderen Menschen ohne Vorwarnung einfach niedergeschossen. Das ist eine Form von Sinnlosigkeit, eine Form von Schmerz, von Trauer, für die es eigentlich keine Worte gibt.
Worte sind eigentlich dazu da, dass sie uns untereinander verbinden, dass sie uns helfen, einander zu verstehen, Vertrauen zu schaffen, gemeinsames Erleben, gemeinsames Wollen, gemeinsames Leben besser zu ermöglichen, Freunde sein zu können, Partner*innen…
Solche Todesereignisse sind schlicht furchtbar; sie werden noch furchtbarer, wenn man den Blick hebt, um sich schaut, und feststellen muss, dass zur gleichen Zeit wo hier die einen Menschen sinnlos sterben, an anderen Orten viele Tausend, ja Tausende an Kindern, Frauen und Männer von anderen Menschen — Männern !!! — gnadenlos in den Tod und ins Elend geschossen und gebombt werden (Syrien …), dass …. die Liste der Schrecken würde sehr lang, wollte man alle aufzählen.
Im Fall von Hanau wissen wir mittlerweile, dass es ein einzelner Mensch war, ein Mann, der in seinem Kopf, in sich, in seinem Innern, ein Bild von der Welt, von den anderen Menschen, von sich selbst mit sich herum trug, das düster war, voller Gegensätze und Hass, Bilder, die wie eine Brille wirkten, durch die er eine Welt sah, seine Welt, die in ihm Gefühle angezogen hat, die durch diese Brille gelenkt wurden.
In seiner Welt da drin, in ihm, in seinem Kopf, gab es offensichtlich keine wirklichen Freunde, keine Liebe zu Menschen, keine Hoffnung, keine klugen Idee, wie man sein eigenes Leben in dieser Welt zusammen mit anderen sinnvoll gestalten kann. Es gab scheinbar nur Gegensätze, Bosheiten, bedrohliche Andere, Menschen (z.B. Frauen), die er verachtete… in seiner Welt in seinem Kopf war er alleine, verloren, einsam, voller Enttäuschungen und Schmerzen …
Das Wort WAHRHEIT, das Menschen schon seit Jahrtausenden benutzen, bringt zum Ausdruck, dass es zwischen den Bildern in unserem Kopf und der Welt ‚da draußen‘ eine Korrespondenz geben kann, eine Ähnlichkeit, eine Übereinstimmung. In diesem Fall wissen wir, dass unsere inneren Bilder mit der Welt da draußen harmonieren. In unserem Kopf sehen wir einen Baum, und da draußen gibt es auch einen Baum.
Hier, bei dieser Übereinstimmung, gibt es aber eine Besonderheit: der Baum ‚da draußen‘ … zeigt sich uns nur in der Form von sinnlichen Wahrnehmungen! Unsere Augen produzieren Signale an das Gehirn, und das Gehirn fügt diese Signale zu einem Muster zusammen, zu einem neuronalen Konstrukt, das für uns das repräsentiert, das wir mit dem Wort ‚Baum‘ dann verknüpfen. Wir sehen also nicht den Baum selbst, sondern wir haben nur seine ‚Wirkung auf unsere Sinnesorgane‘ und durch ‚die Art und Weise, wie das Gehirn Sinneseindrücke verarbeitet‘! Den Baum selbst — oder die vielen anderen Objekte unsere umgebenden Welt — sehen wir nicht! Auch wenn dieser Gedanke für viele Menschen befremdlich wirken kann, letztlich muss es kein Problem sein. Unser Gehirn hatte viele Millionen Jahre — sogar mehrere hunderte von Millionen Jahren — Zeit, sich so zu entwickeln, dass es die Sinneseindrücke so ‚deutet‘, dass unser Verhalten in der realen Welt so gut funktioniert, als ob der Baum — oder die anderen Gegenstände — tatsächlich in unserem Kopf, in unserem Innern sind.
Im Alltag können wir den Unterschied zwischen einem ‚Objekt im Kopf‘ und dem unterstellten ‚Objekt da draußen‘ leicht bemerken. Wenn ich an den Kühlschrank gehe, um die Butter zu holen, und da ist keine Butter mehr. Ich bin erstaunt, weil in meinem Kopf noch eine Butter im Kühlschrank ist. Aber dann erinnere ich mich — nicht immer 🙂 –, dass ich ja vergessen hatte, neue Butter zu kaufen, weil ich mit etwas anderem beschäftigt war. Die Welt in unserem Kopf und die Welt ‚da draußen‘ sind nicht identisch, sie können sich unterscheiden.
Und, die Sache kann kompliziert werden: wenn das, was ich sinnlich wahrnehmen kann, z.B. ein bestimmtes Geräusch, nicht eindeutig ist, d.h. das Geräusch könnte von verschiedenen Situationen herrühren, z.B. von einem Tier, das sich da bewegt, von irgendwelchen Materialien, von einem Menschen … mein Gedächtnis fängt dann fieberhaft an zu arbeiten, und versucht heraus zu finden, mit welcher Erinnerung dieses Geräusch am besten passt. Man hört eine Melodie und denkt dann, dass es der Song X von Künstler Y ist. Und seiner Freundin am Telefon sagt man dann vielleicht spontan, Ah, ich habe gerade Song X von Künstler Y gehört … und dann war es vielleicht doch ein anderer Song … und man merkt es gar nicht … aber als Erinnerung bleibt, dass man Song X gehört hat…
Oder man liest von einem furchtbaren Ereignis im Internet; man ist aufgewühlt, vielleicht traurig und zornig. Es werden Orte und Personen genannt; die Personen werden mit bestimmten Geschlechtern, Rollen in Verbindung gebracht; den Personen werden weitere Eigenschaften zugeschrieben, und dann entstehen im Kopf die Bilder von ‚Rechten‘, ‚Linken‘, ‚Republikanern‘, ‚Demokraten‘, ‚Gotteskriegern‘, ‚Konservativen‘, ‚Fundamentalisten‘, ‚Orthodoxen‘, …. man hat sie noch nie selbst gesehen, man hat noch nie mit ihnen gesprochen, letztlich weiß man gar nicht, ob die, die das getan haben, tatsächlich diese waren, aber der Text im Internet erweckt den Eindruck, und dann sind sie da, in mir, in meinem Kopf, die Bösen, die das alles tun, die die Welt bevölkern,… Diese Bösen sind in meinem Kopf, und möglicherweise ist es falsch, möglicherweise ereignet sich jetzt FALSCHHEIT: meine Bilder in meinem Kopf stimmen nicht überein mit der Welt da draußen, aber für mich sind diese Bilder real. Ich fange an, an meine eigenen falschen Bilder zu glauben. Niemand hilft mir, den Irrtum zu entdecken.
Vielleicht will ich auch gar nicht, dass mir jemand hilft; vielleicht habe ich so starke ÄNGSTE in mir, dass ich nach Bildern suche, die meinen Ängsten eine Heimat geben? Wenn alles so unübersichtlich erscheint, so fremd, ich mir alleine vorkomme, und dann gibt es andere, die sich auch alleine und hilflos fühlen, dann stiftet schon alleine das Erlebnis der anderen etwas Gemeinschaft, Solidarität, Verbundenheit, was Ängste mildert. Und dann gibt es die einen, die etwas erzählen, und die anderen, und dann werden Bilder in den Raum gestellt von möglichen Ursachen, von möglichen Tätern, von möglichen Bedrohungen, und schon kann es passieren, dass die eigenen Ängste in diesen Bildern eine Heimat finden. Mit einem Mal haben meine Ängste Bilder in meinem Kopf, in denen sie sich verstanden fühlen. Das ist dann nicht Wahrheit — weil die Welt tatsächlich gar nicht so ist, wie die Bilder es nahelegen –, sondern das ist ANGSTHEIT: die Bilder sind so, wie meine Ängste sind!
Und, ja, wir kennen dies alle: man kann sich ärgern über etwas, manche Menschen geraten regelrecht in Wutzustände, sie werden aggressiv und können hassen. Damit verlieren sie stückweise die Kontrolle über sich, über ihr Denken. Und ähnlich wie im Fall der Angst sucht die Wut ihre Heimat, sucht sie die Bilder von der Welt, an denen sie sich fest machen kann, die ihr Bestätigung liefert, eine Berechtigung, wütend zu sein. Und wenn man dann andere findet, die auch wütend sind, die auch nach Bildern suchen, dann kann es schnell passieren, dass man sich in bestimmten Bildern vereint. Man teilt dann bestimmte Bilder im Kopf, die so vielleicht gar keine Entsprechung in der Welt ‚da draußen‘ haben, sie sind also nicht wahr, es gibt keine Wahrheit, aber es gibt dann WUTHEIT: es gibt Bilder, die der eigenen Wut eine Heimat geben.
Und man ahnt schon, dass dieses Prinzip, dass unsere dominanten Gefühle, Emotionen darüber entscheiden, welche Bilder im Kopf willkommen sind, sehr stark, sehr verbreitet ist. ‚Fundamentalisten‘ sind Menschen, die bestimmten Glaubensformen anhängen, obwohl die eigenen Texte und die Welt eigentlich etwas ganz anderes sagen. ‚Orthodoxe‘ sind Menschen, die bestimmte Anschauungen hoch halten, obwohl bei näherer Betrachtung, die Welt ‚da draußen‘ sich ganz anders verhält, usw.
Diese ‚Bilder im Kopf‘ — bei wem auch immer — können also sehr gefährlich sein, sie sind gefährlich, und sie haben in der Vergangenheit unendlich viel Unheil, Elend, und Schmerzen über die Menschheit gebracht. Die meisten Menschen merken nicht, dass ihre Bilder im Kopf falsch sind, Angst getrieben, durch Wut motiviert; die Bilder sind da, in ihrem Kopf, und sie glauben, nur weil die Bilder in ihrem Kopf sind, sind sie WAHR, obwohl sie FALSCH sind.
Wir sprechen heute viel über Bakterien und Viren, die man mit normalem Auge nicht sehen kann, die in unseren Körper eindringen können und dort die Zellen unseres Körpers überlisten, sie sich dort einnisten, vermehren, und letztlich den Körper schwer schädigen oder gar zu Tode bringen können.
Die FALSCHEN BILDER im Kopf sind nicht weniger gefährlich: sie stinken nicht, sie tun nicht weh, man kann ihnen selbst nicht ansehen, dass sie falsch sind. Man braucht sehr viel Aufmerksamkeit, man braucht ein intensives Training, um sie überhaupt erkenne zu können, und vor allem braucht man auch andere Menschen, die das auch sehen, die mit einem zusammen um die Wahrheit ringen. In er menschlichen Kulturgeschichte nennt man die RICHTIGEN WAHREN BILDER Wissen, Wissenschaft, Bildung. Die Menschen haben Jahrtausende, viele Jahrtausende gebraucht, bis sie gelernt haben, wie man gemeinsam WAHRES WISSEN erarbeiten und nutzen kann. Im Moment erleben wir, wie die Menschheit an einem historischen Höhepunkt ihrer Technologie dabei ist, die Grundlagen ihrer Erfolge, ihr WAHRES WISSEN zu Tiefstpreisen zu verschleudern. …
Es ist unübersehbar, dass die WAHRE DEMOKRATISCHE BILDUNG in allen Schichten der Gesellschaft zu schwach ist. Es ist unübersehbar, dass unser politisches System deutliche Spuren des ‚Unterbelichtetseins‘ zeigt. Während die noch herrschenden Parteien und Minister auf die anderen zeigen, als die Bösen, versagen sie selbst in elementaren demokratischen Aufgaben … sind sie selbst ‚böse‘? Sind sie einfach nur ‚unfähig‘ weil sie auch falsche Bilder im Kopf haben? Letztlich kommt es auf das Gleiche heraus: Sie tun nicht das, was in der aktuellen Situation zu tun wäre. Diese Unfähigkeit spüren alle, und dies erzeugt Unsicherheit, untergräbt das Vertrauen in das politische System, und erzeugt Ängste…
Eine einfache Lösung gibt es in solchen Situationen nicht. Sie sind auch nicht neu. In der Geschichte gab es solche Situationen immer wieder, überall. Patentlösungen gibt es nicht. Gefragt sind mutige Menschen, kreative innovative Menschen, Menschen die über den Tellerrand schauen können, Menschen, die sich nicht von blinden Emotionen leiten lassen sondern durch Klugheit, Besonnenheit, hilfreichen Erfahrungen, durch Wertschätzung für andere Menschen …. Falschheit, Angstheit, Wutheit … dies alles macht es nur noch schlimmer.
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