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Das Ende der Evolution, von Matthias Glaubrecht,2021 (2019). Lesenotizen – Teil 2

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 17.September 2022 – 29. September 2022, 07:16h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Diesem Text geht ein erster Teil voraus.[1]

Die Zukunft hat viele Gesichter

Nach dem spektakulären Foto 1968 während der Apollo-8 Mission von der Erde als ‚blue marble‘ (auch als ‚blue button‘ bezeichnet), entstand 1990 ein nicht weniger spektakuläres Foto von der Erde während der Voyager Mission aus einer Entfernung von 6 Milliarden km genannt ‚pale blue button‘. 30 Jahre später wurden die Bilddaten neu überarbeitet: https://www.jpl.nasa.gov/images/pia23645-pale-blue-dot-revisited . Das Bild hier im Blog-Text zeigt einen Ausschnitt davon.

Nach mehr als 800 Seiten prall gefüllt mit Gedanken, Informationen, Fakten, eingebettet in Analysen komplexer Prozesse, unternimmt Glaubrecht das Wagnis, einen Blick in die Zukunft zu wagen. ‚Wagnis‘ deswegen, weil solch ein ‚Blick in die Zukunft‘ nach Glaubrechts eigener Überzeugung „nicht die Sache der Wissenschaft“ sei.(S.864 unten).

Die hier möglichen und notwendigen wissenschaftsphilosophischen Fragen sollen aber für einen Moment hintenan gestellt werden. Zunächst soll geschildert werden, welches Bild einer möglichen Lösung angesichts des nahenden Unheils Glaubrecht ab S.881 skizziert.

Umrisse einer möglichen Lösung für 2062

In seiner Lösungsvision kommen viele der großen Themen vor, die er zuvor im Zusammenhang des nahenden Unheils thematisiert hat: „Biodiversität“ (881), „Lebensstil“ (883), „Überbevölkerung“ (884), „Bildung“, speziell für Frauen (885), das „Knappheits-Narrativ“ (885), ökologische Landbewirtschaftung und „tropische Wälder“ (vgl. 886), nochmals „Biodiversität“ (887), große zusammenhängende Schutzgebiete, „working lands“ sowie neue Rechte für die Natur (vgl. 888-891), „Konsumverhalten“ und „neues Wirtschaften“ (892), „Bildungsreform“, „ökosystemares Denken“ (893), „Ungleichheit weltweit“ und neue „Definition von Wachstum“ (894).

Pale Blue Planet

Auf den SS. 900 – 907 hebt Glaubrecht dann nochmals hervor, dass biologische Evolution kein eindeutig prognostizierbarer Vorgang ist. Dass sich auf der Erde biologisches Leben entwickelt hat heißt keinesfalls, dass dies sich auf einem anderen Planeten mit ähnlichen Voraussetzungen einfach wiederholen würde. Weiterhin gibt er zu bedenken, dass die Suche nach einem alternativen Planeten zur Erde bislang kaum fassbare Ergebnisse gebracht hat. Von den 0.5% möglichen Kandidaten mit habitablen Zonen von 3640 bekannten Exoplaneten im April 2017 zeigte bislang keiner hinreichende Eigenschaften für biologisches Leben. Von diesen ’nicht-wirklich Kandidaten‘ befindet sich der nächst gelegene Kandidat 4 Lichtjahre entfernt. Mit heutiger Technologie bräuchte man nach Schätzungen zwischen 6.000 bis 30.000 Jahren Reisezeit.

Vor diesem Hintergrund wirkt insbesondere die Suche nach einer „anderen Intelligenz“ fast bizarr: ist schon die biologische Evolution selbst ungewöhnlich, so deutet die ‚Entwicklungszeit‘ des Menschen mit ca. 3.5 Milliarden Jahren an, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass es irgendwo anders etwas „wirklich Vergleichbares … zum Menschen“ geben kann.(vgl. S.905)

Visionen und ihre Bedingungen

Dass Glaubrecht nach seinen umfassenden und sehr beeindruckenden Analysen Zukunftsszenarien schildern kann, darunter auch eine ‚positive‘ Variante für das Jahr 2062, zeigt zunächst einmal, dass es überhaupt geht. Das ‚Geschichten erzählen‘ ist eine Eigenschaft des Menschen, die sich mindestens bis in die Vorzeit der Erfindung von Schriften zurück verfolgen lässt. Und wenn wir unseren Alltag betrachten, dann ist dieser randvoll mit ‚Geschichten‘ über mögliche zukünftige Szenarien (Zeitungen, Fernsehen, Videos, in privaten Dialogen,Bücher, …). Zugleich haben wir gelernt, dass es ‚falsche‘ und ‚wahre‘ Geschichten geben kann. ‚Wahre‘ Geschichten über eine mögliche Zukunft ‚bewahrheiten‘ sich, indem die Zustände, von denen man ‚zuvor‘ gesprochen hatte, ‚tatsächlich‘ eintreten. Mit der Feststellung, dass eine Geschichten über eine mögliche Zukunft ‚falsch‘ sei, ist es schwieriger. Nur wenn man einen klaren ‚zukünftigen Zeitpunkt‘ angeben kann, dann kann man entscheiden, dass z.B. das Flugzeug oder der Zug zum prognostizierten Zeitpunkt ’nicht angekommen‘ ist.

Über Zukunft reden

Schon die Alltagsbeispiele zeigen, dass das Reden von einem ‚möglichen Zustand in der Zukunft‘ verschiedene Voraussetzungen erfüllen muss, damit dieses Sprachspiel funktioniert:

  1. Fähigkeit, zwischen einer ‚erinnerbaren Vergangenheit‘, einem ‚aktuellen Gedanken über einen möglichen zukünftigen Zustand‘, und einer ’neuen Gegenwart‘ unterscheiden zu können, so, dass entschieden werden kann, dass eine ’neue Gegenwart‘ mit dem zuvor gefassten ‚Gedanken über einen möglichen zukünftigen Zustand‘ hinreichend viele ‚Ähnlichkeiten‘ aufweist.
  2. Verschiedene Akteure müssen sowohl über Kenntnisse der ‚Ausdrücke‘ einer ‚gleichen Sprache‘ verfügen, und zugleich müssen sie über ‚hinreichend ähnliche Bedeutungen‘ in ihren Gehirnen verfügen, die sie ‚auf hinreichend ähnliche Weise‘ mit den benutzten Ausdrücken ‚verbinden‘.
  3. Für den Bereich der ‚bekannten Bedeutungen‘ im Gehirn muss die Fähigkeit verfügbar sein, diese in ’neuen Anordnungen‘ so zu denken, dass diese neuen Anordnungen als Bedeutungen für ein Reden über ‚mögliche neue Zustände verfügbar‘ sind. Menschen, die so etwas können, nennt man ‚kreativ‘, ‚fantasievoll‘, ‚innovativ‘.

Dieses sind allgemeine und für alle Menschen notwendige Voraussetzungen. Die Kulturgeschichte der Menschheit zeigt aber eindrücklich, dass das ‚Erzählen von möglicher Zukunft‘ bis zum Beginn der modernen empirischen Wissenschaften sich jede Freiheit genommen hate, die sprachlich möglich ist. Dies machte den Umgang mit ‚wahren Prognosen‘ zu einer Art Glücksspiel. Eine Situation, die speziell für jene , die ‚mehr Macht haben‘ sehr günstig war: sie konnten die ‚vage Zukunft‘ sehr freizügig immer zu ihren Gunsten auslegen; keiner konnte klar widersprechen.

Empirische Wissenschaften – Bessere Prognosen

Mit dem Aufkommen der neueren empirischen Wissenschaften (beginnend ab ca. dem 15.Jahrhundert) wendete sich das Blatt ein wenig, da das ‚Reden über einen möglichen zukünftigen Zustand‘ jetzt stärker ’normiert‘ wurde. Von heute aus betrachtet mag diese Normierung einigen (vielen?) vielleicht ‚zu eng‘ erscheinen, aber als ‚Start‘ in ein Phase von ‚Prognosen mit größerer Zuverlässigkeit‘ war diese Normierung faktisch ein großer kultureller Fortschritt. Diese neue ‚Normierung‘ umfasste folgende Elemente:

  1. Als ‚akzeptierte Fakten‘ wurden nur solche ’sprachlichen Ausdrücke‘ anerkannt, die sich mittels eines von jedem ‚wiederholbaren Experiments‘ (klar definierte Handlungsfolgen) auf ‚für alle Beteiligte beobachtbare Phänomene‘ beziehen lassen (z.B. die ‚Länge eines Gegenstandes mit einem vereinbarten Längenmaß‘ feststellen; das ‚Gewicht eines Gegenstandes mit einem vereinbarten Gewichtskörper‘ feststellen; usw.). Ausdrücke, die auf diese Weise gemeinsam benutzt werden, heißen gewöhnlich ‚Messwerte‘, die in ‚Tatsachenbehauptungen‘ eingebettet werden (z.B. ‚Die Tischkante dort ist 2 m lang‘, ‚Gestern bei höchstem Sonnenstand wog dieser Beutel 1.5 kg‘, usw.).
  2. Tatsachenbehauptungen waren von da ab leichter ‚klassifizierbar‘ im Sinne von ‚zutreffend (wahr)‘ oder ’nicht zutreffend (falsch)‘ als ohne diese Normierungen. Mit der Einführung solcher ’normierter Beobachtungen‘ wurden implizit auch ‚Zahlen‘ eingeführt, was zu dem führte, was man heute auch ‚Quantifizieren‘ nennt. Statt alltagssprachlicher Ausdrücke wie ‚lang‘, ‚groß‘, ’schwer‘ usw. zu benutzen, deren Bedeutung im Alltag immer nur ‚fallweise kontextualisiert‘ wird (eigentlich die große Stärke der normalen Sprache), wurde mit der Quantifizierung mittels Zahlen und vereinbarten ‚Standard Größen‘ (heute oft ‚Einheiten‘ genannt) die gewohnte Vagheit der Normalsprache durch eine neue, ungewohnte Konkretheit ersetzt. Die Ersetzung von normalsprachlicher Flexibilität durch vereinbarte Konkretheit erlaubte dann — wie sich immer mehr zeigte — eine ganz neue Qualität in der Beschreibung von ‚messbaren Phänomenen‘ und deren ‚Verhalten in der Zeit‘.[4]
  3. Das Werk ‚Philosophiae Naturalis Principia Mathematica‘ (erstmals 1689, Latein) von Isaac Newton gilt als erste große Demonstration der Leistungsfähigkeit dieses normierten Vorgehens (nach berühmten Vorläufern wie z.B.. Galilei und Kepler). Dazu kommt, dass die quantifizierten Tatsachenbehauptungen in ‚Zusammenhänge‘ eingebracht werden, in denen in Form von ‚Lehrsätzen‘ (oft auch Axiome genannt)‘ so etwas wie ‚Wirkzusammenhänge‘ beschrieben werden, die quantifizierte Ausdrücke benutzen.
  4. Im Zusammenwirken von quantifizierten Beobachtungen mit quantifizierten Wirkzusammenhängen lassen sich dann vergleichsweise genaue ‚Folgerungen‘ ‚ableiten‘, deren ‚Zutreffen‘ sich in der beobachtbaren Welt als ‚quantifizierte Prognosen‘ besser überprüfen lässt als ohne solche Quantifizierungen.
  5. Ein solches quantifizierendes Vorgehen setzt voraus, dass man die Ausdrücke der normalen Sprache um Ausdrücke einer ‚formalen Sprache‘ ‚erweitert‘. Im Fall von Newton waren diese formalen Ausdrücke jene der damaligen Mathematik.
  6. Interessant ist, dass Newton noch nicht über einen ‚formalen Folgerungsbegriff‘ verfügte, wie er dann Ende des 19.Jahrhunderts, Anfang des 20.Jahrhunderts durch die moderne Logik eingeführt wurde, einhergehend mit einer weiteren Formalisierung der Mathematik durch explizite Einbeziehung eines meta-mathematischen Standpunkts.

Der ‚Elefant im Raum‘

Es gibt Gesprächszusammenhänge, von denen sagt man, dass vom ‚Elefant im Raum‘ nicht gesprochen wird; also: es gibt ein Problem, das ist relevant, aber keiner spricht es aus.

Wenn man den Text zur positiven Vision zum Jahr 2062 liest, kann man solch einen ‚Elefanten im Raum‘ bemerken.

Ausgangslage im Alltag

Man muss sich dazu das Folgende vergegenwärtigen: Ausgangslage ist die Welt im Jahr 2021, in der die Menschheit global wirksam Verhaltensweisen zeigt, die u.a. zur Zerstörung der Biodiversität in einem Ausmaß führen, welche u.a. die Atmosphäre so verändern, dass das Klima schrittweise das bisher bekannte Leben dramatisch bedroht. Die u.a. CO2-Abhängigkeit der Klimaveränderung führt zu notwendigen Kurskorrekturen in der Art der Energiegewinnung, was wiederum phasenweise zu einem Energieproblem führt; gleichzeitig gibt es ein Wasserproblem, ein Ernährungsproblem, ein Migrationsproblem, ein …

Das Bündel dieser Probleme und seiner globalen Auswirkungen könnte größer kaum sein.

Von ‚außen‘ betrachtet — eine fiktive Sicht, die sich natürlich vom allgemein herrschenden ‚Zeitgeist‘ nicht wirklich abkoppeln kann — gehen alle diese wahrnehmbaren ‚Wirkungen‘ zurück auf ‚Wirkzusammenhänge‘, die durch das ‚Handeln von Menschen‘ so beeinflusst wurden, dass es genau zu diesen aktuellen globalen Ereignissen gekommen ist.

Das ‚Handeln‘ von Menschen wird aber — das können wir im Jahr 2022 wissen — von ‚inneren Zuständen‘ der handelnden Menschen geleitet, von ihren Bedürfnissen, Emotionen, und von den ‚Bildern der Welt‘, die zum Zeitpunkt des Handelns in ihren Köpfen vorhanden und wirksam sind.

Die ‚Bilder von der Welt‘ — teilweise bewusst, weitgehend unbewusst — repräsentieren das ‚Wissen‘ und die ‚Erfahrungen‘ der Handelnden. Dieses Wissen projiziert ‚Vorstellungen‘ in die umgebende Welt (die Menschen sind Teil dieser Welt!), die ‚zutreffend sein können, dieses aber zumeist nicht sind. Wenn sich ein Mensch entscheidet, seinen Vorstellungen zu folgen, dann hätten wir den Fall eines ‚wissensbasierten (rationalen) Handelns‘, das so gut ist, wie das Wissen zutreffend ist. Tatsächlich aber entscheidet sich jeder Mensch fast ausschließlich — meist unbewusst — nach seinem ‚Gefühl‘! Im Jahr 2022 gehört es zum Alltag, dass Menschen — der Bildungsgrad ist egal (!) — in einer Situation völlig ‚konträre Meinungen‘ haben können trotz gleicher Informationsmöglichkeiten. Unabhängig vom ‚Wissen‘ akzeptiert der eine Mensch die Informationsquellen A und lehnt die Informationsquellen B ab als ‚falsch‘; der andere Mensch macht es genau umgekehrt. Ferner gilt in sehr vielen (allen?) Entscheidungssituationen, dass die Auswahl der nachfolgenden Handlungen nicht von den ‚wissbaren Optionen‘ abhängt, sondern von der emotionalen Ausgangslage der beteiligten Personen, die sehr oft (meistens?) entweder bewusst nicht kommuniziert werden oder aber — da weitgehend unbewusst — nicht explizit kommuniziert werden können.

Dazu kommt, dass globale Wirkungen nur durch ein ‚globales Handeln‘ erreicht werden können, das entsprechend ‚koordiniert‘ sein muss zwischen allen Beteiligten. Koordinierung setzt ‚Kommunikation‘ voraus, und Kommunikation funktioniert nur, wenn die ‚kommunizierten Inhalte (= Wissen)‘ sowohl hinreichend ‚ähnlich‘ sind und zugleich ‚zutreffend‘. Die Wirklichkeit des Jahres 2021 (und nachfolgend) demonstriert allerdings, dass schon alltäglich zwei Menschen Probleme haben können, zu einer ‚gemeinsamen Sicht‘ zu kommen, erst recht dann, wenn ihre ‚individuellen Interessen‘ auseinander laufen. Was nützt es dem einen, zu wissen, dass es in den Alpen wunderbare Wanderwege gibt, wenn der andere absolut nicht wandern will? Was nützt es dem einen, wenn er bauen will und die Gemeinde einfach kein neues Bauland ausweist? Was nützt es betroffenen Bürgern, wenn die Bürgermeisterin partout ein neues Unternehmen ansiedeln will, weil es kurzfristig Geldeinnahmen gibt, und sie die nachfolgenden Probleme gerne übersieht, weil zuvor ihre Amtszeit endet? …

Kurzum, es ist nicht das ‚Wissen alleine‘, was ein bestimmtes zukünftiges Verhalten ermöglicht (wobei Wissen tendenziell sowieso ’nie ganz richtig ist‘), sondern auch — und vor allem — sind es die aktiven Emotionen in den Beteiligten.

Was heißt dies für die positive Zukunftsversion für 2062 im Text von Glaubrecht?

Erste Umrisse des Elefanten

Auf den Seiten 881 – 908 finden wir Formulierungen wie: „es kam zu einem tiefgehenden Bewusstseinswandel“ (881), „Immer mehr Menschen wurde klar“ (882), „Klar war aber auch, dass“, „guter Wille allein reichte da nicht… auch zivilgesellschaftliches Handeln musste erst intensiv erarbeitet werden„, „weil die Industrieländern … zu Vorbildern wurden“ (883), „Erst als die Überbevölkerung endlich zum wichtigsten Thema gemacht wurde, erfolgte der Durchbruch“ (884), „dass der Mensch in der ganz großen Gruppe ein gemeinsames Ziel erreichen kann“ (906), „Das Artensterben bietet allenfalls ein diffuses Ziel“ (908)

Diese ‚Fragmente‘ der Lösungsvision deuten an, dass

  1. ‚Bewusstseinswandel‘ und ‚Klarheit im Verstehen‘ wichtige Komponenten zu sein scheinen
  2. ‚Individuelles Wollen‘ alleine nicht ausreicht, um eine konstruktive globale Lösung zu ermöglichen
  3. ‚Überindividuelles (= zivilgesellschaftliches) Verhalten‘ ist nicht automatisch gegeben, sondern muss ‚gemeinsam erarbeitet werden‘
  4. Es braucht ‚globale Vorbilder‘ zur Orientierung (ob dies wirklich die Industrieländer sein können?)
  5. Die ‚Größe der Weltbevölkerung‘ ist ein wichtiger Faktor
  6. Der Faktor ‚Artensterben (Abnahme der Biodiversität)‘ ist für die meisten noch sehr ‚diffus‘
  7. Aus der Geschichte ist bekannt, dass Menschen gemeinsam große Dinge erreichen können.

Neben dem Wissen selbst — das ein Thema für sich ist — blitzen hier eine Reihe von ‚Randbedingungen‘ auf, die erfüllt sein müssen, damit es zu einer Lösung kommen kann. Ich formuliere diese wie folgt:

  1. Was immer ein einzelner weiß, fühlt, und will: ohne einen handlungswirksamen Zusammenschluss mit genügend vielen anderen Menschen wird es zu keiner spürbaren Veränderung im Verhalten von Menschen kommen.
  2. Das ‚zusammen mit anderen Handeln‘ muss ‚erlernt‘ und ‚trainiert‘ werden!
  3. Damit die vielen möglichen ‚Gruppen‘ in einer Region (auf der Erde) sich ’synchronisieren‘, braucht es ‚Leitbilder‘, die eine Mehrheit akzeptiert.
  4. Für alle Beteiligten muss erkennbar und erfahrbar sein, wie ein ‚Leitbild des gemeinsamen Handelns‘ sich zu den individuellen Bedürfnissen und Emotionen und Zielen verhält.
  5. Eine Zivilgesellschaft muss sich entscheiden, wo sie sich zwischen den beiden Polen ‚voll autokratisch‘ und ‚voll demokratisch‘ — mit vielen ‚Mischformen‘ — ansiedeln will. Die biologische Evolution deutet an, dass auf ‚lange Sicht‘ eine Kombination aus ‚radikaler Diversität‚ verbunden mit einem klaren ‚Leistungsprinzip‚ über lange Zeitstrecken hin leistungsfähig ist.
  6. Im Fall von menschlichen biologischen Systemen spiel ferner eine radikale ‚Transparenz‘ eine wichtige Rolle: Transparenz ’sich selbst‘ gegenüber wie auch ‚Transparenz untereinander‚: ohne Transparenz ist kein ‚effektives Lernen‘ möglich. Effektives Lernen ist die einzige Möglichkeit, das verfügbare Wissen in den Köpfen an die umgebende Realität (mit dem Menschen als Teil der Umgebung) ansatzweise ‚anzupassen‘.
  7. Damit Wissen wirksam sein kann, muss es eine ‚Form‚ haben, die es für alle Menschen möglich macht, (i) ‚jederzeit und überall‘ dieses Wissen zu nutzen und ‚dazu beitragen zu können‘, sowie (ii) erlaubt, ‚Prognosen‘ zu erstellen, die überprüft werden können.

Die wahre Herausforderung

Der ‚Elefant im Raum‘ scheint also der ‚Mensch selbst‘ zu sein. Die heutige Tendenz, immer und überall von ‚Digitalisierung‘ zu sprechen und in den Begriff ‚Künstliche Intelligenz‘ all jene Lösungen hinein zu projizieren, die wir noch nicht haben, ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Mensch das ‚Verhältnis zu sich selbst‘ irgendwie nicht im Griff hat. Die kulturelle Erfahrung der letzten Jahrtausende, in vielen Bereichen heute deutlich ‚aufgehellt‘ durch empirische Wissenschaften, könnte uns entscheidend helfen, unser ‚eigenes Funktionieren‘ besser zu verstehen und unser individuelles wie gesellschaftliches Verhalten entsprechend zu organisieren. Das Problem ist weniger das Wissen — auch wenn dieses noch viel weiter entwickelt werden kann und entwickelt werden muss — als vielmehr unsere Scheu, die Motive von Entscheidungen und Verhalten transparent zu machen. Es reicht nicht, sogenannte ’sachliche Argumente‘ anzuführen (wenngleich sehr wichtig), es müssen zugleich auch die realen Interessen (und Ängste) auf den Tisch. Und wenn diese Interessen divergieren — was normal ist –, dann muss eine Lösung gefunden werden, die Interessen und Weltwissen (zusammen mit den bekannten Prognosen!) zu einem Ausgleich führt, der ein Handeln ermöglicht. Möglicherweise ist dies — auf längere Sicht — nur in eher demokratischen Kontexten möglich und nicht in autokratischen. Dies setzt aber in der Mehrheit der Bevölkerung einen bestimmten ‚Bildungsstand‘ voraus (was nicht nur ‚Wissen‘ meint, sondern z.B. auch die Fähigkeit, in diversen Teams transparent Probleme zu lösen).

Epilog

Vielleicht mag jemand nach der Lektüre dieses Textes den Eindruck haben, das Buch von Glaubrecht (hier wurde ja nur — im Teil 1 — die Einleitung und — im Teil 2 — der Schluss diskutiert!) würde hier kritisiert. Nein, das Buch ist großartig und ein wirkliches Muss. Aber gerade weil es großartig ist, lässt es Randbedingungen erkennen, die mindestens so wichtig sind wie das, was Glaubrecht mit dem Hauptthema ‚abnehmende Biodiversität‘ zur Kenntnis bringt.

Diese Randbedingungen — wir selbst mit unserer Art und Weise mit uns selbst und mit den anderen (und mit der übrigen Welt) umzugehen — sind gerade im Lichte der Biodiversität keine ‚Randbedingungen‘, sondern der entscheidende Faktor, warum es zur dramatischen Abnahme von Biodiversität kommt. Bei allen großartigen Errungenschaften ist der heutige Wissenschaftsbetrieb aktuell dabei, sich selbst zu ’neutralisieren‘, und die gesellschaftlichen Prozesse tendieren dazu, das Misstrauen untereinander immer weiter anzuheizen. Was wir brauchen ist möglicherweise eine wirkliche ‚Kulturrevolution‘, die ihren Kern in einer ‚Bildungsrevolution‘ hat. Fragt sich nur, wie diese beiden Revolutionen in Gang kommen können.[5]

KOMMENTARE

[1] Die Url lautet: https://www.cognitiveagent.org/2022/09/08/das-ende-der-evolution-von-matthias-glaubrecht2021-2019-lesenotizen/

[2] Ankündigung der Biodiversitätskonferenz Dezember 2022: https://www.unep.org/events/conference/un-biodiversity-conference-cop-15

[3] Joachim Radkau, 2017, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, Carl Hanser Verlag , eBook

[4] Es sei angemerkt, dass die Benutzung von ‚Zeitmarken‘ keinesfalls trivial ist. Abgesehen von dem ‚periodischen Ereignis‘, das für die Zeitmessung an einem bestimmten Ort benutzt wird, und dessen ‚Zuverlässigkeit‘ eigens geprüft werden muss, ist es eine wichtige Frage, wie sich zwei Zeitmessungen an verschiedenen Orten auf der Erde zueinander verhalten. Eine weltweit praktikable Lösung mit einer hinreichenden Genauigkeit gibt es erst ca. seit den 1990iger Jahren.

[5] Wenn im Epilog von einer notwendigen ‚Kulturrevolution‘ gesprochen wird, deren Kern eine ‚Bildungsrevolution‘ sein sollte, dann gibt es dazu eine Initiative Citizen Science 2.0, die — zumindest von der Intention her — genau auf solch eine neu sich formierende Zukunft abzielt. URL: https://www.oksimo.org/citizen-science-buergerwissenschaft/

Ein Überblick über alle Beiträge des Autors nach Titeln findet sich HIER.

Das Ende der Evolution, von Matthias Glaubrecht,2021 (2019). Lesenotizen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 8.September 2022 – 10. September 2022, 10:12h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Kontext

In dem Parallelblock uffmm.org entwickelt der Autor das Konzept einer nachhaltigen empirischen Theorie (siehe z.B. „COMMON SCIENCE as Sustainable Applied Empirical Theory, besides ENGINEERING, in a SOCIETY“, ein Beitrag, der hervorgegangen ist aus den Überlegungen zu „From SYSTEMS Engineering to THEORY Engineering“), in der die Menschheit eine zentrale Rolle spielt, nicht losgelöst von der Biosphäre, nicht losgelöst vom gesamten Universum, sondern als eine ‚Handlungsmacht‘, die in diesen empirischen Substrat genannt ‚empirische Wirklichkeit‘ eingebettet ist.

Vor diesem Hintergrund erscheint das Buch von Glaubrecht zum Ende der Evolution auf den ersten Blick wie eine willkommene Ergänzung, eine Geschichte aus der Sicht der biologischen Evolution, wie ein ‚missing link‘, in dem das aktuelle wissenschaftliche Chaos und die zerstörerischen Kräfte einer entfesselten menschlichen Population ihren Erzähler finden.

Doch, lässt man sich auf die ruhig und sachlich wirkende ‚Erzählungen‘ dieses Buches ein, dann begegnet man im geradezu epischen Prolog Gedankenmuster, die wie ‚Disharmonien‘ wirken, wie ‚falsche Töne‘ in einer ansonsten berauschenden Sinfonie von Klängen.

Ein Prolog wie eine Ouvertüre

Ausschnitt aus dem berühmten ‚blue marbel‘ Bild von William Anders Anders während der Appollo-8 Mission 1968 (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:NASA-Apollo8-Dec24-Earthrise.jpg)

Glaubrecht lässt seine Erzählung beginnen mit dem einem Foto von William Alison Anders, einem Astronauten der Apollo-8 Mission 1968, das um die Welt ging, und mittlerweile einen ‚Kultstatus‘ hat: die blaue Kugel im Schwarz des umgebenden interstellaren Raumes, wundersam, so unwirklich, ein Bild ‚wie im Traum‘. Und doch, es ist kein Traum. Es ist der Ort von etwas, was wir gelernt haben, ‚biologisches Leben‘ zu nennen. Ein multidimensionales Phänomen, das nach heutigem Kenntnistand einzigartig im gesamten bekannten Universum ist. Diesen ‚Gedanken der Einzigartigkeit‘ greift Glaubrecht auf und pointiert ihn sehr stark, indem er die neuesten Forschungen zu einem ‚möglichen extra-terrestrischen Leben‘ auswertet und diese Option eines ‚anderen Lebens irgendwo dort draußen‘ quasi ad absurdum führt. (vgl. SS.21-24)

Nach diesem argumentativen ‚knock down‘ für die Option eines Lebens außerhalb der Erde wendet er sich dann dem Phänomen des Lebens auf der blauen Erde zu, und rafft die ca. 3.5 Milliarden Jahre Entstehung des Lebens auf der Erde mit Akzentuierung des Homo sapiens in 14 Zeilen auf S.24 zusammen. Die 14 Zeilen schließen mit der Bemerkung „obgleich wir … im kosmischen Maßstab kaum mehr sind als eine Eintagsfliege der irdischen Evolution“.

Fast könnte man das Buch an dieser Stelle zuklappen, es beiseite legen, und vergessen, dass es dieses Buch gibt.

Was immer der Autor Glaubrecht an wunderbaren Dingen in seinem Kopf haben mag, weiß, denkt, fühlt, mit dieser Aussage am Ende seiner 14 Zeilen Evolution auf S.24 deutet er an, dass er den Menschen in seiner biologischen Erscheinungsweise sehr ‚klassisch biologisch‘ sieht, Produkt einer ‚biologischen Hervorbringung‘, von der viele Biologen zu glauben wissen, was biologisches Leben ist. Dieser sich hier nurmehr ‚andeutende Akzent‘, dieser ‚gedankliche Tonfall‘, wird die ganze ‚Sinfonie der Gedanken‘ im weiteren Gang begleiten, verfolgen, und zu Disharmonien führen, die das ganze Werk in einen Abgrund zu reißen drohen, aus dem es kein gedankliches Entkommen zu geben scheint. ‚Schwarze Löcher‘ sind nicht nur ein Problem der heutigen theoretischen Physik.

Nachdem Glaubrecht (SS.24-28) die großen Phänomene einer tiefgreifenden Störung der Biosphäre und ihrer planetarischen Umgebung ins Bewusstsein gerufen hat (Bevölkerungsentwicklung, Ressourcenverbrauch, dramatisches Artensterben, Klimaextreme), deutet er auf das widersprüchliche Phänomen hin, dass es gesellschaftlich zwar schon — auch seit längerem — eine gewisse Wahrnehmung dieser Phänomene gibt (vgl. z.B. S.27), dass diese partiellen gesellschaftlichen Wahrnehmungen aber noch zu keiner wirklich wirksamen gesellschaftlichen Verhaltensänderung geführt zu haben scheinen.

Wer sollte diese ‚Gegenbewegung‘ zu einer wahrnehmbaren globalen zerstörerischen Dynamik auslösen? Woher sollte sie kommen?

Auf den Seiten 28-30 bekennt sich Glaubrecht klar zum Faktor ‚Wissen‘: „Der Schlüssel zu allem ist Wissen; ohne Kenntnis der Fakten und Hintergründe, der Daten und Quellen ist ein sicherer Umgang mit den komplexen Szenarien unserer Gegenwart nicht möglich, geschweige denn, dass sich die Herausforderungen der Zukunft meistern lassen.“(S.28) Allerdings, diese Bemerkung ist wichtig, Wissenschaft kann wirklich verlässlich „nur Vergangenes und bereits Geschehenes deuten“.(S.29) Dies klingt eher resignativ und wäre möglicherweise kaum ein Hilfe, gäbe es nicht doch auch — so Glaubrecht — die Möglichkeit, aus der Vergangenheit zu „lernen“ und „mithin Vorhersagen erleichtern“.(vgl. S.29)

Glaubrecht sagt nicht viel — eigentlich gar nichts — zur Frage, wie denn überhaupt Prognosen möglich sein können, was ihre Randbedingungen sind. Und irgendwie scheint ihm diese Option der ‚Prognose‘ ein wenig suspekt zu sein, beginnt er doch dann den Abschnitt darüber, wie er in seinem Buch arbeiten will, mit einem verstärkten Zweifel an der Möglichkeit von Prognosen (sein Zitat von Niels Bohr, S.30, Zeilen 1-2) und stellt fest „Tatsächlich ist Wissenschaft immer nur im Rückblick wirklich gut“.(S.30)

Damit mehren sich die Fragen, was Glaubrecht denn genau unter ‚Wissenschaft‘ versteht? Prognosen bezweifelt er, und der ‚Rückblick‘ soll es richten? Und er betont, dass es hier nicht nur um sein eigenes „Bauchgefühl“ — das eines einzelnen Wissenschaftlers — geht, der „sein Bauchgefühl zur Wissensautorität erhebt“ (S.28), sondern darum „Evidenzen“ zu sichern.(vgl. S.28f) Er verweist dann auf die Wissenschaftstheorie, die betone, dass das Gute an Wissenschaft sei, „dass wir ein Verfahren haben, den Gegenständen unserer Forschung gerecht zu werden, und unsere Ansichten, Befunde und Meinungen methodisch zu testen gelernt haben, statt uns im Vagen und Wunschdenken zu verlieren.“(S.29)

Eine Formulierung wie „den Gegenständen unserer Forschung gerecht zu werden“ ist natürlich ‚vage‘, und der Hinweis „unsere Ansichten, Befunde und Meinungen methodisch zu testen gelernt haben“ soll vielleicht weiter beruhigend wirken, aber diese Formulierung ist auch vage. Eine Kernbedeutung von ‚Testen‘ ist normalerweise jene, dass ich aus ‚Annahmen‘, die ich als Wissenschaftler — warum auch immer — mache, eine ‚Folgerung‘ (eine ‚Prognose‘) ableite, die ich dann ‚teste‘. Dieses Konzept der Generierung von ‚Prognosen‘ setzt einen ‚Mechanismus‘ (ein ‚Verfahren‘) voraus, wie ich aus Annahmen eine Prognose ‚ableiten‘ kann. Wie zirka 2.500 Jahre Philosophie und etwa 150 Jahre Wissenschaftsphilosophie zeigen, ist dies alles andere als ein ‚trivialer Sachverhalt‘. Glaubrecht schweigt dazu. Was sagt dies über seine Wissenschaftlichkeit … und jene der Evolutionsbiologie und Biodiversitätsforschung? Fakten ja, aber keine Prognosen?

Und es gibt noch einen Punkt, der bedenklich stimmen kann, ja sollte. Nach seiner wissenschaftsphilosophischen Verortung, die sich in vagen Andeutungen erschöpft, kommt er zu folgender Feststellung: „Just beim Blick in die biohistorischen Vergangenheit ist die Evolutionsforschung in ihrem Metier. Ausgerüstet mit dem Blick des Evolutionsbiologen und dem Wissen des Biodiversitätsforschers zur Artenvielfalt ebenso wie Artenschwund soll es hier um den Menschen, seine Wurzeln in der Natur und die Entwicklung seiner Kultur sowie um unseren Umgang mit der Natur gehen; schließlich auch darum, wohin uns das zukünftig führt“.(S.30)

Dass „Evolutionsbiologen und … Biodiversitätsforscher“ besonders geschult sind, um ‚evolutionäre biologische Prozesse‘ sowie die ‚Entwicklung von biologischen Arten‘ zu identifizieren und zu beschreiben, das mag man zunächst noch glauben; den nächsten Schritt, nämlich solche ‚auf Beobachtung beruhenden Evidenzen‘ dann sogar in ‚geeignete voraussagefähige Modelle‘ einzuordnen, muss man nicht unbedingt glauben. Noch weniger sollte man so ohne weiteres glauben, dass ‚Evolutionsbiologen und Biodiversitätsforscher‘ einfach so auch befähigt sind, komplexe Phänomene wie ‚Kultur‘ bzw. überhaupt ‚menschliche Gesellschaften‘ zu beschreiben. Ein Schreiner mag zwar an einem Haus Aspekte erkennen, die mit seiner Profession als Schreiner Überschneidungen aufweisen, aber er wird damit nicht zum ‚Multi-Handwerker‘, keinesfalls automatisch zum ‚Architekt‘ oder ‚Bauingenieur‘.

Mit dieser Selbstüberschätzung einzelner Disziplinen steht Glaubrecht nicht alleine. Er reproduziert damit nur ein Muster, was sich heute — leider — in nahezu allen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen findet: jeder kultiviert seine eigene ‚Wissenschaftssprache‘, seine eigenen ‚wissenschaftlichen Methoden‘, aber die Fähigkeit zum ‚transdisziplinären‘ Denken und zu einer ‚gemeinsamen allgemeinen Theorie‘ existiert bislang eher nur in Absichtserklärungen. Eine der Folgen von dieser ’spendid isolation‘ der moderner Einzelwissenschaften ist genau das, was Glaubrecht — zu Recht — konstatiert: es gibt viele, verstreute Wahrnehmungen von ‚bedenklichen Entwicklungen‘ auf diesem Planeten, aber eine ‚Zusammenschau‘, die sich über ein ‚gemeinsames Wissen‘ organisieren müsste, findet nicht statt, weil wir als Menschen uns den Luxus leisten, in den Köpfen der überwältigenden Mehrheit ‚Weltbilder‘ zu hegen, die mit der realen Welt und ihrer Dynamik wenig zu tun haben. Für populistische und autokratische Gesellschaften eine ideale Umgebung.

Diese eher kritischen Bemerkungen zum wissenschaftlichen Setting des Buches sollten aber nicht davon ablenken, dass die Fülle der Fakten und Einsichten zu jenen Veränderungsprozessen planetarischen Ausmaßes, die Glaubrecht darbietet, wichtig sind. Diese Fülle ist atemberaubend. Doch diese wunderbare Seite des Buches darf nicht darüber hinweg täuschen, dass das schwierige wissenschaftlichen Setting des Buches sich voraussichtlich dort bemerkbar machen wird, wo es um eine Einschätzung der möglichen Zukunft gehen wird, ob und wie wir diese werden bewerkstelligen können. Auf dem Weg dahin wird es natürlich vielfach Sachverhalte geben, deren Einschätzung aufgrund seines Vorverständnisses vorzüglich in die Richtung seines Vorwissens laufen werden. Dies ist unausweichlich.

Auf den Seiten 30-35 lässt Glaubrecht umrisshaft erkennen, wie er sein Buch in drei Teilen organisieren will. Vor dem Blick in die Zukunft (Prognose!) ein langer Blick zurück in die Vergangenheit: Befunde, Fakten, Zusammenhänge. (vgl. S.30)

Im Rückblick auf den bisherigen Weg des Menschen zeichnet er das Bild eines „Pfadfinders“, der neugierig umherzieht, der sich überall aus einer scheinbar kostenlosen, unerschöpflichen Natur bedient, und der sich dabei rein zahlenmäßig dermaßen vermehrt, dass er nach und nach die gesamte planetarische Oberfläche in Besitz genommen und dabei so verändert hat, dass der Lebensraum nicht nur für erschreckend viele andere Arten genommen und zerstört wurde, sondern mittlerweile auch für sich selbst. Diese Auswirkungen des Menschen auf den Planeten sind so massiv, dass Geowissenschaftler eine neue erdgeschichtliche Epoche mit Namen „Anthropozän“ vorschlagen. (vgl.S.33) Alle Indizien deuten auf ein neues, sechstes, planetarisches Artensterben hin.(vgl. S.33) Dass es für uns Menschen scheinbar immer noch funktioniert trotz der aufweisbaren massiven Schäden überall lässt erahnen, wie komplex und redundant das gesamte biologische Ökosystem aufgebaut ist; in Milliarden von Jahren hat es sich in einer Weise ‚organisiert‘, die von einer großen ‚Resilienz‘ [1],[1.1], [1.2] zeugt. Doch diese ist nicht ‚unendlich‘; wenn die zerstörerischen Belastungen bestimmte Punkte — die berühmten ‚tipping points‘ — überschreiten, dann bricht das System so zusammen, dass eine Regenerierung — wenn überhaupt — möglicherweise nur über viele Millionen Jahre möglich sein wird und dann … (vgl. S.34f)

Wie dieser aktuell dramatische Prozess letztlich ausgehen wird: Glaubrecht lässt diese Frage bewusst unbeantwortet. Er plant zwar, einen ‚worst case‘ und ein mögliches ‚happy end‘ zu schildern (vgl.S36), aber welcher dieser beiden Fälle — oder womöglich noch ein dritter — letztlich eintreten wird, hängt vom Verhalten von uns Menschen in den nächsten Jahren ab. Wiederholt weist er darauf hin, dass der ‚Klimawandel‘, der heute in alle Munde ist, letztlich ja nur eine Nebenwirkung des eigentlichen Hauptproblems, der Verwüstung des Ökosystems ist. Eine Konzentration auf das Klima bei Vernachlässigung des ökologischen Problems kann daher kontraproduktiv sein.(vgl. S.36f)

Womit sich die Frage stellt, ob uns Menschen letztlich — biologisch und kulturell — die Mittel fehlen, mit dieser Problematik angemessen umzugehen? „Ist der Mensch letztlich ein vernunftloses Tier?“ (S.36)

(Paläo-)Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Religion …

Gefühlt könnte der Prolog auf S.37 enden. Glaubrecht bringt aber noch Gedanken ins Spiel, die mit Evolutionsbiologie und Biodiversität eigentlich nichts mehr zu tun haben. Sein methodologisches wissenschaftliches Programm von S.30 wird damit deutlich gesprengt. Es folgt eine Skizze des Homo sapiens in den letzten 12.000 Jahren in denen die „überschaubaren Jäger und Sammler Horden“ (S.37) sich in Bauern verwandelten, in immer komplexere Gesellschaften leben mit all den Phänomenen, die frühe komplexe Gesellschaften so mit sich brachten (Ungleichheit, Gewalt, Unterdrückung, Krankheiten, Soziales als Stress, ..). Diese Darstellung ist durchsät mit ‚Bewertungen‘, die all dies Neue eher ’negativ‘ erscheinen lassen gegenüber der vorausgehenden ‚positiven‘ Zeit der wenigen, frei umherziehenden Horden.(vgl. S.37f)

Mit Evolutionsbiologie und Biodiversität hat dies nicht mehr viel zu tun. Glaubrecht bezieht sich an dieser Stelle direkt und ausführlich auf Schalk und Michel (EN 2016, DE 2017), die das Buch der Bibel aus anthropologischer Sicht interpretieren. Dazu führen sie eine dreifache Typologie der menschlichen ‚Natur‘ ein: (i) ‚Biologisch‘, (ii) ‚Kultur‘, (iii) ‚Vernunft‘. Abgesehen davon, dass die für die Klassifikation benutzten Begriffe in ihrem Verwendungskontext und ihrem Bedeutungsfeld mehr als vage sind, erscheint die Zuschreibung dieser Begriffe zur biologischen Lebensform des homo sapiens philosophisch und wissenschaftsphilosophisch zunächst sehr willkürlich (wenngleich diese Art der Typisierung sehr populär ist). Die in der Anthropologie (und auch den Geisteswissenschaften) sehr beliebte Gegenübersetzung von ‚Biologisch‘ und ‚Kultur‘ und dann auch noch zur ‚Vernunft‘ sitzt tief in den Köpfen der Vertreter dieser Disziplinen, aber dies sind ‚Denkprodukte‘ einer Epoche, ‚Artefakte‘ eines Denkens, das viele Jahrhunderte, ja viele Jahrtausende, nichts anderes gekannt hat. Wenn man aber im 20.Jahrhundert, und jetzt sogar im 21.Jahrhundert, lebt, darf man sich über diese denkerische Naivität schon wundern.

Fast schon extrem ist in diesem Zusammenhang die Zurichtung des Blicks auf das Phänomen der jüdisch-christlichen Religion mit der ‚Bibel‘ als Referenzpunkt. Bedenkt man, wie umfassend und reichhaltig die verschiedenen Gesellschaften und Kulturen der Menschheit in allen Erdteilen schon ab -5000 waren (man denke z.B. an Indien, China, Ägypten,) dann erscheint diese Blickverengung nicht nur extrem, sondern auch willkürlich.

Die Interpretation der Bibel, die Schaik und Michel präsentieren (und die Glaubrecht durch sein ausführliches Zitieren mindestens wohlwollend zur Kenntnis nimmt)(vgl. SS.38ff), ist zwar bei vielen immer noch populär, ist aber wissenschaftlich in keiner Weise zu rechtfertigen. Wie die verdienstvolle Arbeit der kritischen Bibelwissenschaften (ab dem 18.Jahrhundert)[2],[3] zeigt, muss man den Text des Alten Testaments als das Produkt eines Entstehungsprozesses sehen, der inhaltlich bis in die Zeit vor -900 (oder sogar weiter) zurückverweist. Er dokumentiert das vielstimmige Ringen von Menschen aus vielen verschiedenen Regionen und Zeiten, um eine Antwort auf letzten und doch auch sehr konkrete Fragen des Verhaltens im Alltag zu finden. In diesen Texten wird deutlich, dass diese Sichten keinesfalls ‚monoton‘ waren, sondern vielstimmig, teilweise geradezu konträr.[4] Und sowohl am Beispiel der jüdisch-christlichen Tradition wie auch an den Beispielen der verschiedenen anderen Religionen ist unübersehbar, dass es letztlich nicht die sogenannten ‚religiösen Inhalte‘ waren, die ganze Völker ‚befriedet‘ haben, sondern massive Machtinteressen (eng gekoppelt an finanziellen Interessen), die sich die religiösen Erzählungen für ihre Zwecke nutzbar machten um damit viele Völker äußerst blutig zu unterwerfen bzw. die Unterworfenen dogmatisch-autokratisch zu regieren. Dass sich modernes Denken, moderne Wissenschaft trotz dieser gedanklichen Unterdrückung überhaupt entwickeln konnten, ist dann fast schon ein Wunder. Die destruktive Kraft der religiösen Traditionen erlebt heute in vielen populistisch-fundamentalistischen Strömungen immer noch eine globale Wirkung, die ein modernes, dem Leben zugewandtes kritisches Denken eher verhindert und freie Gesellschaften gefährdet.[6]

Die massive Unterdrückung von anderem Fühlen und Denken, die von der jüdisch-christlichen Tradition mindestens ausging (und das war nicht die einzige Religion, die sich so verhielt) basiert im Kern auf bestimmten Überzeugungen, was ‚der Mensch‘ und was ‚Geschichte‘ ist. Während die Bibel selbst — und hier insbesondere das alte Testament — noch vielstimmig und gar konträr daherkommt, entstanden in den Zeiten nach der ‚Kanonisierung‘ [7] der verschiedenen Schriften immer mehr ‚verfestigte‘ Interpretationen, die zwar geeignet waren, Machtansprüche der herrschenden Institutionen durchzusetzen, sie verkleisterten aber das ursprüngliche Bild, machten seine menschlichen Verwurzelungen eher unsichtbar, und leisteten damit einer starren Dogmatisierung Vorschub. ‚Anderes‘ Denken war erst einmal ‚fremd‘, ‚gefährlich‘, ‚falsch‘. Dass die ‚Intelligenz der mittelalterlichen Mönche‘ es über mehrere Jahrhunderte hin schaffte, das ‚Denken der Griechischen Philosophie, vor allem das Denken des Aristoteles‘, in einen konstruktiven Dialog mit dem christlichen Dogma zu bringen, grenzt schon fast an ein Wunder. Allerdings schafften diese großartigen Denker es nicht, das christliche Lehramt in zentralen Positionen zu erneuern. Die aufkommenden neuen empirischen Wissenschaften (bis hin zur Evolutionsbiologie) wurden ebenfalls zunächst verteufelt, verfolgt, gar auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die christliche Begleitung der europäischen Unterwerfung der Völker anderer Kontinente ermöglichte zwar neue Einsichten und Verhaltensweisen speziell des Jesuitenordens, der sich überall auf die Seiten der ursprünglichen Bewohner schlug (Nord- und Südamerika, Asien), indem sie diese Sprachen lernten, Wörterbücher herausgaben, deren Kleidung und religiösen Praktiken teilweise übernahmen, oder sie (in Südamerika) aktiv gegen die portugiesisch-spanischen Ausbeuter zu schützen versuchten, doch wurden sie dafür von der Institution gnadenlos abgestraft: ohne Vorankündigung wurden sie über Nacht überall verfolgt, eingekerkert, gefoltert, umgebracht. Die später aufkeimende kritischen Bibelwissenschaften hatten genug Erkenntnisse, um die naiven Grundanschauungen des christlichen Dogmas zu erschüttern und als haltlos zu erweisen. Aber auch diese wurden lange unterdrückt und innerhalb der Institution dann soweit ‚abgeschwächt‘, dass notwendige Korrekturen am Gesamtbild von ‚Mensch‘, ‚Geschichte‘, ‚Institution‘ dann doch wieder unterblieben.

Wenn die Autoren Schaik und Michels — mit Billigung von Glaubrecht — diese ‚finstere Maschine‘ einer dogmatischen christlichen Religion (mit vielen ihrer späteren Ablegern) letztlich ‚glorifizierend‘ preisen als einen ‚menschheitsverbindenden Verhaltenskodex‘, den man irgendwie zurück haben möchte (S.41), dann erscheint dies vor dem Hintergrund der massiven Fakten als ‚extrem naiv‘; mit Wissenschaft hat dies nicht das Geringste zu tun.

Typisierung: Natur – Kultur – Vernunft

Ich möchte hier nochmals auf die für Schaik und Michels grundlegende Typisierung der menschlichen ‚Natur‘ als (i) ‚Biologisch‘, (ii) ‚Kulturell‘, (iii) ‚Vernunft‘ (vgl. S.39f) zurück kommen, die sich prozesshaft in einem komplexen Phänomen von „kumulativer kultureller Evolution“ (S.40) niederschlägt.

Wenn ich ein technisches System wie einen Computer nehme, dann besteht dieser aus (i) Hardware, die festlegt, welche technischen Systemzustände im Prinzip möglich sind (Hardware, die mittlerweile partiell ‚adaptiv‘ sein kann), aus (ii) Software, die aus dem Raum der möglichen Systemzustände eine charakteristische Teilmenge von Zuständen auswählt, und — für den menschlichen Benutzer bedeutsam — (iii) das beobachtbare Input-Output-Verhalten des Systems, das mit dem menschlichen Verhalten eine ‚Symbiose‘ eingeht. Ein Mensch im Jahr 2022, der ein sogenanntes ‚Smartphone‘ benutzt, der denkt während der Nutzung weder über die Hardware noch über die Software nach; er erlebt das technische System direkt und unmittelbar als ‚Teil seines eigenen Handlungsraumes‘. Letztlich ‚verschwindet‘ in der Wahrnehmung das technische System als etwas ‚Anderes‘; es gehört zum Menschen so wie sein Arm, seine Hand, seine Beine.

Die Dreifach-Typologie von Schaik und Michel (literarisch approbiert von Glaubrecht) liese sich auf die Menge der Smartphones anwenden: (i) der menschliche Körper als Manifestation des ‚Biologischen‘ entspricht der Hardware als Manifestation des Technischen. (ii) Die ‚Kultur‘ entspricht der Software, deren Regelmengen die Menge der Systemzustände festlegen. (iii) die ‚Vernunft‘ entspricht jenen typischen ‚Reaktionen‘ des technischen Systems auf die Anforderungen seitens des menschlichen Benutzers, in denen das System ‚antwortet‘, ‚erinnert‘, ‚Konsequenzen sichtbar macht‘, ‚Assoziationen herstellt‘, usw.

Wer jetzt einwenden möchte, dass diese ‚Auslegung der Begriffe‘ in diesem Beispiel doch etwas ‚willkürlich‘ sei, der sollte sich fragen, wie denn Schaik und Michel die Verwendung ihrer Begriffe rechtfertigen. Ihre Verwendung der Begriffe ist absolut beliebig.

Im Smartphone-Beispiel wird allerdings klar, dass die unterschiedlichen ‚Erscheinungsweisen‘ dieses technischen Systems (Hardware, Software, Input-Output-Verhalten) zwar sprachlich unterschiedlich gehandhabt werden können, dass aber jede ‚Ontologisierung‘ dieser drei Erscheinungsweisen in Richtung eigenständiger ‚Naturen‘ die tatsächliche Funktionalität des Systems stark verzerren würde. Jeder Informatiker weiß, dass das beobachtbare Input-Output-Verhalten des Smartphones (so ‚klug‘ es auch erscheinen mag), letztlich nur eine spezielle Abbildung der inneren Systemzustände ist, die von der aktiven Software aus der Menge der möglichen technischen Systemzustände ausgewählt wird. Das eine kann man nicht ohne das andere verstehen. Das technische System bildet als solches ein einziges ‚funktionales Ganzes‘. Und in dem Maße wie Computersysteme über ‚Sensoren‘ verfügen (das Smartphone hat sehr viele), die ‚Signale der Außenwelt‘ messen können, und/ oder auch über ‚Aktoren‘ (hat ein Smartphone auch), auf die Außenwelt physikalisch einwirken kann, dann kann ein Smartphone ‚Zustände der Außenwelt‘ in seine ‚internen Systemzustände‘ ‚abbilden‘, und es kann — falls die Software so ausgelegt wurde — auch Eigenschaften der Außenwelt (und auch über sich selbst) ‚lernen‘. Nicht rein zufällig sprechen ja heute fast alle vom ‚Smart‘-Phone, also von einem ‚klugen‘ Phone, von einem klugen technischen System. Selbstfahrende Autos und ‚autonome Roboter‘ gehören auch in diese Rubrik der ‚klugen‘, ‚vernünftigen‘ Maschine.

Wenn jetzt wieder jemand (vorzugsweise Anthropologen und Geisteswissenschaftler) einwenden würden, dass man diese Begriffe ‚klug‘ und ‚vernünftig‘ hier nicht anwenden darf, da sie ‚unpassend‘ seien, dann kann man gerne zurückfragen, wie Sie denn diese Begriffe definieren? Die Verwendungen dieser Begriffe in der Literatur ist dermaßen vielfältig und vage, dass es schwer fallen dürfte, eine ’scharfe‘ Definition zu geben, die eine gewisse Mehrheit findet. Nichts anderes machen die Informatiker. Weitgehend ohne Kenntnis der philosophischen Literatur benutzen sie diese Begriffe in ihrem Kontext. Sie haben allerdings den Vorteil, dass ihre technischen Systeme schärfere Definitionen zulassen. Von einer ‚klugen‘ Maschine in einem Atemzug mit einem ‚klugen‘ Menschen zu sprechen, erhöht zwar den kulturellen Verwirrtheitsgrad, bislang scheint dies aber niemanden ernsthaft zu stören.

Um es klar zu sagen: das von mir konstruierte Beispiel ist genau das, ein Beispiel; es ersetzt keine umfassende ‚Theorie‘ über den Menschen als Moment der biologischen Evolution auf diesem blauen Planeten. Von einer solchen Theorie sind wir aktuell auch noch — so scheint es — gefühlte Lichtjahre entfernt. Auf jeden Fall dann, wenn Biologen und Anthropologen kein Problem damit zu haben scheinen, solch ein finsteres Phänomen wie die jüdisch-christliche Religion in ihrer historischen Manifestation (sind andere besser?) als positives Beispiel einer Bewältigung des Lebens auf diesem Planeten zu qualifizieren. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Biologen und Anthropologen sich mehr damit beschäftigen würden, wie denn alle diese — scheinbar widersprüchlichen Phänomene ‚biologische Systeme‘, ‚Kultur‘ und ‚Vernunft‘ tatsächlich zusammenhängen. Die — geradezu naive — Verherrlichung der frühen Phase des ‚vorgesellschaftlichen‘ homo sapiens und die — ebenso naiven — Kassandra-Rufen-ähnliche Klassifizierungen von zunehmend komplexen Gesellschaftsbildungen zerstört das Phänomen, was es wissenschaftlich zu erklären gilt, bevor man es überhaupt richtig zur Kenntnis genommen hat. Hier bleibt erheblich ‚Luft nach oben‘.[8]

KOMMENTARE

wkp := Wikipedia, [de, en, …]

[1] Resilienz: Dieser Begriff wird von verschiedenen Disziplinen in Anspruch genommen. Nach meinen Recherchen taucht er als erstes in der Ökologie auf [1.1], wo er sich als wichtiger theoretischer Begriff etabliert hat.[1.2]

[1.1] C.S. Holling. Resilience and stability of ecological systems. Annual Review of Ecology and Systematics, 4(1):1–23, 1973. Online: https://www.jstor.org/stable/2096802

[1.2] Brand, F. S., and K. Jax. 2007. Focusing the meaning(s) of resilience: resilience as a descriptive concept and a boundary object. Ecology and Society 12(1): 23. [online] URL: http://www.ecologyandsociety.org/vol12/iss1/art23/

[1.3] Peter Jakubowski. Resilienz – eine zusätzliche denkfigur für gute stadtentwicklung. Informationen zur Raumentwicklung, 4:371–378, 2013.

[2] Biblische Exegese in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Biblische_Exegese

[3] Historisch-kritische Methode in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Historisch-kritische_Methode_(Theologie)

[4] Ein sehr prominentes Beispiel sind die beiden verschiedenen Versionen der sogenannten ‚Schöpfungsgeschichten‘ zu Beginn des heutigen biblischen Textes, die aus ganz verschiedenen Zeiten stammen, eine ganz verschiedene Sprache benutzen (im hebräischen Text direkt sichtbar), und die ganz unterschiedliche Bilder von Gott, Mensch und Schöpfung propagieren.

[5] Carel van Schaik und Kai Michel, „Das Tagebuch der Menschheit: Was die Bibel über unsere Evolution verrät“, Rowohlt Taschenbuch; 8. Edition (17. November 2017)(Original: The Good Book of Human Nature. An Evolutionary Reading of the Bible, 2016)

[6] Sehr aufschlussreich ist der Umgang der christlichen Tradition mit der sogenannten ‚Spiritualität‘ und ‚Mystik‘: nahezu alle großen geistlichen Lebensgemeinschaften (oft ‚Orden‘ genannt) durften nur existieren, wenn sie sich vollständig der Kontrolle der Institution unterwarfen. Falls nicht, wurden sie verfolgt oder getötet. ‚Subjektivität‘, ‚individuelle Erfahrung‘, nichtautoritäre Praxis, andere Gesellschaftsformen, wurden kompromisslos unterdrückt, ebenso jede Art von abweichender Weltsicht (man denke z.B. nur an Galilei und Co.).

[7] Die ‚Kanonisierung‘ der Bibel meint den historischen Prozess, in dem festgelegt wurde, welche Schriften zum Alten und Neuen Testament gezählt werden sollten und welche nicht. Wie man sich vorstellen kann, war dieser Prozess in keiner Weise ‚trivial‘.(Siehe auch: wkp-de, https://de.wikipedia.org/wiki/Kanon_(Bibel))

[8] Eine sehr interessante alternative Sicht im Bereich (Kultur-)Antropologie und Soziologie zum Verständnis des Phänomens Mensch bietet das interessante Buch von Pierre Lévy  “Collective Intelligence. mankind’s emerging world in cyberspace” (translated by Robert Bonono),1997 (French: 1994), Perseus Books, 11 Cambridge Center Cambridge, MA, United States. Allerdings scheint auch dieses Buch — trotz seiner neuen Akzente — noch eher im ‚alten Denken‘ verhaftet zu sein als in einem ’neuen Denken‘.

[8.1] Eine Folge von Kommentaren zu Pierre Lévy’s Buch findet sich hier: Gerd Doeben-Henisch, 2022, „Pierre Lévy : Collective Intelligence – Chapter 1 – Introduction“, https://www.uffmm.org/2022/03/17/pierre-levy-collective-intelligence-preview/ (mit Fortsetzungs-Links)

Ein Überblick über alle Beiträge des Autors nach Titeln findet sich HIER.

Gedanken und Realität. Das Nichts konstruieren. Leben Schmecken. Notiz

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 22.-25.Januar 2021
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

KONTEXT

Im vorausgehenden Beitrag Ingenieure und das Glück klingen Themen an, die viele (die meisten?) normalerweise so nicht miteinander verknüpfen würden. Aber, wenn man — wie der Autor — durch den Gang des Lebens — Gelegenheit hatte, sich mit diesen Themen über Jahre intensiv beschäftigen zu können, dann kann man auf diese Zusammenhänge stoßen. Wichtig ist das Wort Kann.

GEDANKEN UND REALITÄT

Wann immer wir uns wo befinden, wir tragen immer die Erfahrungen, das Wissen mit uns herum, das sich in unserem Gehirn bis zu diesem Zeitpunkt angesammelt hat, eingebettet in eine Wolke von Emotionen und Bedürfnissen, alles mehr oder weniger unbewusst. Tatsächlich bewusst werden uns diese Dinge immer nur dann, wenn irgendwelche Ereignisse von außen oder von innen unser Gehirn in einer Weise stimulieren, dass das Gehirn Verbindungen zu diesem unbewusst Vorhandenen aufbaut. Wie das Gehirn diese Verknüpfungen aufbaut, ist selbst weitgehend unbewusst, automatisch. Allerdings haben viele Experimente gezeigt, dass die aktuellen Umstände eine Rolle spielen, insbesondere Emotionen und Bedürfnsse. In Situationen, in denen wir negative Emotionen erfahren haben, verbindet unser Gehirn z.B. unsere Wahrnehmung von Aspekten der Situation automatisch auch mit diesen negativen Emotionen, obgleich die Emotionen sachlich gar nichts mit den wahrgenommenen Aspekten der Situation zu tun haben müssen. Das Gehirn reagiert hier automatisch, weil es so gebaut ist. In Zukunft werden die wahrgenommenen Aspekte dieser vergangenen Situation dann für uns immer verbunden sein mit diesen speziellen Emotionen.

Ein anderer Aspekt — in diesem Blog schon oft angesprochen — ist das Eigenleben unserer Gedanken im Gehirn, unabhängig von der Welt da draußen außerhalb des Gehirns. Was immer wir irgendwie empfinden, erleben, wahrnehmen, uns vorstellen, denken, …. all dies findet in unserem Gehirn statt; dieses Gehirn sitzt in unserem Körper und hat keinen direkten Kontakt mit der Welt außerhalb dieses Körpers, nur direkt mit dem Körper, der selbst auch außerhalb des Gehirns ist. Das Gehirn selbst ist eines der fantastischsten Systeme im gesamten bekannten Universum. Rein zahlenmäßig ist es mit seinen ca. 80 Milliarden (10^9) Zellen zwar nicht einmal halb so groß wie unsere Heimat-Galaxie die Milchstrasse Sterne hat, aber die Intensität der Verbindungen untereinander (eine Zelle bis zu 100.000 andere Zellen) und die Dynamik dieser Zellen übersteigt alles, was wir uns bislang vorstellen können.

Dennoch, unser fantastisches Gehirn mit seinen fantastischen Eigenschaften, wie es aus Gegenwart Vergangenheit produziert, aufgrund der produzierten Vergangenheiten Erwartungen für eine prinzipiell unbekannte Zukunft errechnet, und dann sogar mittels einer inneren Sprache die Vielfalt der Eigenchaften der wahrgenommenen Welt in nahezu beliebigen Konfigurationen zu bedeutungsvollen Gegenständen versammeln kann, zu bedeutungsvollen Verbindungen, zu bedeutungsvollen Mustern, dieses unser Gehirn verbleibt mit diesen seinen kreativ-schöpferischen Aktivitäten letztlich in sich selbst. In gewisser Weise kann man sagen, es redet mit sich selbst. Es schafft seine eigene Realität, die für uns die primäre Realität ist. Von außen betrachtet — ein Gedankenkonstrukt — muss man die primäre Realität des Gehirns im Vergleich zur umgebenden Realität des Körpers und dann der Welt jenseits des Körpers als virtuelle Realität bezeichnen.

Wer sich all dieser Dinge nicht bewusst ist — fragen Sie sich selbst, fragen Sie ihre Freunde und Bekannten, wie diese es sehen — für den ist diese wundersame Welt des eigenen Gehirns weniger eine Chance zu einer vertieften Welterkenntnis als vielmehr eine Gefahr zu einem Weltbild, das durch und durch schräg, ja falsch sein kann.

Wenn ein Ereignis im Körper vom Gehirn wahrgenommen wird (z.B. eine Schmerzempfinung, ein Hungergefühl, eine sexuelle Erregung, …), dann weiß das Gehirn in der Regel wenig bis gar nichts darüber, wo es herkommt, warum. Das Gehirn sucht aber automatisch für sich nach einem Zusammenhang, nach einer Erklärung. Es fängt automatisch an, zu konstruieren. So ist es gebaut.

Bei Ereignissen außerhalb des Körpers ist es nicht anders. Wenn Kleinkinder in ihren ersten Monaten — und dann Jahren — von Sinneseindrücken aller Art überschwemmt werden, dann ist das Gehirn voll damit beschäftigt, all diese neuen Ereignisse zu sortieren und zu verknüpfen. Im Gehirn entstehen die Grundlinien eines Modells, wie all dies zusammenhängen kann. Dies geschieht unbewusst! Die Welt, die wir sehen, die wir erleben, an der wir unsere künftigen Überlegungen ausrichten, diese Welt ist die Welt in unserem Gehirn, so wie sie das Gehirn sich zurecht gelegt hat, um sich in dem unaufhaltsamen Strom der Sinnesereignisse zurecht zu finden.

Gemeinsam Erkennntnisse über die Welt da draußen zu bekommen, die subjektiven Eindrücke untereinander durch Handlungen und Sprache abzugleichen, ist eine große Chance. Nur so können wir letztlich herausfinden, ob ein Bild, das wir in unserem Gehirn von der Welt haben, ähnlich ist, wie das, das ein anderer hat. Ohne die Rückbindung durch andere ist die Gefahr einer Innensicht, die mit der realen Welt jenseits des Gehirns nur schlecht bis garnicht verknüpft ist, sehr hoch. Wenn allerdings eine Gruppe von Menschen die gleichen falschen Bilder in sich mit sich herumtragen, dann nützt auch ein gemeinsames Reden nichts. Wenn z.B. das Wort Demokratie in den Gehirnen der Beteiligten jeweils ganz andere Eigenschaften wach ruft, dann nützt dieses Wort nicht viel: jeder stellt sich etwas anderes darunter vor und jeder leitet von diesen unterschiedlichen Bedeutungen ganz verschiedene Einschätzungen und Handlungen ab. Eine Einheit im Verstehen und Handeln ist dann nicht möglich…

Seitdem die Bilder im Umfeld der Präsidentschaftswahlen in den USA 2021 um die Welt gehen, die krasse Gegensätze in der Sicht der Ereignisse bei den unterschiedlich Beteiligten offenbaren, sollte jedem klar geworden sein, dass die Unterscheidung von der Realität in unseren Gehirnen und der Realität da draußen im Land real ist: die Parole von der gestohlenen Wahl wird von den einen als Bild übernommen, das sie für wahr halten, und die anderen halten die intendierte Bedeutung dieser Parole nicht für wahr. Die realen Umstände dieser Wahlen, soweit sie dokumentiert sind, sind für beide Gruppierungen die gleichen, sie werden jedoch aufgrund der herrschenden Bilder im Gehirn von beiden Gruppierungen unterschiedlich gedeutet. Bislang scheint es keine Mechanismus der Wahrheitsfeststellung zu geben, der von beiden Gruppierungen in gleicher Weise anerkannt wird. Solange dies so ist, so lange werden die beiden konkurrierenden Bilder existieren und die Weltwahrnehmung und das davon abhängende Handeln beeinflussen.

DAS NICHTS KONSTRUIEREN/ PLANEN

Wie im vorausgehenden Abschnitt festgestellt, kann das Gehirn aus den Wahrnehmungen der Gegenwart Fragmente der Vergangenheit produzieren, es kann aber die noch ausstehende Zukunft nicht direkt vorweg nehmen. Die Zukunft als solche existiert nicht direkt fassbar. Sofern wir in der Lage sind, die Fragmente der Vergangenheit so zu arrangieren und zu deuten, dass wir aus diesen Fragmenten Hinweise auf wahrscheinliche Ereignisse in der möglichen Zukunft ableiten können, haben wir Arbeitshypothesen zu einzelnen Aspekten, aber nicht mehr.

Angesichts dieser erkenntnistheoretischen Tatsache ist es erstaunlich, wie unbeschwert menschliche Gesellschaften mit einer unbekannten Zukunft umgehen, die sehr wohl gewohnte Lebensverhältnisse in Frage stellen, ihnen ihre Grundlage entziehen kann. Die heute allseits bekannten Themen wie Klimaveränderung, Artensterben, Umweltzerstörung, Ressourcenmangel, Bevölkerugngsentwicklung, Mangel an Trinkwasser, soziale Desintegration, Mobilitäts- und Transporteinschränkungen, Pandemien, Nationalismus und Rassismus, Destruktive Weltbilder, … sind alle von einer Wucht und Komplexität, dass schon eines alleine davon ausreichen kann, um menschliche Populationen mindestens schwer zu schädigen. Aber wir haben mehr als ein solches Schwergewicht-Thema. ..

Die Auseinandersetzung mit diesen Themen im Kontext von Zukunft fällt unter das allgemeine Oberthema Einen Problemraum klären, und, spezieller: Zukunft planen. Im Vorfeld geschieht dies durch allgemeine gesellschaftliche Klärungsprozesse (in Demokratien), die dann durch das politische System verdichtet werden, und es sind dann die Ingenieure, die in engem Verbund mit den Wissenschaften konkrete Lösungsansätze erarbeiten und umsetzen.

Im klassischen Poblemraum — der auch bei den heutigen schwachen Formen von Künstlicher Intelligenz [KI] bzw. Maschinellem Lernen [ML] zugrunde liegt — , sind die Rahmenbedingungen klar: Ausgangspunkt, Ziel (liefert die Bewertungskriterien), mögliche Maßnahmen. In einem modernen, empirischen Problemraum sind die Rahmenbedingungen hingegen weitgehend offen. Es gibt keine klare Kriterien, weil es keine klaren Ziele gibt! Ein mögliches Ziel könnte es z.B. sein, zu sagen, es geht um den Erhalt des biologischen Lebens auf dem Planet Erde. Abgesehen davon, dass nicht zu sehen ist, dass die verschiedenen Nationalstaaten sich auf solch ein Ziel ernsthaft einlassen, wäre solch ein Ziel maximal komplex und unterbestimmt, weil wir die zugehörigen Teilprozesse und Wechselwirkungen bislang weder genügend kennen noch aktuell in der Lage sind, diese alle auf eine unbekannte Zukunft hin hoch zu rechnen.

Nahezu unbeeindruckt von diesen Überlegungen wird in allen Ländern dieser Erde auf jeden Fall täglich gehandelt, ansatzweise geplant, und die realen alltäglichen Probleme nehmen überall zu. Das Versagen von Planung in einem sogenannten hochindustriealisierten Land wie Deutschland ist massiv und niederschmetternd, auf nahezu allen Ebenen. Nahezu alle Parameter sind negativ. Andere Länder sind noch viel schlechter. Ob es auch Länder gibt, die aktuell wirklich besser sind, ist schwer zu beantworten. In manchen Teilbereichen sieht es zumindest so aus.

Die Zukunft zu planen, das reale Nichts, bildet eigentlich die größte Herausforderung an das biologische Leben auf dem Planet Erde, irgendwo in er Milchstrasse, irgendwo in diesem Universum, aber bislang ist professionalle Zukunftsforschung, sind die konkreten Planungsmethoden und -Instrumente für eine ernsthafte Meisterung einer unbestimmten, wenngleich maximal komplexen Zukunft alle sehr speziell, partikulär, extrem gruppen-egoistisch, kryptisch, unkoordiniert. Ein hochkomplexes Land wie Deutschland macht den Eindruck, dass es ziemlich kopflos einfach nur von einem Tag in den anderen, in das Morgen, hinein stolpert. Das Verhalten der Bundesregierung mit samt den Länderregerungen am Beispiel der Corona-Epidemie erscheint grandios amateurhaft und kann nur erschrecken.[1]

LEBEN SCHMECKEN

Eigentlich kann der Text hier enden. Das, was man klar sagen kann, das wurde hier gesagt. Es gibt aber andere Texte von Ingenieuren (!), die im Laufe der letzten Jahre immer mehr gelernt haben, dass einer der Hauptfaktoren für die Unplanbarkeit eines Systems in der Zeit der Faktor Mensch ist. Diese Aussagen haben ein besonderes Gewicht — verglichen mit unzähligen Aussagen von Menschen in ‚weichen‘ Disziplinen — , weil Ingenieure schon immer gezwungen sind, ihre Projekte buchstäblich bis ins letze Detail durchzurechnen und durchzutesten, da sie im Fall des Misslingens direkt haftbar gemacht werden. Und in Grenzbereichen wie sogenannten Echtzeit Systemen (auch Realzeit Systeme genannt) oder Sicherheitskritischen Systemen, muss die Analyse der zu bauenden Systeme tatsächlich bis zur letzten Schraube, bis hin zum verwendeten Material, vollständig berechnet und durchgetestet werden (hier geht es z.B. um Betriebssysteme für Computer, spezielle Computer, Flugzeuge, Raketen, Atomreaktoren, Wolkenkratzern, medizinisches Gerät, …). Und, ja, natürlich geht es auch um den Human Factor, um den Menschen, der mit diesen Systemen arbeitet (Fahrer, Piloten, Kontrollpersonal, Ärzte, …). Und allen Beteiligten ist heute klar: der Mensch unterscheidet sich von technischen Systemen grundlegend!

Aus Sicht der Ingenieure geht es um das Verhalten von Menschen, eine Blickrichtung, die die Ingenieure mit der allgemeinen experimentellen Psychologie teilen. Für das beobachtbare Verhalten von Menschen gibt es viele Beschreibungskategorien, z.B. ob das Verhalten auf eine Lernfähigkeit hindeutet, auf Intelligenz, auf Freiheitsgrade, auf Motivationen, auf Gedächtnisleistungen, auf Wahrnehmungsstrukturen, und sehr vieles mehr. Naturgemäß sind solche verhaltensbasierten Modellierungen nicht ganz scharf. Für die alltägliche Praxis können sie dennoch eine wertvolle Heuristik sein, um das Verhalten von Menchen einzuschätzen.

Will man noch mehr verstehen, dann kann man die Biologie einbeziehen. Die liefert Erkenntnisse über die Feinstruktur von Körpern, von Organen, von Funktionskreisläufen, ja , sie liefert sogar Erkenntnisse über die Entwicklungsgeschichte der heutigen Körper: welche früheren Körperformen gab es; wie unterschieden sich die dazu gehörigen Funktionen von den heutigen Körpern. Speziell interessant sind auch die Wechselwirkungen von Organismen einer Lebensform und ihrer Population(en) mit der jeweiligen Umgebung. Wie wir heute wissen, können Populationen ihre jeweilige Umgebung so beeinflussen, dass diese im Laufe der Zeit zu den Populationen immer besser passen, so dass diese Populationen sich über viele Millionen Jahre nicht ändern müssen, obgleich ihre Struktur denkbar primitiv ist (berühmtes Beispiel sind die europäischen Regenwürmer).

Man kann diese Betrachtungsweise um immer mehr Betrachtungsweisen ergänzen, z.B. um die Mikrobiologie, um die Chemie, und man wird immer elementarere Prozesse feststellen von den Zellen zu den Molekülen, zu den Atomen bis hin zu den Quanten: Sie alle spielen beim Phänomen des Lebens auf dem Planeten Erde eine Rolle. Abrunden kann man das Ganze noch durch die Astrobiologie. Sie liefert Erkenntniss über astrophysikalische Rahmenbedingungen, unter denen das Leben auf dem Planeten Erde stattfindet.

Verweilt man nun nicht in den Einzelperspektiven, sondern versucht alle diese Einzelbilder als Teil eines Gesamtbildes zu sehen, dann kann man den verhaltensnahen Begriffen wie Lernfähig, Intelligent, Motiviert, Freiheitsgrade eine systemische Interpretation zuordnen, die diese Makrophänomene mit einer alle Systemebenen durchziehende Eigenschaft in Verbindung bringt: primär gründend in der Welt der Quanten kommt allen Systemebenen die Qualität einer grundlegenden Freiheit zu: die zeitlich nachfolgenden Systemzustände sind grundsätzlich nicht determiniert. Je komplexer die Systemebenen werden, um so konkreter und vielfältiger werden die Faktoren, die den Übergang vom Jetzt zum Nachher beeinflussen können. Aber die quantenmechanisch fundierte Nicht-Determiniertheit wird auf keiner Systemebene aufgehoben, sondern immer nur mehr und anders moduliert. Ein besonders wunderbares Exemplar einer hochkomplexen Freiheit bildet die Lebensform des homo sapiens. Die ca. 140 Billionen (10^12) Zellen eines einzelnen menschlichen Körpers mitsamt den lebenswichtigen Bakterien entsprechen den Sternen von ca. 120 Galaxien im Format unserer Milchstrasse. Jede dieser Zellen ist ein autonomes Wesen, das in Kommunikation mit vielen Tausenden bzw. Millionen anderer Zellen die unfassbaren vielen Funktionen aufrecht erhalten, die den menschlichen Körper auszeichnen, im Millisekunden Takt. Wir brauchen garnicht erst versuchen, diese Komplexität zu verstehen. Unser Gehirn ist dafür nicht geschaffen. Verglichen mit einem einzelnen menschlichen Körper sind 120 Galaxien verglichen damit langweilig…

Versucht ein Mensch im Lichte des Bewusstseins zu planen, dann verfügt er ohne externen Hilfsmittel nur über einen Bruchteil seines weitgehend unbewussten Wissens. Jeder Versuch einer Rationalisierung seines Daseins oder seinens Planens ist vom Ansatz her zum Scheitern verurteilt. Dies bedeutet nicht, dass man sein Denken, seine Rationalität nicht benutzen soll; man sollte sie unbedingt benutzen. Man sollte sich aber bewusst sein — und sich immer wieder ins Bewusstsein rufen –, dass die Rationalisierungsfragmente, deren wir fähig sind, kein wirkliches Gesamtbild liefern können. Bezieht man die kulturellen Techniken der letzten ca. 5000 Jahre mit ein (Schrift, Bücher, Bibliotheken, Computer, Netzwerke, Forschungsgemeinschaften, …), dann kann man das Ausmaß der Rationalisierung im Vergleich zu einem einzelnen Gehirn deutlich verbessern, man verbleibt dennoch in einer kleinen Blase von Wissen, die sowohl den Menschen selbst wie das Gesamte nur sehr unzulänglich annähern kann. Für den Fall, dass alle Menschen sich in ihrem Wissen irgendwann doch vereinen würden, ist das Ausmaß der möglichen Verbesserung schwer zu bestimmen.

Rationale Formen des Wissens bilden nur einen Teilaspekt in der Existenzerfahrung des Menschen. Dies ergibt sich schon alleine daraus, dass das bewusste begriffliche, sprachliche Wissen im Bewusstsein selbst nur ein Teilmoment darstellt. Wir als Menschen erleben uns selbst u.a. mit explizitem Wissen und daneben mit vielen anderen Empfindungen, Gefühlen, Emotionen, die genauso real sind wie das explizite Wissen. Was aber ist dieses Andere in uns, an uns? Auf jeden Fall hat es mit unserer realen Existenz zu tun, mit uns als Teilhaber an einem umfassenden Lebensprozess auf dem Planet Erde, mit uns, die wir uns vorfinden als das größte Wunder, welches das bekannte Universum zu bieten hat, nicht alleine, schon immer zusammen mit. Ich nenne dieses schwer Sagbare, und doch Reale, unser Rationalität bei weitem Übersteigende, ein echtes Mehr, Das Leben Schmecken.

QUELLENNACHWEISE

[1] Ein Beispiel im kleineren Maßstab, wie gute Planung in der Corona Krise gehen kann, ist die Stadt Rostock: https://www.n-tv.de/politik/Warum-Rostocks-Covid-Strategie-erfolgreich-ist-article22304925.html (Zuletzt: 25.Januar 2021)

DER AUTOR

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MENSCH-MENSCH COMPUTER. Gemeinsam Planen und Lernen. Erste Notizen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 2.-9.Oktober 2020
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

ÜBERBLICK

Der folgende Text entstand unter dem Eindruck der theoretischen und
praktischen Arbeiten, wie sie in meinem Engineering-Blog bislang dokumentiert
sind. Letztlich geht es darum, das aktuelle Paradigma der Informatik
und der übergreifenden Digitalisierung der Gesellschaft umzudrehen:
statt den Menschen nur als Datenfutter für anonyme Algorithmen zu benutzen,
ihn als digitalen Sklaven zu behandeln, der weitgehend zu einem
rechtlosen Spielball von internationalen Konzernen geworden ist, deren
Interessen weder die Interessen der Benutzer noch derjenigen von demokratischen
Gesellschaften sind, soll wieder der Mensch in das Zentrum
der Betrachtung gerückt werden und die Frage, was können wir tun, um
den Menschen mehr zu befähigen, gemeinsam mit anderen die mögliche
Zukunft besser zu verstehen und vielleicht besser zu gestalten. Der moderne
Mensch begreift sich als Teil der umfassenden Biosphäre auf diesem
Planeten und trägt eine besondere Verantwortung für diese.

Letzte Änderung: 9.Okt.2020

PDF-Dokument

Änderung 9.Okt.2020: Die Rahmenbedingungen von einer gegebenen Situation (hier als Problem) zu einer möglichen zukünftigen Situation (hier als positive Vision) werden etwas genauer analysiert.

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Überlegungen zum Thema „Zeit“

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Peter Gottwald
Email: pjgottwald@web.de
Mi 1.Januar 2020

KONTEXT

Aufgrund eines Gedankenaustausches zwischen Prof. Peter Gotttwald und mir kam es zur Idee, den Gedankenaustausch direkt in diesen Blog zu verlagern. Das hilft nicht nur uns beiden bei der wechselseitigen Bezugnahme, sondern eröffnet es auch potentiellen Lesern, daran teilzunehmen.

DAS GANZE ALS PROZESS

Dieser Beitrag von Peter Gottwald gibt mir als Blog-Moderator nochmals die Gelegenheit, auf die Besonderheit des Blog-Schreibens hinzuweisen. Während man bei einer normalen wissenschaftlichen Publikation — sei es Artikel oder insbesondere Buch — kaum umhin kommt, von einem vorweggenommenen Ganzen her zu denken und man auf Vollständigkeit achten sollte, eröffnet das Schreiben in einem Blog die Möglichkeit, das Ganze in einzelne Schritte zu zerlegen, es als einen Prozess zu sehen, der im Fortschreiten erst seine ganze Aussagekraft entfaltet. Im Falle von aktiven Lesern — als Autor darf man davon träumen 🙂 — kann deren Interaktion dann Aspekte ansprechen, anregen, die im Thema ’schlummern‘, die aber nicht angesprochen worden wären, hätte man das Thema von vornherein monolithisch als Ganzes abgehandelt. Durch solche Interaktionen kann nicht nur der Autor dazu lernen, sondern das Thema kann an Vielfalt gewinnen, oder bildhaft: das Thema selbst kann durch das ineinander Spielen von Gedanken lernen.

TEXT VON PETER GOTTWALD

Peter Gottwald hat eine überarbeitete Version seines Beitrags geschickt. Sie wird hier als PDF-Dokument zugänglich gemacht:

Hier die ursprüngliche Version

Motto:

Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion. Albert Einstein

Motto:

Wer seiner Zeit nur voraus ist, den holt sie einmal ein. Ludwig Wittgenstein

1

„Die Zeit gibt es nicht…“ Mit dieser Aussage überraschte ich die Teilnehmer meines Gebser-Seminars am Ende der letzten Sitzung des Jahres. Und auf das erstaunte Blicken fügte ich hinzu: „Alles, was wir wahrnehmen können, ist Bewegung!“ Es entstand eine längere Pause, dann begann ich zu erläutern: Die Sonne bewege sich am Himmel, und dabei sei eine Wiederkehr zu beobachten, nämlich ihr höchster Stand am Himmel. Früh sei der Mensch auf den Gedanken gekommen, nun von einem „Tag“ zu sprechen, diesen in 24 Stunden einzuteilen, jede dieser Stunden in 60 Minuten, diese wiederum in 60 Sekunden. Danach habe man von der ZEIT gesprochen als etwas, das „abliefe“. „Zeit“ sei somit ein Begriff, also eine Errungenschaft des Menschen, gleichsam seine „Zutat“ zum Phänomen der Bewegung – eine Zutat mit weitreichenden und ungeahnten Folgen.

In der „Zeit zwischen den Jahren“ entstand der folgende Text.

Denn dieser Begriff einer „Zeit“, die aus der Unendlichkeit kommt und in die Unendlichkeit verschwindet auf ihrem „Weg“, damit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entstehen lässt, hat sich im Verlaufe mehrerer tausend Jahre mit anderen Begriffen aus Philosophie und Wissenschaft zu einem riesigen „System“ verbunden, das unser heutiges Leben beherrscht, aber auch zu ersticken droht. Dieses System nämlich bestimmt, was „wirklich“ ist und lehnt alles ab, ja bekämpft alles, was nicht in dieses System hineinpasst. Alles „Neue“

2

wird wie auf einem Prokrustes-Bett1 entweder gestreckt oder verkürzt, bis es „passt“. Was dabei verlorengeht, erscheint dem Systematiker irrelevant.

1 Dieser gemeine „Gastgeber“ pflegte seine Gäste an sein Bett anzupassen; wer zu lang war, wurde „verkürzt“, wer zu kurz war, „gestreckt“. Was mit den „Passenden“ geschah, verrät der Mythos nicht. Vermutlich hat er dann das Bett verändert.

Die „Findung“ des Zeitbegriffs muss den Früheren so bedeutsam erschienen sein, dass sie ihm eine Gottheit zuordneten, die sie Chronos nannten; nach ihm sind bis heute die Uhren benannt, auch die Zeitmessung – die Chronometrie. Auch dieser Gott war so wirksam und furchtbar zugleich wie viele andere: Er pflegte nämlich seine Kinder zu fressen, und sein Sohn Zeus entkam diesem Schicksal nur, weil seine Mutter dem Gott einen in eine Windel gewickelten Stein gab…So sagt uns der Mythos noch heute etwas: Die Zeit frisst ihre Kinder, also uns, die wir Kinder der Zeit sind…

Wann diese Handlung geschah, darüber herrscht zwischen Karl Jaspers und Jean Gebser die Übereinstimmung, dass es im „Abendland“ zu einer „Achsenzeit“ gewesen sein muss, die etwa in das 7. „vorchristliche Jahrhundert“ zu legen ist. Was aber war dann „vorher“ für eine Vorstellung dessen lebendig, was an Bewegungen schon wahrnehmbar war am Himmel und auf der Erde? Die Mythen geben davon Kunde, sie berichten vom „ewigen Kreisen“, der „Wiederkehr“. Gebser nannte diese Struktur ein „Mythisches Bewusstsein“.

Das „Mentale Bewusstsein“, entstanden während der „Achsenzeit“, manifestiert sich erst danach, es übernimmt gleichsam die Führung für das weitere kulturelle Geschehen. Fortan ist unsere Sprache durchdrungen von Begriffen, die mit dieser nun so genannten „Zeit“ in Verbindung stehen: früher und später, vorher, nachher, bald, jetzt, Zukunft und Vergangenheit, gleichzeitig, Freizeit, Auszeit …und so endlos weiter. Die Vorstellung eines „Ablaufs“ ist uns so selbstverständlich geworden, dass wir nicht darüber nachdenken (selbst in diesem „nach“denken schwingt noch das Zeitliche mit).

Überlegungen wie diese schaffen nun, und das ist überaus wichtig, eine Transparenz, nämlich ein Durchsichtig-Werden für das, was wir Menschen tun und getan haben auf unserem langen Weg durch das, was wir „kulturelle Entwicklung“ (auch so ein verdeckter Zeitbezug) nennen.

3

Nebenbei gesagt ist ja auch der Begriff „Bewegung“ mit einem weiteren Begriff, nämlich des eines „Raumes“, verbunden, in dem es einen „Weg“ von „Ort zu Ort“ gibt. Allgemeiner gesprochen, haben wir es mit der Wahrnehmung von „Veränderungen“ zu tun – wir sehen, hören oder fühlen, dass sich „etwas“ verändert hat, in einen neuen „Zustand“ geraten ist1. So etwas nehmen wir „auf Erden“ wie „am Himmel“ wahr: Der Mond liefert uns ein gutes Beispiel – er verändert nicht nur seine Gestalt, er bewegt sich auch, und zwar nicht nur mit dem „Sternenhimmel“, sondern auch von West nach Ost2! Ein weiteres liefern die „Wandelsterne“, die sich im Gegensatz zu den „Fixsternen“ auf komplizierten Bahnen am „Himmelsgewölbe“ bewegen. Bedenkt man, welcher ausdauernden und nächtlichen Beobachtungen es bedarf, um solches „festzustellen“, so kann man schließen, dass erst auf einer hohen Kulturstufe, also vermutlich erst im mythischen Bewusstsein, einzelne Menschen freigestellt waren, um Nacht für Nacht wach zu bleiben. Vermutlich aber waren das die Priester, die so, neben Opfer- und anderen Ritualen, ihren Göttern

1 In diesem Zusammenhang hat I.Prigogine von einer „tau-Zeit“ gesprochen.

2 Daraus haben die Nordmenschen, wie Chr.Bornewasser nachwies, einen Mythos gemacht, der in der Edda nachzulesen ist. Ein Ase (Mond) verliebt sich in eine Schöne (Sonne) und verzehrt sich nach ihr.

dienen. Noch allerdings hatten sie keinen Zeit-Begriff! Der wurde erst auf der nächsten Kulturstufe gefunden!

Unsere ganze Wissenschaft und die darauf aufbauende Technik ist nun ohne diesen Zeitbegriff nicht denkbar; die Physik arbeitet ja mit einem cgs-System, wobei „Zentimeter“ und „Sekunde“ die menschlichen Zutaten, das „Gramm“ als Teil eines „Gewichtes“ oder auch einer „Masse“ als „Wirkung“ einer kosmischen „Schwerkraft“ betrachtet und als „Schwere“ empfunden wird.

Wir haben uns sogar daran gewöhnt, die Zeit zu „messen“ und zu diesem Zweck die verschiedenartigsten „Uhren“ gebaut. Doch sind das „nur“ sehr feine Geräte, in denen die Bewegungen von Zeigern und neuerdings auch Ziffern mit der (scheinbaren) Bewegung der Sonne übereinstimmen. Steht die Sonne am höchsten, zeigen beide Zeiger auf eine 12.

Hoffmeisters „Wörterbuch der philosophischen Begriffe1“ beschreibt dies so: „Diese „objektive Zeit“ ist messbar. Gemessen wird sie allerdings nicht an sich selbst, sondern an der gleichmäßigen Fortbewegung von Körpern, deren Bahn in gleiche Abschnitte zerlegt wird, sodass die Gliederung der räumlichen Bewegung zugleich eine Zerlegung der Zeit in Zeit-Abschnitte ermöglicht.

1 Zweite Auflage 1955, im Verlag von Felix Meiner, Hamburg.

4

Hierauf beruht das Prinzip der Uhr, deren Gang nach der großen Weltenuhr, der Bewegung der Gestirne, geregelt wird. Diese Zeitmessung ermöglicht die exakte Naturwissenschaft, die Wissenschaft von der berechenbaren Natur.“ Dem folgt ein philosophischer Hinweis: „Von dieser objektiven Zeit nun hat Kant gelehrt, dass ihr in Wahrheit nicht objektive Realität zukomme: Sie sei eine im menschlichen Subjekt liegende „reine Form der Anschauung.“ (678)

Diese Beschreibung verleugnet aber, so meine ich, den Handlungsaspekt – es ist schließlich so, dass dieses „Subjekt“ nun tatsächlich handelt, indem es (als uns immer noch unbegreifliche Folge der Anschauung) ein neues Wort, damit aber einen neuen Begriff hervorbringt, und das ist eine „Handlung“, auch wenn sie mit Kehlkopf und Zunge vollzogen wird, und nicht mir der Hand.

Bezugnahme auf Jean Gebsers Werk „Ursprung und Gegenwart“.

Wenn man nach diesen Überlegungen zu Gebsers Werk greift und dort über „Zeit“ liest, dann stößt man sofort auf Überschriften wie „Der Einbruch der Zeit“, auf Sätze wie „Der Einbruch der Zeit in unser Bewusstsein: Dieses Ereignis ist das große und einzigartige Thema unserer Weltstunde. (III/379) Wie sind sie von Gebser in einen großen Zusammenhang gestellt worden? Das ist die erste Frage, der ich hier nachgehen will. Die zweite ist dann: Wie kam Gebser zu dieser neuen Sicht auf die Welt und auf die Zeit?

Gebser spricht von der „Komplexität des Zeit-Themas“ und entfaltet diese unter Bezug auf die Stufen der kulturellen Entwicklung, die mit einer „archaischen“ beginnt, auf die eine „magischen“, dann eine „mythische“ und zuletzt eine „mentale“ folgte (s.o.), die uns noch heute formt. Ob nun tatsächlich Anzeichen für eine weitere Stufe bestehen, die Gebser eine „integrale“ nennt, das ist der Inhalt des genannten Werkes. Dabei werde, so Gebser, auch eine neue Zeit-Qualität wahrnehmbar, die er „Zeitfreiheit“ nannte. Schon hier sei angedeutet, dass es für mich sinnvoll erscheint, allein vom Erleben einer neuartigen „Freiheit“ zu sprechen, also von einer Bewusstseins-Struktur, die aus der Integration von Bewusstseins-Zuständen erwachsen kann, in denen etwas wahrnehmbar wurde, was als „Erleuchtung“ bezeichnet worden ist.

Wie also beschreibt Gebser „Zeit“? Er spricht von einer „mental-rationalen Zeit“ (als einer Errungenschaft des „mentalen Bewusstseins“) die ein teilendes Prinzip und ein Begriff sei. Solange er gelte, gelte noch das Teilende,

5

Zerstörerische, Auflösende, das aber teilend, zerstörend und auflösend den Weg für eine neue Wirklichkeit freilege. Was aber freigelegt werde, das sei mehr als der bloße Begriff „Zeit“: Es ist das Achronon, also das Frei- und Befreitsein von jeder Zeitform, es ist die Zeitfreiheit.(III/380)

Gebser fragt dann: Was ist aber nun die „Zeit“? und er antwortet, „sie ist mehr als bloße Uhrenzeit“, ja sogar, Zeit müsse als „Qualität und Intensität“ berücksichtigt werden (III/381).

„Aus der aperspektivischen Weltsicht heraus betrachtet, erscheint (die Zeit) geradezu als die grundlegende Funktion und von vielfältigster Art. Sie äußert sich, ihrer jeweiligen Manifestationsmöglichkeit und der jeweiligen Bewusstseinsstruktur entsprechend, unter den verschiedensten Aspekten als: Uhrenzeit, Naturzeit, kosmische Zeit oder Sternenzeit, als biologische Dauer, Rhythmus, Metrik; als Mutation, Diskontinuität, Relativität; als vitale Dynamik, psychische Energie (und demzufolge in einem gewissen Sinne als das, was wir „Seele“ und „Unbewusstes“ nennen), mentales Teilen; sie äußert sich als Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; als das Schöpferische, als Einbildungskraft, als Arbeit, selbst als Motorik. Nicht zuletzt aber muss, nach den vitalen, psychischen, biologischen, kosmischen, rationalen, kreativen, soziologischen und technischen Aspekten der Zeit auch ihres physikalisch-geometrischen Aspektes gedacht sein, der die Bezeichnung „vierte Dimension“ trägt. (III/381)

Zeit wird damit zu einem Synonym für das Schöpferische schlechthin. Damit aber scheint mir „Zeit“ zu einer Art von Mysterium geworden zu sein, zu dem ich Abstand gewinnen möchte. Ohne Frage gibt es in allen eben genannten Bereichen (von „vital“ bis „technisch“) eine „Dynamik“, d.h. aber unendlich vielfältige Veränderungen und Bewegungen – aber diese sind auch für den jeweiligen Bereich spezifisch, nicht auf andere übertragbar. Mit Wittgenstein könnte man sagen, es handele sich um ganz unterschiedliche „Sprachspiele“ mit speziellen Regeln, die nicht vermischt werden dürfen, da sonst eine heillose Verwirrung entsteht. Bleibe ich bei dem Begriff „Bewegungen“ in deren unendlich verschiedenen Formen, die zu immer neuen Gestalten führen, sodass man mit Goethe sagen könnte: Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinns ewige Unterhaltung – dann gestehe ich mir nicht nur mein sehr begrenztes Wissen ein, sondern erlebe auch immer wieder ein grenzenloses Verwundern angesichts eines „All“, das all dies und uns hervorgebracht hat.

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Gebsers starke Betonung der Zeit, sein Bemühen, sie zugleich aber auch zu überwinden, was mit Wortschöpfungen wie „das Achronon“ ausgedrückt wird, steht im Zentrum seines Werkes1. Einem Integralen Bewusstsein ist „Zeit“ nicht mehr nur ein Begriff (der zu wahren sei), sondern eine neue Qualität, die Geber als „Intensität“ bezeichnete. Was aber meinte Gebser, als er von „Zeitfreiheit“

1 Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart. Chronos (sic!)Verlag, Zürich,2012

sprach? Damit möchte ich mich der zweiten Frage zuwenden: Was veranlasste Gebser, so von „Zeit“ zu sprechen?

Gebsers persönliche Erfahrungen und die Folgen.

Im Alter von 27 Jahren machte Gebser in einer krisenhaften Situation eine Erfahrung, die ihn, wie er schreibt, mit dem „Gedanken“ zurückließ „Überwindung von Raum und Zeit“. Sie war es, die es vermochte, seine jahrzehntelange Suchbewegung nach ähnlichen Aussagen in den Wissenschaften, später in allen Bereichen der Kultur, zu unterhalten. Ich habe dargelegt, dass ich diese Erfahrung als eine spontan auftretende Erleuchtung zu verstehen suche, so wie ich auch seine weitere einschlägige Erfahrung während seiner Asienreise auffasse1.

In der Zentradition nämlich, auf die sich auch Gebser in der 2. Auflage von „Ursprung und Gegenwart“ ausführlich bezieht, werden solche Erfahrungen als satori oder auch kensho (Wesensschau) bezeichnet. Es ist typisch für sie, dass für Augenblicke alle Dualitäten schwinden, dass weder ein Raum- noch ein Zeitgefühl existiert. Solche Erfahrungen können einen tiefen Frieden und große Freude hinterlassen, die das ganze weitere Leben umzugestalten vermögen. Wie darüber zu sprechen sei, wird jeder und jede mit eigenen Mitteln versuchen. Gebser hat eine Form gewählt, die offen für ganz unterschiedliche Adressaten war: So konnte er Christen, Buddhisten, aber auch Esoteriker ansprechen, ohne auf fundamentale Differenzen aufmerksam zu machen. Dass er das Thema „Zeit“ in den Mittelpunkt stellte, muss man respektieren – wie er jedoch darüber spricht, darf man auch kritisch betrachten.

„Zeitfreiheit“ ist nach meiner Auffassung etwas, das Menschen für sich selbst wahrnehmen können, sie ist damit nichts „Objektives“, das „dingfest“ gemacht werden könnte. Die Auswirkungen auf ein „Subjekt“ können so dramatisch sein,

1 P. Gottwald: Zen und Integraes Bewusstsein. In: Integrale Weltsicht. Vol. XXV, 2019 herausgegeben von der Jean Gebser Gesellschaft, Bern.

7

wie dies R. M. Pirsig1 erfuhr, oder sie können als „kleine Erleuchtung“ geschehen, wie der Zenlehrer Enomiya-Lassalle sie seinen Schülern und Schülerinnen zu wünschen pflegte.

Nach alledem zeigt sich mir nun ein neues, ein eher beunruhigendes „Prinzip“, nämlich das unserer „Verantwortung2“ für unser Tun und Lassen. Ihm hat bekanntlich Hans Jonas eine eingehende Untersuchung gewidmet. Ihr müssen wir uns heute stellen, wenn es nicht mit uns, wie Jonas, sagte „…böse enden soll“. Welche inneren Widerstände dadurch wachgerufen werden, darauf hat Kafka3 auf seine unnachahmliche Weise hingewiesen. In seinen „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“ schreibt er (Nr.92):

Die erste Götzenanbetung war gewiss Angst vor den Dingen, aber damit zusammenhängend Angst vor der Notwendigkeit der Dinge und damit zusammenhängend Angst vor der Verantwortung für die Dinge.

1 Vgl. dazu R.M.Pirsig: Zen und die Kunst ein Motorrad zu warte. Fischer Taschenbuch.

2 Ludwig Wittgenstein: Die Verantwortung leugnen heißt, den Menschen nicht zur Verantwortung ziehen (Vermischte Bemerkungen, S. 121)

3 Franz Kafka: ER. Bibliothek Suhrkamp, 1968

So ungeheuer erschien diese Verantwortung, dass man sie nicht einmal einem einzelnen Außermenschlichen aufzuerlegen wagte, denn auch durch Vermittlung eines Wesens wäre die menschliche Verantwortung noch nicht genügend erleichtert worden, der Verkehr mit nur einem Wesen wäre noch zu sehr von Verantwortung befleckt gewesen, deshalb gab man jedem Ding die Verantwortung für sich selbst, mehr noch, man gab diesen Dingen auch noch eine verhältnismäßige Verantwortung für den Menschen.

Wie gut passt dies zu der Beschreibung, die Gebser von der Bewusstseinsstruktur des magisch gestimmten Menschen gab!

Seine Wahrnehmung der Keime einer neuen und vielleicht kulturstiftenden Bewusstseinsstruktur, eben eines Integralen Bewusstseins, hat Viele ermutigt, nicht zuletzt den Jesuiten und Zenlehrer Enomiya-Lassalle1, der mich sieben Jahre lang auf dem Zenweg begleitete und dem ich die Begegnung mit dem Werk Jean Gebsers verdanke. Wie weit dieses valide ist und weiteren Suchbewegungen standhält, muss offen bleiben. Aus ihm eine Hoffnung in dieser von Krisen geschüttelten Zeit abzuleiten, wäre vermessen. Dass uns Menschen Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung zur Verfügung stehen,

1 Vgl. Enomiya-Lassalle: Wohin geht der Mensch? Aurum Verlag, 1983.

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kann nicht bestritten werden. Ob und welcher „kritischen Masse“ es bedarf, ehe politische Wirkungen sichtbar werden, bleibt ebenfalls offen…

Anhang

Ludwig Wittgenstein über den Begriff „Fortschritt“.

„Man hört immer wieder die Bemerkung, dass die Philosophie eigentlich keinen Fortschritt mache, dass die gleichen philosophischen Probleme, die schon die Griechen beschäftigten, uns noch beschäftigen. Die das aber sagen, verstehen nicht den Grund, warum es so sein muss. Der ist aber, dass unsere Sprache sich gleich geblieben ist und uns immer wieder zu denselben Fragen verführt. Solange es ein Verbum „sein“ geben wird, das zu funktionieren scheint wie „essen“ und „trinken“, so lange es Adjektive „identisch“, „wahr“, „falsch“, „möglich“ geben wird, solange von einem Fluss der Zeit und einer Ausdehnung des Raumes die Rede sein wird, usw., solange werden die Menschen immer wieder an die gleichen rätselhaften Schwierigkeiten stoßen, und auf etwas starren, was keine Erklärung scheint wegheben zu können.“ (36)

„…Es ist nicht unsinnig zu glauben, dass das wissenschaftliche und technische Zeitalter der Anfang vom Ende der Menschheit ist; dass die Idee vom großen Fortschritt eine Verblendung ist, wie auch von der endlichen Erkenntnis der Wahrheit; dass an der wissenschaftlichen Erkenntnis nichts Gutes oder Wünschenswertes ist und dass die Menschheit, die nach ihr strebt, in eine Falle läuft. Es ist durchaus nicht klar, dass dies nicht so ist.“ (107)

„Es könnte sein, dass die Wissenschaft und Industrie, und der Fortschritt, das Bleibendste der heutigen Welt ist. Dass jede Mutmaßung eines Zusammenbruchs der Wissenschaft und Industrie einstweilen, und auf lange Zeit, ein bloßer Traum sei, und dass Wissenschaft und Industrie auch und mit unendlichem Jammer die Welt einigen werden, ich meine, sie zu einem zusammenfassen werden, in welchem dann freilich alles eher als der Friede wohnen wird…“ (120)

Aus: L. Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Suhrkamp.

ZUR ENTDECKUNG DER VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT IN DER GEGENWART. Zwischenbemerkung

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 10.Dez. 2017
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: cagent
Email: cagent@cognitiveagent.org

PDF

IDEE

Wenn man gedanklich in komplexen Strukturen unterwegs ist, kann es bisweilen helfen, sich zwischen drin bewusst zu machen, wo man gerade steht,
worum es eigentlich geht. Dies ist so ein Moment.

I. BILDERFLUT AUS MÖGLICHKEIT

Wir leben in einer Zeit, wo die Technik die
Möglichkeit eröffnet hat, Bilder zu erschaffen, die
mehr oder weniger alles zum Gegenstand haben, auch
Unsinniges, Idiotisches, reinste Fantasien, explizite
Lügen, Verleumdungen, … und für einen normalen homo
sapiens, der – bei intaktem Sehvermögen – primär ein
visuell orientiertes Lebewesen ist, führt diese Bilderflut
dazu, dass die wahre Realität sich immer mehr auflöst
in dieser Bildersuppe. Selbst wenn die Bilder noch als
Science Fiction, Fantasy, Crime, … gelabelt werden, im
Gehirn entsteht eine Bildersuppe, wo sich wahres Reales
mit Irrealem zu einem Gebräu mischt, das den Besitzer
dieses Gehirns in einen Dauerzustand der zunehmenden
Desorientierung versetzt. Der einzelne Bildproduzent
mag vielleicht sogar redliche Absichten haben, aber die
Masse der irrealen Bilder folgt ihren eigenen Gesetzen.
Das einzelne Gehirn verliert Orientierungsmarken.
Die Bereitschaft und Neigung von Menschen aller
Bildungsschichten selbst mit Doktortiteln (!), beliebig
wirre populistische, fundamentalistische oder esoterische
Anschauungen über die Welt als ’wahr’ zu übernehmen,
ist manifest und erschreckend. Wenn die grundlegenden
Wahrheitsfähigkeit von Menschen versagt, weil das
Gehirn über zu wenig verlässlich Ankerpunkte in der
Realität verfügt, dann ist alles möglich. Ein alter Lehrsatz
aus der Logik besagt: Aus Falschem folgt alles.

More than Noise – But What?

II. RÜCKERINNERUNG AN DIE WAHRHEIT

In einem vorausgehenden – eher grundlegenden –
Blogeintrag sind jene elementaren Grundstrukturen angesprochen worden, durch die jeder homo sapiens eine elementare Wahrheitsfähigkeit besitzt, auch in
Kommunikation und Kooperation mit anderen.
Aus diesem Text geht hervor, dass es grundsätzlich
möglich ist, dass dies aber kein Selbstgänger ist,
keinen Automatismus darstellt. Das Gelingen von
Wahrheit erfordert höchste Konzentration, erfordert
kontinuierliche Anstrengung, und vor allem auch das
Zusammenspiel vieler Faktoren. Moderne Demokratien
mit einer funktionierenden Öffentlichkeit, mit einem
ausgebauten Bildungs- und Forschungssystem kommen
diesen wissenschaftsphilosophischen Anforderungen
bislang am nächsten.

Wer die Bedeutung dieser Mechanismen zur
Voraussetzung von Wahrheit kennt und sich die
reale Welt anschaut, der kann weltweit eine
starke Rückentwicklung dieser Strukturen und
Prozesse beobachten, eine weltweite Regression
von Wahrheitsprozessen. Die Folgen sind schon jetzt
katastrophal und werden sich eher verstärken. Den Preis
werden letztlich alle zahlen. Wer glaubt, man könne sich
in einem Teilprozess isolieren, der täuscht sich.
Allerdings, im Fall der Wahrheit gelten andere Regel
als rein physikalische: Wahrheit selbst ist ein nicht-
physikalisch beschreibbares Phänomen. Es entstand
gegen alle Physik, es entstand auf eine Weise, die wir
bislang noch nicht richtig verstehen, und es macht im
Ansatz alle zu Verlierern, die sich außerhalb stellen.
Genauso irrational, wie sich weltweit eine Regression
von Wahrheit ereignen kann – und aktuell ereignet –,
genauso bizarr ist zugleich, warum so viele Mächtige
solch eine ungeheure Angst vor Wahrheit haben
(schon immer). Warum eigentlich? Warum gibt es
diesen ungeheuren Drang dazu, andere Menschen
zu kontrollieren, Ihnen Meinungen und Verhalten
vorzuschreiben, Algorithmen zu entwickeln, die die
Menschen in Richtungen leiten sollen, die schon falsch
sind, als sie ausgedacht wurden?

Solange es nur einen einzigen Menschen auf dem
Planet Erde gibt, so lange gibt es die Chance für
Wahrheit. Und so lange es die Chance für Wahrheit gibt,
muss jeder, der Wahrheit verrät, unterdrückt, verleugnet
sich als Verräter sehen, als Feind des Lebens.

More Beyond Noise – How Far away? Which kind of Distance?

III. UNIVERSUM – ERDE – LEBEN

Wenn man zu ahnen beginnt, wie kostbar Wahrheit
ist, wie schwierig sie zu gewinnen ist, und wenn man
weiß, wie viele Milliarden Jahre das Leben auf der
Erde gebraucht hat, um wahrheitsfähig zu werden, auch
noch in den späten Phase der Lebensform homo bzw.
dann des homo sapiens, dann kann man umgekehrt
zu einer geradezu andächtigen Haltung finden, wenn
man sich anschaut, was die modernen experimentellen
Wissenschaften im Laufe der letzten Jahrhundert, sogar
erst in den letzten Jahrzehnten (!!!) alles offenlegen
konnten.

Man bedenke, was wir primär wahrnehmen, das
ist Gegenwart, und die unfassbaren Blicke zurück in
die Vergangenheit der Evolution des Lebens und des
Universums (und möglicher weiterer Universen) liegen
nicht auf der Straße! Die Gegenwart ist Gegenwart und
ihr, der Gegenwart, Hinweise auf eine Zeit davor zu
entlocken, das war – und ist – eine der größten geistigen
Leistungen des homo sapiens.

Die Vergangenheit kann sich ja niemals direkt zeigen,
sondern immer nur dann, wenn eine bestimmte Zeit
mit ihren Strukturen und Prozessen Artefakte erzeugt
hat, die im Fluss der Zeit dann später als Spuren,
Hinweise, vorkommen, die ein Lebewesen dieser neuen
Gegenwart dann auch als Hinweise auf eine andere Zeit
erkennt.

So hat die Geologie irgendwann bemerkt, dass die
verschiedenen Gesteinsschichten möglicherweise
Ablagerungen aus vorausgehenden Zeiten sind.
Entsprechend haben die Biologen aus Versteinerungen
auf biologische Lebensformen schließen können,
die ’früher einmal’ gelebt hatten, heute aber nicht
mehr oder, heute auch, aber eventuell verändert. Die
Physik entdeckte, dass aufgrund der unterschiedlichen
Leuchtkraft gleicher Sternphänomene große Entfernungen im Universum anzunehmen sind, und mit der Fixierung der Geschwindigkeit des Lichts konnte
man auch auf Zeiten schließen, aus denen dieses Licht
gekommen sein muss: man war plötzlich bei vielen
Milliarden Jahren vor der Gegenwart.
Diese wenigen und vereinfachten Beispiele können
andeuten, dass und wie in der Gegenwart Zeichen einer
Vergangenheit aufleuchten können, die unsere inneren
Augen des Verstehens in die Lage versetzen, die scheinbare Absolutheit der Gegenwart zu überwinden und langsam zu begreifen, dass die Gegenwart nur
ein Moment in einer langen, sehr langen Kette von
Momenten ist, und dass es Muster zu geben scheint,
Regeln, Gesetze, Dynamiken, die man beschreiben
kann, die ansatzweise verstehbar machen, warum dies
alles heute ist, wie es ist.

Es versteht sich von selbst, dass diese unfassbaren
Erkenntnisleistungen der letzten Jahrzehnte nicht nur
möglich wurden, weil der Mensch qua Mensch über
eine grundlegende Wahrheitsfähigkeit verfügt, sondern
weil der Mensch im Laufe der letzten Jahrtausende
vielerlei Techniken, Abläufe ausgebildet hat, die ihm
bei diesen Erkenntnisprozessen unterstützen. Man
findet sie im technischen Bereich (Messgeräte, Computer,
Datenbanken, Produktionsprozesse, Materialtechniken, …..), im institutionellen Training
(langwierige Bildungsprozesse mit immer feineren
Spezialisierungen), in staatlichen Förderbereichen, aber
auch – und vielleicht vor allem! – in einer Verbesserung
der Denktechniken, und hier am wichtigsten die
Ausbildung leistungsfähiger formaler Sprachen in vielen
Bereichen, zentral die Entwicklung der modernen
Mathematik. Ohne die moderne Mathematik und formale
Logik wäre fast nichts von all dem möglich geworden,
was moderne Wissenschaft ausmacht.

Wenn man um die zentrale Rolle der modernen
Mathematik weiß und dann sieht, welche geringe Wertschätzung Mathematik sowohl im
Ausbildungssystem wie in der gesamten Kultur einer
Gesellschaft (auch in Deutschland) genießt, dann kann
man auch hier sehr wohl von einem Teilaspekt der
allgemeinen Regression von Wahrheit sprechen.(Anmerkung: Es wäre mal eine interessante empirische Untersuchung, wie viel
Prozent einer Bevölkerung überhaupt weiß, was Mathematik ist. Leider
muss man feststellen, dass das, was in den Schulen als Mathematik
verkauft wird, oft nicht viel mit Mathematik zu tun hat, sondern mit
irgendwelchen Rechenvorschriften, wie man Zeichen manipuliert, die
man Zahlen nennt. Immerhin, mehr als Nichts.)

Im Zusammenspiel von grundlegender Wahrheitsfähigkeit, eingebettet in komplexe institutionelle Lernprozesse, angereichert mit wissensdienlichen
Technologien, haben die modernen experimentellen
Wissenschaften es also geschafft, durch immer
komplexere Beschreibungen der Phänomene und ihrer
Dynamiken in Form von Modellen bzw. Theorien, den
Gang der Vergangenheit bis zum Heute ansatzweise
plausibel zu machen, sondern auf der Basis dieser
Modelle/ Theorien wurde es auch möglich, ansatzweise
wissenschaftlich begründete Vermutungen über die
Zukunft anzustellen.

In einfachen Fällen, bei wenigen beteiligten Faktoren
mit wenigen internen Freiheitsgraden und für einen
begrenzten Zeithorizont kann man solche Vermutungen ü̈ber die Zukunft (kühn auch Prognosen genannt), einigermaßen überprüfen. Je größer die Zahl der
beteiligten Faktoren, je mehr innere Freiheitsgrade, je
weitreichender der Zeitrahmen, um so schwieriger wir
solch eine Prognose. So erscheint die Berechnung des
Zeitpunktes, ab wann die Aufblähung unserer Sonne
aufgrund von Fusionsprozessen ein biologisches Leben
auf der Erde unmöglich machen wird, relativ sicher
voraussagbar, das Verhalten eines einfachen Tieres in
einer Umgebung über mehr als 24 Stunden dagegen ist
schon fast unmöglich.

Dies kann uns daran erinnern, dass wir es in der
Gegenwart mit sehr unterschiedlichen Systemen zu
tun haben. Das Universum (oder vielleicht sogar die
Universen) mag komplex sein, aber es erweist sich
bislang als grundsätzlich verstehbar, ebenfalls z.B. die
geologischen Prozesse auf unserem Heimatplaneten
Erde; das, was die Biologen Leben nennen, also
biologisches Leben, entzieht sich aber den bekannten
physikalischen Kategorien. Wir haben es hier mit
Dynamiken zu tun, die irgendwie anders sind, ohne dass
es bislang gelingt, diese spezifische Andersheit adäquat
zu erklären.

Life is Energy…

IV. KOGNITIVER BLINDER FLECK

Eine Besonderheit des Gegenstandsbereiches
biologisches Leben ist, dass diejenigen, die es
untersuchen, selbst Teil des Gegenstandes sind.
Die biologischen Forscher, die Biologen – wie überhaupt
alle Forscher dieser Welt – sind selbst ja auch Teil
des Biologischen. Als Exemplare der Lebensform
homo sapiens sind sie ganz klar einer Lebensform
zugeordnet, die ihre eigene typische Geschichte hat,
die sich als homo sapiens ca. 200.000 Jahre entwickelt
hat mit einer Inkubationszeit von ca. 100.000 Jahren, in
denen sich verschiedene ältere Menschenformen verteilt
über ganz Afrika partiell miteinander vermischt haben.
Nach neuesten Erkenntnissen hat dann jener Teil, der
dann vor ca. 60.000/ 70.000 Jahren aus Ostafrika
ausgewandert ist, einige tausend Jahre mit den damals
schon aussterbenden Neandertalern im Gebiet des
heutigen Israel friedlich zusammen gelebt, was durch
Vermischungen dann einige Prozent Neandertaler-Gene
im Genom des homo sapiens hinterließ, und zwar bei
allen Menschen auf der heutigen Welt, die gemessen
wurden.

Die Tatsache, dass die erforschenden Biologen selbst
Teil dessen sind, was sie erforschen, muss nicht per
se ein Problem sein. Es kann aber zu einem Problem
werden, wenn die Biologen Methoden zur Untersuchung
des Phänomens biologisches Leben anwenden, die
für Gegenstandsbereiche entwickelt wurden, die keine
biologischen Gegenstände sind.

In der modernen Biologie wurden bislang sehr
viele grundlegende Methoden angewendet, die
unterschiedlichste Teilbereiche zu erklären scheinen: In
Kooperation mit der Geologie konnte man verschiedenen
Phasen der Erde identifizieren, Bodenbeschaffenheiten,
Klima, Magnetfeld, und vieles mehr. In Kooperation
mit Physik, Chemie und Genetik konnten die
Feinstrukturen von Zellen erfasst werden, ihre
Dynamiken, ihre Wechselwirkungen mit den jeweiligen
Umgebungen, Vererbungsprozesse, Generierung neuer
genetischer Strukturen und vieles mehr. Der immer
komplexere Körperbau konnte von seinen physikalisch-
mechanischen wie auch chemischen Besonderheiten her
immer mehr entschlüsselt werden. Die Physiologie half,
die sich entwickelnden Nervensysteme zu analysieren,
sie in ihrer Wechselwirkung mit dem Organismus
ansatzweise zu verstehen. und vieles mehr.

Die sehr entwickelten Lebensformen, speziell dann
der homo sapiens, zeigen aber dann Dynamiken, die
sich den bisher bekannten und genutzten Methoden
entziehen. Die grundlegende Wahrheitsfähigkeit des
homo sapiens, eingebunden in grundlegende Fähigkeit
zur symbolischen Sprache, zu komplexen Kooperation,
zu komplexen Weltbildern, dies konstituiert Phänomene
einer neuen Qualität. Der biologische Gegenstand homo
sapiens ist ein Gegenstand, der sich selbst erklären
kann, und in dem Maße, wie er sich selbst erklärt,
fängt er an, sich auf eine neue, bis dahin biologisch
unbekannte Weise, zu verändern.

Traditioneller Weise gab es in den letzten
Jahrtausenden spezielle Erklärungsmodelle zum
Phänomen der Geistigkeit des homo sapiens, die
man – vereinfachend – unter dem Begriff klassisch-
philosophische Erklärung zusammen fassen kann.
Dieses Erklärungsmodell beginnt im Subjektiven und
hat immer versucht, die gesamte Wirklichkeit aus der
Perspektive des Subjektiven zu erklären.

Die Werke der großen Philosophen – beginnend
mit den Griechen – sind denkerische Großtaten,
die bis heute beeindrucken können. Sie leiden
allerdings alle an der Tatsache, dass man aus der
Perspektive des Subjektiven heraus von vornherein
auf wichtige grundlegende Erkenntnisse verzichtet
hatte (in einer Art methodischen Selbstbeschränkung,
analog der methodischen Selbstbeschränkung der
modernen experimentellen Wissenschaften). Das,
was diese subjekt-basierte und subjekt-orientierte
Philosophie im Laufe der Jahrtausende bislang erkannt
hat, wird dadurch nicht falsch, aber es leidet daran,
dass es nur einen Ausschnitt beschreibt ohne seine
Fundierungsprozesse.

Eigentlich ist das Subjektive (oder das ’Geistige’,
wie die philosophische Tradition gerne sagt) das
schwierigste Phänomen für die moderne Wissenschaft, das provozierendste, aber durch die frühzeitige Selbstbeschränkung der Biologie auf die bisherigen
Methoden und zugleich durch die Selbstbeschränkung
der klassischen Philosophie auf das Subjektive wird
das Phänomen des Lebens seiner Radikalität beraubt.
Es wird sozusagen schon in einer Vor-Verabredung der
Wissenschaften entmündigt.

In einem Folgeartikel sollte dieser blinde Fleck der
Wissenschaften in Verabredung mit der Philosophie
nochmals direkt adressiert werden, etwa: Das Subjektive
im Universum: Maximaler Störfall oder Sichtbarwerdung
von etwas radikal Neuem?

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RUSSLAND, EU, USA – WIEVIEL DOGMATISMUS DÜRFEN WIR UNS ERLAUBEN? (2)

1. In einem vorhergehenden Beitrag hatte ich versucht, darauf aufmerksam zu machen, dass bei aller Aufregung um die aktuelle Annektierung der vormals ukrainischen Krim durch Russland nicht übersehen werden sollte, dass es übergreifende Ziele gibt (bzw. geben kann, je nach Standpunkt des Betrachters), die uns bei aller Erregung dazu auffordern, im Tagesgeschehen die größeren Linien nicht aus den Augen zu verlieren. Dieser Hinweis ist nicht gleichzusetzen mit einer Billigung von unrechtmäßigem Verhalten, sofern es passiert ist.

2. Natürlich ist mir bewusst, dass ein Denken ‚von der Zukunft her‘ in Widerspruch steht zu einem Denken, das sich über die Vergangenheit definiert und dann möglicherweise noch so, dass vermeintliche Schuld auf jeden Fall in der Zukunft mit ähnlichen Methoden in der Zukunft ‚vergolten‘ werden muss (‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘, ‚Blutrache‘, …). Ein ‚Denken, das sich über die Vergangenheit definiert‘ ist aber in der Wurzel gefährlich; als Quelle der Erkenntnis für die Prozesse, wie es zum ‚Heute‘ gekommen ist, ist es unverzichtbar, aber als Leitlinie für die Frage, was wir für die Zukunft tun sollen, ist es nur bedingt tauglich. Gefährlich ist es auf jeden Fall, wenn man versucht, Strukturen, Vorgänge der Vergangenheit festzuschreiben und diese als ‚Maßstab‘, als ‚Norm‘ für die Zukunft benutzen will. Nach heutigem Wissensstand sind wir Teil eines gigantischen, hochdynamischen Prozesses, der sich real strukturell weiterentwickelt und von uns allen eine beständige Weiterentwicklung auf allen Ebenen einfordert. Stillstand bedeutet hier auf Dauer Untergang. Dass alle Beteiligten dieses Prozesses permanent Fehler machen, ist prozessimmanent und daher Teil des Lernprozesses; nur durch Fehler können wir überhaupt lernen. Um die Zukunft zu gewinnen zählt daher in erster Linie, zu erkennen, wo wir eigentlich ‚hin sollen‘ und dann, was wir tun müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Fehler in der Zukunft zu vermeiden ist wichtiger, als Fehler durch neue Fehler zu perpetuieren und durch wechselseitige Blockaden eine gemeinsame Zukunft zu verhindern.

3. Personen wie Buddha, Jesus, Ghandi, Martin Luther King, Mandela (um nur einige zu nennen), hatten für sich (auch ohne Wissenschaft) erkannt, dass das Klammern an den Augenblick, das Fixieren des Vergänglichen, der Hass auf das Andere usw. nicht geeignet sind, den einzelnen in seinem Potential frei zu setzen noch eine Gemeinschaft von Menschen in ihrem Potential voll zur Entfaltung zu bringen. Nur wer die Zukunft nicht sieht, kann sich an die Vergangenheit ‚verkaufen‘. Nur wer nicht begreift, dass wir alle extrem begrenzt, anfällig und fehlerbehaftet sind, kann Fehlerbestrafung zum Lebensprinzip erheben. Es geht nicht um Bestrafung, es geht um ‚Umkehr‘, ‚Verbesserung‘, ‚Weiterentwicklung‘ ….

4. Zurück zur Krim. Ja, nach allgemeiner Auffassung ist es nicht OK, dass ein fremder Staat, so, wie Russland es getan hat, Teile eines anderen Staates, hier die Krim als Teil der Ukraine, gegen den Willen dieses Staats infiltriert und schließlich besetzt (was in der Vergangenheit nicht nur von Russland, sondern auch von China, von den USA und vielen anderen immer wieder getan wurde). Andererseits gibt es das ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker‘; nach diesem wird einer Mehrheit sehr wohl zugestanden, für sich selbst zu bestimmen, was sie wollen. Im Fall Krim gab es diese Mehrheit; ob sie tatsächlich das wollten, was jetzt passiert ist, ist nicht ganz eindeutig, da die Art und Weise der Abstimmung nicht so transparent und ‚geheim‘ war, wie es idealerweise sein sollte. Aber Russland hat sich damit möglicherweise einen ‚Bärendienst‘ erwiesen, da es sich in seiner imperialistischen Vergangenheit viele Völker ‚einverleibt‘ hat, die als solche ‚von sich aus‘ vielleicht auch etwas anderes wollen, als Teil von Russland zu sein. Ähnliche Probleme hat China, ähnliche Probleme haben verschiedene Staaten der EU, usw. Wir können uns darüber aufregen, dass Russland diese ‚Selbstabstimmung‘ quasi erzwungen hat. Auf der anderen Seite müssen wir uns die Frage stellen, inwieweit die Verhinderung der Selbstabstimmung von Basken, Norditalienern, Iren, Schotten, ‚Tirolern‘, Palästinensern, verschiedenen Ureinwohner in Brasilien, Ureinwohner Australiens, usw. nicht auch gegen das Völkerrecht verstößt. Wenn wir hier anfangen zu suchen, werden wir sehr viele Unrechtssituationen finden, über die wir großzügig hinwegsehen, weil das darüber Hinwegsehen eher ins Tagesgeschäft passt.

In globaler Perspektive sind Nationalstaaten 'Spielbälle' globaler Kräfte, ideal für 'Starke', die 'Schjwachen' per Vertrag zu 'kolonisieren' ...
In globaler Perspektive sind Nationalstaaten ‚Spielbälle‘ globaler Kräfte, ideal für ‚Starke‘, die ‚Schwachen‘ per Vertrag zu ‚kolonisieren‘ …

5. Während die EU und die USA sich offiziell über das Vorgehen Russlands erregen und die deutsche Kanzlerin da eine sehr aktive Rolle zu spielen scheint, findet aber ein anderer Vorgang statt, der nicht nur die Selbstbestimmung eines Teiles eines Landes bedroht, sondern die Selbstbestimmung aller Staaten der EU, der USA , und als Folge der geplanten Verträge würden an die zweihundert bestehende bilateriale Verträge zwischen der EU und wirtschaftlich schwächeren Staaten praktisch eliminiert, mit z.T. katastrophalen Folgen in diesen Ländern. Ich meine die Verhandlungen zum ‘Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP)‘, über die ich in einem vorausgehenden Blogeintrag schon ausführlich berichtet hatte. Glücklicherweise wird dieses Thema immer mehr in der Öffentlichkeit diskutiert; u.a. gab es eine sehr schöne Dokumentation dazu in 3Sat am 20.März 2014  mit einer aufschlussreichen Diskussion im Anschluss.

6. Wie schon im vorausgehenden Blogeintrag dargestellt, bestätigen die nach und nach ‚durchsickernden‘ Informationen der Geheimverhandlungen zum transatlantischen freihandelsabkommen  alle Befürchtungen, ja, sie übertreffen sie sogar noch. An den Geheimverhandlungen nehmen fast ausschließlich Lobbyisten der großen US-Firmen teilnehmen (der Vertreter des europäischen Parlaments, der zur ‚parlamentarischen Kontrolle‘ da sein soll, ist von diesen Verhandlungen weitgehend ausgeschlossen, und insofern er doch Informationen bekommt, sind diese sowohl zu großen Teilen ausgeschwärzt bzw. unterliegen sie der ‚Geheimhaltung‘ (mittlerweile eher kein Mittel zum Schutz der Demokratie sondern zu ihrer Verhinderung!).

7. Sieht man mal von allen Details ab (die jeder bitte für sich auf den angegeben Seiten selbst nachlesen sollte (die 3Sat Filme kann man auch über die Videothek anschauen)), zeigt sich hier eine historisch neue, einmalige Situation: zwar konnten sich mit viel Mühen, vielen Opfern, vielen Kriegen einige demokratische Gesellschaften auf dieser Erde entwickeln, aber die global operierenden Firmen haben im zwischenstaatlichen Bereich einen Raum gefunden, wo sie unter dem Motto von ‚Freihandel‘ Verträge schließen können, durch die sich nationale Regierungen ‚binden‘. Der Inhalt dieser Verträge ist so (was die letzten Jahre gezeigt haben), dass die ’starken‘ globalen Player nahezu alle Rechte bekommen und die oft sehr schwachen nationalen Wirtschaftsstrukturen durch die globalen Player ‚platt‘ gemacht werden. Dies erhöht den Profit auf Seiten der globalen Player und vermindert deutlich die Wirtschaftskraft und die Einnahmen der schwächeren Nationalstaaten. Sie geraten in noch stärkere Abhängigkeiten und müssen mehr und mehr zu Spottpreisen Teile ihrer Wirtschaft, Teile ihrer Ressourcen, Teile ihres Landes an die globalen Player verschleudern. Dazu kommt, dass die globalen Player praktisch nie regulär Steuern in jenen Ländern zahlen, in denen sie ihre Profite machen. Mehr noch. Wie in vielen Fällen dokumentiert werden konnte, werden Menschenrechte, Arbeitsschutz, Umweltschutz massiv verletzt. Beschweren sich dann Bürger oder sogar die Regierung, dann können die globalen Firmen die nationalen Regierungen aufgrund der internationalen Verträge sogar auf Geschäftsschädigung verklagen. Das erscheint jedem normal denkenden Menschen grotesk, geschieht aber hundertfach pro Jahr! Dieser Wahnsinn steht hinter der Formulierung des ‚Investitionsschutzes‘. Zudem sind es keine ‚ordentliche‘ Gerichte, die hier die Prozesse führen, sondern private Schiedsgerichte mit oft genau den Anwälten jener Firmen, die sich über alle werte hinwegsetzen.

8. Dazu kommen viele andere Rück-Revolutionen: in Deutschland und Europa wurden in den letzten Jahrzehnten die Rechte der Verbraucher massiv gestärkt. Im Prinzip muss hier der Anbieter nachweisen, dass seine Produkte die Gesundheit nicht gefährden. In den USA kann ein Anbieter anbieten was er will; der Kunde muss nachweisen, dass ein bestimmter chemischer Zusatz in der Nahrung seine Gesundheit gefährdet. Was in der Regel heutzutage unmöglich ist. Das Ganze wäre noch irgendwo erträglich, wenn der Staat für seine Bürger hinreichend eigene Forschung und Kontrollen betreiben würde, um seine Bürger zu schützen. Am Beispiel der sogenannten ‚Chlorhähnchen‘ aus den USA hat die 3Sat-Dokumentation gezeigt, dass es nicht nur keine eigene staatliche Forschung zu den Auswirkungen des Chemikalieneinsatzes bei der Produktion dieser Hähnchen gibt, sondern dass die bestehenden Kontrollen in den Firmen zudem noch massiv abgebaut werden. Gleichzeitig wurde der Chemikalieneinsatz mittlerweile massiv erhöht, so schlimm, dass die Mitarbeiter in diesen Betrieben schwerstens erkrankt sind. Mit dem neuen Freihandelsabkommen würden alle deutsch-europäischen Vorschriften außer Kraft gesetzt und die US-amerikanischen Nicht-Standards zum neuen Maßstab genommen. Würden wir uns als Bürger beschweren, könnten die US-Firmen den deutschen Staat wegen Störung ihres Geschäfts verklagen. Einspruch wäre nicht möglich. Schöne neue Welt. Diese Art von Menschenverachtung ist kaum noch zu überbieten.

9. Wenn man im Falle von wirtschaftlich schwachen Staaten mit labilen politischen Strukturen noch ansatzweise nachempfinden kann, dass globale Player sich dieser schwachen Strukturen bemächtigen und diese Staaten buchstäblich ausbeuten, ist es schwer bis gar nicht nachvollziehbar warum ein Land wie Deutschland, das bislang mit zu den wirtschaftlich erfolgreichsten und politisch stabilsten Ländern dieser Erde gehört, sich auf dieses Spiel überhaupt einlässt (abgesehen davon, dass hier offensichtlich schwerste Verletzungen des Grundgesetzes ins Haus stehen). Alle nicht lobby-gebundenen Wirtschaftsexperten, die sich bislang dazu geäußert haben, haben klar gesagt, dass die Prognosen zu den positiven wirtschaftlichen Effekten wissenschaftlich nicht nachvollziehbar sind. Sie kommen eher zum Ergebnis, dass höchstens minimale Effekte in EU und speziell Deutschland wahrscheinlich sind, dafür erheblich starke negative Effekte in Ländern außerhalb dieser Zone; diese würden aber von den USA mit einem anderen Vertrag aufgegriffen, so dass die USA sich überall Vorteile sichern würde, die einzelnen Ländern sich aber einseitig stärker von den USA abhängig machen würden). Dass die Bundeskanzlerin angesichts all dieser stark negativen Auswirkungen des geplanten Vertrages sich öffentlich bislang eindeutig dafür ausspricht wirkt mindestens befremdlich. Da Sie ja anerkanntermaßen sehr intelligent und politisch sehr erfahren ist, muss man sich fragen, was ihre Motive/ Interessen sind, ein solches demokratiefeindliches Projekt zu befürworten. Denkt Sie an eine goldene Zeit nach ihrer Kanzlerschaft, quasi als Präsidentin einer dieser globalen Player? Bei dem Verhalten der europäischen Kommission kann man sich kaum der Vorstellung erwehren, dass diese nicht mehr gemeinsame Sache mit den wirtschaftlichen Lobbyisten macht als mit den europäischen Bürgern, für die sie Verantwortung tragen.

10. Aus all dem stellt sich die Frage, ob und wie Demokratie im globalen Kontext möglich ist, der anscheinend überwiegend von entfesselten multinationalen Konzernen und kooperierenden Regierungen gegen die Interessen der Bevölkerung bestimmt erscheint. Welche Bedeutung hat das Gerede von Menschenrechten, wenn diese Konzerne täglich demonstrieren, dass ihnen das Wohlergehen von Menschen nichts wert sind? Was soll man von demokratischen Regierungen halten, die grundlegende Informationspflichten mit Füssen treten und sich über geltende Standards ohne ein Minimum an öffentlicher Diskussion hinwegsetzen? Haben wir nicht schon längst einen ‚Staatsstreich von Innen‘, indem gewählte Regierungsvertreter ihr Amt dahingehend missbrauchen, dass sie demokratische Rechte und Institutionen massiv schwächen wenn nicht gar ganz außer Kraft setzen? Müssen wir auch in Deutschland um die Grundlagen unserer Demokratie neu kämpfen, weil sogar die Kanzlerin den Eindruck erweckt, sie hat sich schon längst von der Demokratie verabschiedet. Irgendwie zögert man noch, diesen Gedanken ganz zu glauben. Wenn man zu lange zögert, kann es zu spät sein…

11…. und, angesichts dieses scheinbaren Misbrauchs von politischer Macht in den Superstrukturen ist es möglicherweise verständlich, dass sich ‚Teilbereiche‘ auskoppeln wollen mit der Vorstellung, dann hätte man die Dinge besser unter Kontrolle. Doch, wie wir sehen, ist das Problem nicht unbedingt die Trägerstruktur (z.B. der Nationalstaat als solcher), sondern die Interaktionen zwischen den Trägerstrukturen; da gelten ja zunächst mal keine Gesetze bzw. ob und in welchem Umfang gesetze gelten sollen, muss neu ausgehandelt werden.  Erleben wir mit diesen Krisen der nationalen Demokratien die ersten Wehen des nächsten Evolutionsschubs von Superdemokratien, die zunächst durch die ‚Vorhölle‘ des globalen Kapitalismus gehen müssen? Da es letztlich immer wir selbst, wir Menschen, sind, die entscheiden, müssen wir als Menschen Klarheit finden, was wir wollen. Menschenverachtung ist kein Naturgesetz.

CONSTRUCTED RADICALLY UNPLUGGED MUSIC

Die Fortsetzung eines Experimentes: Musik vom 24.3.2014 (man sollte gute Lautsprecher haben, oder gute Kopfhörer …)

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

EMERGING MIND – Mögliche Konsequenzen

Letzte Änderung: 9.April 2015, 12:10h – Minimale Korrekturen; Lesbarkeit verbessert durch Abstände; Zwischenüberschriften

1) Die ganzen Überlegungen zum ‚Emerging Mind‘ sind noch sehr anfangshaft, spekulativ. Andererseits, angesichts der vielen ungelösten Fragen, ohne diese Arbeitshypothese und die interessanten Zusammenhänge mit dieser Arbeitshypothese ist es eigentlich unmöglich, diese Arbeitshypothese nicht weiter zu denken. Fehler zeigten sich ja im allgemeinen am ehesten dann, wenn man versucht, eine Hypothese konsequent anzuwenden und sie auf diese Weise immer mehr ‚Überprüfungen‘ unterzieht.

EMPIRISCHES UNIVERSUM ALS FOLGE VON STRUKTUREN

2) Bisheriger Ausgangspunkt ist ja die Annahme einer Prozesskette S*(t+n) = f(S(t)) mit ‚t‘ als einem Zeitpunkt, ‚S‘ als einer identifizierbaren Struktur zu diesem Zeitpunkt und ‚f‘ als eines funktionalen Zusammenhanges, der die Struktur ‚S‘ in die Struktur ‚S*‘ überführt.

3) In vorausgehenden Einträgen hatte ich exemplarisch mögliche Strukturen identifiziert beginnend mit dem Energieausbruch E des BigBang, der dann in der nachfolgenden Abkühlung immer mehr Strukturen ‚hervorgebracht‘ (=f?) hat: Quanten [Q], Atome [At], Moleküle [Mol], usw. Man bekommt dann eine Prozesskette der Art EMPIRISCHER-KOSMOS = S_Q(t+n1) = f(S_E(0)), S_At(t+n1+n2) = f(S_Q(t+n1) ), usw. wobei die Energie eine Art ‚Nullstruktur‘ ist verglichen mit den folgenden Strukturausprägungen.

4) Bedenkt man ferner, dass jede Funktion ‚f‘ in der ‚Realität‘ eine ‚reale Abbildung‘ sein muss, d.h. eine ‚Operation‘, die ‚real etwas bewirkt‘, dann bedeutet dies, dass man parallel zu den Strukturen S_i(), die man zu verschiedenen Zeitpunkten unterscheiden kann, für die Veränderungsoperation ‚f‘ (von der noch unklar ist, ob es immer die ‚gleiche‘ ist), einen ‚Träger‘ annehmen muss, ein ‚Medium‘, das diese Ausführung ermöglicht. In der klassischen Makrophysik gibt es neben den unterscheidbaren Makrostrukturen ’nichts Konkretes‘, was als Träger in Frage kommt ausser den ‚beobachtbaren Kräften‘, die wir durch ihre spezifischen ‚Manifestationen‘ ‚indirekt‘ erkennen und die wir hypothetisch in Form von ‚Gesetzen‘ benennen und damit ‚dingfest‘ machen. Im Licht der Quantenphysik (was sich bislang vielleicht eher noch als ein ‚Halbdunkel‘ darstellt, das wir noch kaum verstehen…) muss man annehmen, dass die Wahrscheinlichkeitsfelder ihre Kohärenz immer wieder durch ‚Kräfte‘ verlieren, die dann zu den tatsächlich beobachtbaren Makroereignissen führen. Diese in der Quantenfeld lokalisierten hypothetischen Kräfte bieten sich als Kandidaten für den Operator ‚f‘ an, der die unterschiedlichen Strukturbildungen E → S_Q → S_At → … ermöglicht.

ENERGIE: EINMAL UND IMMER WIEDER

5) Neben vielen interessanten Aspekten ist bemerkenswert, dass diese Prozesskette EMPIRISCHER-KOSMOS bis zur Strukturform der Moleküle durch eine einmalige Energiezufuhr (’statisch‘) diese Strukturen erhält; jenseits der Moleküle S_Mol, ab der Strukturform ‚Zelle‘ S_Cell, benötigen diese komplexe Strukturen kontinuierlich eine beständige Zufuhr von Energie (‚dynamisch‘) in Form von chemisch gebundener Energie, die dann mittels Metabolismus ‚freigesetzt‘ und für verschiedene energieintensive Prozesse genutzt wird. Mit fortschreitender Komplexität der Strukturformen (Pflanzen, Tiere, Hominiden, …) wird der Aufwand immer grösser und die Formen von Energiegewinnung, -transport, -speicherung, -verwertung immer komplexer.

ENTSTEHUNG VON ZEICHEN INNERHALB DER MATERIE

6) Ferner ist bemerkenswert, dass bei fortschreitender Komplexität der Strukturformen sich solche molekular basierte Strukturen bilden können, die dann Repräsentationen auf einer höheren Ebene realisieren können, chemische Ereignisse, die als Zeichen funktionieren, die Bedeutungsbeziehungen realisieren können (= semiotischer Raum, Semiose, Zeichenprozesse). Damit ist es möglich, sich von der Konkretheit molekularer Strukturen in gewisser Weise zu befreien und im semiotischen Raum abstrakte Strukturen aufzubauen, die für beliebige Strukturen stehen können. Nicht nur lassen sich damit die vorfindlichen molekularen Strukturen ‚abbilden‘, ‚modellieren‘, sondern man kann mit ihnen ‚herumspielen‘, sie beliebig ‚variieren‘, ‚kombinieren‘, und damit den realen Augenblick ‚transzendieren‘. Im semiotischen Raum kann die reale Gegenwart durch eine erinnerbare Vergangenheit und eine potentielle Zukunft erweitert werden. Dieser Prozess ist schleichend und gewinnt in den höheren Säugetieren, bei den Hominiden und speziell beim homo sapiens sapiens einen vorläufigen Höhepunkt.

BESCHLEUNIGUNG DER KOMMUNIKATION

7) Seit der Verfügbarkeit des semiotischen Raumes innerhalb eines Systems kann man eine dramatische Beschleunigung in der Kommunikation und Koordinierung zwischen den Teilnehmern beobachten, Explosion an Werkzeug, Verfahren, Regeln, Organisation usw.

FLEXIBILISIERUNG DER ENERGIEZUFUHR

8) Die nächste grosse Revolution findet statt, als es gelingt, die molekül-basierten semiotischen Räume mit Hilfe von atomar-basierten Technologien in den wesentlichen Signal- und Zeicheneigenschaften zu kopieren (= Computer), so dass nun die Bildung von ‚künstlichen (technischen) semiotischen Räumen‘ möglich wurde, in Kombination mit einer globalen Vernetzung (= Computernetzwerke, Internet, WWW). Während molekül-basierte semiotische Räume chemisch gebundene Energie zu ihrem ‚Betrieb‘ benötigen, benötigen die atomar-basierten semiotischen Räume Energie in Form von technisch manipulierbaren Potentialunterschieden (= Elektrizität). Diese Form ist universeller und flexibler.

STEIGERUNG DER KOMPLEXITÄT

9) Seit der Verfügbarkeit von künstlichen — auf elektrischer Energie basierenden — semiotischen Räumen konnte die Komplexitätsentwicklung sowohl in ihrer inhärenten Komplexität wie auch in der Geschwindigkeit ihrer Entwicklungen weiter gesteigert werden.

MODIFIKATIONEN DES VERÄNDERUNGSOPERATORS

10) Interessant ist, dass der Veränderungsoperator ‚f‘ nun deutlich unterschieden werden kann. Während der Übergang von der Struktur ‚vor dem HS (‚homo sapiens‘)‘ – also etwa S_PreHs(t) – zur Struktur S_Hs(t+n) noch mit dem Operator ‚f‘ geschrieben werden kann S_Hs(t+n) = f(S_PreHs(t)) ist der Übergang von der Struktur S_Hs zu der neuen Struktur S_NetComp(t) von S_Hs vorgenommen worden, also S_NetComp(t+n) = f_hs(S_Hs(t+n)). Dies ist möglich, weil die impliziten semiotischen Räume von Hs die Definition von Operatoren ermöglichen, die dann ‚umgesetzt‘ werden können. Allerdings wird man wohl annehmen müssen, dass in diese Umsetzung f_hs wohl auch das allgemeine ‚f‘ mit eingeht, also genauer S_NetComp(t+n) = f_hs u f(S_Hs(t+n)).

11) Aktuell sind die künstlichen technischen Strukturen S_NetComp noch nicht in der Lage, sich selber zu vervielfältigen. Grundsätzlich ist nicht zu sehen, warum dies nicht eines Tages möglich sein sollte.

12) Klar ist allerdings, dass der Veränderungsoperator ‚f‘ nun als zusätzliche Teilkomponente f_NetComp enthält, also S_Future(t+n) = f u f_NetComp(S_Past(t)).

PROJEKTION IN DIE ZUKUNFT

13) So mächtig die Kombination ‚f u f_NetComp‘ wirkt, so fragil ist das Ganze. Würde aus irgendwelchen Gründen mal kein Strom verfügbar sein, dann würde S_NetComp vollständig ausfallen und damit würden schon heute weite Bereiche der ‚Zivilisation‘ weitgehend zusammenbrechen.

14) Ein weiterer Aspekt deutet sich an: aufgrund der heute verfügbaren Daten wissen wir, dass der aktuelle Körper des Menschen nur ein ‚Durchgangsstadium‘ markiert. Viele Millionen Jahre vorher sah dieser Körper anders aus und gehen wir weiter zurück, dann verlieren sich die heute bekannten Strukturen in immer fremdartigeren Formen, die kaum noch etwas mit der heutigen Gestalt zu tun haben. Umgekehrt müssen wir also davon ausgehen, dass sich – auch ohne unser Zutun – die aktuelle Körperform weiter verändern wird.

15) Dazu kommt der Aspekt, dass wir mittels des impliziten semiotischen Raumes wie auch durch die heute extern verfügbaren künstlichen semiotischen Räume samt hochentwickelter Werkzeuge den Umbau der aktuellen Körperformen aktiv betreiben könnten (und möglicherweise auch sollten?).

16a) Andererseits stellt sich aber die Grundsatzfrage, ob die Linie der molekülbasierten Körper überhaupt weiterverfolgt werden sollte. Die künstlichen semiotischen Räume mit der Energieversorgung durch flexiblen Strom bieten u.U. auf Dauer bessere Chancen, sich im Universum zu behaupten. Dies rührt dann aber an der Grundsatzfrage, ob die materielle Hülle einer Struktur (im Falle des HS sein molekülbasierter Körper) tatsächlich wichtig ist.

VERORTUNG DES GEISTES

16b) Wenn die Arbeitshypothese stimmt, dass die entscheidenden Operatoren ‚f‘ letztlich von den realisierten Strukturen unabhängig sind, sondern sich nur unter Verfügbarkeit solcher materieller Strukturen ‚zeigen‘, dann würde es für diese(n) Operator ‚f‘ egal sein, ob das ‚Medium‘ chemische Moleküle sind oder atombasierte Strukturen. Nicht das Medium repräsentiert den Geist, sondern der Geist wird anlässlich verfügbarer Strukturen ’sichtbar‘. Die Annahme wäre also etwa die, dass ‚Geist‘ subset E und ‚f‘ in ‚Geist‘ als dem vorab gegebenem ‚Medium‘ gründet; innerhalb von diesem Geist können Veränderungsoperatoren angewendet werden.

17) Der ‚Geist‘ wäre in diesem Sinne das (für uns) vorweg schon immer Gegebene, das quasi ‚Untötbare‘, und nur in dem Maße, wie es hinreichend geeignete Strukturen (welcher Art auch immer) gibt, kann sich dieser Geist durch seine ‚Wirkungen‘ (= Manifestationen, Ereignisse, Wirkungen, Phänomene) zeigen (für uns, die wir aktuell eine spezifische Struktur haben und mit dieser spezifischen Struktur nur ganz bestimmte Dinge erkennen können!!!).

18) Damit wäre jede bekannte Lebensform eine Form von ‚Geistesmanifestation‘, nur unterschiedlich differenziert. Niemand hätte einem anderen irgendetwas voraus.

19) Bizarre Ethiken, die aus dem darwinischen Evolutionsbegriff irgendwelche ‚Vorteile‘ herauszurechnen versuchten, würden sich – falls diese neue Arbeitshypothese stimmen würde – als sehr kurzsichtig erweisen. In der Evolution geht es nicht um das ‚Recht des Stärkeren‘, sondern um den Aufbau solcher komplexer Strukturen, die immer mehr von dem ‚Geist‘ sichtbar machen, der schon immer da ist und von dem jede partielle individuelle Struktur immer nur ein kleines Zipfelchen sichtbar machen kann. Klar ist in diesem Szenario auch, dass der einzelne als solcher keine grundlegende Bedeutung besitzt, höchstens in dem Sinne, dass er dazu beiträgt, das gemeinsame Ganze voran zu bringen. Der Kult um persönlichen Besitz, persönliche Macht, individuelle Schönheit und ‚Ruhm‘ hat hier keinen Platz. Er wirkt seltsam bizarr, fremdartig, lächerlich. Die Zukunft wird den symbiotischen Gemeinschaften gehören, wo die Fähigkeiten von jedem maximal entwickelt und in ein gemeinsames Ziel eingebunden werden können. Insofern bleibt Individualität wichtig, aber nur als Teil eines gemeinsamen Ganzen.

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