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Über die Welt reden

Dieser Text ist Teil des Textes „Neustart der Menschlichkeit (Rebooting humanity)“

(Die Englische Version findet sich HIER)

Autor Nr. 1 (Gerd Doeben-Henisch)

Kontakt: cagent@cognitiveagent.org

(Start: 5.Juni 2024, Letzte Änderung: 7.Juni 2024)

Ausgangspunkt

Es soll also ein ‚Text‘ geschrieben werden, der über die Welt spricht, einschließlich aller Lebewesen, und die Autoren sind im ersten Anlauf ‚Menschen‘. Bisher kennen wir keine Fälle, in denen Tiere oder Pflanzen selbst Texte schreiben: ihre Sicht des Lebens. Wir kennen nur Menschen die aus ‚ihrer menschlichen Sicht‘ über das Leben, über Tiere und Pflanzen schreiben. An dieser Vorgehensweise kann man viel kritisieren. Bei einem weiteren Nachdenken kann man dann vielleicht sogar feststellen, dass auch das ‚Schreiben von Menschen über andere Menschen und sich selbst‘ nicht ganz so trivial ist. Schon das Schreiben von Menschen ‚über sich selbst‘ ist fehleranfällig, kann völlig ‚daneben‘ laufen, kann vollständig ‚falsch‘ sein, was allerdings die Frager aufwirft, was denn ‚wahr‘ bzw. ‚falsch‘ ist. Man sollte also ein paar Gedanken darauf verwenden, wie wir Menschen so über die Welt und uns selbst reden können, dass wir gemeinsam eine Chance haben, nicht nur zu ‚fantasieren‘, sondern etwas zu erfassen, was ‚real‘ ist, was etwas von dem beschreibt, was uns als Menschen, als Lebewesen, als Bewohner dieses Planeten ‚real‘ auszeichnet. … aber dann poppt schon wieder die Frage auf, was denn ‚real‘ ist? Drehen wir uns im Kreis von Fragen mit Antworten, wo die Antworten selbst schon wieder Fragen sind, bei näherem Hinschauen?

Erste Schritte

Leben auf Planet Erde

Beim Start des Schreibens gehen wir davon aus, dass es den ‚Planet Erde‘ gibt und auf diesem Planeten gibt es etwas, das wir ‚Leben‘ nennen, und wir Menschen — zur Lebensform des Homo sapiens gehörend — sind Teil davon.

Sprache

Wir gehen auch davon aus, dass wir Menschen über die Fähigkeit verfügen, mittels Lauten miteinander zu kommunizieren. Diese Laute, die wir für die Kommunikation benutzen, nennen wir hier ‚Sprachlaute‘, um anzudeuten, dass die Gesamtheit der Laute für die Kommunikation ein ‚System‘ bilden, das wir letztlich ‚Sprache‘ nennen.

Bedeutung

Da wir Menschen auf diesem Planeten in der gleichen Situation für die ‚gleichen Objekte‘ ganz unterschiedliche Laute benutzen können, deutet sich an, dass die ‚Bedeutung‘ von Sprachlauten nicht fest an die Sprachlaute geknüpft ist, sondern irgendwie etwas mit dem zu tun hat, was ‚in unserem Kopf‘ stattfindet. Leider können wir nicht ‚in unseren Kopf‘ hineinschauen. Da scheint viel zu passieren, aber dieses Geschehen im Kopf ist ‚unsichtbar‘.[1] Trotzdem erleben wir im ‚Alltag‘, dass wir uns mit anderen ‚einigen‘ können, ob es gerade ‚regnet‘ oder ob es irgendwie ’stinkt‘ oder da auf dem Gehweg eine Mülltonne steht, die den Weg versperrt oder …. Also irgendwie scheint das ‚Geschehen im Kopf‘ bei unterschiedlichen Menschen gewisse ‚Übereinstimmungen‘ aufzuweisen, so dass nicht nur ich etwas Bestimmtes sehe, sondern der andere auch, und wir können sogar die gleichen Sprachlaute dafür benutzen. Und da ein Programm wie chatGPT meine Deutschen Sprachlaute z.B. in Englische Sprachlaute übersetzen kann, kann ich feststellen, dass ein anderer Mensch, der kein Deutsch spricht, statt meines Wortes ‚Mülltonne‘ z.B. das Wort ‚trash bin‘ benutzt und dann auch zustimmend nickt: ‚Yes, there is a trash bin‘. Wäre das ein Fall für eine ‚wahre Aussage‘?

Veränderungen und Erinnerungen

Da wir täglich erleben, wie der Alltag sich ständig ‚verändert‘, wissen wir, dass etwas, was gerade mal Zustimmung fand, im nächsten Moment keine Zustimmung mehr findet, weil die Mülltonne nicht mehr da steht. Diese Änderungen können wir aber nur bemerken, weil wir etwas haben, was wir ‚Erinnerung‘ nennen: wir können uns daran erinnern, dass eben an einer bestimmte Stelle eine Mülltonne stand, jetzt aber nicht mehr. Oder ist diese Erinnerung nur eine Einbildung? Kann ich meiner Erinnerung trauen? Wenn jetzt alle anderen sagen, da war doch keine Mülltonne, ich mich aber meine zu erinnern, was heißt dies?

Konkreter Körper

Ja, und dann mein Körper: immer wieder muss ich was trinken, etwas essen, bin nicht beliebig schnell, brauche etwas Platz, …. mein Körper ist etwas sehr Konkretes, mit allerlei ‚Empfindungen‘, ‚Bedürfnissen‘, einer bestimmten ‚Form‘, …. der sich im Laufe der Zeit sogar ändert: er wächst, er altert, er kann krank werden, …. ist er wie eine ‚Maschine‘?

Galaxien von Zellen

Wir wissen heute, dass unser menschlicher Körper weniger einer ‚Maschine‘ gleicht als vielmehr einer ‚Galaxie von Zellen‘. Unser Körper hat etwa 37 Billionen (10¹2) Körperzellen mit weiteren 100 Billionen Zellen im Darm, die für unser Verdauungssystem lebenswichtig sind, und diese Zellen zusammen bilden das ‚System Körper‘.[2] Das bislang eigentlich Unfassbare ist, dass diese ca. 140 Billionen Zellen ja jeweils komplett autonome Lebewesen sind, mit allem, was es zum Leben braucht. Und wenn man weiß, wie schwer wir uns als Menschen tun, schon zwischen fünf Menschen auf Dauer eine Kooperation aufzubauen und aufrecht zu halten, dann kann man zumindest ansatzweise ein wenig ahnen, was es heißt, dass 140 Billionen Lebewesen es in jeder Sekunde — und über viele Jahre, ja Jahrzehnte hinweg — schaffen, miteinander so zu kommunizieren und koordiniert zu handeln, dass das Gesamtkunstwerk ‚menschlicher Körper‘ existiert und funktioniert.

Entstehung als Frage

Und da es keinen ‚Befehlshaber‘ gibt, der allen Zellen ständig sagt, was sie tun sollen, erweitert sich dieses ‚Wunder des Systems Mensch‘ weiter um die Dimension, woher das Konzept kommt, das diese ‚Super-Galaxie der Zellen‘ dazu befähigt, so zu sein, wie sie sind. Wie funktioniert dies? Wie ist es entstanden?[3]

Hinter die Phänomene schauen

Im weiteren Verlauf wird es darauf ankommen, ausgehend vom Alltag nach und nach die ‚Oberfläche der Alltagsphänomene‘ zu durchdringen, um jene Strukturen sichtbar zu machen, die ‚hinter den Phänomenen‘ am Werke sind, jene Strukturen, die alles zusammenhalten und gleichzeitig alles beständig bewegen, verändern.

Grunddimension Zeit

Dies alles impliziert das Phänomen ‚Zeit‘ als Grundkategorie aller Wirklichkeit. Ohne Zeit gibt es auch keine ‚Wahrheit‘ …

[1] Spezialisten für Gehirnforschung werden natürlich gleich ihre Hand erheben und werden sagen wollen, dass sie mittlerweile sehr wohl ‚in den Kopf schauen‘ können, aber warten wir ab, was es mit diesem ‚in den Kopf hineinschauen‘ auf sich hat.

[2] Wenn wir für die Anzahl der Sterne in unserer Heimatgalaxie der Milchstraße mit geschätzten 100 – 400 Milliarden Sterne mal annehmen, dass es 200 Milliarden sind, dann würde unser Körpersystem dem Umfang von 700 Galaxien im Format der Milchstraße entsprechen, eine Zelle für einen Stern.

[3] Verschiedene Disziplinen der Naturwissenschaften, besonders sicher die Evolutionsbiologie, haben in den letzten ca. 150 Jahren viele Aspekte dieses Mega-Wunders partiell ausgeleuchtet. Man kann über die physikalische Sicht unsres Universum staunen, aber verglichen mit den Super-Galaxien des Lebens auf dem Planet Erde erscheint das physikalische Universum geradezu ‚langweilig‘ … Keine Angst: letztlich hängt beides untereinander zusammen: das eine erklärt das andere …

Geschichten erzählen

Fragmente des Alltags – ohne Kontext

Wir reden ständig über irgend etwas: das Essen, das Wetter, der Verkehr, die Preise beim Einkaufen, Tagesnachrichten, die Politik, den Chef, die Kollegen, Sportereignisse, Musik, …. meistens sind es ‚Fragmente‘ aus dem größeren Ganzen, das wir ‚Alltag‘ nennen. Menschen in einem der vielen Krisengebiete auf diesem Planeten, speziell jene in Unwetterkatastrophen oder gar im Krieg …, leben konkret in einer ganz anderen Welt, in einer Welt von Überleben und Tod.

Diese Fragmente mitten im Leben sind konkret, betreffen uns, aber sie erzählen aus sich heraus keine Geschichte, wo sie herkommen (Bomben, Regen, Hitze,…), warum sich dies ereignet, wie sie mit anderen Fragmenten zusammen hängen. Der Regen, der herunter prasselt, ist ein einzelnes Ereignis an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Die Brücke, die gesperrt werden muss, weil sie überaltert ist, lässt aus sich heraus auch nicht erkennen, warum gerade diese Brücke, warum gerade jetzt, warum konnte man dies nicht ‚voraus sehen‘? Die Menschen, die ‚zu viel‘ sind in einem Land oder auch ‚zu wenig‘: Warum ist das so? Konnte man dies voraus sehen? Was können wir tun? Was sollten wir tun?

Der Strom der einzelnen Ereignisse trifft auf uns, mehr oder weniger wuchtig, vielleicht auch einfach als ‚Rauschen‘: wir sind so daran gewöhnt, dass wir bestimmte Ereignisse schon gar nicht mehr wahrnehmen. Aber diese Ereignisse als solche erzählen keine ‚Geschichte über sich selbst‘; sie finden einfach statt, scheinbar unwiderstehlich; manche sagen ‚Das ist Schicksal‘.

Bedürfnis nach Sinn

Auffällig ist, dass wir Menschen aber doch versuchen, dem Ganzen einen ‚Sinn‘ zu geben, eine ‚Erklärung‘ zu suchen, warum dies so ist. Und der Alltag zeigt, dass wir viel ‚Fantasie‘ haben, was mögliche ‚Zusammenhänge‘ oder ‚Ursachen‘ betrifft. Im Blick zurück in die Vergangenheit lächeln wir gerne über verschiedene Erklärungsversuche von unseren Vorfahren: solange man über die Details unseres Körpers und überhaupt über das Leben nichts wusste, war jede Geschichte möglich. [1] In unserer Zeit mit einer seit ca. 150 Jahren etablierter Wissenschaft gibt es aber immer noch viele Millionen von Menschen (möglicherweise Milliarden?), die von Wissenschaft nichts wissen und bereit sind, nahezu jede Geschichte zu glauben, nur weil ein anderer Mensch diese Geschichte überzeugend erzählt.

Befreiung vom Augenblick durch Worte

Aufgrund dieser Fähigkeit, mit der ‚Kraft der Fantasie‘ Dinge, die man erlebt, in eine ‚Geschichte‘ zu packen, die ‚mögliche Zusammenhänge‘ andeuten, durch die Ereignisse einen ‚gedanklichen Sinn‘ bekommen, kann der Mensch versuchen, sich aus der scheinbaren ‚Absolutheit des Augenblicks‘ in gewisser Weise zu ‚befreien‘: ein Ereignis, das sich in einen ‚Zusammenhang einordnen‘ lässt, verliert seine ‚Absolutheit‘. Allein schon durch diese Art von Erzählung gewinnt der erlebende Mensch ein Stück ‚Macht‘: im Erzählen eines Zusammenhangs kann er Erzähler das Erlebnis ‚zur Sache‘ machen, über die er ’nach eigenem Gutdünken‘ verfügen kann. Diese ‚Macht durch das Wort‘ kann ‚Angst‘ lindern, die ein Ereignis auslösen kann. Dies durchzieht die Geschichte der Menschheit von den Anfängen an, soweit es die archäologischen Zeugnisse hergeben.

Vielleicht ist es nicht verkehrt, den Menschen nicht als erstes als ‚Jäger und Sammler‘ oder als ‚Ackerbauer‘ oder so einzuordnen, sondern als ‚den, der Geschichten erzählt‘.

[1] Ein solches Zauberwort war in der griechischen Philosophie der Begriff ‚Atem‘ (griechisch „pneuma“). Der Atem kennzeichnete nicht nur das individuell Lebendige, sondern wurde auch verallgemeinert zum Lebensprinzip von allem, das sowohl Körper, Seele und Geist verband wie auch das ganze Universum durchwirkte. Im Lichte des heutigen Wissens könnte man diese ‚Erklärung‘ nicht mehr erzählen, aber vor ca. 2300 Jahren war diese Überzeugung unter allen Intellektuellen ein gewisser ‚intellektueller Standard‘, das herrschende ‚Weltbild‘; man ‚glaubte‘ es. Wer etwas anderes befand sich außerhalb dieses ‚Sprachspiels‘.

Organisation einer Ordnung

Denken erschafft Beziehungen

Sobald man mittels ‚Sprache‘ einzelne Ereignisse, Sachen, Vorgänge, Eigenschaften von Sachen und mehr ‚benennen‘ kann, verfügen Menschen offensichtlich über die Fähigkeit, mittels Sprache eben nicht nur zu ‚benennen‘, sondern ‚Benanntes‘ durch ‚Anordnung von Worten im sprachlichen Ausdruck‘ in ‚gedachte Beziehungen‘ einzubetten, wodurch das einzeln Benannte nicht mehr ‚isoliert‘ vorkommt sondern ‚gedanklich verbunden‘ mit anderem. Diese grundlegende Fähigkeit eines Menschen, ‚in seinem Kopf‘ ‚Beziehungen zu denken‘, die man ‚gar nicht sehen‘, wohl aber ‚denken‘ kann [1], ist natürlich nicht auf einzelne Ereignisse und nicht auf eine einzige Beziehung beschränkt. Letztlich können wir Menschen ‚alles‘ zum Thema machen und wir können ‚jedmögliche Beziehung‘ in unserm Kopf ‚denken‘; hier gibt es keine grundsätzliche Beschränkung.

Geschichten als Naturgewalt

Nicht nur die Geschichte ist voll von Beispielen, auch unsere Gegenwart. Dass heute trotz der unfassbaren Erfolge der modernen Wissenschaft in unserem Alltag weltweit nahezu über alle Kanäle die wildesten Geschichten mit ‚rein gedachten Beziehungen‘ erzählt und auch sofort geglaubt werden, das sollte uns zu denken geben. Unsere grundlegende Eigenschaft, dass wir Geschichten erzählen können, um die Absolutheit des Augenblicks zu durchbrechen, hat offensichtlich den Charakter einer ‚Naturgewalt‘, die so tief in uns verortet ist, dass wir sie nicht ‚ausrotten‘ können; wir können sie vielleicht ‚zähmen‘, sie vielleicht ‚kultivieren‘, aber wir können sie nicht stoppen. Es ist eine ‚elementare Eigenschaft‘ unseres Denkens, sprich: unseres Gehirns im Körper.

Gedacht und Überprüft

Die Erfahrung, dass wir, die wir diejenigen sind, die Geschichten erzählen, damit Ereignisse benennen und in Beziehungen einordnen können — und zwar letztlich unbegrenzt — kann zwar real zum Chaos führen, wenn das erzählte Beziehungsgeflecht letztlich ‚rein gedacht‘ ist, ohne echten Bezug zur ‚realen Welt um uns herum‘, aber es ist zugleich auch unser größtes Kapital, da wir Menschen uns damit nicht nur grundsätzlich von der scheinbaren Absolutheit der Gegenwart befreien können, sondern wir können mit dem Erzählen von Geschichten Ausgangspunkte schaffen, ‚zunächst bloß gedachte Beziehungen‘, die wir dann aber konkret in unserem Alltag ‚überprüfen‘ können.

Ein Ordnungssystem

Wenn jemand zufällig einen anderen Menschen sieht, der irgendwie ganz anders aussieht als er es gewohnt ist, dann bilden sich in jedem Menschen automatisch alle möglichen ‚Vermutungen‘, was das da für ein Mensch ist. Belässt man es bei diesen Vermutungen, dann können diese wilden Vermutungen den ‚Kopf bevölkern‘ und die ‚Welt im Kopf‘ wird mit ‚potentiell bösen Menschen‘ bevölkert; irgendwann sind sie dann vielleicht schlicht ‚böse‘. Nimmt man aber Kontakt zu dem anderen auf, könnte man vielleicht feststellen, dass er eigentlich nett ist, interessant, lustig oder dergleichen. Die ‚Vermutungen im Kopf‘ verwandeln sich dann in ‚konkrete Erfahrungen‘, die anders sind als zunächst gedacht. ‚Vermutungen‘ in Kombination mit ‚Überprüfung‘ können so zur Bildung von ‚wirklichkeitsnahen Vorstellungen von Beziehungen‘ führen. Damit hat ein Mensch die Chance, sein ’spontanes Geflecht an gedachten Beziehungen‘, die falsch sein können — und meistens auch sind — in ein ‚überprüftes Geflecht von Beziehungen‘ zu verwandeln. Da letztlich die gedachten Beziehungen als Geflecht für uns ein ‚Ordnungssystem‘ aufspannen, in dem die Dinge des Alltags einbettet sind, erscheint es erstrebenswert, mit möglichst ‚überprüften gedachten Beziehungen‘ zu arbeiten.

[1] Der Atem des Menschen mir gegenüber, der bei den Griechen mein Gegenüber mit der Lebenskraft des Universums verbindet, die wiederum auch mit dem Geist un d der Seele zusammenhängt …

Hypothesen und Wissenschaft

Herausforderung: Methodisch geordnetes Vermuten

Die Fähigkeit zum Denken von möglichen Beziehungen, dann auch mittels Sprache, ist angeboren [1], aber die ‚Nutzung‘ dieser Fähigkeit im Alltag, z.B. so, dass wir gedachte Beziehungen mit der Wirklichkeit des Alltags abgleichen, dieses ‚Abgleichen’/ ‚Überprüfen‘ ist nicht angeboren. Wir können es tun, müssen es aber nicht tun. Es ist von daher interessant, sich zu vergegenwärtigen, dass seit dem ersten Auftreten des Homo sapiens auf diesem Planeten [2] 99,95% der Zeit vergangen sind, bis es zur Etablierung einer organisierten modernen Wissenschaft vor ca. 150 Jahren gekommen ist. Man kann dies als Hinweis deuten, dass der Übergang vom ‚freien Vermuten‘ bis zu einem ‚methodisch geordneten systematischen Vermuten‘ alles andere als einfach gewesen sein muss. Und wenn heute immer noch ein Großteil der Menschen — trotz Schule und sogar Studium –[3] eher dem ‚freien Vermuten‘ zuneigen und sich mit geordneter Überprüfung schwer tun, dann scheint es hier tatsächlich eine nicht leichte Schwelle zu geben, die ein Mensch überwinden muss — und immer wieder neu muss — , um vom ‚freien‘ zum ‚methodisch geordneten‘ Vermuten überzugehen.[4]

Ausgangspunkt für Wissenschaft

‚Der Übergang vom alltäglichen Denken zum ‚wissenschaftlichen Denken‘ ist fließend. Das Erzeugen von ‚gedachten Beziehungen‘ in Verbindung mit Sprache aufgrund auch unserer Fähigkeit der Kreativität/ der Fantasie ist letztlich auch der Ausgangspunkt von Wissenschaft. Während wir im alltäglichen Denken eher spontan und pragmatisch ’spontan gedachte Beziehungen‘ ‚überprüfen‘, versucht die ‚Wissenschaft‘ solche Überprüfungen ’systematisch‘ zu organisieren, um dann solche ‚positiv überprüften Vermutungen‘ als ‚empirisch überprüfte Vermutungen‘ bis zum Beweis des Gegenteils als ‚bedingt wahr‘ anzunehmen. Statt von ‚Vermutungen‘ spricht die Wissenschaft gerne von ‚Hypothesen‘ oder ‚Arbeitshypothesen‘, aber es bleiben ‚Vermutungen‘ durch die Kraft unsres Denkens und durch die Kraft unserer Fantasie.[5]

[1] Dies bedeutet, die genetische Information, die der Entwicklung unseres Körpers zugrunde liegt, ist so beschaffen, dass unser Körper mit seinem Gehirn während der Wachstumsphase so aufgebaut wird, dass wir genau über diese Fähigkeit zum ‚Denken von Beziehungen‘ verfügen. Interessant hier wieder die Frage, wie es möglich ist, dass sich aus einer einzigen Zelle ca. 13 Billionen Körperzellen (die ca. 100 Billionen Bakterien im Darm kommen ‚von außen‘ dazu) so entwickeln können, dass sie als ‚Gesamteindruck‘ das ‚Bild des Menschen‘ erzeugen, das wir kennen

[2] Nach heutigem Kenntnisstand vor ca. 300.000 Jahren in Ostafrika und in Nordafrika, von wo der Homo sapiens dann die gesamte Welt erwandert und erobert hat (es gab noch Reste von anderen Menschenformen, die schon länger da waren).

[3] Repräsentative empirische Studien dazu, wie viele Menschen einer Bevölkerung dazu neigen, sind mir nicht bekannt.

[4] Berücksichtigt man, dass wir Menschen als Lebensform Homo sapiens erst nach ca. 3.8 Milliarden Jahren auf diesem Planeten erschienen sind, dann machen die 300.000 Jahre Homo sapiens grob 0,008% der gesamten Zeit aus, seitdem es Leben auf dem Planeten Erde gibt. Wir sind also nicht nur als Homo sapiens ein sehr spätes ‚Produkt‘ des Lebensprozesses, sondern innerhalb unseres Homo sapiens Lebensprozesses taucht die Fähigkeit zum ’systematischen Überprüfen von Hypothesen‘ auch erst ‚ganz spät‘ auf. Aufs ganze Leben bezogen scheint daher diese Fähigkeit extrem wertvoll zu sein, was ja auch stimmt, betrachtet man die unfassbaren Erkenntnisse, die wir als Homo sapiens mit dieser Form zu denken gewinnen konnten. fragt sich nur, wie wir mit diesem Wissen umgehen. Auch diese Verhaltensweise, systematisch überprüftes Wissen dann zu nutzen, ist nicht angeboren.

[5] Die Fähigkeit der ‚Fantasie‘ ist kein Gegensatz zum ‚Wissen‘, sondern ist etwas ganz anderes. ‚Fantasie‘ ist eine Eigenschaft, die sich in dem Moment ‚zeigt‘, wo wir anfangen zu denken, vielleicht sogar schon darin, ‚dass‘ wir überhaupt denken. Da wir im Prinzip über ‚alles‘ Nachdenken können, was unsrem Denken ‚erreichbar‘ ist, ist die Fantasie ein Faktor, der hilft, ‚Auszuwählen‘, was wir denken. Fantasie ist insoweit dem Denken vor-gelagert.

Homo Sapiens: empirische und nachhaltig-empirische Theorien, Emotionen, und Maschinen. Eine Skizze

5.Aug 2023 – 29.Aug 2023 (10:37h)

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Email: gerd@doeben-henisch.de

(Eine Englische Version findet sich hier: https://www.uffmm.org/2023/08/24/homo-sapiens-empirical-and-sustained-empirical-theories-emotions-and-machines-a-sketch/)

Kontext

Dieser Text stellt die Skizze zu einem Vortrag dar, der im Rahmen der Konferenz „KI – Text und Geltung. Wie verändern KI-Textgeneratoren wissenschaftliche Diskurse?“ (25./26.August 2023, TU Darmstadt) gehalten werden soll. [1] Die Englische Version des überarbeiteten Vortrags findet sich schon jetzt HIER: https://www.uffmm.org/2023/10/02/collective-human-machine-intelligence-and-text-generation-a-transdisciplinary-analysis/ . Die Deutsche Version des überarbeiteten Vortrags wird im Verlag Walter de Gruyter bis Ende 2023/ Anfang 2024 erscheinen. Diese Veröffentlichung wird hier dann bekannt gegeben werden.

Sehr geehrtes Auditorium,

In dieser Tagung mit dem Titel „KI – Text und Geltung. Wie verändern KI-Textgeneratoren wissenschaftliche Diskurse?“ geht es zentral um wissenschaftliche Diskurse und den möglichen Einfluss von KI-Textgeneratoren auf diese Diskurse. Der heiße Kern bleibt aber letztlich das Phänomen Text selbst, seine Geltung.

SICHTWEISEN-TRANS-DISZIPLINÄR

In dieser Konferenz werden zu diesem Thema viele verschiedene Sichten vorgetragen, die zu diesem Thema möglich sind.

Mein Beitrag zum Thema versucht die Rolle der sogenannten KI-Textgeneratoren dadurch zu bestimmen, dass aus einer ‚transdisziplinären Sicht‘ heraus die Eigenschaften von ‚KI-Textgeneratoren‘ in eine ’strukturelle Sicht‘ eingebettet werden, mit deren Hilfe die Besonderheiten von wissenschaftlichen Diskursen herausgestellt werden kann. Daraus können sich dann ‚Kriterien für eine erweiterte Einschätzung‘ von KI-Textgeneratoren in ihrer Rolle für wissenschaftliche Diskurse ergeben.

Einen zusätzlichen Aspekt bildet die Frage nach der Struktur der ‚kollektiven Intelligenz‘ am Beispiel des Menschen, und wie sich diese mit einer ‚Künstlichen Intelligenz‘ im Kontext wissenschaftlicher Diskurse möglicherweise vereinen kann.

‚Transdisziplinär‘ bedeutet in diesem Zusammenhang eine ‚Meta-Ebene‘ aufzuspannen, von der aus es möglich sein soll, die heutige ‚Vielfalt von Textproduktionen‘ auf eine Weise zu beschreiben, die ausdrucksstark genug ist, um eine ‚KI-basierte‘ Texterzeugung von einer ‚menschlichen‘ Texterzeugung unterscheiden zu können.

MENSCHLICHE TEXTERZEUGUNG

Die Formulierung ‚wissenschaftlicher Diskurs‘ ist ein Spezialfall des allgemeineren Konzepts ‚menschliche Texterzeugung‘.

Dieser Perspektivenwechsel ist meta-theoretisch notwendig, da es auf den ersten Blick nicht der ‚Text als solcher ‚ ist, der über ‚Geltung und Nicht-Geltung‘ entscheidet, sondern die ‚Akteure‘, die ‚Texte erzeugen und verstehen‘. Und beim Auftreten von ‚verschiedenen Arten von Akteuren‘ — hier ‚Menschen‘, dort ‚Maschinen‘ — wird man nicht umhin kommen, genau jene Unterschiede — falls vorhanden — zu thematisieren, die eine gewichtige Rolle spielen bei der ‚Geltung von Texten‘.

TEXTFÄHIGE MASCHINEN

Bei der Unterscheidung in zwei verschiedenen Arten von Akteuren — hier ‚Menschen‘, dort ‚Maschinen‘ — sticht sofort eine erste ‚grundlegende Asymmetrie‘ ins Auge: sogenannte ‚KI-Textgeneratoren‘ sind Gebilde, die von Menschen ‚erfunden‘ und ‚gebaut‘ wurden, es sind ferner Menschen, die sie ‚benutzen‘, und das wesentliche Material, das von sogenannten KI-Generatoren benutzt wird, sind wiederum ‚Texte‘, die als ‚menschliches Kulturgut‘ gelten.

Im Falle von sogenannten ‚KI-Textgeneratoren‘ soll hier zunächst nur so viel festgehalten werden, dass wir es mit ‚Maschinen‘ zu tun haben, die über ‚Input‘ und ‚Output‘ verfügen, dazu über eine minimale ‚Lernfähigkeit‘, und deren Input und Output ‚textähnliche Objekte‘ verarbeiten kann.

BIOLOGISCH-NICHT-BIOLOGISCH

Auf der Meta-Ebene wird also angenommen, dass wir einerseits über solche Akteure verfügen, die minimal ‚textfähige Maschinen‘ sind — durch und durch menschliche Produkte –, und auf der anderen Seite über Akteure, die wir ‚Menschen‘ nennen. Menschen gehören als ‚Homo-Sapiens Population‘ zur Menge der ‚biologischen Systeme‘, während ‚textfähige Maschinen‘ zu den ’nicht-biologischen Systemen‘ gehören.

LEERSTELLE INTELLIGENZ-BEGRIFF

Die hier vorgenommene Transformation des Begriffs ‚KI-Textgenerator‘ in den Begriff ‚textfähige Maschine‘ soll zusätzlich verdeutlichen, dass die verbreitete Verwendung des Begriffs ‚KI‘ für ‚Künstliche Intelligenz‘ eher irreführend ist. Es gibt bislang in keiner wissenschaftlichen Disziplin einen allgemeinen, über die Einzeldisziplin hinaus anwendbaren und akzeptierten Begriff von ‚Intelligenz‘. Für die heute geradezu inflatorische Verwendung des Begriffs KI gibt es keine wirkliche Begründung außer jener, dass der Begriff so seiner Bedeutung entleert wurde, dass man ihn jederzeit und überall benutzen kann, ohne etwas Falsches zu sagen. Etwas, was keine Bedeutung besitzt, kann weder wahr‘ noch ‚falsch‘ sein.

VORAUSSETZUNGEN FÜR TEXT-GENERIERUNG

Wenn nun die Homo-Sapiens Population als originärer Akteur für ‚Text-Generierung‘ und ‚Text-Verstehen‘ identifiziert wird, soll nun zunächst untersucht werden, welches denn ‚jene besonderen Eigenschaften‘ sind, die eine Homo-Sapiens Population dazu befähigt, Texte zu generieren und zu verstehen und sie ‚im alltäglichen Lebensprozess erfolgreich anzuwenden‘.

GELTUNG

Ein Anknüpfungspunkt für die Untersuchung der besonderen Eigenschaften einer Homo-Sapiens Text-Generierung und eines Text-Verstehens ist der Begriff ‚Geltung‘, der im Tagungsthema vorkommt.

Auf dem primären Schauplatz des biologischen Lebens, in den alltäglichen Prozessen, im Alltag, hat die ‚Geltung‘ eines Textes mit ‚Zutreffen‘ zu tun. Wenn ein Text nicht von vornherein mit einem ‚fiktiven Charakter‘ geplant wird, sondern mit einem ‚Bezug zum Alltagsgeschehen‘, das jeder im Rahmen seiner ‚Weltwahrnehmung‘ ‚überprüfen‘ kann, dann hat ‚Geltung im Alltag‘ damit zu tun, dass das ‚Zutreffen eines Textes überprüft‘ werden kann. Trifft die ‚Aussage eines Textes‘ im Alltag ‚zu‘, dann sagt man auch, dass diese Aussage ‚gilt‘, man räumt ihr ‚Geltung‘ ein, man bezeichnet sie auch als ‚wahr‘. Vor diesem Hintergrund könnte man geneigt sein fortzusetzen und zu sagen: ‚Trifft‘ die Aussage eines Textes ’nicht zu‘, dann kommt ihr ‚keine Geltung‘ zu; vereinfacht zur Formulierung, dass die Aussage ’nicht wahr‘ sei bzw. schlicht ‚falsch‘.

Im ‚realen Alltag‘ ist die Welt allerdings selten ’schwarz‘ und ‚weiß‘: nicht selten kommt es vor, dass wir mit Texten konfrontiert werden, denen wir aufgrund ihrer ‚gelernten Bedeutung‘ geneigt sind ‚eine mögliche Geltung‘ zu zuschreiben, obwohl es möglicherweise gar nicht klar ist, ob es eine Situation im Alltag gibt — bzw. geben wird –, in der die Aussage des Textes tatsächlich zutrifft. In solch einem Fall wäre die Geltung dann ‚unbestimmt‘; die Aussage wäre ‚weder wahr noch falsch‘.

ASYMMETRIE: ZUTREFFEN – NICHT-ZUTREFFEN

Man kann hier eine gewisse Asymmetrie erkennen: Das ‚Zutreffen‘ einer Aussage, ihre tatsächliche Geltung, ist vergleichsweise eindeutig. Das ‚Nicht-Zutreffen‘, also eine ‚bloß mögliche‘ Geltung, ist hingegen schwierig zu entscheiden.

Wir berühren mit diesem Phänomen der ‚aktuellen Nicht-Entscheidbarkeit‘ einer Aussage sowohl das Problem der ‚Bedeutung‘ einer Aussage — wie weit ist überhaupt klar, was gemeint ist? — als auch das Problem der ‚Unabgeschlossenheit unsres Alltags‘, besser bekannt als ‚Zukunft‘: ob eine ‚aktuelle Gegenwart‘ sich als solche fortsetzt, ob genau so, oder ob ganz anders, das hängt davon ab, wie wir ‚Zukunft‘ generell verstehen und einschätzen; was die einen als ’selbstverständlich‘ für eine mögliche Zukunft annehmen, kann für die anderen schlicht ‚Unsinn‘ sein.

BEDEUTUNG

Dieses Spannungsfeld von ‚aktuell entscheidbar‘ und ‚aktuell noch nicht entscheidbar‘ verdeutlicht zusätzlich einen ‚autonomen‘ Aspekt des Phänomens Bedeutung: hat sich ein bestimmtes Wissen im Gehirn gebildet und wurde dieses als ‚Bedeutung‘ für ein ‚Sprachsystem‘ nutzbar gemacht, dann gewinnt diese ‚assoziierte‘ Bedeutung für den Geltungsbereich des Wissens eine eigene ‚Realität‘: es ist nicht die ‚Realität jenseits des Gehirns‘, sondern die ‚Realität des eigenen Denkens‘, wobei diese Realität des Denkens ‚von außen betrachtet‘ etwas ‚Virtuelles‘ hat.

Will man über diese ‚besondere Realität der Bedeutung‘ im Kontext des ‚ganzen Systems‘ sprechen, dann muss man zu weitreichenden Annahmen greifen, um auf der Meta-Ebene einen ‚begrifflichen Rahmen‘ installieren zu können, der in der Lage ist, die Struktur und die Funktion von Bedeutung hinreichend beschreiben zu können. Dafür werden minimal die folgenden Komponenten angenommen (‚Wissen‘, ‚Sprache‘ sowie ‚Bedeutungsbeziehung‘):

  1. WISSEN: Es gibt die Gesamtheit des ‚Wissens‘, das sich im Homo-Sapiens Akteur im Laufe der Zeit im Gehirn ‚aufbaut‘: sowohl aufgrund von kontinuierlichen Interaktionen des ‚Gehirns‘ mit der ‚Umgebung des Körpers‘, als auch aufgrund von Interaktionen ‚mit dem Körper selbst‘, sowie auch aufgrund der Interaktionen ‚des Gehirns mit sich selbst‘.
  2. SPRACHE: Vom Wissen zu unterscheiden ist das dynamische System der ‚potentiellen Ausdrucksmittel‘, hier vereinfachend ‚Sprache‘ genannt, die sich im Laufe der Zeit in Interaktion mit dem ‚Wissen‘ entfalten können.
  3. BEDEUTUNGSBEZIEHUNG: Schließlich gibt es die dynamische ‚Bedeutungsbeziehung‘, ein Interaktionsmechanismus, der beliebige Wissenselemente jederzeit mit beliebigen sprachlichen Ausdrucksmitteln verknüpfen kann.

Jede dieser genannten Komponenten ‚Wissen‘, ‚Sprache‘ wie auch ‚Bedeutungsbeziehung‘ ist extrem komplex; nicht weniger komplex ist auch ihr Zusammenspiel.

ZUKUNFT UND EMOTIONEN

Neben dem Phänomen Bedeutung wurde beim Phänomen des Zutreffens auch sichtbar, dass die Entscheidung des Zutreffens auch von einer ‚verfügbaren Alltagssituation‘ abhängt, in der sich eine aktuelle Entsprechung ‚konkret aufzeigen‘ lässt oder eben nicht.

Verfügen wir zusätzlich zu einer ‚denkbaren Bedeutung‘ im Kopf aktuell über keine Alltagssituation, die dieser Bedeutung im Kopf hinreichend korrespondiert, dann gibt es immer zwei Möglichkeiten: Wir können diesem gedachten Konstrukt trotz fehlendem Realitätsbezug den ‚Status einer möglichen Zukunft‘ verleihen oder nicht.

Würden wir uns dafür entscheiden, einer ‚Bedeutung im Kopf‘ den Status einer möglichen Zukunft zu zusprechen, dann stehen meistens folgende zwei Anforderungen im Raum: (i) Lässt sich im Lichte des verfügbaren Wissens hinreichend plausibel machen, dass sich die ‚gedachte mögliche Situation‘ in ‚absehbarer Zeit‘ ausgehend von der aktuellen realen Situation ‚in eine neue reale Situation transformieren lässt‘? Und (ii) Gibt es ’nachhaltige Gründe‚ warum man diese mögliche Zukunft ‚wollen und bejahen‘ sollte?

Die erste Forderung verlangt nach einer leistungsfähigen ‚Wissenschaft‘, die aufhellt, ob es überhaupt gehen kann. Die zweite Forderung geht darüber hinaus und bringt unter dem Gewand der ‚Nachhaltigkeit‘ den scheinbar ‚irrationalen‘ Aspekt der ‚Emotionalität‘ ins Spiel: es geht nicht nur einfach um ‚Wissen als solches‘, es geht auch nicht nur um ein ’sogenanntes nachhaltiges Wissen‘, das dazu beitragen soll, das Überleben des Lebens auf dem Planet Erde — und auch darüber hinaus — zu unterstützen, es geht vielmehr auch um ein ‚gut finden, etwas bejahen, und es dann auch entscheiden wollen‘. Diese letzten Aspekte werden bislang eher jenseits von ‚Rationalität‘ angesiedelt; sie werden dem diffusen Bereich der ‚Emotionen‘ zugeordnet; was seltsam ist, da ja jedwede Form von ‚üblicher Rationalität‘ genau in diesen ‚Emotionen‘ gründet.[2]

WISSENSCHAFTLICHER DISKURS UND ALLTAGSSITUATIONEN

In diesem soeben angedeuteten Kontext von ‚Rationalität‘ und ‚Emotionalität‘ ist es nicht uninteressant, dass im Tagungsthema der ‚wissenschaftliche Diskurs‘ als Referenzpunkt thematisiert wird, um den Stellenwert textfähiger Maschinen abzuklären.

Es fragt sich, inwieweit ein ‚wissenschaftlicher Diskurs‘ überhaupt als Referenzpunkt für einen erfolgreichen Text dienen kann?

Dazu kann es helfen, sich bewusst zu machen, dass das Leben auf diesem Planet Erde sich in jedem Moment in einer unfassbar großen Menge von ‚Alltagssituationen‘ abspielt, die alle gleichzeitig stattfinden. Jede ‚Alltagssituation‘ repräsentiert für die Akteure eine ‚Gegenwart‘. Und in den Köpfen der Akteure findet sich ein individuell unterschiedliches Wissen darüber, wie sich eine Gegenwart in einer möglichen Zukunft ‚verändern kann‘ bzw. verändern wird.

Dieses ‚Wissen in den Köpfen‘ der beteiligten Akteure kann man generell ‚in Texte transformieren‘, die auf unterschiedliche Weise einige der Aspekte des Alltags ’sprachlich repräsentieren‘.

Der entscheidende Punkt ist, dass es nicht ausreicht, dass jeder ‚für sich‘ alleine, ganz ‚individuell‘, einen Text erzeugt, sondern dass jeder zusammen ‚mit allen anderen‘, die auch von der Alltagssituation betroffen sind, einen ‚gemeinsamen Text‘ erzeugen muss. Eine ‚kollektive‘ Leistung ist gefragt.

Und es geht auch nicht um ‚irgendeinen‘ Text, sondern um einen solchen, der so beschaffen ist, dass er die ‚Generierung möglicher Fortsetzungen in der Zukunft‘ erlaubt, also das, was traditionell von einem ‚wissenschaftlichen Text‘ erwartet wird.

Aus der umfangreichen Diskussion — seit den Zeiten eines Aristoteles — was denn ‚wissenschaftlich‘ bedeuten soll, was eine ‚Theorie‘ ist, was eine ‚empirische Theorie‘ sein soll, skizziere ich das, was ich hier das ‚minimale Konzept einer empirischen Theorie‘ nenne.

  1. Ausgangspunkt ist eine ‚Gruppe von Menschen‘ (die ‚Autoren‘), die einen ‚gemeinsamen Text‘ erstellen wollen.
  2. Dieser Text soll die Eigenschaft besitzen, dass er ‚begründbare Voraussagen‘ für mögliche ‚zukünftige Situationen‘ erlaubt, denen sich dann in der Zukunft ‚irgendwann‘ auch eine ‚Geltung zuordnen lässt‘.
  3. Die Autoren sind in der Lage, sich auf eine ‚Ausgangssituation‘ zu einigen, die sie mittels einer ‚gemeinsamen Sprache‘ in einen ‚Ausgangstext‘ [A] transformieren.
  4. Es gilt als abgemacht, dass dieser Ausgangstext nur ’solche sprachliche Ausdrücke‘ enthalten darf, die sich ‚in der Ausgangssituation‘ als ‚wahr‘ ausweisen lassen.
  5. In einem weiteren Text stellen die Autoren eine Reihe von ‚Veränderungsregeln‘ [V] zusammen, die ‚Formen von Veränderungen‘ an einer gegebenen Situation ins Wort bringen.
  6. Auch in diesem Fall gilt es als abgemacht, dass nur ’solche Veränderungsregeln‘ aufgeschrieben werden dürfen, von denen alle Autoren wissen, dass sie sich in ‚vorausgehenden Alltagssituationen‘ als ‚wahr‘ erwiesen haben.
  7. Der Text mit den Veränderungsregeln V liegt auf einer ‚Meta-Ebene‘ verglichen mit dem Text A über die Ausgangssituation, der relativ zum Text V auf einer ‚Objekt-Ebene‘ liegt.
  8. Das ‚Zusammenspiel‘ zwischen dem Text V mit den Veränderungsregeln und dem Text A mit der Ausgangssituation wird in einem eigenen ‚Anwendungstext‘ [F] beschrieben: Hier wird beschrieben, wann und wie man eine Veränderungsregel (in V) auf einen Ausgangstext A anwenden darf und wie sich dabei der ‚Ausgangstext A‘ zu einem ‚Folgetext A*‘ verändert.
  9. Der Anwendungstext F liegt damit auf einer nächst höheren Meta-Ebene zu den beiden Texten A und V und kann bewirken, dass der Anwendungstext den Ausgangstext A verändert wird.
  1. In dem Moment, wo ein neuer Folgetext A* vorliegt, wird der Folgetext A* zum neuen Anfangstext A.
  2. Falls der neue Ausgangstext A so beschaffen ist, dass sich wieder eine Veränderungsregel aus V anwenden lässt, dann wiederholt sich die Erzeugung eines neuen Folgetextes A*.
  3. Diese ‚Wiederholbarkeit‘ der Anwendung kann zur Generierung von vielen Folgetexten <A*1, …, A*n> führen.
  4. Eine Serie von vielen Folgetexten <A*1, …, A*n> nennt man üblicherweise auch eine ‚Simulation‘.
  5. Abhängig von der Beschaffenheit des Ausgangstextes A und der Art der Veränderungsregeln in V kann es sein, dass mögliche Simulationen ‚ganz unterschiedlich verlaufen können‘. Die Menge der möglichen wissenschaftlichen Simulationen repräsentiert ‚Zukunft‘ damit also nicht als einen einzigen, bestimmten Verlauf, sondern als eine ‚beliebig große Menge möglicher Verläufe‘.
  6. Die Faktoren, von denen unterschiedliche Verläufe abhängen, sind vielfältig. Ein Faktor sind die Autoren selbst. Jeder Autor ist ja mit seiner Körperlichkeit vollständig selbst Teil genau jener empirischen Welt, die in einer wissenschaftlichen Theorie beschrieben werden soll. Und wie bekannt, kann jeder menschliche Akteur seine Meinung jederzeit ändern. Er kann buchstäblich im nächsten Moment genau das Gegenteil von dem tun, was er zuvor gedacht hat. Und damit ist die Welt schon nicht mehr die gleiche, wie zuvor in der wissenschaftlichen Beschreibung angenommen.

Schon dieses einfache Beispiel zeigt, dass die Emotionalität des ‚Gut-Findens, des Wollens, und des Entscheidens‘ der Rationalität wissenschaftlicher Theorien voraus liegt. Dies setzt sich in der sogenannten ‚Nachhaltigkeitsdiskussion‘ fort.

NACHHALTIGE EMPIRISCHE THEORIE

Mit dem soeben eingeführten ‚minimalen Konzepts einer empirischen Theorie (ET)‘ lässt sich direkt auch ein ‚minimales Konzept einer nachhaltigen empirischen Theorie (NET)‘ einführen.

Während eine empirische Theorie einen beliebig großen Raum an begründeten Simulationen aufspannen kann, die den Raum von vielen möglichen Zukünften sichtbar machen, verbleibt den Akteuren des Alltags die Frage, was sie denn von all dem als ‚ihre Zukunft‘ haben wollen? In der Gegenwart erleben wir die Situation, dass die Menschheit den Eindruck erweckt, als ob sie damit einverstanden ist, das Leben jenseits der menschlichen Population mehr und mehr nachhaltig zu zerstören mit dem erwartbaren Effekt der ‚Selbst-Zerstörung‘.

Dieser in Umrissen vorhersehbare Selbst-Zerstörungseffekt ist aber im Raum der möglichen Zukünfte nur eine Variante. Die empirische Wissenschaft kann sie umrisshaft andeuten. Diese Variante vor anderen auszuzeichnen, sie als ‚gut‘ zu akzeptieren, sie ‚zu wollen‘, sich für diese Variante zu ‚entscheiden‘, liegt in jenem bislang kaum erforschten Bereich der Emotionalität als Wurzel aller Rationalität.

Wenn sich Akteure des Alltags für eine bestimmte rational aufgehellte Variante von möglicher Zukunft entschieden haben, dann können sie jederzeit mit einem geeigneten ‚Evaluationsverfahren (EVAL)‘ auswerten, wie viel ‚Prozent (%) der Eigenschaften des Zielzustandes Z‘ bislang erreicht worden sind, vorausgesetzt, der favorisierte Zielzustand wird in einen passenden Text Z transformiert.

Anders formuliert: in dem Moment, wo wir Alltagsszenarien über geeignete Texte in einen rational greifbaren Zustand transformiert haben, nehmen die Dinge eine gewisse Klarheit an und werden dadurch — in gewisser Weise — einfach. Dass wir solche Transformationen vornehmen und auf welche Aspekte eines realen oder möglichen Zustands wir uns dann fokussieren, das ist aber als emotionale Dimension der textbasierten Rationalität vor-gelagert.[2]

MENSCH-MASCHINE

Nach diesen vorbereitenden Überlegungen stellt sich die abschließende Frage, ob und wie die Hauptfrage dieser Tagung „Wie verändern KI-Textgeneratoren wissenschaftliche Diskurse?“ in irgendeiner Weise beantwortet werden kann?

Meine bisherigen Ausführungen haben versucht aufzuzeigen, was es bedeutet, dass Menschen kollektiv Texte erzeugen, die die Kriterien für einen wissenschaftlichen Diskurs erfüllen, der zudem die Anforderungen für empirische oder gar nachhaltig-empirische Theorien erfüllt.

Dabei zeigt sich, dass sowohl bei der Generierung eines kollektiven wissenschaftlichen Textes wie auch bei seiner Anwendung im Alltag ein enger Wechselbezug sowohl mit der gemeinsamen erfahrbaren Welt wie auch mit den dynamischen Wissens- und Bedeutungskomponenten in jedem Akteur eine Rolle spielen.

Der Aspekt der ‚Geltung‘ ist Teil eines dynamischen Weltbezugs, dessen Einschätzung als ‚wahr‘ beständig im Fluss ist; während der eine Akteur vielleicht dazu tendiert zu sagen „Ja, kann stimmen“, tendiert ein anderer Akteur vielleicht gerade zum Gegenteil. Während die einen eher dazu tendieren, eine mögliche Zukunftsvariante X zu favorisieren, wollen die anderen lieber die Zukunftsvariante Y. Rationale Argumente fehlen; die Gefühle sprechen. Während eine Gruppe gerade beschlossen hat, dem Plan Z zu ‚glauben‘ und ihn ‚umzusetzen‘, wenden sich die anderen ab, verwerfen Plan Z, und tun etwas ganz anderes.

Dieser unstete, unsichere Charakter des Zukunft-Deutens und Zukunft-Handelns begleitet die Homo Sapiens Population von Anbeginn. Der unverstandene emotionale Komplex begleitet den Alltag beständig wie ein Schatten.[2]

Wo und wie können ‚textfähige Maschinen‘ in dieser Situation einen konstruktiven Beitrag leisten?

Angenommen es liegt ein Ausgangstext A vor, dazu ein Veränderungstext V sowie eine Anleitung F, dann könnten heutige Algorithmen alle möglichen Simulationen schneller durchrechnen als es Menschen könnten.

Angenommen zusätzlich es läge auch noch ein Zieltext Z vor, dann könnte ein heutiger Algorithmus auch eine Auswertung zum Verhältnis zwischen einer aktuellen Situation als A und dem Zieltext Z berechnen.

Mit anderen Worten: wäre eine empirische oder eine nachhaltig-empirische Theorie mit ihren notwendigen Texten formuliert, dann könnte ein heutiger Algorithmus alle möglichen Simulationen und den Grad der Zielerfüllung automatisch schneller berechnen, als jeder Mensch allein.

Wie steht es aber mit der (i) Ausarbeitung einer Theorie bzw. (ii) mit der vor-rationalen Entscheidung für eine bestimmte empirische oder gar nachhaltig-empirische Theorie ?

Eine klare Antwort auf beide Fragen erscheint mir zum aktuellen Zeitpunkt kaum möglich, verstehen wir Menschen doch noch zu wenig, wie wir selbst im Alltag kollektiv Theorien bilden, auswählen, überprüfen, vergleichen und auch wieder verwerfen.

Meine Arbeitshypothese zum Thema lautet: dass wir sehr wohl lernfähige Maschinen brauchen werden, um in der Zukunft die Aufgabe erfüllen zu können, brauchbare nachhaltig-empirische Theorien für den gemeinsamen Alltag zu entwickeln. Wann dies aber real geschehen wird und in welchem Umfang scheint mir zum jetzigen Zeitpunkt weitgehend unklar.

ANMERKUNGEN

[1] https://zevedi.de/themen/ki-text/

[2] Das Sprechen über ‚Emotionen‘ im Sinne von ‚Faktoren in uns‘, die uns dazu bewegen, aus dem Zustand ‚vor dem Text‘ in den Zustand ‚geschriebener Text‘ überzugehen, der lässt sehr viele Aspekte anklingen. In einem kleinen explorativen Text „STÄNDIGE WIEDERGEBURT – Jetzt. Schweigen hilft nicht …“ ( https://www.cognitiveagent.org/2023/08/28/staendige-wiedergeburt-jetzt-schweigen-hilft-nicht-exploration/ ) hat der Autor versucht, einige dieser Aspekte anzusprechen. Beim Schreiben wird deutlich, dass hier sehr viele ‚individuell subjektive‘ Aspekte eine Rolle spielen, die natürlich nicht ‚isoliert‘ auftreten, sondern immer auch einen Bezug zu konkreten Kontexten aufblitzen lassen, die sich mit dem Thema verknüpfen. Dennoch, es ist nicht der ‚objektive Kontext‘, der die Kernaussage bildet, sondern die ‚individuell subjektive‘ Komponente, die im Vorgang des ‚ins-Wort-Bringens‘ aufscheint. Diese individuell-subjektive Komponenten wird hier versuchsweise als Kriterium für ‚authentische Texte‘ benutzt im Vergleich zu ‚automatisierten Texten‘ wie jene, die von allerlei Bots generiert werden können. Um diesen Unterschied greifbarer zu machen, hat der Autor sich dazu entschieden, mit dem zitierten authentischen Text zugleich auch einen ‚automatisierten Text‘ mit gleicher Themenstellung zu erzeugen. Dazu hat er chatGBT4 von openAI benutzt. Damit beginnt ein philosophisch-literarisches Experiment, um auf diese Weise vielleicht den möglichen Unterschied sichtbarer zu machen. Aus rein theoretischen Gründen ist klar, dass ein von chatGBT4 erzeugter Text im Ursprung niemals ‚authentische Texte‘ erzeugen kann, es sei denn, er benutzt als Vorlage einen authentischen Text, den er abwandeln kann. Dann ist dies aber ein klares ‚fake Dokument‘. Um solch einem Missbrauch vorzubeugen, schreibt der Autor im Rahmen des Experiments den authentischen Text zu erst und beauftragt dann chatGBT4 zur vorgegebenen Themenstellung etwas zu schreiben, ohne dass chatGBT4 den authentischen Text kennt, da er noch nicht über das Internet in die Datenbasis von chatGBT4 Eingang gefunden hat.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

chatGPT – Wie besoffen muss man sein?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 13.Februar 2023 – 17.April 2023
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

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Seit der Freigabe des chatbots ‚chatGPT‘ für die größere Öffentlichkeit geht eine Art ‚Erdbeben‘ durch die Medien, weltweit, in vielen Bereichen, vom Privatpersonen über Institutionen, Firmen, Behörden …. jeder sucht das ‚chatGPT Erlebnis‘. Diese Reaktionen sind erstaunlich, und erschreckend zugleich.

Anmerkung: In meinem Englischen Blog hatte ich nach einigen Experimenten mit chatGPT eine erste Reflexion über den möglichen Nutzen von chatGPT geschrieben. Mir hatte es für ein erstes Verständnis geholfen; dieses hat sich dann bis zu dem Punkt weiterentwickelt, der im vorliegenden Text zum Ausdruck kommt.[6]

Form

Die folgenden Zeilen bilden nur eine kurze Notiz, da es sich kaum lohnt, ein ‚Oberflächenphänomen‘ so intensiv zu diskutieren, wo doch die ‚Tiefenstrukturen‘ erklärt werden sollten. Irgendwie scheinen die ‚Strukturen hinter chatGPT‘ aber kaum jemanden zu interessieren (Gemeint sind nicht die Details des Quellcodes in den Algortihmen).

chatGPT als Objekt

Der chatbot mit Namen ‚chatGPT‘ ist ein Stück Software, ein Algorithmus, der (i) von Menschen erfunden und programmiert wurde. Wenn (ii) Menschen ihm Fragen stellen, dann (iii) sucht er in der ihm bekannten Datenbank von Dokumenten, die wiederum Menschen erstellt haben, (iv) nach Textmustern, die nach bestimmten formalen Kriterien (z.T. von den Programmierern vorgegeben) einen Bezug zur Frage aufweisen. Diese ‚Textfunde‘ werden (v) ebenfalls nach bestimmten formalen Kriterien (z.T. von den Programmierern vorgegeben) in einen neuen Text ‚angeordnet‘, der (vi) jenen Textmustern nahe kommen soll, die ein menschlicher Leser ‚gewohnt‘ ist, als ’sinnvoll‘ zu akzeptieren.

Textoberfläche – Textbedeutung – Wahrheitsfähig

Ein normaler Mensch kann — mindestens ‚intuitiv‘ — unterscheiden zwischen den (i) ‚Zeichenketten‘, die als ‚Ausdrücke einer Sprache‘ benutzt werden, und jenen (ii) ‚Wissenselementen‘ (im Kopf des Hörer-Sprechers), die als solche ‚unabhängig‘ sind von den Sprachelementen, aber die (iii) von Sprechern-Hörer einer Sprache ‚frei assoziiert‘ werden können, so dass die korrelierten ‚Wissenselemente zu dem werden, was man gewöhnlich die ‚Bedeutung‘ der Sprachelemente nennt.[1] Von diesen Wissenselementen (iv) ‚weiß‘ jeder Sprachteilnehmer schon ‚vorsprachlich‘, als lernendes Kind [2], dass einige dieser Wissenselemente unter bestimmten Umständen mit Umständen der Alltagswelt ‚korrelierbar‘ sind. Und der normale Sprachbenutzer verfügt auch ‚intuitiv‘ (automatisch, unbewusst) über die Fähigkeit, solche Korrelation — im Lichte des verfügbaren Wissens — einzuschätzen als (v) ‚möglich‘ oder (vi) als eher ‚unwahrscheinlich‘ bzw. (vi) als ‚bloße Fantasterei‘.[3]

Die grundlegende Fähigkeit eines Menschen, eine ‚Korrelation‘ von Bedeutungen mit (intersubjektiven) Umweltgegebenheiten feststellen zu können, nennen — zumindest einige — Philosophen ‚Wahrheitsfähigkeit‘ und im Vollzug der Wahrheitsfähigkeit spricht man dann auch von ‚zutreffenenden‘ sprachlichen Äußerungen oder von ‚wahren (empirischen) Aussagen‘.[5]

Unterscheidungen wie ‚zutreffend‘ (‚wahr‘), ‚möglicherweise zutreffend‘, ‚eher nicht zutreffend‘ oder ‚auf keinen Fall zutreffend‘ deuten an, dass der Wirklichkeitsbezug menschlicher Wissenselemente sehr vielfältig und ‚dynamisch‘ ist. Etwas, das gerade noch zutreffend war, kann im nächsten Moment nicht mehr zutreffend sein. Etwas, das lange als ‚bloße Fantasterei‘ abgetan wurde, kann dann doch plötzlich als ‚möglich‘ erscheinen oder ‚trifft plötzlich zu‘. Sich in diesem ‚dynamisch korrelierten Bedeutungsraum‘ so zu bewegen, dass eine gewisse ‚innere und äußere Konsistenz‘ gewahrt bleibt, stellt eine komplexe Herausforderung dar, die von Philosophie und den Wissenschaften bislang eher nicht ganz verstanden, geschweige denn auch nur annähernd ‚erklärt‘ worden ist.

Fakt ist: wir Menschen können dies bis zu einem gewissen Grad. Je komplexer der Wissensraum ist, je vielfältiger die sprachlichen Interaktion mit anderen Menschen werden, umso schwieriger wird es natürlich.

‚Luftnummer‘ chatGPT

(Letzte Änderung: 15.Februar 2023, 07:25h)

Vergleicht man den chatbot chatGPT mit diesen ‚Grundeigenschaften‘ des Menschen, dann kann man erkennen, dass chatGPT nichts von alledem kann. (i) Fragen kann er von sich aus nicht sinnvoll stellen, da es keinen Anlass gibt, warum er fragen sollte (es sei denn, jemand induziert ihm eine Frage). (ii) Textdokumente (von Menschen) sind für ihn Ausdrucksmengen, für die er über keine eigenständigen Bedeutungszuordnung verfügt. Er könnte also niemals eigenständig die ‚Wahrheitsfrage‘ — mit all ihren dynamischen Schattierungen — stellen oder beantworten. Er nimmt alles für ‚bare Münze‘ bzw. man sagt gleich, dass er ’nur träumt‘.

Wenn chatGPT aufgrund seiner großen Text-Datenbank eine Teilmenge von Ausdrücken hat, die irgendwie als ‚wahr‘ klassifiziert sind, dann kann der Algorithmus ‚im Prinzip‘ indirekt ‚Wahrscheinlichkeiten‘ ermitteln, die andere Ausdrucksmengen, die nicht als ‚wahr‘ klassifiziert sind, dann doch ‚mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit‘ als ‚wahr erscheinen‘
lassen. Ob der aktuelle chatGPT Algorithmus solche ‚wahrscheinlichen Wahrheiten explizit‘ benutzt, ist unklar. Im Prinzip übersetzt er Texte in ‚Vektorräume‘, die auf verschiedene Weise ‚ineinander abgebildet‘ werden, und Teile dieser Vektorräume werden dann wieder in Form eines ‚Textes‘ ausgegeben. Das Konzept ‚Wahrheit‘ taucht in diesen mathematischen Operationen — nach meinem aktuellen Kenntnisstand — nicht auf. Wenn, dann wäre es auch nur der formale logische Wahrheitsbegriff [4]; dieser liegt aber mit Bezug auf die Vektorräume ‚oberhalb‘ der Vektorräume, bildet in Bezug auf diese einen ‚Meta-Begriff‘. Wollte man diesen auf die Vektorräume und Operationen auf diesen Vektorräumen tatsächlich anwenden, dann müsste man den Code von chatGPT komplett neu schreiben. Würde man dies tun — das wird aber keiner schaffen — dann würde sich der Code von chatGPT dem Status einer formalen Theorie nennen (wie in der Mathematik) (siehe Anmerkung [5]). Von einer empirischen Wahrheitsfähigkeit wäre chatGPT dann immer noch meilenweit entfernt.

Hybride Scheinwahrheiten

Im Anwendungsfall, bei dem der Algorithmus mit Namen ‚chatGPT‘ Ausdrucksmengen benutzt, die den Texten ähneln, die Menschen produzieren und lesen, navigiert sich chatGPT rein formal und mit Wahrscheinlichkeiten durch den Raum der formalen Ausdruckselemente. Ein Mensch, der die von chatGPT produzierten Ausdrucksmengen ‚liest‘, aktiviert aber automatisch (= unbewusst!) sein eigenes ’sprachliches Bedeutungswissen‘ und projiziert dieses in die abstrakten Ausdrucksmenge von chatGBT. Wie man beobachten kann (und hört und liest von anderen), sind die von chatGBT produzierten abstrakten Ausdrucksmengen dem gewöhnten Textinput von Menschen in vielen Fällen — rein formal — so ähnlich, dass ein Mensch scheinbar mühelos seine Bedeutungswissen mit diesen Texten korrelieren kann. Dies hat zur Folge, dass der rezipierende (lesende, hörende) Mensch das ‚Gefühl‘ hat, chatGPT produziert ’sinnvolle Texte‘. In der ‚Projektion‘ des lesenden/hörenden Menschen JA, in der Produktion von chatGPT aber NEIN. chatGBT verfügt nur über formale Ausdrucksmengen (kodiert als Vektorräume), mit denen er ‚blind‘ herumrechnet. Über ‚Bedeutungen‘ im menschlichen Sinne verfügt er nicht einmal ansatzweise.

Zurück zum Menschen?

(Letzte Änderung: 27.Februar 2023)

Wie leicht sich Menschen von einer ‚fake-Maschine‘ so beeindrucken lassen, dass sie dabei sich selbst anscheinend vergessen und sich ‚dumm‘ und ‚leistungsschwach‘ fühlen, obgleich die Maschine nur ‚Korrelationen‘ zwischen menschlichen Fragen und menschlichen Wissensdokumenten rein formal herstellt, ist eigentlich erschreckend [7a,b], und zwar mindestens in einem doppelten Sinne: (i)Statt die eigene Potentiale besser zu erkennen (und zu nutzen), starrt man gebannt wie das berühmte ‚Kaninchen auf die Schlange‘, obgleich die Maschine immer noch ein ‚Produkt des menschlichen Geistes‘ ist. (ii) Durch diese ‚kognitive Täuschung‘ wird versäumt, das tatsächlich ungeheure Potential ‚kollektiver menschlicher Intelligenz‘ besser zu verstehen, das man dann natürlich durch Einbeziehung moderner Technologien um mindestens einen evolutionären Level weiter voran bringen könnte. Die Herausforderung der Stunde lautet ‚Kollektiver Mensch-Maschine Intelligenz‘ im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung mit Priorität bei der menschlichen kollektiven Intelligenz. Die aktuelle sogenannte ‚Künstliche (= maschinelle) Intelligenz‘ sind ziemlich primitive Algorithmen. Integriert in eine entwickelte ‚kollektive menschliche Intelligenz‘ könnten ganz andere Formen von ‚Intelligenz‘ realisiert werden, solche, von denen wir aktuell höchstens träumen können.

Kommentierung weiterer Artikel von anderen Autoren zu chatGPT

(Letzte Änderung: 17.April 2023)

Achtung: Einige der Text in den Anmerkungen sind aus dem Englischen zurück übersetzt worden. Dies geschah unter Benutzung der Software www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version).

Siehe [8], [9], [10], [12],[13],[14],[15]

Anmerkungen

[1] In den vielen tausend ’natürlichen Sprachen‘ dieser Welt kann man beobachten, wie ‚erfahrbare Umweltgegebenheiten‘ über die ‚Wahrnehmung‘ zu ‚Wissenselementen‘ werden können, die dann in jeder Sprache mit unterschiedlichen Ausdrücken korreliert werden. Die Sprachwissenschaftler (und Semiotiker) sprechen daher hier von ‚Konventionen‘, ‚frei vereinbarte Zuordnungen‘.

[2] Aufgrund der körperlichen Interaktion mit der Umgebung, die ‚Wahrnehmungsereignisse‘ ermöglicht, die von den ‚erinnerbaren und gewussten Wissenselementen‘ unterscheidbar sind.

[3] Die Einstufung von ‚Wissenselementen‘ als ‚Fantasterei‘ kann falsch sein, wie viele Beispiele zeigen, wie umgekehrt, die Einstufung als ‚wahrscheinlich korrelierbar‘ auch falsch sein kann!

[4] Nicht der ‚klassischen (aristotelischen) Logik‘ da diese noch keine strenge Trennung von ‚Form‘ (Ausdruckselementen) und ‚Inhalt‘ (Bedeutung) kannte.

[5] Es gibt auch Kontexte, in denen spricht man von ‚wahren Aussagen‘, obgleichgar keine Beziehung zu einer konkreten Welterfahrung vorliegt. So z.B. im Bereich der Mathematik, wo man gerne sagt, dass eine Aussage ‚wahr‘ ist. Dies ist aber eine ganz ‚andere Wahrheit‘. Hier geht es darum, dass im Rahmen einer ‚mathematischen Theorie‘ bestimmte ‚Grundannahmen‘ gemacht wurden (die mit einer konkreten Realität nichts zu tun haben müssen), und man dann ausgehend von diesen Grundannahmen mit Hilfe eines formalen Folgerungsbegriffs (der formalen Logik) andere Aussagen ‚ableitet‘. Eine ‚abgeleitete Aussage‘ (meist ‚Theorem‘ genannt), hat ebenfalls keinerlei Bezug zu einer konkreten Realität. Sie ist ‚logisch wahr‘ oder ‚formal wahr‘. Würde man die Grundannahmen einer mathematischen Theorie durch — sicher nicht ganz einfache — ‚Interpretationen‘ mit konkreter Realität ‚in Beziehung setzen‘ (wie z.B. in der ‚angewandten Physik‘), dann kann es unter speziellen Bedingungen sein, dass die formal abgeleiteten Aussagen einer solchen ‚empirisch interpretierten abstrakten Theorie‘ eine ‚empirische Bedeutung‘ gewinnen, die unter bestimmten Bedingungen vielleicht ‚korrelierbar‘ ist; dann würde man solche Aussagen nicht nur ‚logisch wahr‘ nennen, sondern auch ‚empirisch wahr‘. Wie die Geschichte der Wissenschaft und der Wissenschaftsphilosophie zeigt, ist der aber ‚Übergang‘ von empirisch interpretierten abstrakten Theorien zu empirisch interpretierbaren Folgerungen mit Wahrheitsanspruch nicht trivial. Der Grund liegt im benutzten ‚logischen Folgerungsbegriff‘. In der modernen formalen Logik gibt es mahezu ‚beliebig viele‘ verschiedene formale Folgerzungsbegriffe. Ob ein solcher formaler Folgerungsbegriff tatsächlich die Struktur empirischer Gegebenheiten über abstrakte Strukturen mit formalen Folgerungen ‚angemessen wiedergibt‘, ist keinesfalls gesichert! Diese Problemstellung ist in der Wissenschaftsphilosophie bislang nicht wirklich geklärt!

[6] Gerd Doeben-Henisch, 15.-16.Januar 2023, „chatGBT about Rationality: Emotions, Mystik, Unconscious, Conscious, …“, in: https://www.uffmm.org/2023/01/15/chatgbt-about-rationality-emotions-mystik-unconscious-conscious/

[7a] Der chatbot ‚Eliza‘ von Weizenbaum von 1966 war trotz seiner Einfachheit in der Lage, menschliche Benutzer dazu zu bringen, zu glauben, dass das Programm sie ‚versteht‘ selbst dann, wenn man ihnen erklärte, dass es nur ein einfacher Algorithmus sei. Siehe das Stichwort ‚Eliza‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/ELIZA

[7b] Joseph Weizenbaum, 1966, „ELIZA. A Computer Program For the Study of Natural Language. Communication Between Man And Machine“, Communications of the ACM, Vol.9, No.1, January 1966, URL: https://cse.buffalo.edu/~rapaport/572/S02/weizenbaum.eliza.1966.pdf Anmerkung: Obwohl das Programm ‚Eliza‘ von Weizenbaum sehr einfach war, waren alle Benutzer fasziniert von dem Programm, weil sie das Gefühl hatten „Es versteht mich“, dabei spiegelte das Programm nur die Fragen und Aussagen der Benutzer. Anders gesagt: die Benutzer waren ‚von sich selbst‘ fasziniert mit dem Programm als eine Art ‚Spiegel‘.

[8] Ted Chiang, 2023, „ChatGPT Is a Blurry JPEG of the Web. OpenAI’s chatbot offers paraphrases, whereas Google offers quotes. Which do we prefer?“, The NEW YORKER, February 9, 2023. URL: https://www.newyorker.com/tech/annals-of-technology/chatgpt-is-a-blurry-jpeg-of-the-web . Anmerkung: Chang betrachtet das Programm chatGPT im Paradigma eines ‚Kompressions-Algorithmus‘: Die Fülle der Informationen wird ‚verdichtet/ abstrahiert‘, so dass ein leicht unscharfes Bild der Textmengen entsteht, keine 1-zu-1 Kopie. Dies führt beim Benutzer zum Eindruck eines Verstehens auf Kosten des Zugriffs auf Details und Genauigkeit. Die Texte von chatGPT sind nicht ‚wahr‘, aber sie ‚muten an‘.

[9] Dietmar Hansch, 2023, „Der ehrlichere Name wäre ‚Simulierte Intelligenz‘. An welchen Defiziten Bots wie chatGBT leiden und was das für unseren Umgang mit Ihnen heißen muss.“, FAZ, 1.März 2023, S.N1 . Bemerkung: Während Chiang (siehe [8] sich dem Phänomen chatGPT mit dem Konzept ‚Kompressions-Algorithmus‘ nähert bevorzugt Hansch die Begriffe ’statistisch-inkrementelles Lernen‘ sowie ‚Einsichtslernen‘. Für Hansch ist Einsichtslernen an ‚Geist‘ und ‚Bewusstsein‘ gebunden, für die er im Gehirn ‚äquivalente Strukturen‘ postuliert. Zum Einsichtslernen kommentiert Hansch weiter „Einsichtslernen ist nicht nur schneller, sondern auch für ein tiefes, ganzheitliches Weltverständnis unverzichtbar, das weit greifende Zusammenhänge erfasst sowie Kriterien für Wahrheit und Wahrhaftigkeit vermittelt.“ Es verwundert dann nicht wenn Hansch schreibt „Einsichtslernen ist die höchster Form des Lernens…“. Mit Bezug auf diesen von Hansch etablierten Referenzrahmen klassifiziert er chatGPT in dem Sinne dass er nur zu ’statistisch-inkrementellem Lernen‘ fähig sei. Ferner postuliert Hansch für den Menschen, „Menschliches Lernen ist niemals rein objektiv, wir strukturieren die Welt immer in Bezug auf unsere Bedürfnisse, Gefühle und bewussten Zwecke…“. Er nennt dies den ‚Humanbezug‘ im menschlichen Erkennen, und genau diesen spricht er chatGPT auch ab. Für geläufige Bezeichnung ‚KI‘ als ‚Künstliche Intelligenz‘ postuliert er, dass der Terminus ‚Intelligenz‘ in dieser Wortverbindung nichts mit der Bedeutung zu tun habe, die wir im Fall des Menschen mit ‚Intelligenz‘ verbinden, also auf keinen Fall etwas mit ‚Einsichtslernen‘, wie er zuvor schon festgestellt hat. Um diesem Umstand mehr Ausdruck zu verleihen würde er lieber den Begriff ‚Simulierte Intelligenz‘ benutzen (siehe dazu auch [10]). Diese begriffliche Strategie wirkt merkwürdig, da der Begriff Simulation [11] normalerweise voraussetzt, dass es eine klare Sachlage gibt, zu der man ein vereinfachtes ‚Modell‘ definiert, mittels dem sich dann das Verhalten des Originalsystems in wichtigen Punkten — vereinfacht — anschauen und untersuchen lässt. Im vorliegenden Fall ist aber nicht ganz klar, was denn überhaupt das Originalsystem sein soll, das im Fall von KI simuliert werden soll. Es gibt bislang keine einheitliche Definition von ‚Intelligenz‘ im Kontext von ‚KI‘! Was die Begrifflichkeit von Hansch selbst angeht, so sind die Begriffe ‚statistisch-inkrementelles Lernen‘ sowie ‚Einsichtslernen‘ ebenfalls nicht klar definiert; der Bezug zu beobachtbarem menschlichen Verhalten geschweige den zu den postulierten ‚äquivalenten Gehirnstrukturen‘ ist beliebig unklar (was durch den Bezug zu bis heute nicht definierten Begriffen wie ‚Bewusstsein‘ und ‚Geist‘ nicht gerade besser wird).

[10] Severin Tatarczyk, 19.Februar 2023, zu ‚Simulierter Intelligenz‘: https://www.severint.net/2023/02/19/kompakt-warum-ich-den-begriff-simulierte-intelligenz-bevorzuge-und-warum-chatbots-so-menschlich-auf-uns-wirken/

[11] Begriff ‚Simulation‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Simulation

[12] Doris Brelowski machte mich auf folgenden Artikel aufmerksam: James Bridle, 16.März 2023, „The stupidity of AI. Artificial intelligence in its current form is based on the wholesale appropriation of existing culture, and the notion that it is actually intelligent could be actively dangerous“, URL: https://www.theguardian.com/technology/2023/mar/16/the-stupidity-of-ai-artificial-intelligence-dall-e-chatgpt?CMP=Share_AndroidApp_Other . Anmerkung: Ein Beitrag, der kenntnisreich und sehr differenziert das Wechselspiel zwischen Formen der AI beschreibt, die von großen Konzernen auf das gesamte Internet ‚losgelassen‘ werden, und was dies mit der menschlichen Kultur und dann natürlich mit den Menschen selbst macht. Zwei Zitate aus diesem sehr lesenwerten Artikel: Zitat 1: „The entirety of this kind of publicly available AI, whether it works with images or words, as well as the many data-driven applications like it, is based on this wholesale appropriation of existing culture, the scope of which we can barely comprehend. Public or private, legal or otherwise, most of the text and images scraped up by these systems exist in the nebulous domain of “fair use” (permitted in the US, but questionable if not outright illegal in the EU). Like most of what goes on inside advanced neural networks, it’s really impossible to understand how they work from the outside, rare encounters such as Lapine’s aside. But we can be certain of this: far from being the magical, novel creations of brilliant machines, the outputs of this kind of AI is entirely dependent on the uncredited and unremunerated work of generations of human artists.“ Zitat 2: „Now, this didn’t happen because ChatGPT is inherently rightwing. It’s because it’s inherently stupid. It has read most of the internet, and it knows what human language is supposed to sound like, but it has no relation to reality whatsoever. It is dreaming sentences that sound about right, and listening to it talk is frankly about as interesting as listening to someone’s dreams. It is very good at producing what sounds like sense, and best of all at producing cliche and banality, which has composed the majority of its diet, but it remains incapable of relating meaningfully to the world as it actually is. Distrust anyone who pretends that this is an echo, even an approximation, of consciousness. (As this piece was going to publication, OpenAI released a new version of the system that powers ChatGPT, and said it was “less likely to make up facts”.)“

[13] David Krakauer in einem Interview mit Brian Gallagher in Nautilus, March 27, 2023, Does GPT-4 Really Understand What We’re Saying?, URL: https://nautil.us/does-gpt-4-really-understand-what-were-saying-291034/?_sp=d9a7861a-9644-44a7-8ba7-f95ee526d468.1680528060130. David Krakauer, Evolutionstheoretiker und Präsident des Santa Fe Instituts für Complexity Science, analysiert die Rolle von Chat-GPT-4-Modellen im Vergleich zum menschlichen Sprachmodell und einem differenzierteren Verständnis dessen, was „Verstehen“ und „Intelligenz“ bedeuten könnte. Seine Hauptkritikpunkte stehen in enger Übereinstimmung mit der obigen Position. Er weist darauf hin, dass (i) man klar zwischen dem „Informationskonzept“ von Shannon und dem Konzept der „Bedeutung“ unterscheiden muss. Etwas kann eine hohe Informationslast darstellen, aber dennoch bedeutungslos sein. Dann weist er darauf hin (ii), dass es mehrere mögliche Varianten der Bedeutung von „Verstehen“ gibt. Die Koordinierung mit dem menschlichen Verstehen kann funktionieren, aber Verstehen im konstruktiven Sinne: nein. Dann setzt Krakauer (iii) GPT-4 mit dem Standardmodell der Wissenschaft in Beziehung, das er als „parsimony“ charakterisiert; chat-GPT-4 ist eindeutig das Gegenteil. Ein weiterer Punkt (iv) ist die Tatsache, dass die menschliche Erfahrung einen „emotionalen“ und einen „physischen“ Aspekt hat, der auf somato-sensorischen Wahrnehmungen im Körper beruht. Dies fehlt bei GPT-4. Dies hängt (v) mit der Tatsache zusammen, dass das menschliche Gehirn mit seinen „Algorithmen“ das Produkt von Millionen von Jahren der Evolution in einer komplexen Umgebung ist. Die GPT-4-Algorithmen haben nichts Vergleichbares; sie müssen den Menschen nur ‚überzeugen‘. Schließlich (vi) können Menschen „physikalische Modelle“ generieren, die von ihren Erfahrungen inspiriert sind, und können mit Hilfe solcher Modelle schnell argumentieren. So kommt Krakauer zu dem Schluss: „Das Narrativ, das besagt, dass wir das menschliche Denken wiederentdeckt haben, ist also in vielerlei Hinsicht falsch. Einfach nachweislich falsch. Das kann nicht der richtige Weg sein.“ Anmerkungen zum Text von Krakauer: Benutzt man das allgemeine Modell von Akteur und Sprache, wie es der Text oben annimmt, dann ergeben sich die Punkt (i) – (vi) als Folgerungen aus dem allgemeinen Modell. Die Akzeptanz eines allgemeinen Akteur-Sprache Modells ist leider noch nicht verbreitet.

[14] Von Marie-José Kolly (Text) und Merlin Flügel (Illustration), 11.04.2023, „Chatbots wie GPT können wunderbare Sätze bilden. Genau das macht sie zum Problem“. Künstliche Intelligenz täuscht uns etwas vor, was nicht ist. Ein Plädoyer gegen die allgemeine Begeisterung. Online-Zeitung ‚Republik‘ aus der SChweiz, URL: https://www.republik.ch/2023/04/11/chatbots-wie-gpt-koennen-wunderbare-saetze-bilden-genau-das-macht-sie-zum-problem? Hier einige Anmerkungen:

Der Text von Marie-José Kolly sticht hervor weil der Algorithmus mit Namen chatGPT(4) hier sowohl in seinem Input-Output Verhalten charakterisiert wird und zusätzlich ein Vergleich zum Menschen zumindest in Ansätzen vorgenommen wird.

Das grundsätzliche Problem des Algorithmus chatGPT(4) besteht darin (wie auch in meinem Text oben herausgestellt), dass er als Input-Daten ausschließlich über Textmengen verfügt (auch jene der Benutzer), die nach rein statistischen Verfahren in ihren formalen Eigenschaften analysiert werden. Auf der Basis der analysierten Regelmäßigkeiten lassen sich dann beliebige Text-Kollagen erzeugen, die von der Form her den Texten von Menschen sehr stark ähneln, so sehr, dass viele Menschen sie für ‚von Menschen erzeugte Texte‘ nehmen. Tatsächlich fehlen dem Algorithmus aber das, was wir Menschen ‚Weltwissen‘ nennen,es fehlt echtes ‚Denken‘, es fehlen ‚eigene‘ Werte-Positionen, und der Algorithmus ‚versteht‘ seine eigenen Text ’nicht‘.

Aufgrund dieses fehlenden eigenen Weltbezugs kann der Algorithmus über die verfügbaren Textmengen sehr leicht manipuliert werden. Eine ‚Massenproduktion‘ von ‚Schrott-Texten‘, von ‚Desinformationen‘ ist damit sehr leicht möglich.

Bedenkt man, dass moderne Demokratien nur funktionieren können, die Mehrheit der Bürger über eine gemeinsame Faktenbasis verfügt, die als ‚wahr‘ angenommen werden können, über eine gemeinsame Wissensmenge, über zuverlässige Medien, dann können mit dem Algorithmus chatGPT(4) genau diese Anforderungen an eine Demokratie massiv zerstört werden.

Interessant ist dann die Frage, ob chatGPT(4) eine menschliche Gesellschaft, speziell eine demokratische Gesellschaft, tatsächlich auch positiv-konstruktiv unterstützen kann?

Vom Menschen ist jedenfalls bekannt, dass dieser den Gebrauch seiner Sprache von Kindes Beinen an im direkten Kontakt mit einer realen Welt erlernt, weitgehend spielerisch, in Interaktion mit anderen Kindern/ Menschen. Für Menschen sind ‚Worte‘ niemals isolierte Größen sondern sie sind immer dynamisch eingebunden in ebenfalls dynamische Kontexte. Sprache ist nie nur ‚Form‘ sondern immer zugleich auch ‚Inhalt‘, und dies auf mannigfaltige Weise. Dies geht nur weil der Mensch über komplexe kognitiven Fähigkeiten verfügt, die u.a. entsprechende Gedächtnisleistungen wie auch Fähigkeiten zur Verallgemeinerung/ Generalisierung umfassen.

Die kulturgeschichtliche Entwicklung von gesprochener Sprache, über Schrift, Buch, Bibliotheken bis hin zu gewaltigen digitalen Datenspeichern hat zwar bezüglich der ‚formen‘ von Sprache und darin — möglicherweise — kodiertem Wissen Gewaltiges geleistet, aber es besteht der Eindruck, dass die ‚Automatisierung‘ der Formen diese in die ‚Isolation‘ treibt, so dass die Formen ihren Kontakt zur Realität, zur Bedeutung, zur Wahrheit immer mehr verlieren. Aus der Sprache als zentralem Moment der Ermöglichung von mehr komplexem Wissen und mehr komplexem Handeln wird damit zunehmend ein ‚Parasit‘, der immer mehr Raum beansprucht und dabei immer mehr Bedeutung und Wahrheit vernichtet.

[15] Gary Marcus, April 2023, Hoping for the Best as AI Evolves, Gary Marcus on the systems that “pose a real and imminent threat to the fabric of society.” Communications of the ACM, Volume 66, Issue 4, April 2023 pp 6–7, https://doi.org/10.1145/3583078 . Anmerkung: Gary Marcus schreibt anlässlich der Wirkungen von Systemen wie chatGPT(OpenAI), Dalle-E2 und Lensa über die ernst zunehmenden negativen Wirkungen, die diese Werkzeuge innerhalb einer Gesellschaft haben können, und zwar in einem Ausmaß, das eine ernsthafte Bedrohung für jede Gesellschaft darstellt! Sie sind inhärent fehlerhaft in den Bereichen Denken, Tatsachen und Halluzinationen. Mit nahezu Null Kosten lassen sich mit ihnen sehr schnell umfangreiche Desinformationskampagnen erstellen und ausführen. Am Beispiel der weltweit wichtigen Webseite ‚Stack Overflow‘ für Programmierer konnte (und kann) man sehen, wie der inflationäre Gebrauch von chatGPT aufgrund der inhärenten vielen Fehler dazu führt, dass das Management-Team von Stack Overflow seine Benutzer dringend bitten musste, den Einsatz von chatGPT komplett zu unterlassen, um den Zusammenbruch der Seite nach 14 Jahren zu verhindern. Im Falle von großen Playern, die es gezielt auf Desinformationen absehen, ist solch eine Maßnahme unwirksam. Diese Player zielen darauf ab, eine Datenwelt zu erschaffen, in der niemand mehr irgend jemandem vertrauen kann. Dies vor Augen stellt Gary Marcus 4 Postulate auf, die jede Gesellschaft umsetzen sollte: (1) Automatisch generierter Inhalt sollte komplett verboten werden; (2) Es müssen rechtswirksame Maßnahmen verabschiedet werden, die ‚Missinformationen‘ verhindern können; (3) User Accounts müssen fälschungssicher gemacht werden; (4) Es wird eine neue Generation von KI Werkzeugen gebraucht, die Fakten verifizieren können.

DER AUTOR

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WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1988/1990

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 16.-17.Februar 2022, 18:00h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Vorbemerkung

In einer Welt voller Bücher — gefühlt: unendlich viele Bücher — ist kaum voraussagbar, welches Buch man im Februar 2022 lesen wird. Dass es dann das Büchlein ‚A World of Propensities‘ (1990 (reprint 1995))[2a] von Karl Popper [1] sein würde, hing von einem ganzen Bündel von Faktoren ab, von denen jeder für sich ‚eine Rolle‘ spielte, aber dass es dann zu diesem konkreten Buch zu diesem konkreten Zeitpunkt gekommen ist, war aus Sicht der einzelnen Faktoren nicht direkt ableitbar. Auch das ‚Zusammenspiel‘ der verschiedenen Faktoren war letztlich nicht voraussagbar. Aber es ist passiert.

Im Rahmen meiner Theoriebildung für das oksimo-Paradigma (einschließlich der oksimo-Software)[4] Hatte ich schon viele Posts zur möglichen/ notwendigen Theorie für das oksimo-Paradigma in verschiedenen Blocks geschrieben [3a], sogar einige zum frühen Popper [3b], aber mir scheint, so richtig bin ich mit der Position von Popper in seiner ‚Logik der Forschung‘ von 1934 bzw. dann mit der späteren Englischen Ausgabe ‚The Logic of Scientific Discovery‘ (1959)[2b] noch nicht klar gekommen.

Im Frühjahr 2022 war es eine seltene Mischung aus vielerlei Faktoren, die mich über den Umweg der Lektüre von Ulanowizc [5], und zwar seines Buches „Ecology: The Ascendant Perspective“ (1997), auf den späten Popper aufmerksam machten. Ulanowizc erwähnt Popper mehrfach an prominenter Stelle, und zwar speziell Poppers Büchlein über Propensities. Da dieses schmale Buch mittlerweile vergriffen ist, kam ich dann nur durch die freundliche Unterstützung [6b] der Karl Popper Sammlung der Universität Klagenfurt [6a] zu einer Einsicht in den Text.

Der nachfolgende Text beschäftigt sich mit dem ersten der beiden Aufsätze die sich in dem Büchlein finden: „A World of Propensities: Two New Views of Causality“.[7][*]

Wahrscheinlichkeit, Wahrheit, Hypothese, Bekräftigung, … Vorgeplänkel

In seiner Einleitung im Text erinnert Popper an frühere Begegnungen mit Mitgliedern des Wiener Kreises [1b] und die Gespräche zu Theme wie ‚absolute Theorie der Wahrheit‘, ‚Wahrheit und Sicherheit‘, ‚Wahrscheinlichkeitsbasierte Induktion‘, ‚Theorie der Wahrscheinlichkeit‘ sowie ‚Grad der Bekräftigung einer Wahrscheinlichkeit‘.

Während er sich mit Rudolf Carnap 1935 noch einig wähnte in der Unterscheidung von einer Wahrscheinlichkeit im Sinne einer Wahrscheinlichkeitstheorie und einem ‚Grad der Bestätigung‘ (‚degree of confirmation‘) , war er sehr überrascht — und auch enttäuscht — 1950 in einem Buch von Carnap [8], [8b] zu lesen, dass für Carnap dies alles das Gleiche sei: mathematische Wahrscheinlichkeit und empirische Bestätigung eines Ereignisses. Hatte Carnap mit dieser Veränderung seiner Auffassung auch die Position einer ‚Absolutheit der Wahrheit‘ verlassen, die für Popper 1935 immer noch wichtig war? Und selbst in der Rede von 1988 hält Popper das Postulat von der Absolutheit der Wahrheit hoch, sich dabei auf Aristoteles [9], Alfred Tarski [10] und Kurt Gödel [11] beziehend (S.5f).

In einer Welt mit einem endlichen Gehirn, in einem endlichen Körper (bestehend aus ca. 36 Billionen Zellen (10^12)[12], in einer Welt von nicht-abzählbar vielen realen Ereignissen, war mir nie klar, woran (der frühe) Popper (und auch andere) die Position einer ‚absoluten Wahrheit‘ fest machen konnten/ können. Dass wir mit unserem endlichen – und doch komplexen, nicht-linearem — Gehirn von ‚Konkretheiten‘ ‚abstrahieren‘ können, Begriffe mit ‚offenen Bedeutungen‘ bilden und diese im Kontext der Rede/ eines Textes zu Aussagen über Aspekte der Welt benutzen können, das zeigt jeder Augenblick in unserem Alltag (ein für sich außergewöhnliches Ereignis), aber ‚absolute Wahrheit‘ … was kann das sein? Wie soll man ‚absolute Wahrheit‘ definieren?

Popper sagt, dass wir — und wenn wir uns noch so anstrengen — in unserem „Ergebnis nicht sicher“ sein können, das Ergebnis kann sogar „nicht einmal wahr“ sein.(vgl. S.6) Und wenn man sich dann fragt, was dann noch bleibt außer Unsicherheit und fehlender Wahrheit, dann erwähnt er den Sachverhalt, dass man von seinen „Fehlern“ auf eine Weise „lernen“ kann, dass ein „mutmaßliches (‚conjectural‘) Wissen“ entsteht, das man „testen“ kann.(vgl. S.6) Aber selbst dann, wenn man das Wissen testen kann, sind diese Ergebnisse nach Popper „nicht sicher“; obwohl sie „vielleicht wahr“ sind, diese Wahrheit aber ist damit dennoch „nicht endgültig bestätigt (‚established‘)“. Und er sagt sogar: „Selbst wenn sie [ergänzt: die Ergebnisse] sich als nicht wahr erweisen, … eröffnen sie den Weg zu noch besseren [ergänzt: Ergebnissen].“ (S.6)

Diese ‚changierende Sprechweise‘ über ‚wahre Ergebnisse‘ umschreibt das Spannungsfeld zwischen ‚absoluten Wahrheit‘ — die Popper postuliert — und jenen konkreten Sachverhalten, die wir im Alltag zu ‚Zusammenhängen (Hypothesen)‘ verdichten können, in denen wir einzelne Ereignisse ‚zusammen bringen‘ mit der ‚Vermutung‘, dass sie auf eine nicht ganz zufällige Weise zusammen gehören. Und, ja, diese unsere alltägliche Vermutungen (Hypothesen) können sich ‚alltäglich bestätigen‘ (wir empfinden dies so) oder auch nicht (dies kann Zweifel wecken, ob es ‚tatsächlich so ist‘).(vgl. S.6)

Das Maximum dessen, was wir — nach Popper — in der alltäglichen Erkenntnis erreichen können, ist das Nicht-Eintreten einer Enttäuschung einer Vermutung (Erwartung, Hypothese). Wir können dann „hoffen“, dass die Hypothese „wahr ist“, aber sie könnte sich dann beim nächsten Test vielleicht doch noch als „falsch“ erweisen. (vgl. S.6)

In all diesen Aussagen, dass ein Ergebnis ’noch nicht als wahr erwiesen wurde‘ fungiert der Begriff der ‚Wahrheit‘ als ein ‚Bezugspunkt‘, anhand dessen man eine vorliegende Aussage ‚vergleichen‘ kann und mit diesem Vergleich dann zum Ergebnis kommen kann, dass eine vorliegende Aussage ‚verglichen mit einer wahren Aussage‘ nicht wahr ist.

Messen als Vergleichen ist in der Wissenschaft der Goldstandard, aber auch im ganz normalen Alltag. Wo aber findet sich der Vergleichspunkt ‚wahr Aussage‘ anhand dessen eine konkrete Aussage als ’nicht dem Standard entsprechend‘ klassifiziert werden kann?

Zur Erinnerung: es geht jetzt hier offensichtlich nicht um einfache ‚Sachverhaltsfeststellungen‘ der Art ‚Es regnet‘, ‚Es ist heiß‘, ‚Der Wein schmeckt gut‘ …, sondern es geht um die Beschreibung von ‚Zusammenhängen‘ zwischen ‚isolierten, getrennten Ereignissen‘ der Art (i) ‚Die Sonne geht auf‘, (ii) ‚Es ist warm‘ oder ‚(i) ‚Es regnet‘, (ii) ‚Die Straße ist nass‘.

Wenn die Sonne aufgeht, kann es warm werden; im Winter, bei Kälte und einem kalten Wind kann man die mögliche Erwärmung dennoch nicht merken. Wenn es regnet dann ist die Straße normalerweise nass. Falls nicht, dann fragt man sich unwillkürlich, ob man vielleicht nur träumt?

Diese einfachen Beispiele deuten an, dass ‚Zusammenhänge‘ der Art (i)&(ii) mit einer gewissen Häufigkeit auftreten können, aber es keine letzte Sicherheit gibt, dass dies der Fall sein muss.

Wo kommt bei alldem ‚Wahrheit‘ vor?

‚Wahrheit an sich‘ ist schwer aufweisbar. Dass ein ‚Gedanke‘ ‚wahr‘ ist, kann man — wenn überhaupt — nur diskutieren, wenn jemand seinem Gedanken einen sprachlichen Ausdruck verleiht und der andere anhand des sprachlichen Ausdrucks (i) bei sich eine ‚Bedeutung aktivieren‘ kann und (ii) diese aktivierte Bedeutung dann entweder (ii.1) — schwacher Fall — innerhalb seines Wissens mit ‚anderen Teilen seines Wissens‘ ‚abgleichen‘ kann oder aber (ii.2) — starker Fall — seine ‚interne Bedeutung‘ mit einer Gegebenheit der umgebenden realen Ereigniswelt (die als ‚Wahrnehmung‘ verfügbar ist) vergleichen kann. In beiden Fällen kann der andere z.B. zu Ergebnissen kommen wie (a) ‚Ja, sehe ich auch so‘ oder (b) ‚Nein, sehe ich nicht so‘ oder (c) ‚Kann ich nicht entscheiden‘.

In diesen Beispielen wäre ‚Wahrheit‘ eine Eigenschaft, die der Beziehung zwischen einem sprachlichen Ausdruck mit seiner möglichen ‚Bedeutung‘ ‚zu etwas anderem‘ zukommt. Es geht in diesen Beispielen um eine dreistellige Beziehung: die beiden Größen (Ausdruck, gewusste Bedeutung) werden in Beziehung gesetzt zu (wahrgenommenem oder erinnertem oder gefolgertem Sachverhalt).[13]

‚Wahrgenommenes‘ resultiert aus Interaktionen unseres Körpers mit der umgebenden realen Ereigniswelt (wobei unsere Körper selbst ein Ereignis in der umgebenden realen Ereigniswelt ist).[14]

‚Bedeutungen‘ sind ‚gelernte Sachverhalte‘, die uns über unsere ‚Wahrnehmung‘ ‚bekannt geworden sind‘ und in der Folge davon möglicherweise auf eine schwer bestimmbare Weise in unser ‚Gedächtnis‘ übernommen wurden, aus dem Heraus wir sie auf eine ebenfalls schwer bestimmbaren Weise in einer ‚erinnerten Form‘ uns wiederholt wieder ‚bewusst machen können‘. Solche ‚wahrnehmbaren‘ und ‚erinnerbaren‘ Sachverhalte können von unserem ‚Denken‘ in schwer bestimmbarer Form eine spezifische ‚Bedeutungsbeziehung‘ mit Ausdrücken einer Sprache eingehen, welche wiederum nur über Wahrnehmung und Erinnern uns bekannt geworden sind.[15]

Aus all dem geht hervor, dass dem einzelnen Akteur mit seinen gelernten Ausdrücke und ihren gelernten Bedeutungen nur das ‚Ereignis der Wiederholung‘ bleibt, um einem zunächst ‚unbestimmt Gelerntem‘ eine irgendwie geartete ‚Qualifikation‘ von ‚kommt vor‘ zu verleihen. Kommt also etwas vor im Lichte von gelernten Erwartungen neigen wir dazu, zu sagen, ‚es trifft zu‘ und in diesem eingeschränkten Sinne sagen wir auch, dass ‚es wahr ist‘. Diese gelernten Wahrheiten sind ’notorisch fragil‘. Jene, die ‚im Laufe der Zeit‘ sich immer wieder ‚bewähren‘ gewinnen bei uns ein ‚höheres Vertrauen‘, sie haben eine ‚hohe Zuverlässigkeit‘, sind allerdings nie ganz sicher‘.

Zusätzlich erleben wir im Alltag das ständige Miteinander von ‚Konkretheiten‘ in der Wahrnehmung und ‚Allgemeinheiten‘ der sprachlichen Ausdrücke, eine ‚Allgemeinheit‘ die nicht ‚absolut‘ ist. sondern als ‚Offenheit für viel Konkretes‘ existiert. In der Sprache haben wir Unmengen von Worten wie ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘, ‚Tisch‘, Hund‘ usw. die sich nicht nur auf ein einziges Konkretes beziehen, sondern auf — potentiell unendlich — viele konkrete Gegebenheiten. Dies liegt daran, dass es viele verschiedene konkrete Gegebenheiten gibt, die trotz Unterschiede auch Ähnlichkeiten aufweisen, die dann als ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘ usw. bezeichnet werden. Unser Gehirn verfügt über ‚automatische (= unbewusste) Prozesse‘, die die Konkretheiten aus der Wahrnehmung in ‚Muster‘ transformieren, die dann als ‚Repräsentanten‘ von verschiedenen wahrgenommenen Konkretheiten fungieren können. Diese Repräsentanten sind dann das ‚Material der Bedeutung‘, mit denen sprachliche Ausdrücke — auch automatisch — verknüpft werden können.[15]

Unser ‚Denken‘ kann mit abstrakten Repräsentanten arbeiten, kann durch Benutzung von sprachlichen Ausdrücken Konstruktionen mit abstrakten Konzepten und Ausdrücken bilden, denen bedeutungsmäßig direkt nichts in der realen Ereigniswelt entsprechen muss bzw. auch nicht entsprechen kann. Logik [17] und Mathematik [18] sind bekannte Beispiele, wie man mit gedanklich abstrakten Konzepten und Strukturen ‚arbeiten‘ kann, ohne dass ein Bezug zur realen Ereigniswelt bestehe muss oder jemals bestehen wird. Innerhalb dieser Welt abstrakter Strukturen und abstrakter Ausdrücke kann es dann sogar in einem eingeschränkten Sinne ‚Wahrheit‘ als Übereinstimmung von abstrakten Ausdrücken, deren abstrakten Bedeutungen und den anderen gedachten abstrakten Strukturen geben, aber diese ‚abstrakten Wahrheiten‘ sind in keiner Weise auf die reale Ereigniswelt übertragbar. Für uns gibt es nur das Modell der Alltagssprache, die mit ihren ‚offenen abstrakten‘ Bedeutungen auf Konkretes Bezug nehmen kann und zwischen Gegenwart und Vergangenheit eine ‚gedachte Beziehung‘ herstellen kann, ebenso auch zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu einer gedachten Zukunft. Inwieweit sich diese gedachten Beziehungen (Vermutungen, Hypothesen, …) dann in der realen Ereigniswelt bestätigen lassen, muss fallweise geprüft werden.

Die Welt der Wissenschaften erweckt den Eindruck, dass es mittlerweile eine große Zahl von solchen Hypothesen gibt, die allesamt als ‚weitgehend zuverlässig‘ angesehen werden, und aufgrund deren wir nicht nur unser bisheriges Wissen beständig ‚erweitern‘, sondern auch in einer Vielzahl von praktischen Anwendungen nutzen (Technologie, Landwirtschaft, Medizin, …).

Und an dieser Stelle greift Popper sehr weit aus, indem er diese für die Wissenschaften charakteristische „mutige, und abenteuerliche Weise des Theoretisierens“, ergänzt um „seriöse Tests“, im „biologischen Leben selbst“ am Werke sieht (vgl. S.7): die beobachtbare Entwicklung zu immer „höheren (‚higher‘) Formen“ des Lebens geschah/ geschieht durch Schaffung von „neuen Versuchen“ (‚trials‘), deren „Einbringung in die Realität“ (‚exposure‘), und dann das „Ausmerzen von Irrtümern“ (‚errors‘) durch „Testen“.(vgl. S.7) Mit dieser permanenten Kreativität neuer Lösungsansätze, deren Ausprobieren und dem daraus Lernen im Beseitigen von Fehlschlägen hat es nicht nur das biologische Leben als Ganzes geschafft, nach und nach die Welt quasi zu erobern, sondern in der Variante moderner empirischer Wissenschaft ist die Lebensform des Homo sapiens dabei, diese Eroberung auf neue Weise zu ergänzen. Während die biologische Evolution vor dem Homo sapiens primär um das nackte Überleben kämpfen musste, kann der Homo sapiens zusätzlich ‚reines Verstehen‘ praktizieren, das dann als ‚Werkzeug‘ zum Überleben beitragen kann. Für Popper ist ‚Verstehen‘ (‚understand‘) und ‚Lernen‘ (‚to learn more‘) das entscheidende Charakteristikum der Lebensform des Homo sapiens (als Teil des gesamten biologischen Lebens). Und in diesem Verstehensprojekt geht es um alles: um den ganzen Kosmos bis hin zum letzten Atom, um die Entstehung des Lebens überhaupt, um den ‚menschlichen Geist‘ (‚human mind‘) und die Art und Weise wie er stattfindet.(vgl. S.7)

Nach dieser ‚Einstimmung‘ wendet sich Popper dem speziellen Problem der Kausalität zu.

Kausalität – Ein wissenschaftliches Chamäleon

Der Begriff der ‚Kausalität‘ ist uns allen über den Alltag in vielfältigen Formen bekannt, ohne dass wir dazu gewöhnlich ein klares begriffliches Konzept entwickeln.

Geht es hingegen ‚um Etwas‘, z.B. um Geld, oder Macht, oder um eine gute Ernte, oder die Entwicklung einer Region, usw. , dann ist die Frage ‚Was was wie bewirkt‘ nicht mehr ganz egal. ‚Soll ich nun investieren oder nicht?‘ ‚Ist dieses Futter für die Tiere besser und auf Dauer bezahlbar oder nicht?‘ ‚Wird die neue Verkehrsregelung tatsächlich Lärm und CO2-Ausstoß reduzieren oder nicht?‘ ‚Ist Aufrüstung besser als Neutralität?‘ ‚Wird die Menge des jährlichen Plastikmülls die Nahrungsketten im Meer und damit viele davon abhängige Prozesse nachhaltig zerstören oder nicht?‘

Wenn Philosophen und Wissenschaftler von Kausalität sprechen meinten sie in der Vergangenheit meist viel speziellere Kontexte. So erwähnt Popper die mechanistischen Vorstellungen im Umfeld von Descartes; hier waren alle Ereignisse klar bestimmt, determiniert.(vgl. S.7) Mit der Entwicklung der Quantenmechanik — spätestens ab 1927 mit der Entdeckung des Unsicherheitsprinzips durch Werner Heisenberg [19], [19a] — wurde bewusst, dass die Ereignisse in der Natur keinesfalls vollständig klar und nicht vollständig determiniert sind. (vgl. S7f)

Damit trat eine inhärente Unsicherheit hervor, die nach einer neuen Lösung verlangte. Die große Zeit des Denkens in Wahrscheinlichkeiten begann.[20] Man kann das Denken in Wahrscheinlichkeiten grob in drei (vier) Sichtweisen unterscheiden: (i) In einer theoretischen — meist mathematischen — Sicht [21] definiert man sich abstrakte Strukturen, über die man verschiedene Operationen definieren kann, mit denen sich dann unterschiedliche Arten von Wahrscheinlichkeiten durchspielen lassen. Diese abstrakten (theoretischen) Wahrscheinlichkeiten haben per se nichts mit der realen Welt der Ereignisse zu tun. Tatsächlich erweisen sich aber viele rein theoretische Modelle als erstaunlich ’nützlich‘ bei der Interpretation realweltlicher Ereignisfolgen. (ii) In einer subjektivistischen Sicht [22] nimmt man subjektive Einschätzungen zum Ausgangspunkt , die man formalisieren kann, und die Einschätzungen zum möglichen Verhalten des jeweiligen Akteurs aufgrund seiner subjektiven Einschätzungen erlauben. Da subjektive Weltsichten meistens zumindest partiell unzutreffend sind, z.T. sogar überwiegend unzutreffend, sind subjektive Wahrscheinlichkeiten nur eingeschränkt brauchbar, um realweltliche Prozesse zu beschreiben.(iii) In einer (deskriptiv) empirischen Sicht betrachtet man reale Ereignisse, die im Kontext von Ereignisfolgen auftreten. Anhand von diversen Kriterien mit der ‚Häufigkeit‘ als Basisterm kann man die Ereignisse zu unterschiedlichen Mustern ‚gruppieren‘, ohne dass weitergehende Annahmen über mögliche Wirkzusammenhänge mit ‚auslösenden Konstellationen von realen Faktoren‘ getätigt werden. Nimmt man eine solche ‚deskriptive‘ Sicht aber zum Ausgangspunkt, um weitergehende Fragen nach möglichen realen Wirkzusammenhängen zu stellen, dann kommt man (iv) zu einer eher objektivistischen Sicht. [23] Hier sieht man in der Häufigkeiten von Ereignissen innerhalb von Ereignisfolgen mögliche Hinweise auf reale Konstellationen, die aufgrund ihrer inhärenten Eigenschaften diese Ereignisse verursachen, allerdings nicht ‚monokausal‘ sondern ‚multikausal‘ in einem nicht-deterministischem Sinne. Dies konstituiert die Kategorie ‚Nicht deterministisch und zugleich nicht rein zufällig‘.[24]

Wie der nachfolgende Text zeigen wird, findet man Popper bei der ‚objektivistischen Sicht‘ wieder. Er bezeichnet Ereignisse, die durch Häufigkeiten auffallen, als ‚Propensities‘, von mir übersetzt als ‚Tendenzen‘, was letztlich aber nur im Kontext der nachfolgenden Erläuterungen voll verständlich wird.

Popper sagt von sich, dass er nach vielen Jahren Auseinandersetzung mit der theoretischen (mathematischen) Sicht der Wahrscheinlichkeit (ca. ab 1921) (vgl. S.8f) zu dieser — seiner — Sicht gelangt ist, die er 1956 zum ersten Mal bekannt gemacht und seitdem kontinuierlich weiter entwickelt hat.[24]

Also, wenn man beobachtbare Häufigkeiten von Ereignissen nicht isoliert betrachtet (was sich angesichts des generellen Prozesscharakters aller realen Ereignisse eigentlich sowieso verbietet), dann kommt man wie Popper zu der Annahme, dass die beobachtete — überzufällige aber dennoch auch nicht deterministische — Häufigkeit die nachfolgende ‚Wirkung‘ einer realen Ausgangskonstellation von realen Faktoren sein muss, deren reale Beschaffenheit einen ‚Anlass‘ liefert, dass ‚etwas Bestimmtes passiert‘, was zu einem beobachtbaren Ereignis führt.(vgl. S.11f, dazu auch [25]) Dies schließt nicht aus, dass diese realen Wirkungen von spezifischen ‚Bedingungen‘ abhängig sein können, die erfüllt sein müssen, damit es zur Wirkung kommt. Jede dieser Bedingungen kann selbst eine ‚Wirkung‘ sein, die von anderen realen Faktoren abhängig ist, die wiederum bedingt sind, usw. Obwohl also ein ‚realer Wirkzusammenhang‘ vorliegen kann, der als solcher ‚klar‘ ist — möglicherweise sogar deterministisch — kann eine Vielzahl von ‚bedingenden Faktoren‘ das tatsächliche Auftreten der Wirkung so beeinflussen, dass eine ‚deterministische Wirkung‘ dennoch nicht als ‚deterministisch‘ auftritt.

Popper sieht in dieser realen Inhärenz von Wirkungen in auslösenden realen Faktoren eine bemerkenswerte Eigenschaft des realen Universums.(vgl. S.12) Sie würde direkt erklären, warum Häufigkeiten (Statistiken) überhaupt stabil bleiben können. (vgl. S.12). Mit dieser Interpretation bekommen Häufigkeiten einen objektiven Charakter. ‚Häufigkeiten‘ verwandeln sich in Indikatoren für ‚objektive Tendenzen‘ (‚propensities‘), die auf ‚reale Kräfte‘ verweisen, deren Wirksamkeit zu beobachtbaren Ereignissen führen.(vgl. S.12)

Die in der theoretischen Wahrscheinlichkeit verbreitete Charakterisierung von wahrscheinlichen Ereignissen auf einer Skala von ‚1‘ (passiert auf jeden Fall) bis ‚0‘ (passiert auf keinen Fall) deutet Popper für reale Tendenzen dann so um, dass alle Werte kleiner als 1 darauf hindeuten, dass es mehrere Faktoren gibt, die aufeinander einwirken, und dass der ‚Nettoeffekt‘ aller Einwirkungen dann zu einer realen Wirkung führt die kleiner als 1 ist, aber dennoch vorhanden ist; man kann ihr über Häufigkeiten sogar eine phasenweise Stabilität im Auftreten zuweisen, so lange sich die Konstellation der wechselwirkenden Faktoren nicht ändert.(vgl. S.13) Was hier aber wichtig ist — und Popper weist ausdrücklich darauf hin — die ‚realen Tendenzen‘ verweisen nicht auf einzelne konkrete, spezielle Eigenschaften inhärent in einem Objekt, sondern Tendenzen korrespondieren eher mit einer ‚Situation‘ (’situation‘), die als komplexe Gesamtheit bestimmte Tendenzen ‚zeigt‘.(vgl. SS.14-17) [26]

Schaut man nicht nur auf die Welt der Physik sonder lenkt den Blick auf den Alltag, in dem u.a. auch biologische Akteure auftreten, speziell auch Lebensformen vom Typ Homo sapiens, dann explodiert der Raum der möglichen Faktoren geradezu, die Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen können. Nicht nur bildet der Körper als solcher beständig irgendwelche ‚Reize‘ aus, die auf den Akteur einwirken, sondern auch die Beschaffenheit der Situation wirkt in vielfältiger Weise. Insbesondere wirkt sich die erworbene Erfahrung, das erworbene Wissen samt seinen unterschiedlichen emotionalen Konnotationen auf die Art der Wahrnehmung aus, auf die Art der Bewertung des Wahrgenommenen und auf den Prozess möglicher Handlungsentscheidungen. Diese Prozesse können extrem labil sein, so dass Sie in jedem Moment abrupt geändert werden können. Und dies gilt nicht nur für einen einzelnen Homo sapiens Akteur, sondern natürlich auch für die vielen Gruppen, in denen ein Homo sapiens Akteur auftreten kann bzw. auftritt bzw. auftreten muss. Dieses Feuerwerk an sich wechselseitig beständig beeinflussenden Faktoren sprengt im Prinzip jede Art von Formalisierung oder formalisierter Berechnung. Wir Menschen selbst können dem ‚Inferno des Alles oder Nichts‘ im Alltag nur entkommen, wenn wir ‚Konventionen‘ einführen, ‚Regeln des Verhaltens‘, ‚Rollen definieren‘ usw. um das praktisch unberechenbare ‚Universum der alltäglichen Labilität‘ partiell zu ‚zähmen‘, für alltägliche Belange ‚berechenbar‘ zu machen.

Popper zieht aus dieser Beschaffenheit des Alltags den Schluss, das Indeterminismus und freier Wille zum Gegenstandsbereich und zum Erklärungsmodell der physikalischen und biologischen Wissenschaften gehören sollten.(vgl. S.17f)

Popper folgert aus einer solchen umfassenden Sicht von der Gültigkeit der Tendenzen-Annahme für vorkommende reale Ereignisse, dass die Zukunft nicht determiniert ist. Sie ist objektiv offen.(vgl. S.18)

Näher betrachtet ist die eigentliche zentrale Einsicht tatsächlich gar nicht die Möglichkeit, dass bestimmte Wirkzusammenhänge vielleicht tatsächlich determiniert sein könnten, sondern die Einsicht in eine durchgängige Beschaffenheit der uns umgebenden realen Ereigniswelt die sich – dies ist eine Hypothese! — durchgängig als eine Ansammlung von komplexen Situationen manifestiert, in denen mögliche unterscheidbare Faktoren niemals isoliert auftreten, sondern immer als ‚eingebettet‘ in eine ‚Nachbarschaften‘, so dass sowohl jeder Faktor selbst als auch die jeweiligen Auswirkungen dieses einen Faktors immer in kontinuierlichen Wechselwirkungen mit den Auswirkungen anderer Faktoren stehen. Dies bedeutet, dass nicht nur die starke Idealisierungen eines mechanistischen Weltbildes — auch eine Hypothese — als fragwürdig angesehen werden müssen, sondern auch die Idealisierung der Akteure zu einer ‚ Monade‘ [27],[27b], die die Welt letztlich nur ‚von sich aus‘ erlebt und gestaltet — eine andere Hypothese –.[27c]

Denkt man gemeinsam mit Popper weiter in die Richtung einer totalen Verflechtung aller Faktoren in einem kontinuierlich-realen Prozess, der sich in realen Tendenzen manifestiert (vgl. S.18f), dann sind alle üblichen endlichen, starren Konzepte in den empirischen Wissenschaften letztlich nicht mehr seriös anwendbar. Die ‚Zerstückelung‘ der Wirklichkeit in lauter einzelne, kleine, idealisierte Puzzle-Teile, wie sie bis heute Standard ist, führt sich relativ schnell ad absurdum. Die übliche Behauptung, auf andere Weise könne man eben nichts Verwertbares Erkennen, läuft beständig Gefahr, auf diese Weise die reale Problematik der konkreten Forschungspraxis deutlich zu überdehnen, nur weil man in der Tat Schwierigkeiten hat, die vorfindliche Komplexität ‚irgendwie experimentell nachvollziehbar‘ zu rekonstruieren.

Popper dehnt seine Beispiele für die Anwendbarkeit einer objektivistischen Sicht von realen Tendenzen weiterhin aus auf die Chemie (vgl. S.19f) und auf die Evolution des Lebens. (vgl. S.20) Und auch wenn er zuvor sagte, dass die Zukunft objektiv offen sei, so ist sie dennoch in der realen Gegenwart implizit gegenwärtig in den Aktivitäten der vorhandenen realen Faktoren.(vgl. S.20) Anders formuliert, jede Zukunft entscheidet sich immer jetzt, in der Gegenwart, auch wenn die lebenden Akteure zu einem bestimmten Zeitpunkt vielleicht das Geflecht der vielen Faktoren und Wirkungen nur unvollständig durchschauen. Mangelndes Wissen ist auch ein realer Faktor und kann als solcher u.U. wichtige Optionen übersehen, die — würde man sie kennen — vielleicht viel Unheil ersparen würden.

Nachbemerkung – Epilog

Verglichen mit den vielen Seiten Text, die Popper im Laufe seines Lebens geschrieben hat, erscheint der hier kommentierte kurze Text von 27 Seiten verschwindend kurz, gering, möglicherweise gar unbedeutend.

Betrachtet man aber die Kernthesen von Poppers theoretischem Prozess, dann tauchen diese Kernthesen in diesem kurzen Text letztlich alle auf! Und seine Thesen zur Realität von beobachtbaren Tendenzen enthalten alles, was er an Kritik zu all jenen Wissenschaftsformen gesagt hat, die dieser Kernthese nicht folgen. Der ganze riesige Komplex zur theoretischen Wahrscheinlichkeit, zu subjektiver Wahrscheinlichkeit und zu den vielfältigen Spezialformen von Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit sagen letztlich nicht viel, wenn sie die objektivistische Interpretation von Häufigkeiten, dazu im Verbund mit der Annahme eines grundlegenden realen Prozesses, in dem sich alle realen Faktoren in beständiger realer Wechselbeziehung befinden, nicht akzeptieren. Die moderne Quantenmechanik wäre in einer realen Theorie der objektiven Tendenzen tatsächlich eine Teiltheorie, weil sie nur einige wenige — wenngleich wichtige — Aspekte der realen Welt thematisiert.

Poppers Mission einer umfassenden Theorie von Wahrheit als Innensicht einer umfassenden prozesshaften Realität bleibt — so scheint es mir — weiterhin brandaktuell.

Fortsetzung Popper 1989

Eine Kommentierung des zweiten Artikels aus dem Büchlein findet sich HIER.

Anmerkungen

Abkürzung: wkp := Wikipedia, de := Deutsche, en := Englische

[*] Es gibt noch zwei weiter Beiträge vom ’späten‘ Popper, die ich in den Diskurs aufnehmen möchte, allerdings erst nachdem ich diesen Beitrag rezipiert und in das finale Theorieformat im Kontext des oksimo-Paradigmas eingebunden habe.

[1] Karl Popper in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper (auch in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper )

[1b] Wiener Kreis (‚vienna circle‚) in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Kreis und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Vienna_Circle

[2a] Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[2b] Karl Popper, The Logic of Scientific Discovery, zuerst publiziert 1935 auf Deutsch als  Logik der Forschung, dann 1959 auf Englisch durch  Basic Books, New York (viele weitere Ausgaben folgten; ich benutze die eBookausgabe von Routledge (2002))

[3a] Die meisten wohl im uffmm.org Blog.

[3b] Oksimo und Popper in uffmm.org: https://www.uffmm.org/2021/03/15/philosophy-of-science/

[4] Das oksimo-Paradigma und die oksimo-Software auf oksimo.org: https://www.oksimo.org/

[5] Robert Ulanowizc in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Ulanowicz

[5b] Robert Ulanowizc, Ecology: The Ascendant Perspective, Columbia University Press (1997) 

[6a] Karl-Popper Sammlung der Universität Klagenfurt in wkp-de: https://www.aau.at/universitaetsbibliothek-klagenfurt/karl-popper-sammlung/

[6b] An dieser Stelle möchte ich die freundliche Unterstützung von Mag. Dr. Thomas Hainscho besonders erwähnen.

[7] Eine kürzere Version dieses Artikels hat Popper 1988 auf dem Weltkongress der Philosophie 1988 im Brighton vorgetragen (Vorwort zu [2a]).

[8] Rudolf Carnap in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Carnap

[8b] Rudolf Carnap,  Logical Foundations of Probability. University of Chicago Press (1950)

[9] Aristoteles in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Aristoteles

[10] Alfred Tarski in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Tarski

[11] Kurt Gödel in wkp-ed: https://en.wikipedia.org/wiki/Kurt_G%C3%B6del

[12] Aus dem Buch von Kegel „Die Herrscher der Welt…“: Siehe https://www.cognitiveagent.org/2015/12/06/die-herrscher-der-welt-mikroben-besprechung-des-buches-von-b-kegel-teil-1/

[13] Natürlich ist die Sachlage bei Betrachtung der hier einschlägigen Details noch ein wenig komplexer, aber für die grundsätzliche Argumentation reicht diese Vereinfachung.

[14] Das sagen uns die vielen empirischen Arbeiten der experimentellen Psychologie und Biologie, Hand in Hand mit den neuen Erkenntnissen der Neuropsychologie.

[15] Hinter diesen Aussagen stecken die Ergebnisse eines ganzen Bündels von wissenschaftlichen Disziplinen: vorweg wieder die experimentelle Psychologie mit hunderten von einschlägigen Arbeiten, ergänzt um Linguistik/ Sprachwissenschaften, Neurolinguistik, ja auch verschiedene philosophische ‚Zuarbeiten‘ aus dem Bereich Alltagssprache (hier unbedingt der späte Wittgenstein [16] als großer Inspirator) und der Semiotik.

[16] Ludwig Wittgenstein in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Wittgenstein

[17] Logik ( ‚logic‚) in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Logik und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Logic

[18] Mathematik (‚mathematics‚) in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Mathematik und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Mathematics

[19] Werner Heisenberg in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Werner_Heisenberg

[19b] Unsicherheitsprinzip (‚uncertainty principle‘) in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Uncertainty_principle

[20] Natürlich gab es schon viele Jahrhunderte früher unterschiedliche Vorläufer eines Denkens in Wahrscheinlichkeiten.

[21] Theoretische Wahrscheinlichkeit, z.B. in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Probability

[22] Subjektive Wahrscheinlichkeit, z.B. in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Subjektiver_Wahrscheinlichkeitsbegriff; illustrieret mit der Bayeschen Wahrscheinlichkeit in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Bayesian_probability

[23] Objektivistische Wahrscheinlichkeit, nur ansatzweise erklärt in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Objektivistischer_Wahrscheinlichkeitsbegriff

[23b] Deskriptive Statistik in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Deskriptive_Statistik (siehe auch ‚descriptive statistics in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Descriptive_statistics

[24] Zu verschiedenen Sichten von Wahrscheinlichkeiten sie auch: Karl Popper, The Open Universe: An Argument for Indeterminism, 1956–57 (as privately circulated galley proofs;) 1982 publiziert als Buch

[25] Hier sei angemerkt, dass ein Akteur natürlich nur dann ein bestimmtes Ereignis wahrnehmen kann, wenn er (i) überhaupt hinschaut und (ii) er über geeignete Beobachtungsinstrumente (= Messgeräte) verfügt, die das jeweilige Ereignis anzeigen. So sah die Welt z.B. ohne Fernglas und Mikroskop ‚einfacher‘ aus als mit.

[26] Diese Betonung einer Situation als Kontext für Tendenzen schließt natürlich nicht aus, dass die Wissenschaften im Laufe der Zeit gewisse Kontexte (z.B. das Gehirn, der Körper, …) schrittweise immer mehr auflösen in erkennbare ‚Komponenten‘, deren individuelles Verhalten in einem rekonstruierbaren Wechselspiel unterschiedliche Ereignisfolgen hervorbringen kann, die zuvor nur grob als reale Tendenz erkennbar waren. Tatsächlich führt eine zunehmende ‚Klarheit‘ bzgl. der internen Struktur einer zuvor nicht analysierbaren Situation auch zur Entdeckung von weiteren Kontextfaktoren, die zuvor unbekannt waren.(vgl. S.14f)

[27] Gottfried Wilhelm Leibniz in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Wilhelm_Leibniz

[27b] Monadenlehre von Leibnuz in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Monade_(Philosophie)

[27c] Allerdings muss man bemerken, dass die Leibnizsche Monadenlehre natürlich in einem ziemlich anderen ‚begrifflichen Koordinatensystem‘ einzubetten ist und die Bezugnahme auf diese Lehre nur einen stark vereinfachten Aspekt trifft.

DER AUTOR

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MENSCH-MENSCH COMPUTER. Gemeinsam Planen und Lernen. Erste Notizen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 2.-9.Oktober 2020
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

ÜBERBLICK

Der folgende Text entstand unter dem Eindruck der theoretischen und
praktischen Arbeiten, wie sie in meinem Engineering-Blog bislang dokumentiert
sind. Letztlich geht es darum, das aktuelle Paradigma der Informatik
und der übergreifenden Digitalisierung der Gesellschaft umzudrehen:
statt den Menschen nur als Datenfutter für anonyme Algorithmen zu benutzen,
ihn als digitalen Sklaven zu behandeln, der weitgehend zu einem
rechtlosen Spielball von internationalen Konzernen geworden ist, deren
Interessen weder die Interessen der Benutzer noch derjenigen von demokratischen
Gesellschaften sind, soll wieder der Mensch in das Zentrum
der Betrachtung gerückt werden und die Frage, was können wir tun, um
den Menschen mehr zu befähigen, gemeinsam mit anderen die mögliche
Zukunft besser zu verstehen und vielleicht besser zu gestalten. Der moderne
Mensch begreift sich als Teil der umfassenden Biosphäre auf diesem
Planeten und trägt eine besondere Verantwortung für diese.

Letzte Änderung: 9.Okt.2020

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Änderung 9.Okt.2020: Die Rahmenbedingungen von einer gegebenen Situation (hier als Problem) zu einer möglichen zukünftigen Situation (hier als positive Vision) werden etwas genauer analysiert.

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ZUR ENTDECKUNG DER VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT IN DER GEGENWART. Zwischenbemerkung

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 10.Dez. 2017
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: cagent
Email: cagent@cognitiveagent.org

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IDEE

Wenn man gedanklich in komplexen Strukturen unterwegs ist, kann es bisweilen helfen, sich zwischen drin bewusst zu machen, wo man gerade steht,
worum es eigentlich geht. Dies ist so ein Moment.

I. BILDERFLUT AUS MÖGLICHKEIT

Wir leben in einer Zeit, wo die Technik die
Möglichkeit eröffnet hat, Bilder zu erschaffen, die
mehr oder weniger alles zum Gegenstand haben, auch
Unsinniges, Idiotisches, reinste Fantasien, explizite
Lügen, Verleumdungen, … und für einen normalen homo
sapiens, der – bei intaktem Sehvermögen – primär ein
visuell orientiertes Lebewesen ist, führt diese Bilderflut
dazu, dass die wahre Realität sich immer mehr auflöst
in dieser Bildersuppe. Selbst wenn die Bilder noch als
Science Fiction, Fantasy, Crime, … gelabelt werden, im
Gehirn entsteht eine Bildersuppe, wo sich wahres Reales
mit Irrealem zu einem Gebräu mischt, das den Besitzer
dieses Gehirns in einen Dauerzustand der zunehmenden
Desorientierung versetzt. Der einzelne Bildproduzent
mag vielleicht sogar redliche Absichten haben, aber die
Masse der irrealen Bilder folgt ihren eigenen Gesetzen.
Das einzelne Gehirn verliert Orientierungsmarken.
Die Bereitschaft und Neigung von Menschen aller
Bildungsschichten selbst mit Doktortiteln (!), beliebig
wirre populistische, fundamentalistische oder esoterische
Anschauungen über die Welt als ’wahr’ zu übernehmen,
ist manifest und erschreckend. Wenn die grundlegenden
Wahrheitsfähigkeit von Menschen versagt, weil das
Gehirn über zu wenig verlässlich Ankerpunkte in der
Realität verfügt, dann ist alles möglich. Ein alter Lehrsatz
aus der Logik besagt: Aus Falschem folgt alles.

More than Noise – But What?

II. RÜCKERINNERUNG AN DIE WAHRHEIT

In einem vorausgehenden – eher grundlegenden –
Blogeintrag sind jene elementaren Grundstrukturen angesprochen worden, durch die jeder homo sapiens eine elementare Wahrheitsfähigkeit besitzt, auch in
Kommunikation und Kooperation mit anderen.
Aus diesem Text geht hervor, dass es grundsätzlich
möglich ist, dass dies aber kein Selbstgänger ist,
keinen Automatismus darstellt. Das Gelingen von
Wahrheit erfordert höchste Konzentration, erfordert
kontinuierliche Anstrengung, und vor allem auch das
Zusammenspiel vieler Faktoren. Moderne Demokratien
mit einer funktionierenden Öffentlichkeit, mit einem
ausgebauten Bildungs- und Forschungssystem kommen
diesen wissenschaftsphilosophischen Anforderungen
bislang am nächsten.

Wer die Bedeutung dieser Mechanismen zur
Voraussetzung von Wahrheit kennt und sich die
reale Welt anschaut, der kann weltweit eine
starke Rückentwicklung dieser Strukturen und
Prozesse beobachten, eine weltweite Regression
von Wahrheitsprozessen. Die Folgen sind schon jetzt
katastrophal und werden sich eher verstärken. Den Preis
werden letztlich alle zahlen. Wer glaubt, man könne sich
in einem Teilprozess isolieren, der täuscht sich.
Allerdings, im Fall der Wahrheit gelten andere Regel
als rein physikalische: Wahrheit selbst ist ein nicht-
physikalisch beschreibbares Phänomen. Es entstand
gegen alle Physik, es entstand auf eine Weise, die wir
bislang noch nicht richtig verstehen, und es macht im
Ansatz alle zu Verlierern, die sich außerhalb stellen.
Genauso irrational, wie sich weltweit eine Regression
von Wahrheit ereignen kann – und aktuell ereignet –,
genauso bizarr ist zugleich, warum so viele Mächtige
solch eine ungeheure Angst vor Wahrheit haben
(schon immer). Warum eigentlich? Warum gibt es
diesen ungeheuren Drang dazu, andere Menschen
zu kontrollieren, Ihnen Meinungen und Verhalten
vorzuschreiben, Algorithmen zu entwickeln, die die
Menschen in Richtungen leiten sollen, die schon falsch
sind, als sie ausgedacht wurden?

Solange es nur einen einzigen Menschen auf dem
Planet Erde gibt, so lange gibt es die Chance für
Wahrheit. Und so lange es die Chance für Wahrheit gibt,
muss jeder, der Wahrheit verrät, unterdrückt, verleugnet
sich als Verräter sehen, als Feind des Lebens.

More Beyond Noise – How Far away? Which kind of Distance?

III. UNIVERSUM – ERDE – LEBEN

Wenn man zu ahnen beginnt, wie kostbar Wahrheit
ist, wie schwierig sie zu gewinnen ist, und wenn man
weiß, wie viele Milliarden Jahre das Leben auf der
Erde gebraucht hat, um wahrheitsfähig zu werden, auch
noch in den späten Phase der Lebensform homo bzw.
dann des homo sapiens, dann kann man umgekehrt
zu einer geradezu andächtigen Haltung finden, wenn
man sich anschaut, was die modernen experimentellen
Wissenschaften im Laufe der letzten Jahrhundert, sogar
erst in den letzten Jahrzehnten (!!!) alles offenlegen
konnten.

Man bedenke, was wir primär wahrnehmen, das
ist Gegenwart, und die unfassbaren Blicke zurück in
die Vergangenheit der Evolution des Lebens und des
Universums (und möglicher weiterer Universen) liegen
nicht auf der Straße! Die Gegenwart ist Gegenwart und
ihr, der Gegenwart, Hinweise auf eine Zeit davor zu
entlocken, das war – und ist – eine der größten geistigen
Leistungen des homo sapiens.

Die Vergangenheit kann sich ja niemals direkt zeigen,
sondern immer nur dann, wenn eine bestimmte Zeit
mit ihren Strukturen und Prozessen Artefakte erzeugt
hat, die im Fluss der Zeit dann später als Spuren,
Hinweise, vorkommen, die ein Lebewesen dieser neuen
Gegenwart dann auch als Hinweise auf eine andere Zeit
erkennt.

So hat die Geologie irgendwann bemerkt, dass die
verschiedenen Gesteinsschichten möglicherweise
Ablagerungen aus vorausgehenden Zeiten sind.
Entsprechend haben die Biologen aus Versteinerungen
auf biologische Lebensformen schließen können,
die ’früher einmal’ gelebt hatten, heute aber nicht
mehr oder, heute auch, aber eventuell verändert. Die
Physik entdeckte, dass aufgrund der unterschiedlichen
Leuchtkraft gleicher Sternphänomene große Entfernungen im Universum anzunehmen sind, und mit der Fixierung der Geschwindigkeit des Lichts konnte
man auch auf Zeiten schließen, aus denen dieses Licht
gekommen sein muss: man war plötzlich bei vielen
Milliarden Jahren vor der Gegenwart.
Diese wenigen und vereinfachten Beispiele können
andeuten, dass und wie in der Gegenwart Zeichen einer
Vergangenheit aufleuchten können, die unsere inneren
Augen des Verstehens in die Lage versetzen, die scheinbare Absolutheit der Gegenwart zu überwinden und langsam zu begreifen, dass die Gegenwart nur
ein Moment in einer langen, sehr langen Kette von
Momenten ist, und dass es Muster zu geben scheint,
Regeln, Gesetze, Dynamiken, die man beschreiben
kann, die ansatzweise verstehbar machen, warum dies
alles heute ist, wie es ist.

Es versteht sich von selbst, dass diese unfassbaren
Erkenntnisleistungen der letzten Jahrzehnte nicht nur
möglich wurden, weil der Mensch qua Mensch über
eine grundlegende Wahrheitsfähigkeit verfügt, sondern
weil der Mensch im Laufe der letzten Jahrtausende
vielerlei Techniken, Abläufe ausgebildet hat, die ihm
bei diesen Erkenntnisprozessen unterstützen. Man
findet sie im technischen Bereich (Messgeräte, Computer,
Datenbanken, Produktionsprozesse, Materialtechniken, …..), im institutionellen Training
(langwierige Bildungsprozesse mit immer feineren
Spezialisierungen), in staatlichen Förderbereichen, aber
auch – und vielleicht vor allem! – in einer Verbesserung
der Denktechniken, und hier am wichtigsten die
Ausbildung leistungsfähiger formaler Sprachen in vielen
Bereichen, zentral die Entwicklung der modernen
Mathematik. Ohne die moderne Mathematik und formale
Logik wäre fast nichts von all dem möglich geworden,
was moderne Wissenschaft ausmacht.

Wenn man um die zentrale Rolle der modernen
Mathematik weiß und dann sieht, welche geringe Wertschätzung Mathematik sowohl im
Ausbildungssystem wie in der gesamten Kultur einer
Gesellschaft (auch in Deutschland) genießt, dann kann
man auch hier sehr wohl von einem Teilaspekt der
allgemeinen Regression von Wahrheit sprechen.(Anmerkung: Es wäre mal eine interessante empirische Untersuchung, wie viel
Prozent einer Bevölkerung überhaupt weiß, was Mathematik ist. Leider
muss man feststellen, dass das, was in den Schulen als Mathematik
verkauft wird, oft nicht viel mit Mathematik zu tun hat, sondern mit
irgendwelchen Rechenvorschriften, wie man Zeichen manipuliert, die
man Zahlen nennt. Immerhin, mehr als Nichts.)

Im Zusammenspiel von grundlegender Wahrheitsfähigkeit, eingebettet in komplexe institutionelle Lernprozesse, angereichert mit wissensdienlichen
Technologien, haben die modernen experimentellen
Wissenschaften es also geschafft, durch immer
komplexere Beschreibungen der Phänomene und ihrer
Dynamiken in Form von Modellen bzw. Theorien, den
Gang der Vergangenheit bis zum Heute ansatzweise
plausibel zu machen, sondern auf der Basis dieser
Modelle/ Theorien wurde es auch möglich, ansatzweise
wissenschaftlich begründete Vermutungen über die
Zukunft anzustellen.

In einfachen Fällen, bei wenigen beteiligten Faktoren
mit wenigen internen Freiheitsgraden und für einen
begrenzten Zeithorizont kann man solche Vermutungen ü̈ber die Zukunft (kühn auch Prognosen genannt), einigermaßen überprüfen. Je größer die Zahl der
beteiligten Faktoren, je mehr innere Freiheitsgrade, je
weitreichender der Zeitrahmen, um so schwieriger wir
solch eine Prognose. So erscheint die Berechnung des
Zeitpunktes, ab wann die Aufblähung unserer Sonne
aufgrund von Fusionsprozessen ein biologisches Leben
auf der Erde unmöglich machen wird, relativ sicher
voraussagbar, das Verhalten eines einfachen Tieres in
einer Umgebung über mehr als 24 Stunden dagegen ist
schon fast unmöglich.

Dies kann uns daran erinnern, dass wir es in der
Gegenwart mit sehr unterschiedlichen Systemen zu
tun haben. Das Universum (oder vielleicht sogar die
Universen) mag komplex sein, aber es erweist sich
bislang als grundsätzlich verstehbar, ebenfalls z.B. die
geologischen Prozesse auf unserem Heimatplaneten
Erde; das, was die Biologen Leben nennen, also
biologisches Leben, entzieht sich aber den bekannten
physikalischen Kategorien. Wir haben es hier mit
Dynamiken zu tun, die irgendwie anders sind, ohne dass
es bislang gelingt, diese spezifische Andersheit adäquat
zu erklären.

Life is Energy…

IV. KOGNITIVER BLINDER FLECK

Eine Besonderheit des Gegenstandsbereiches
biologisches Leben ist, dass diejenigen, die es
untersuchen, selbst Teil des Gegenstandes sind.
Die biologischen Forscher, die Biologen – wie überhaupt
alle Forscher dieser Welt – sind selbst ja auch Teil
des Biologischen. Als Exemplare der Lebensform
homo sapiens sind sie ganz klar einer Lebensform
zugeordnet, die ihre eigene typische Geschichte hat,
die sich als homo sapiens ca. 200.000 Jahre entwickelt
hat mit einer Inkubationszeit von ca. 100.000 Jahren, in
denen sich verschiedene ältere Menschenformen verteilt
über ganz Afrika partiell miteinander vermischt haben.
Nach neuesten Erkenntnissen hat dann jener Teil, der
dann vor ca. 60.000/ 70.000 Jahren aus Ostafrika
ausgewandert ist, einige tausend Jahre mit den damals
schon aussterbenden Neandertalern im Gebiet des
heutigen Israel friedlich zusammen gelebt, was durch
Vermischungen dann einige Prozent Neandertaler-Gene
im Genom des homo sapiens hinterließ, und zwar bei
allen Menschen auf der heutigen Welt, die gemessen
wurden.

Die Tatsache, dass die erforschenden Biologen selbst
Teil dessen sind, was sie erforschen, muss nicht per
se ein Problem sein. Es kann aber zu einem Problem
werden, wenn die Biologen Methoden zur Untersuchung
des Phänomens biologisches Leben anwenden, die
für Gegenstandsbereiche entwickelt wurden, die keine
biologischen Gegenstände sind.

In der modernen Biologie wurden bislang sehr
viele grundlegende Methoden angewendet, die
unterschiedlichste Teilbereiche zu erklären scheinen: In
Kooperation mit der Geologie konnte man verschiedenen
Phasen der Erde identifizieren, Bodenbeschaffenheiten,
Klima, Magnetfeld, und vieles mehr. In Kooperation
mit Physik, Chemie und Genetik konnten die
Feinstrukturen von Zellen erfasst werden, ihre
Dynamiken, ihre Wechselwirkungen mit den jeweiligen
Umgebungen, Vererbungsprozesse, Generierung neuer
genetischer Strukturen und vieles mehr. Der immer
komplexere Körperbau konnte von seinen physikalisch-
mechanischen wie auch chemischen Besonderheiten her
immer mehr entschlüsselt werden. Die Physiologie half,
die sich entwickelnden Nervensysteme zu analysieren,
sie in ihrer Wechselwirkung mit dem Organismus
ansatzweise zu verstehen. und vieles mehr.

Die sehr entwickelten Lebensformen, speziell dann
der homo sapiens, zeigen aber dann Dynamiken, die
sich den bisher bekannten und genutzten Methoden
entziehen. Die grundlegende Wahrheitsfähigkeit des
homo sapiens, eingebunden in grundlegende Fähigkeit
zur symbolischen Sprache, zu komplexen Kooperation,
zu komplexen Weltbildern, dies konstituiert Phänomene
einer neuen Qualität. Der biologische Gegenstand homo
sapiens ist ein Gegenstand, der sich selbst erklären
kann, und in dem Maße, wie er sich selbst erklärt,
fängt er an, sich auf eine neue, bis dahin biologisch
unbekannte Weise, zu verändern.

Traditioneller Weise gab es in den letzten
Jahrtausenden spezielle Erklärungsmodelle zum
Phänomen der Geistigkeit des homo sapiens, die
man – vereinfachend – unter dem Begriff klassisch-
philosophische Erklärung zusammen fassen kann.
Dieses Erklärungsmodell beginnt im Subjektiven und
hat immer versucht, die gesamte Wirklichkeit aus der
Perspektive des Subjektiven zu erklären.

Die Werke der großen Philosophen – beginnend
mit den Griechen – sind denkerische Großtaten,
die bis heute beeindrucken können. Sie leiden
allerdings alle an der Tatsache, dass man aus der
Perspektive des Subjektiven heraus von vornherein
auf wichtige grundlegende Erkenntnisse verzichtet
hatte (in einer Art methodischen Selbstbeschränkung,
analog der methodischen Selbstbeschränkung der
modernen experimentellen Wissenschaften). Das,
was diese subjekt-basierte und subjekt-orientierte
Philosophie im Laufe der Jahrtausende bislang erkannt
hat, wird dadurch nicht falsch, aber es leidet daran,
dass es nur einen Ausschnitt beschreibt ohne seine
Fundierungsprozesse.

Eigentlich ist das Subjektive (oder das ’Geistige’,
wie die philosophische Tradition gerne sagt) das
schwierigste Phänomen für die moderne Wissenschaft, das provozierendste, aber durch die frühzeitige Selbstbeschränkung der Biologie auf die bisherigen
Methoden und zugleich durch die Selbstbeschränkung
der klassischen Philosophie auf das Subjektive wird
das Phänomen des Lebens seiner Radikalität beraubt.
Es wird sozusagen schon in einer Vor-Verabredung der
Wissenschaften entmündigt.

In einem Folgeartikel sollte dieser blinde Fleck der
Wissenschaften in Verabredung mit der Philosophie
nochmals direkt adressiert werden, etwa: Das Subjektive
im Universum: Maximaler Störfall oder Sichtbarwerdung
von etwas radikal Neuem?

KONTEXT BLOG

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EIN HOMO SAPIENS – VIELE BILDER. Welches ist wahr?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 28.Okt. 2017
info@cognitiveagent.org
URL: cognitiveagent.org
Autor: cagent
Email: cagent@cognitiveagent.org

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INHALT

I Vielfalt trotz Einheit
II Wahrheit, die ich meine
III Wahrheitsmechanismen
III-A Gegenwart, Gestern, Morgen . . . . . .
III-B Eigener Lebensraum, ganz woanders . .
III-C Interpretierte Wahrnehmung . . . . . . .
III-D Erfahrung liefert Bilder . . . . . . . . . .
III-E Wie das ’Richtige’ Lernen? . . . . . . . .
III-E 1 Mengenbegrenzungen . . . . .
III-E 2 Muster erkennen . . . . . . . .
III-E 3 Spezialisierungen . . . . . . .
III-E 4 Wechselwirkungen aufdecken
III-E 5 Geeignete Wissensformen . .
III-E 6 Verloren im Fragment . . . . .
III-E 7 Fehlende Präferenzen
IV Menschenbilder
V Was Tun?

ÜBERSICHT

In der realen Welt gibt es eine Lebensform, die wir homo sapiens nennen. In der Rede über diesen homo sapiens – also in den Bildern, die wir benutzen –benutzen wir aber viele verschiedene Bilder. Desgleichen in den alltäglichen Lebensformen: es gibt nur einen homo sapiens, aber in den verschiedenen Kulturen dieser Erde gibt es viele geradezu konträre Formen, wie Menschen leben oder leben müssen. Wie ein homo sapiens genau funktioniert, verstehen wir immer noch nicht genau. Die Politik bevorzugt in der Regel plakative Schlagworte, und vermeidet wissenschaftliche Modelle. Warum?

Vielfalt trotz Einheit

Wenn in einem Brettspiel jemand sagt, „ich habe gewonnen“, und ein anderer daraufhin sagt „Nein, ich habe gewonnen“, dann weiß jeder, dass da etwas nicht stimmen kann. Brettspiele sind aufgrund ihrer Regeln eindeutig, wenn nicht, würden sie nicht funktionieren.

Wenn wir uns aber die Realität anschauen, die gemeinsam geteilte empirische Welt, dann ist es mittlerweile fast der Normalfall, dass es zu einzelnen Aspekten, Vorkommnissen, Vorgängen, von verschiedenen Personen oder Personengruppen, ganz unterschiedliche Beschreibungen/ Darstellungen/ Bilder gibt, ohne dass wir dies merkwürdig finden. Wenn Politiker in Talkshows sich äußern sollen, ist es eher die Regel, dass sie konträre Meinungen vertreten. Keiner findet dies merkwürdig. Unrecht haben immer die anderen, die eine andere Meinung haben. Der Frage, warum es zu unterschiedlichen Meinungen zu ein und demselben Thema kommen kann, wird fast nie gestellt. Lieber beschimpft man sich gegenseitig, anstatt die Frage zu stellen, warum es zu unterschiedlichen Meinungen kommen kann.

Wahrheit, die ich meine

Eine klassische Auffassung von Wahrheit geht davon aus, dass das mit ‚Wahrheit‘ Gemeinte in der Übereinstimmung von eigener Auffassung und einem davon zu unterscheidenden Sachverhalt ist. Klassisches Beispiel: Jemand sagt „Es regnet“ und in der Redesituation regnet es tatsächlich oder nicht. Im ersten Fall würde man dem Sprecher zustimmen und sagen, er spricht ‚wahr‘, im anderen Fall nicht.

Schwieriger wird es, wenn der Redner über Sachverhalte spricht, die jenseits der aktuellen Redesituation liegen: räumlich entfernt, oder zeitlich weit zurück in der Vergangenheit oder in einer noch nicht stattgefundenen Zukunft. Welche Mechanismen der Klärung des Wahrheitsgehaltes gibt es dann?

Oder der Redner glaubt Sachverhalte wahrzunehmen, die aber alle anderen nicht wahrnehmen. Wer hat dann Recht? Irrt der eine, hat er eine ‚psychische Störung‘, steht er unter ‚Drogeneinfluss‘, hat er schlicht ein ‚falsches Wissen‘, oder … ? Könnten nicht alle anderen irren und er alleine hätte Recht?

Oder es gibt Sachverhalte, auch gegenwärtige, deren Status von bestimmtem ‚Wissen‘ abhängig ist, wodurch erst die ‚Eigenschaften des Sachverhalts‘ sichtbar werden. Berühmte Beispiele sind die Bewegung der Himmelskörper, das Phänomen von Magnetismus und Elektrizität, die chemischen Reaktionen der verschiedenen chemischen Substanzen, die Entdeckung der Mikroorganismen, die Entdeckung der Vererbung durch Mitwirkung der DNA, die Entdeckung der Gehirnzellen und die Tatsache, dass sie nicht miteinander direkt verbunden sind, usw.

Schon diese kurze Betrachtung zeigt, dass wir in unserem Alltag eher mehr Situationen haben, die eine ‚direkte Wahrheitsentscheidung‘ nicht zulassen als solche, die es tun. ‚Indirekte‘ Wahrheitsentscheidungen verlangen grundsätzlich eine ‚Klärung der Umstände‘ und eine ‚Klärung der Regeln der Interpretation‘.

Wahrheitsmechanismen

Gegenwart, Gestern, Morgen

Halten wir an der Fallunterscheidung fest, dass es Aussagen über Vergangenes, Zukünftiges oder Gegenwärtiges gibt.

Eigener Lebensraum, ganz woanders

In allen drei Fällen kann man nochmals unterscheiden, ob der Sachverhalt (gegenwärtig oder vergangen oder zukünftig) mit den Teilnehmern der Situation verknüpft ist oder nicht. Ob es da regnet, wo man gerade ist, oder woanders, das macht einen großen Unterschied. Oder ob in meiner Firma in der Vergangenheit ein bestimmtes Ereignis stattgefunden haben soll oder nicht, kann ich eher einschätzen, als wenn es in der Vergangenheit irgendwo ganz anders stattgefunden haben soll. Entsprechend in der Zukunft: eine Aussage über einen zukünftigen Sachverhalt in meinem persönlichen Lebensraum fasse ich anders auf als wenn es ‚irgendwo ganz anders‘ stattfinden soll.

Interpretierte Wahrnehmung

Befinden wir uns in der Gegenwart, dann können wir diese und eigene Körperzustände ‚wahrnehmen‘. Wie wir mittlerweile durch vielfältige wissenschaftliche Untersuchungen lernen konnten, nehmen wir aber niemals die Welt (und uns selbst) ‚1-zu-1‘ wahr, sondern vielfältig selektiert, abstrahiert und ‚interpretiert‘ durch die Erfahrungen, die wir vorher schon gemacht haben. Da die visuellen, akustischen, taktilen usw. Wahrnehmungen immer unvollständig sind, muss innerhalb des Wahrnehmungsprozesses kontinuierlich ‚interpretiert‘ werden. Wir sind ‚erfahrungsbasiert‘, und diese Erfahrungen sind sehr stark ’sprachlich durchtränkt‘. Wir sehen nicht einfach nur Farben, Formen; wir riechen nicht einfach nur süßlich, beizend, ätzend, usw.; wir hören nicht einfach nur Geräusche, Klänge; diese werden sofort eingeordnet in vertraute Muster, verknüpft mit bekannten Worten. Ein Geräusch identifizieren wir als ‚knarrende Schranktür‘, ‚vorbeifahrendes Auto‘, das ‚Klackern von Schuhen auf Steinplatten‘, usw., weil wir einfach ‚trainiert‘ wurden, diese Geräusche mit solchen Worten und darüber mit bestimmten Situationen zu verknüpfen. Wie wir wissen, können solche spontanen, von unserem Gehirn aufgrund von vorliegenden Erfahrungen ‚automatisch erzeugte‘ Zuordnungen falsch sein, weil die Erfahrungen falsch sind.

Erfahrung liefert Bilder

Im Alltag liefert unsere Erfahrung also die ‚Bilder‘, mit denen wir unsere Welt anschauen.

Solange jemand noch nichts von einer bestimmten genetischen Erkrankung wusste, war für ihn die Welt in Ordnung. Als er/ sie erfuhr, dass es solch eine spezielle Krankheit gibt und dass er Symptome dafür aufweist, war die Welt plötzlich eine ganz andere.

Solange jemand nicht wusste, wie ein bestimmtes Pflanzenschutzmittel wirkt, hat er es leichthändig eingesetzt. Sobald bekannt wurde, dass es die Böden und Pflanzen nachhaltig vergiftet, ein ganzes Ökosystem zum Kippen bringen kann, sogar über die Nahrung in den menschlichen Körper gelangen kann und dort zu schweren Störungen führt, da war die Welt plötzlich eine andere.

Solange man noch nicht wusste, dass der Nachbar und Freund ein Spitzel für den Staat war, mit dem Ziel andere Meinungen auszuspähen und zu melden, solange war die Welt noch in Ordnung. Aber als man durch Zufall entdeckte, dass da etwas nicht stimmt, wollte man es zunächst nicht glauben, man wehrte sich dagegen, bis es dann irgendwann klar war…

Die Bilder, die wir haben, erklären uns die Welt für uns. Andere können ganz andere Bilder haben.

Wie das ‚Richtige‘ Lernen?

Wenn unsere Erfahrungen einen solchen massiven Einfluss auf unsere Weltsicht haben, stellt sich die Frage, was wir denn tun können, um im Rahmen unseres ‚Erlernens von Welt‘ die ‚richtige‘ Sicht zu bekommen?

Mengenbegrenzungen

Wie wir heute wissen können, ist unsere aktuelle Wahrnehmung von Welt zudem mengenmäßig sehr begrenzt. Wir können im Sekundenbereich nie mehr als ca. 5-7 Wahrnehmungsobjekte (Englisch ‚chunks‘) verarbeiten. Je nach Erfahrungsstand können dies einfache oder sehr komplexe Objekte sein.

Muster erkennen

Ein Schachgroßmeister sieht auf einem Schachbrett nicht einzelne Figuren, sondern er sieht die Figuren als Teil eines ‚Musters‘, das er in ’strategische Zusammenhänge‘ einordnen kann. So genügt ihm ein kurzer Blick und er hat eine Einschätzung des ganzen Spielstandes und weiß sofort, wo es günstig wäre, in dieser Stellung anzusetzen. Ein weniger erfahrene Spieler sieht dies Muster und diese Zusammenhänge nicht auf einen Blick. Daher muss er mühsam alle möglichen Kombinationen ‚durchdenken‘, ‚geistig durchspielen‘, um zu Einschätzungen zu kommen. Der Amateur benötigt dafür viel mehr ‚Bedenkzeit‘. In einem offiziellen Schachturnier würde de Amateur daher normalerweise allein schon durch seinen Verbrauch an Denkzeit verlieren, wenn er nicht schon vorher aufgrund der Stellung verliert.

Das, was hier am Schachspiel verdeutlicht wurde, gilt für alle Situationen: wir können immer nur sehr wenige Aspekte einer Situation tatsächlich wahrnehmen und verarbeiten. Wenn nun die Situation komplex ist, das heißt, ganz viele einzelne Elemente auf vielfältige Weise ineinander greifen, und dadurch bestimmte Zustände erzeugen, dann können wir diese Situation nicht wirklich verstehen, es sei denn, wir würden sehr viel Zeit aufwenden, um sie zu erforschen. Im Alltag haben wir diese Zeit normalerweise nicht.

Spezialisierungen

Andererseits leben wir täglich in einer Welt, die bis zum Rand angefüllt ist mit komplexen Sachverhalten: die Infrastruktur einer Stadt mit Energieversorgung, Wasserversorgung, Abfallwirtschaft, Verkehr, Schulen, …; die Wohnungssituation; die wirtschaftliche Entwicklung einer Region; das Funktionieren großer Konzerne; die jeweiligen Ökosysteme, in denen wir uns bewegen; die demographische Entwicklung und ihre Konsequenzen; usw.

Teilweise helfen wir uns durch Spezialisierungen: es gibt Verkehrsfachleute, Demographen, Betriebswirte, Abfallexperten, Managementberater, Biologen,… doch diese sind einzelne; selten arbeiten sie — wenn überhaupt — alle zusammen, um ein Problem in seinen Wechselwirkungen zu verstehen, Zusammenhänge sichtbar zu machen.

Wechselwirkungen aufdecken

Die eine Frage ist also, ob wir überhaupt genügend brauchbare Daten von den verschiedenen Prozessen unseres Alltags haben bzw. bekommen; die andere Frage ist, wie wir diese Daten so ‚aufbereiten‘, dass die ‚Wechselwirkungen‘ sichtbar werden, d.h. warum der eine Faktor den anderen Faktor beeinflusst und in welchem Ausmaß.

Geeignete Wissensformen

Die Wissenschaftsphilosophie hat erarbeitet, wie solche erklärenden Datenstrukturen aussehen müssten, damit sie Erklärungen liefern könnten. Die verschiedenen computerbasierten Simulationstechniken lassen erkennen, wie man solche komplexen Datenstrukturen so aufbereiten könnte, dass jeder damit arbeiten kann. Im Alltag findet man solche Instrumente aber nicht. Tägliche Entscheidungen müssen ohne solche Hilfen getroffen werden.

Wenn man die Lernformen in den Schulen und Hochschulen anschaut, dann gibt es nahezu nichts, was ein komplexes ‚Lernen von der Welt‘ unterstützen könnte.

Verloren im Fragment

Als Ergebnis dieser schwierigen Situation muss jeder Mensch mit mehr oder weniger kleinen bzw. großen Fragmenten eines großen Ganzen leben, die es nicht zulassen, das große Ganze zu erkennen. Notgedrungen versucht jeder auf seine Weise, ad hoc, unverstandene Reste mit Hilfskonstruktionen ‚verständlich‘ zu machen. Und ja, wenn jetzt ein anderer Mensch mit anderen Fragmenten auftritt, was tut man dann? Freut man sich, aus der Verschiedenheit zu lernen (eine echte Chance) oder fühlt man sich verunsichert, fühlt man sich angegriffen, sieht im anderen einen ‚Gegner‘, einen ‚Feind‘, der die eigene Meinung bedroht?

Wenn Menschen, und dies dürften die meisten sein, im Berufsleben eingespannt sind, dazu Familie, soziale Verpflichtungen, dann ist es sehr häufig so, dass dieses Leben so anfordernd ist, dass Zeit und Muße sich mit der komplexen Welt zu beschäftigen, mit anderen Anschauungen, kaum vorhanden ist. Ganz ’natürlich‘ wird man vieles abblocken, wird man einen ‚Tunnelblick‘ ‚kultivieren‘, wird ‚Seinesgleichen‘ suchen, sich einrichten, sich abschotten, und wenn es zum Schwur kommt, wird man genau nur das wiederholen können, was man bislang kennen gelernt hat. Wer und was kann hier helfen?

Fehlende Präferenzen

Bei der ‚Aneignung von Welt‘, die unter starken quantitativen Begrenzungen stattfinden muss, und die aufgrund von bisherigen Erfahrungen eine starke Beeinflussung aufweist, spielt noch ein weiterer Faktor hinein: Bewertungen, Präferenzen.

Das eine ist, Objekte, Eigenschaften, Beziehungen, Abfolgen zu identifizieren. Schwer genug. Ein einzelner Handelnder braucht aber auch Präferenzen der Art, dass er im Fall von Alternativen bewerten kann, ob nun A oder B für ihn besser sind. Soll er A oder B tun?

Wenn man weiß, dass viele Leistungen ein mehrjähriges gezieltes Training voraus setzen, durch das ein entsprechendes Wissen, eine entsprechende Handlungsfähigkeit schrittweise erarbeitet worden ist, das dann nach vielen Jahren so verfügbar ist, dann setzt dies voraus, dass es solche ’situationsübergreifende Ziele‘ gibt, die das einzelne Verhalten auf dieses Ziel in ‚orientieren‘.

Wenn solche Ziele aber schwer zu erkennen sind, wenn sie schlichtweg fehlen, wie kann dann ein einzelner, eine Gruppe, eine Firma ihre Ressourcen gezielt auf ein Ziel hin optimieren?

Präferenzen hängen stark von verfügbarem Wissen ab, aber sie sind nicht identisch mit Wissen! Aus der Tatsache, dass ich weiß, wie man einen Computer baut, folgt nicht, dass ich weiß, wofür man ihn einsetzen sollte. Aus der Tatsache, dass man Schulen mit Computern ausstatten will, folgt nicht, dass die Schulen, die Lehrer, die Schüler wissen, wofür sie die Computer einsetzen wollen/ sollen/ können.

Es scheint bis heute eher unklar, wo Präferenzen herkommen sollen.

Im Alltag gibt es viele sogenannte ‚praktische Zwänge‘ (Ernährung, Wohnen, Geld verdienen, Gesundheit, Verkehr, …), die zum Handeln zwingen. Dies sind aber weitgehend unhinterfragte Automatismen, die selbst in einen größeren Zusammenhang einzuordnen wären. Übergreifende Ziele, welche?

Menschenbilder

Schaut man sich die verfügbaren Menschenbilder im Bereich der Wissenschaften an, so kann man die wichtigsten Typen wie folgt auflisten:

  • Die biologische Evolution, unterscheidbar nach homo sapiens und Nicht-homo sapiens.
  • Im Bereich des homo sapiens sein Verhalten (Ethologie, Psychologie, Soziologie, Politik, Wirtschaft…)
  • Im Kontext des Verhaltens des homo sapiens gibt es die unterstellten inneren Mechanismen, die dafür verantwortlich sind, wie der homo sapiens auf seine wahrnehmbare Umgebung reagiert, zusammengefasst im Begriff des Verhaltens bzw. der Verhaltensfunktion. Das ‚Sichtbare (Verhalten)‘ erscheint damit als Wirkung des ‚Unsichtbaren (Inneren)‘. Für diese inneren Zustände gibt es keine wirkliche wissenschaftliche Disziplin, da Bewusstseinszustände als solche kein Gegenstand einer empirischen Wissenschaft sein können. Traditionell ist hier die Philosophie zuständig, die eben nicht als empirische Disziplin gilt. Die Neurowissenschaften behandeln die physikalisch-chemische Maschinerie des Gehirns, nicht aber seine subjektiven Erlebnisse im Bewusstseinsraum.
  • Im Bereich des Verhaltens hat der Mensch Technologien hervorgebracht, die ihm helfen können, praktische Probleme des Alltags (dazu gehören auch Konflikte bis hin zu Großkonflikten (Krieg)) zu lösen. Das Ineinander von Mensch und Maschine lässt ständig neue Situationen entstehen, in denen sich der Mensch über ein verändertes Verhalten selbst neu erfahren kann (Ersetzung menschlicher Muskelkraft, Autos, Eisenbahn, Flugzeug, Raumschiff..).
  • Im Rahmen der Technologie nehmen die Digitalen Technologien eine Sonderstellung ein. Sie erlauben es zunehmend, die inneren Mechanismen des Menschen zu imitieren und in immer mehr Bereichen zu übertreffen. Dies stellt eine extrem starke Infragestellung des Menschen dar: ist er auch nur eine Maschine, dazu eine schlechte?
  • Neben dem Biologischen gibt es das Physikalische als allgemeinen Rahmen für alles Biologische, mit unfassbar weiten Räumen und Energien, die sich als Universum präsentieren.
  • Innerhalb des Biologischen sind die inneren Mechanismen des homo sapiens wissenschaftlich noch unaufgeklärt. Dies gibt viel Spielraum für Spekulationen, Esoterik und dem Phänomen des Religiösen. Es ist schwer zu entscheiden,welch ‚harten Kern‘ all diese Interpretationen haben.

Macht man sich diese Vielfalt klar, ihren weitgehenden Fragmentcharakter aufgrund fehlender Wissensintegration, dann wundert man sich nicht, dass Ideologien, Populismen, Fanatismen und Dogmatismen reichlich Nährboden finden können. Die öffentlichen Wissenskulturen sind nicht ausreichend genug kultiviert, um solchen Verzerrungen den Boden zu entziehen. Die Bedeutung einer Wissenskultur wird in fast allen Gesellschaften stark unterschätzt und die jeweiligen Politiker erweisen sich für diese Fragen auch nicht besonders hilfreich.

Was Tun?

Es ist eines, einen Sachverhalt zu diagnostizieren. Es ist eine ganz andere Frage, ob man aus solch einer Diagnose irgendeinen Handlungsvorschlag generieren kann, der eine deutliche Verbesserung mit sich bringen würde.

Angesichts der zentralen Bedeutung des Wissens für das Verhalten des Menschen eingebettet in Präferenz/ Bewertungsstrukturen, die in einem Lernprozess verfügbar sein müssen, bei gleichzeitiger Berücksichtigung der quantitativen Beschränkungen des biologischen Systems bräuchte es neue Lernräume, die solch ein verbessertes Lernen unterstützen. Ganz wichtig wäre es dabei, das Wissen nicht nur ‚jenseits des Individuums‘ zu kumulieren (die Cloud für alle und alles), sondern den einzelnen als einzelnen zu stärken, auch als soziales Wesen. Dazu braucht es eine grundlegende Re-Analyse dessen, wie der Mensch mittels neuer digitaler und Cyber-Technologien sowie Humantechnologie seinen Möglichkeitsraum vergrößern kann.

Dies wiederum setzt voraus, dass es eine Vision von Gesellschaft der Zukunft gibt, in der der homo sapiens überhaupt noch eine Rolle spielt. Dies wird gerade von elitären Machtgruppen immer mehr in Frage gestellt.

Wo gibt es ernsthafte Visionen für humane Gesellschaften für Morgen?

Diese Aufgabenstellung ist nichts für einen allein; hier sind alle, jeder auf seine Weise, gefragt.

Autor cagent arbeitet an konkreten Lösungen einmal über das weltweite Theoriebuch für Ingenieurezum anderen an dem komplementären Projekt eines Softwarelabors für die Entwicklung solcher Lokaler Lernwelten. Ja, man kann sogar sagen, dass das Kunstprojekt Philosophy-in-Concert hier auch hingehört. Aber, wie auch immer, ein einzelner kann die Aufgabe nicht lösen. Es braucht ein ‚Gesamtkunstwerk‘, in dem sich viele miteinander vernetzen und ergänzen.

KONTEXT BLOG

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Wieweit können wir unseren eigenen Gedanken trauen, dass sie wahr sind? Memo zur Philosophiewerkstatt vom 11.Juni 2017

Abstract—Dieser Text schildert die Eingangsgedanken
zur Philosophiewerkstatt vom 11.Juni 2017 (in aktualisierter
Form) und berichtet anhand der Gedankenskizze
vom Gespräch. Zu vielen Aspekten und Gedanken blieben
abschließende Stellungnahmen aufgrund der knappen Zeit
aus. Vielleicht l ässt sich dies in der letzten Sitzung vor der
Sommerpause am 16.Juli 2017 noch ergänzen.

PDF-Version

I. Einleitung

A. Erbe aus der letzten Sitzung

In der letzten Philosophiewerkstatt vom 30.April 2017 wurde eine Linie skizziert vom körperlichen Dasein eines Menschen in einem Raum, zu seinem Innenleben voller Eindrücke und Gedanken, durchsetzt von Gefühlen, von dort zu seinem Körper mit dem Nervensystem und Gehirn, durch die das Innenleben möglich wird, und dann der Hinweis auf das Werkzeug Sprache, wodurch Menschen ihr eigenes Innenleben mit dem Innenleben anderer Menschen unterschiedlich gut verknüpfen können.

Im Gespräch zeigte sich dann, dass das Verhältnis von sprachlichem Ausdruck zu dem mit dem Ausdruck Gemeintem (die intendierte Bedeutung) alles andere als einfach ist, kein ‚Selbstläufer‘, kein Automatismus für wahr Sätze. Es entstand vielmehr der Eindruck, dass die Möglichkeit zur subjektiven Täuschung, zur Verzerrung, zum Irrtum von vornherein gegeben ist. Etwas Angemessenes, Richtiges, Wahres sagen zu können erfordert viel Aufmerksamkeit und viel Erfahrung. Was aber, wenn große Teile der Erfahrung schon falsch sind? Wenn gar eine ganze Kultur ’schief liegt‘?

Im folgenden werden zwei berühmte philosophisch-wissenschaftliche Positionen thesenartig vorgestellt, die zu weiterem Nachdenken anregen können.

B. Nilsson: Alles ist Glauben

Nils John Nilssonist ein US-amerikanischer Informatiker, der mit zu den Gründungsvätern der modernen Informatik zählt, hier speziell im Gebiet der künstlichen Intelligenz (KI). Sehr spät, 2014, hat er ein Buch publiziert mit dem Titel Understanding Beliefs.

Nilsson 2014: Mensch so wie Roboter
Nilsson 2014: Mensch so wie Roboter

In dem Maße wie die Informatik im Bereich der KI-Forschung mit Prozessen zu tun hat, die dem menschlichen Erkennen und Denken ähneln, in dem Maße stellen sich hier auch ähnliche — wenn nicht gar die ‚gleichen‘ — Fragen, wie die, die sich uns Menschen stellen, wenn wir über unser eigenes Denken nachsinnen wollen. In der Philosophie nennt man dieses Gebiete des philosophischen Denkens Erkenntnistheorie (engl.: epistemology). Und in der Tat, Nilsson, nach vielen Jahrzehnten der KI-Forschung, wendet sich in seinem jüngsten Buch dezidiert erkenntnistheoretischen Fragen zu, und in diesem Fall nicht Fragen des Denkens bei Maschinen, sondern, genau umgekehrt, herausgefordert durch seine Beschäftigung mit den Maschinen, den Fragen des Erkennens beim Menschen, bei uns selbst.

Bemerkenswert ist hier allerdings seine Formulierung. Ausgehend von den Robotern (vgl. Bild ‚Mensch so wie Roboter‘), die er kennt, weil er selber Roboter entwickelt, gebaut und getestet hat, überträgt er das Robotermodell — so scheint es — einfach auf die Menschen. Genauso, wie es bei dem Roboter ist (it is the same for us humans (vgl.KP 55)) mit sensorischer Wahrnehmung, daraus resultierendem Wissen und Erklärungen und Folgerungen, genau so sei es bei uns Menschen. Auch der menschliche Körper hat eine Sensorik, ein auf der Wahrnehmung basierendes Wissen und zusätzliches Wissen als Erklärung und Folgerungen.Im Fall des Menschen ist es allerdings nicht ein Ingenieur, der baut, sondern der Prozess der biologischen Evolution, der aus Zellen mit DNA-Molekülen menschliche Körper entstehen lässt. (vgl. KP 55ff)

Struktur des menschlichen Wissens nach Nilsson (2014), Kap.1
Struktur des menschlichen Wissens nach Nilsson (2014), Kap.1

Bei der Beschreibung des menschlichen Wissens (vgl. Bild ‚Struktur menschlichen Wissens) unterscheidet Nilsson am Körper der Menschen grundsätzlich Sensorik, die die Außenweltereignisse wahrnehmen kann, dann das Gehirn, das alle Signale verarbeitet, und indirekt das Bewusstsein, in dem unsere Wahrnehmungen und unser Wissen sich zeigen.[Anmerkung: Nilsson erwähnt das Bewusstsein in diesem Kapitel nicht explizit!] Ferner nimmt er ebenfalls nur implizit das beobachtbare Verhalten an, das die Grundlage für die empirische Psychologie bildet.

In Korrespondenz zu diesen Annahmen unterscheidet Nilsson grundsätzlich drei verschiedene Disziplinen, die sich mit menschlichem Wissen beschäftigen: die Philosophie, die Kognitionswissenschaften in Gestalt der kognitiven Psychologie, und die Neurowissenschaften.

Die Neurowissenschaften sortiert er schnell aus, da sie bislang nach seiner Einschätzung noch kein hinreichendes Wissen darüber erarbeitet haben, wie unser Wissen und unsere Überzeugungen im Gehirn tatsächlich repräsentiert sind. [Anmk: Womit sich die Frage stellt, woher wissen wir denn überhaupt etwas über unser Wissen; das Bewusstsein erwähnt er ja nicht.]

Die Philosophie in Form von Erkenntnistheorie (engl.: epistemology) erwähnt er auch nur kurz. Die Erkenntnistheorie beschäftige sich hauptsächlich mit Wissen in Form von deklarativem Wissen, das mittels erklärenden feststellenden sprachlichen Äußerungen artikuliert wird.

Die Kognitionspsychologie (die auch zu den Kognitionswissenschaften gerechnet wird) wird auch nur beiläufig erwähnt. Diese entwickelt theoretische Modelle über das deklarative (Wissen, dass) und prozedurale (Wissen wie) Wissen.

Details über diese verschiedene Disziplinen sowie ihr mögliches Zusammenwirken werden nicht mitgeteilt.

Unbeschwert von methodischen Anforderungen der genannten drei Disziplinen geht Nilsson dann relativ schnell zu der Behauptung über, dass Überzeugungen und Wissen letztlich das Gleiche seien. All unser tatsachenbezogenes Wissen drückt sich in unseren Überzeugungen aus. Überzeugungen sind hypothetisch und veränderbar; sie bilden eine schier unendliche Liste. Sie enthalten inhaltlich Annahmen über Objekte, Eigenschaften und Beziehungen. Ausgedrückt/ artikuliert werden Überzeugungen durch sprachliche Äußerungen in der Form von feststellenden (deklarativen) Ausdrücken. Viele Sätze zusammen bilden dann Theorien bzw. Modelle, die die Realität der Außenwelt für uns Menschen ersetzen, da wir sie so real erleben, als ob sie die Realität wären. Tatsächlich sind sie im Vergleich zur Realität der Außenwelt aber nur virtuelle Größen, die unser Gehirn aufgrund der Sinnesdaten berechnet und uns als produzierte (= virtuelle) Realität anbietet.

Ob und wieweit virtuelle Modelle der Realität ‚entsprechen‘, das müssen spezielle wissenschaftliche Verfahren klären. Ein Mensch kann nicht nur direkt einen bestimmten Sachverhalt X ‚glauben‘, er kann auch glauben, dass der Sachverhalt X nicht zutrifft.

C. Popper: Wider die Unüberwindbarkeit des begrifflichen Rahmens

Von Karl Popper gibt es viele gewichtige Schriften. Hier soll sein Aufsatz The Myth of the Framework berücksichtigt werden, der als Kapitel 2 des Buches The Myth of the Framework: In Defence of Science and Rationality 1994 erschienen ist.

In diesem Text vertritt Popper einige Kernthesen, die er — aufgrund seines umfangreichen historischen Wissens — mit sehr vielen Beispielen illustriert. So interessant diese Beispiele sind, so können sie aber auch die Kernthesen verdecken. Im Folgenden (siehe dazu auch Bild ‚Gegen den Mythos von der …‘) werden daher die historischen Beispiele weitgehend ausgeblendet. Dem interessierten Leser sei aber empfohlen, den ganzen Text zu lesen.

https://www.cognitiveagent.org/wp-content/uploads/2017/06/PopperMythFramework1-2400.jpg
Popper (1994): Gegen den Mythos von der Unüberwindbrkeit des begrifflichen Rahmens

Popper beginnt seinen Text mit einer These, die er dem sogenannten Relativismus zuschreibt: dass jeder Mensch in seinem Denken jeweils einen bestimmten kulturellen Kontext widerspiegele, und dieser Kontext sich in Form eines bestimmten begrifflichen Rahmens (engl.: framework) bestimmend auf das Denken auswirke. Die Wahrnehmung der Welt wird im Lichte des begrifflichen Rahmens so stark bestimmt, dass ein anderer Mensch mit einem anderen kulturellen Kontext bei gleichen Wahrnehmungen zu unterschiedlichen Interpretationen kommen würde. Diese kulturell und dann begrifflich-rahmenmäßig induzierten Interpretationsunterschiede seien unüberwindlich.

Dieser Auffassung widerspricht Popper vehement.

Dabei macht er gleich zu Beginn eine Unterscheidung, die er leider nicht weiter ausführt und systematisiert: er weist darauf hin, dass man zwischen dem jeweiligen begrifflichen Rahmen und den Voraussetzungen für einen Dialog unterscheiden muss. Das eine ist, was wir wissen (innerhalb unseres begrifflichen Rahmens), das andere sind psychologische und soziale Rahmenbedingungen, die festlegen, ob und wie wir miteinander kommunizieren. Explizit nennt er hier illustrierend die Toleranz, den guten Willen, Freiheit, Rationalität und auch eine demokratische Verfasstheit. Diese (und andere) Faktoren können einen offenen, kritischen Diskurs fördern.

Dass ein offener Diskurs wichtig ist, das liegt daran, dass gerade bei Unterschieden im begrifflichen Rahmen angesichts unterschiedlicher Kulturen diese Unterschiede eine Herausforderung darstellen: wirken diese Unterschiede bedrohlich? Haben sie möglicherweise einschneidende negative Folgen für die Betroffenen? Es besteht dann die Gefahr einer Ablehnung, die sich mit Gewalt verbindet, bis hin zum Krieg. Werden Unterschiede aber offen aufgegriffen, nüchtern analysiert, versucht man aus ihnen zu lernen, kommt man aufgrund von Unterschieden zu neuen, möglicherweise besseren Einsichten, dann können alle Beteiligten aus solchen Unterschieden einen Gewinn ziehen. Und genau für diesen konstruktiv-positiven Umgang mit Unterschieden haben sich im Laufe der Jahrhunderte und sogar Jahrtausenden Haltungen wie Toleranz und Rationalität sehr bewährt.

Es fragt sich, was man näher hin unter einem begrifflichen Rahmen verstehen soll. Diese Frage wird von Popper nicht sehr präzise beantwortet. Allgemein bauen wir unsere begriffliche Rahmen als Teil unserer Kultur auf, um die Welt, das Leben zu erklären. Dies beinhaltet zahlreiche Annahmen (engl.: assumptions) und Prinzipien. In der Wahrnehmung der Welt geht der begriffliche Rahmen insoweit ein, als jede Beobachtung Theorie geladen ist (engl.: theory impregnated). Wahre Aussagen sind solche, die sich mit Bezug auf reale Sachverhalten entscheiden lassen. Sofern ein solcher entscheidbarer Bezug auf Sachverhalte verfügbar ist, sind sprachliche Aussagen unterschiedlicher Sprachen ineinander übersetzbar. Durch eine solche Entscheidbarkeit von Sätzen gibt es Ansatzpunkte für eine Falsifizierbarkeit. Popper geht allerdings nicht näher darauf ein, ob und wie sich die Entscheidbarkeit einzelner Aussagen im größeren Kontext einer Theorie nutzen lässt.

II. Nilsson, Popper und das Gespräch

Im nachfolgenden Gespräch wurden die Thesen von Nilsson und Popper von den Teilnehmern nur sehr indirekt angesprochen.[Anmk: An dem Tag lagen die graphischen Interpretationen noch nicht vor und die verfügbare Zeit war ein bisschen knapp,um die Text voll zu lesen.] Es wird daher erst das Gespräch kurz skizziert und dann werden einige Fragen aufgeführt, die sich angesichts der vorausgehenden Themen stellen können. Möglicherweise wird die nächste Sitzung der Philosophiewerkstatt am So 16.Juli 2017 eine Weiterführung und Vertiefung der aktuellen Überlegungen bringen, zusätzlich angereichert von Thesen von Deutsch (1997) „The Fabric of Reality“.

III. Memo Gespräch

Gedankenbild zum Gespräch der Philosophiewerkstatt vom 11.Juni 2017
Gedankenbild zum Gespräch der Philosophiewerkstatt vom 11.Juni 2017

A. Alltagserfahrung

Das Gespräch nahm seinen (natürlichen) Ausgangspunkt bei Alltagserfahrungen der Teilnehmer. Alle empfinden die Situation so, dass sie immer schneller mit immer mehr Fakten überflutet werden; dies führt dazu, dass sich Wissen durch die schiere Menge selbst relativiert. Das Reden von ‚Wissen‘, das heute überall verfügbar sei, gewinnt dadurch fast illusorische Züge, da der einzelne mit seinem Gehirn in seinem Leben nur einen Bruchteil des verfügbaren Wissens wird verarbeiten können.

Diese Relativität von Wissen prägt unsere politischen Formen (Mehrheiten, keine absoluten Wahrheiten) und auch die Rechtsfindung (Fakten sammeln, abwägen, evaluierten). Die leitenden Rechtsnormen repräsenieren keine absoluten Werte und sind interpretationsbedürftig.

B.Kinder

Die Entwicklung der Kinder war schon oft ein Modellfall für viele Fragen. Auch für die Frage nach der Wahrheit war dies wieder ergiebig: sie überschwemmen ihre Umgebung mit Warum-Fragen und suchen Deutungsangebote. Ein Blick in die Kulturen und Geschichte deutet an, dass die Suche nach Erklärungen möglicherweise ein tiefsitzendes Bedürfnis des Menschen nach Verstehen, nach Sicherheit widerspiegelt. Und insofern von der Deutung/ Erklärung viele praktischen Konsequenzen abhängen können, stellt sich die Frage nach der Wahrheit eines Zutreffens in der Erfahrungswelt meist nicht interessefrei.

C. Wissenschaftliches Wissen

Es ist interessant, dass die Menschen erst nach vielen tausend Jahren in der Lage waren, die Produktion und Pflege von wahrem, nachprüfbaren Wissen zu beherrschen. Wissenschaftliches Wissen gründet auf nachvollziehbaren, wiederholbaren Messprozessen, die als solche jedem zugänglich sind, die unabhängig sind von den inneren Zuständen des einzelnen. Solche wissenschaftliche Messungen generieren für einen bestimmten Zeitpunkt und einen bestimmten Ort einen Messwert. Messwerte als solche bieten aber keine Erklärung. Um einzelne Messwerte für die Zwecke der Erklärung zu benutzen, muss eine allgemeine Beziehung generiert werden, die für alle bekannten Messwerte funktioniert. Diese Beziehung ist kein empirisches Objekt im üblichen Sinne, sondern eine kreative Erfindung des Wissenschaftlers, der damit versucht, die Messwerte zu deuten. In der Regel hilft das verfügbare Vorwissen bei der Formulierung solch einer Hypothese. Gelingt es, mit Hilfe eines allgemeinen Verfahrens andere potentielle Messwerte voraus zu sagen (Prognose), dann wird dies üblicherweise als Bestätigung der Hypothese interpretiert; im anderen Fall spricht man von einer Abschwächung oder gar Widerlegung (Falsifikation).

D. Biologische Evolution

Interessant ist, dass es zwischen diesem experimentellen Vortasten des Wissenschaftlers und dem Prozess der biologischen Evolution direkte Parallelen gibt. Im Prozess der biologischen Evolution besitzt jede Zelle im DNA-Molekül eine Art Vorwissen der bisherigen Erfolge, und ergänzend dazu werden zufällig-kreativ zahllose neue Varianten gebildet. Einige von diesen neuen Varianten zeugen dann, dass sie funktionieren (d.h. meistens: überleben können), andere nicht. Das Überleben ist in diesem Zusammenhang dann die Bestätigung.

E. Menschliches Bewusstsein

Die wissenschaftliche Form des Wissens wirft auch Licht auf eine fundamentale Eigenart des menschlichen Bewusstseins. Im menschlichen Bewusstsein treffen die konkreten sensorischen Ereignisse zusammen mit den abstrahierten, geclusterten, vernetzten Elementen des Gedächtnisses. Dadurch kann jeder Mensch beständig konkrete Objekte als Instanzen von allgemeinen Begriffen erkennen und sieht sie sogleich in allen möglichen Kontexten. Dies ist einerseits sehr hilfreich, birgt aber zugleich auch die Gefahr, dass eine falsche Vorerfahrung aktuelle Wahrnehmungen falsch einordnet.

In allen Kontexten tauchten immer wieder auch die Frage nach den Werten auf. Es blieb offen welche Rolle Gefühle wie angenehm/ unangenehm spielen, unterschiedliche Interessen, Bedürfnisse. Welchen Stellenwert haben sie letztlich?

 

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EINLADUNG ZUR PHILOSOPHIERWERKSTATT am So 11.Juni 2017: Wieweit können wir unseren eigenen Gedanken trauen?

THEMA

Unter dem Oberthema DENKEN & FÜHLEN soll die Leitfrage an diesem Tag lauten: Wieweit können wir unseren eigenen Gedanken trauen, dass sie wahr sind?

WER

Einleitung und Moderation: Prof.Dr.phil Dipl.theol Gerd Doeben-Henisch (Prof.emeritus Frankfurt University of Applied Sciences, Mitglied im Vorstand des Instituts für Neue Medien)

ORT

INM – Institut für Neue Medien, Schmickstrasse 18, 60314 Frankfurt am Main (siehe Anfahrtsskizze) Parken: Vor und hinter dem Haus sowie im Umfeld gut möglich.

ZEIT

Beginn 15:00h, Ende 18:00h. Bitte unbedingt pünktlich, da nach 15:00h kein Einlass.

ESSEN UND TRINKEN

Es gibt im INM keine eigene Bewirtung. Bitte Getränke und Essbares nach Bedarf selbst mitbringen (a la Brown-Bag Seminaren)

PROGRAMM

  • Bis 15:00h ANKOMMEN
  • 15:00 – 15:30h IMPULSREFERAT zu Wieweit können wir unseren eigenen Gedanken trauen, dass sie wahr sind?
  • 15:30 – 16:00h REINKOMMEN: Erste Fragen, Kommentare, um in das Thema hinein zu kommen.
  • 16:00– 16:20h Zeit zum INDIVIDUELLEN FÜHLEN (manche nennen es Meditation)
  • 16:20 – 16:30h ASSOZIATIONEN INDIVIDUELL NOTIEREN
  • 16:30 – 17:15h Erste GESPRÄCHSRUNDE (Mit Gedankenbild/ Mindmap)
  • 17:15 – 17:25h BEWEGUNG, TEE TRINKEN, REDEN
  • 17:25– 17:55h Zweite GESPRÄCHSRUNDE (Mit Gedankenbild/ Mindmap)
  • 17:55 – 18:00h AUSBLICK, wie weiter

Ab 18:00h VERABSCHIEDUNG VOM ORT

Irgendwann: BERICHT(e) ZUM TREFFEN, EINZELN, IM BLOG (wäre schön, wenn)

Irgendwann: KOMMENTARE ZU(M) BERICHT(en), EINZELN, IM BLOG (wäre schön, wenn)

ERSTE GEDANKEN ZUM THEMA: Wieweit können wir unseren eigenen Gedanken trauen, dass sie wahr sind?

In der letzten Philosophiewerkstatt vom 30.April 2017 wurde eine Linie skizziert vom körperlichen Dasein eines Menschen in einem Raum, zu seinem Innenleben voller Eindrücke und Gedanken, durchsetzt von Gefühlen, von dort zu seinem Körper mit dem Nervensystem und Gehirn, durch die das Innenleben möglich wird, und dann der Hinweis auf das Werkzeug Sprache, wodurch Menschen ihr eigenes Innenleben mit dem Innenleben anderer Menschen unterschiedlich gut verknüpfen können.

Im Gespräch zeigte sich dann, dass das Verhältnis von sprachlichem Ausdruck zu dem mit dem Ausdruck Gemeintem (die intendierte Bedeutung) alles andere als einfach ist, kein ‚Selbstläufer‘, kein Automatismus für wahr Sätze. Es entstand vielmehr der Eindruck, dass die Möglichkeit zur subjektiven Täuschung, zur Verzerrung, zum Irrtum von vornherein gegeben ist. Etwas Angemessenes, Richtiges, Wahres sagen zu können erfordert viel Aufmerksamkeit und viel Erfahrung. Was aber, wenn große Teile der Erfahrung schon falsch sind? Wenn gar eine ganze Kultur ’schief liegt‘?

Alle dürfen gespannt sein, was das gemeinsame Gespräch wieder an Einsichten zutage fördern wird.

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PS: So wie die Philosophiewerkstatt sich als Ergänzung zum Philosophie- und Wissenschschaftsblog PHILOSOPHIE JETZT versteht, so gibt es seit Herbst 2015 auch das weitere experimentelle Format PHILOSOPHY-IN-CONCERT. Das Experiment Nr.3 wird am Samstag 22.Juli 2017 ab 19:30h stattfinden. Auch dieses Mal ist es ein neuer Ort und wieder mit völlig neuen Inhalten. Demnächst mehr dazu.

 

 

PHILOSOPHISCHES DENKEN HEUTE – Zurück auf Start?

TREND ZU INSTITUTIONALISIEREN

  1. Es scheint eine allgemeine Tendenz menschlichen Handelns zu sein, aufregende Ideen und erfolgreiche Konzepte – allerdings nicht immer – zu institutionalisieren: aus einzelnen Menschen die überzeugen, aus einzelnen kleinen Unternehmungen, die Erfolg haben, werden Institutionen, große Firmen, Staatsgebilde.
  2. Wenn sie denn da sind, die Institutionen (Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Universitäten, politische Formen, Rechtssysteme, …), dann verselbständigen sich viele Mechanismen. Die treibende Idee kann verblassen, die Selbsterhaltungskräfte einer Institution gewinnen die Oberhand (im Falle von Geheimdiensten wenig Demokratie förderlich …).

WAS BEWEGT?

  1. Bei der Frage, was das Handeln von Menschen leitet, kann man angesichts der Realität von Institutionen verleitet sein, auf die soziale Realität dieser Institutionen zu starren und zu glauben, gegen diese sei nicht anzukommen, als einzelner.
  2. Die Geschichte – und die unruhige Gegenwart – kann uns aber darüber belehren, dass alle Institutionen nur so lange funktionieren, als die sie tragenden Menschen mit ihren subjektiven-inneren Leitbildern diese Institutionen stützen. Wenn sich die subjektiven-inneren Anschauungen ändern, zerfallen Institutionen.
  3. Dafür gibt es zahllose Beispiele. Der immer stärker werdende Lobbyismus unter Politikern, die fast schon dreiste Voranstellung persönlicher kurzfristiger Erfolgskriterien vor jeder gesellschaftlich tragenden Perspektive, die zunehmende Propaganda und Zensur in vielen Ländern dieser Erde, vereinfachende schwarz-weiß Modelle von Gesellschaft und Zukunft, sind einige der wirksamen Mittel, eine friedliche, kooperierende, zukunftsfähige Gesellschaft zu zerstören.

GEMEINSAMES WISSEN

  1. In solch einer Situation – die es in den letzten Jahrtausenden immer gab, immer wieder – stellt sich die Frage, wie kann das Wissen eines Menschen so mit anderen geteilt werden, dass aus diesem gemeinsamen Wissen auch ein gemeinsames Handeln erwachsen kann?

GRÜNDUNGSIDEEN

  1. Demokratische Parteien, die noch jung sind, die noch ein wenig das Gründungsfieber, die neue Vision in sich tragen, sind gute Lehrbeispiele dafür, wie Ideen sich im Alltag mühsam ihren Weg in die Köpfe möglicher Anhänger suchen müssen und dann, im Laufe der Jahre, sich behaupten müssen. Am Gründungstag weiß niemand, wer in der Zukunft dazukommen wird und was die nachfolgenden Generationen daraus machen werden.
  2. Ähnliches kann man bei Religionsgründern und bei Ordensgründungen beobachten: eine elektrisierende Anfangsidee bringt Menschen dazu, ihr Leben nachhaltig zu ändern und damit jeweils auch ein Stück Welt.
  3. Auch Firmengründungen laufen ähnlich ab: zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte eine Idee einen wirtschaftliche Erfolg, und dieser führt zu einem Wachstum, der vorher nicht absehbar und nicht planbar war. Irgendwann gibt es ein Konglomerat aus Kapital und Macht, wo die Gründungsidee sich verdunstet hat, wo die Firma sich selbst fremd geworden ist. Manager sind angeheuerte Mietkräfte, die im System ihren persönlichen Vorteil suchen oder es gibt Anteilseigner, die wie kleine Monarchen ihrem Absolutismus zu frönen scheinen.
  4. Und so weiter, und so weiter…

ZEITLICHKEIT

  1. Die übergreifende Wahrheit ist, dass alle diese Gebilde Zeit behaftet sind: mit der Sterblichkeit ihrer Leitfiguren, mit der Veränderung der Gesellschaft und Technik und der Welt drum herum verändern sich Systeme und ihre Kontexte unaufhaltsam. Die Versuchung der totalen Kontrolle durch kleine Machtzirkel ist immer gegeben und ist immer auf Scheitern programmiert, ein Scheitern, dass vieles zerstört, viele in den Tod reist, … Jahrzehnte spielen keine Rolle; Jahrhunderte sind das minimale Zeitmaß für grundlegende Ideen und Änderungen. Die Geschichte ist hier ein unerbittliches Protokoll der Wahrheiten (was solche kurzfristigen Machtinszenierungen gerne verschweigen und fälschen).

WAHRE VISIONEN

  1. Parallel gab es immer auch die Vision einer Menschheit die lernt, die es schafft, gemeinsam Egoismus und Wahnsinn zu verhindern, Humanität allgegenwärtig zu machen, eine Vision der Zukunft zu entwickeln, in der alle vorkommen.
  2. Die historische Realität erzählt uns aber, dass bislang alle Visionen zu schwach waren. Reich – Arm, Gebildet – Ungebildet, Mächtig – machtlos sind Koordinaten eines Raumes, in dem die Wirklichkeit bis heute ungleich verteilt ist.
  3. Wahr ist aber auch, dass der Prozess des Lebens auf der Erde, wie immer er laufen wird, nur dann eine Richtung in eine gemeinsame, nachhaltige, friedliche Zukunft für alle nehmen kann, wenn es genügend Menschen gibt, die über eine Vision, über den Ansatz eines Bildes von solch einer gemeinsamen lebensfähigen Zukunft besitzen, die ihr Handeln gemeinsam leitet, eine Vision die ‚wahr‘ ist im Sinne, dass sie eine Welt beschreibt und schafft, die tatsächlich für alle das gibt, was sie suchen und brauchen.

GENEINSAME LERNPROZESSE

  1. Die Geschichte Europas vom antiken Griechenland bis in die Gegenwart ist ein Beispiel, an dem man studieren kann, wie eine ganze Epoche (das lateinische Mittelalter) durch ein gemeinsames Nachbuchstabieren vorausgehender Gedanken zu sich selbst und dann zu etwas ganz Neuem gefunden hat. In der Gegenwart kann man das Gefühl haben, dass das Neue wieder zu zerfallen droht, weil man immer mehr nur auf einzelne Teile schaut und nicht auf das Ganze.
  2. Ein Beispiel ist das wundersame Werk Wikipedia: eine solche Enzyklopädie (bei allen realen Schwächen) gab es noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Aber diese Enzyklopädie liefert nur unverbundene Einzelteile. Wo sind die Modelle, die die Zusammenhänge sichtbar machen? Wo sind die gemeinsam geteilten Modelle, die alle nachvollziehen können? Welche transparenten Mechanismen der Bewertung bräuchte man?
  3. Die Physiker, Chemiker, Biologen liefern ansatzweise Modelle für Teilbereiche. Das ist gut. Aber es sind nur sehr partielle Modelle und solche, die nur die Forscher selbst verstehen. Der Rest der Welt versteht nichts, ist außen vor, und trotz hochentwickelten Teilmodellen blühen Aberglauben, vereinfachende religiöse Überzeugungen, Esoterik und Ähnliches in einem Ausmaß, was (erschreckend) staunen lässt. … Und die Politik schafft wichtige Wissenschaften sogar wieder ab, weil die Politiker gar nicht verstehen, was die Forscher da machen (im Bereich Cyber- und Drohnenkrieg leider genau umgekehrt…).
  4. Die geistige Welt scheint also zu zerfallen, weil wir immer höhere Datengebirge erzeugen, und immer weniger interpretierende Modelle, die alle verstehen. (BigData liefert ‚Oberflächenmodelle‘ unter Voraussetzung, dessen, was ist, aber geht nicht tiefer, erklärt nichts, und vor allem, ist blind, wenn die Daten schon Schrott sind).
  5. Die Frage ist also, wie kann eine ganze Epoche aus der Zersplitterung in alte, schlechte, unverständliche Modelle der Welt zu etwas mehr gemeinsamer nachhaltiger Modellbildung kommen?

DAS GUTE UND WAHRE SIND EIN SELBSTZWECK

  1. Der einzige Grund für das ‚Gute‘ und ‚Wahre‘ ist das ‚Gute‘ und ‚Wahre‘ selbst. Die Alternativen erkennt man an ihren zerstörerischen Wirkungen (allerdings nicht immer sofort; Jahrzehnte sind die Sekunden von Kulturgeschichte, Generationen ihre Minuten, Jahrhunderte ihre Stunden ….).
  2. Der je größere Zusammenhang ist bei empirischer Betrachtung objektiv gegeben. Wieweit sind wir aber in der Lage, diese übergreifenden objektiven Zusammenhänge subjektiv zu fassen, so zu verinnerlichen, dass wir damit ‚im Einklang mit allem‘ positiv leben können?
  3. Die Geschichte sagt ganz klar, dass es nur gemeinsam geht. Wie wird aus vielen einzelnen eine geistige (rational begründete) und emotionale Gemeinschaft, die heute das tut, was auch morgen Sinn macht?
  4. Man kann ja mal die Frage stellen, warum (um einen winzigen Aspekt zu nennen), Schulen und Hochschulen es nicht als eine ihrer Hauptaufgaben ansehen, die Wikipedia der Fakten (Wikipedia Level 0) mit zu pflegen, um gleichzeitig damit zu beginnen, eine Wikipedia der Modelle (Wikipedia Level 1) aufzubauen?
  5. Philosophische Überlegungen, die ernsthaft anlässlich der realen Welt über diese reale Welt und ihre impliziten kognitiven Räume nachdenken wollen, könnten dann Level 0 + 1 als natürliche Referenzpunkte benutzen, um die kritische Reflexion über das Weltwissen weiter voran zu treiben.
  6. Ja gewiss, dies alles ist nur ein Fragment. Aber als einzelne sind wir alle fragmentiert. Leben ist die Kunst der Überwindung der Fragmente in höheren, lebensfähigen Einheiten ….

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