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Offenbarung – Der blinde Fleck der Menschheit

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Als Nachhall zur Diskussion des Artikels von Fink hier ein paar Überlegungen, dass der durch die Religionen vereinnahmte Begriff der ‚Offenbarung‘ ein Grundbegriff ist, der wesentlich zum Menschen generell gehört, bevor irgendeine Religion darauf einen Anspruch anmelden kann.

I. KONTEXT

Diesen Beitrag könnte man unter ‚Nachwehen‘ einordnen, Nachwehen zu dem letzten Beitrag. In diesem Beitrag hatte ich versucht, deutlich zu machen, dass die üblichen Vorgehensweisen, in die neuen Erkenntnisse zur Entstehung, Struktur und Dynamik des physikalischen Universums, den Glauben an ein sehr bestimmtes, klassisches Gottesbild zu ‚interpolieren‘, heute nicht mehr überzeugen können, ja, abgelehnt werden müssen als eher wegführend vom wahren Sachverhalt.

Zu dieser kritisch-ablehnenden Sicht tragen viele Argumente bei (siehe einige in dem genannten Artikel). Besonders erwähnen möchte ich hier nochmals das Buch ‚Mysticism and Philosophy‘ von Stace (1960) [ siehe Teil 3 einer Besprechung dieses Buches ]. Stace konzentriert sich bei seinen Analysen an der Struktur der menschlichen Erfahrung, wie sie über Jahrtausende in vielen Kulturen dieser Welt berichtet wird. Während diese Analysen darauf hindeuten, dass der Kern der menschlichen Erfahrungen eher gleich erscheint, erklärt sich die Vielfalt aus der Tatsache, dass — nach Stace — jede Erfahrung unausweichlich Elemente einer ‚Interpretation‘ umfasst, die aus den bisherigen Erfahrungen stammen. Selbst wenn Menschen das Gleiche erleben würden, je nach Zeit, Kultur, Sprache können sie das Gleiche unterschiedlich einordnen und benennen, so dass es über den Prozess des Erkennens etwas ‚anderes‘ wird; es erscheint nicht mehr gleich!

In einem sehr kenntnisreichen Artikel The Myth of the Framework von Karl Popper, veröffentlicht im Jahr 1994 als Kapitel 2 des Buches The Myth of the Framework: In Defence of Science and Rationality [Anmerkung: Der Herausgeber M.A.Notturno weist im Epilog zum Buch darauf hin, dass die Beiträge zum Buch schon in den 1970iger Jahren vorlagen!] hatte sich Popper mit diesem Phänomen auch auseinandergesetzt, allerdings nicht von der ‚Entstehung‘ her (wie kommt es zu diesen Weltbildern), sondern vom ‚Ergebnis‘ her, sie sind jetzt da, sie sind verschieden, was machen wir damit? [Siehe eine Diskussion des Artikels von Popper als Teil des Beitrags].

Angeregt von diesen Fragen und vielen weiteren Ideen aus den vorausgehenden Einträgen in diesem Blog ergeben sich die folgenden Notizen.

II. DER ‚BIG BANG‘ HÖRT NIE AUF …

Die Geschichte beginnt im Alltag. Wenn man in die Gegenwart seines Alltags eingetaucht ist, eingelullt wird von einem Strom von scheinbar selbstverständlichen Ereignissen, dann kann man leicht vergessen, dass die Physik uns darüber belehren kann, dass dieser unser Alltag eine Vorgeschichte hat, die viele Milliarden Jahre zurück reicht zur Entstehung unserer Erde und noch viel mehr Milliarden Jahre bis zum physikalischen Beginn unseres heute bekannten Universums. Obgleich dieses gewaltige Ereignis mitsamt seinen gigantischen Nachwirkungen mehr als 13 Milliarden Jahre zurück liegt und damit — auf einer Zeitachse — längst vorbei ist, passé, gone, … haben wir Menschen erst seit ca.50 – 60 Jahren begonnen, zu begreifen, dass das Universum in einer Art ‚Urknall‘ ins physikalische Dasein getreten ist. Was immer also vor mehr als 13 Milliarden Jahren geschehen ist, wir selbst, wir Menschen als Exemplare der Lebensform homo sapiens, haben erst vor wenigen Jahrzehnten ‚gelernt‘, dass unsere aktuelle Gegenwart bis zu solch einem Ereignis zurück reicht. Das reale physikalische Ereignis ‚Big Bang‘ fand also erst viele Milliarden Jahre später in den Gehirnen und damit im Bewusstsein von uns Menschen (zunächst nur wenige Menschen von vielen Milliarden) statt. Erst im schrittweisen Erkennen durch die vielen tausend Jahre menschlicher Kultur entstand im Bewusstsein von uns Menschen ein virtuelles Wissen von etwas vermutet Realem. Das reale Ereignis war vorbei, das virtuelle Erkennen lies es viel später in einem realen Erkenntnisprozess virtuell wieder entstehen. Vorher gab es dieses Ereignis für uns Menschen nicht. So gesehen war das Ereignis indirekt ‚gespeichert‘ im physikalischen Universum, bis diese Erkenntnisprozesse einsetzten. Welch gigantische Verzögerung!

III. OFFENBARUNG

Der Begriff ‚Offenbarung‘ ist durch seine Verwendung in der zurückliegenden Geschichte sehr belastet. Vor allem die großen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam haben durch ihre Verwendung des Begriffs ‚Offenbarung‘ den Eindruck erweckt, dass Offenbarung etwas sehr Besonderes sei, die Eröffnung von einem Wissen, das wir Menschen nicht aus uns selbst gewinnen können, sondern nur direkt von einem etwas, das mit der Wortmarke ‚Gott‘ [die in jeder Sprache anders lautet] gemeint sei. Nur weil sich dieses etwas ‚Gott‘ bestimmten, konkreten Menschen direkt zugewandt habe, konnten diese ein spezielles Wissen erlangen, das diese dann wiederum ‚wortwörtlich‘ in Texten festgehalten haben, die seitdem als ‚heilige‘ Texte gelten.

Im Fall der sogenannten heiligen Schriften des Judentums und des Christentums hat intensive wissenschaftliche Forschung seit mehr als 100 Jahren gezeigt, dass dies natürlich nicht so einfach ist. Die Schriften sind alle zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, bisweilen Jahrhunderte auseinander, wurden mehrfach überarbeitet, und was auch immer ein bestimmter Mensch irgendwann einmal tatsächlich gesagt hat, das wurde eingewoben in vielfältige Interpretationen und Überarbeitungen. Im Nachhinein — von heute aus gesehen also nach 2000 und mehr Jahren — zu entscheiden, was ein bestimmter Satz in hebräischer oder griechischer Sprache geschrieben, tatsächlich meint, ist nur noch annäherungsweise möglich. Dazu kommt, dass die christliche Kirche über tausend Jahre lang nicht mit den Originaltexten gearbeitet hat, sondern mit lateinischen Übersetzungen der hebräischen und griechischen Texte. Jeder, der mal Übersetzungen vorgenommen hat, weiß, was dies bedeutet. Es wundert daher auch nicht, dass die letzten 2000 Jahre sehr unterschiedliche Interpretationen des christlichen Glaubens hervorgebracht haben.

Im Fall der islamischen Texte ist die Lage bis heute schwierig, da die bisher gefundenen alten Manuskripte offiziell nicht wissenschaftlich untersucht werden dürfen [Anmerkung: Siehe dazu das Buch von Pohlmann (2015) zur Entstehung des Korans; eine Besprechung dazu findet sich  hier: ]. Die bisherigen Forschungen deuten genau in die gleiche Richtung wie die Ergebnisse der Forschung im Fall der jüdisch-christlichen Tradition.

Die Befunde zu den Überlieferungen der sogenannten ‚heiligen‘ Schriften bilden natürlich nicht wirklich eine Überraschung. Dies liegt eben an uns selbst, an uns Menschen, an der Art und Weise, wie wir als Menschen erkennen, wie wir erkennen können. Das Beispiel der empirischen Wissenschaften, und hier die oben erwähnte Physik des Universums, zeigt, dass alles Wissen, über das wir verfügen, im Durchgang durch unseren Körper (Sinnesorgane, Körperzustände, Wechselwirkung des Körpers mit der umgebenden Welt, dann Verarbeitung Gehirn, dann Teile davon im Bewusstsein) zu virtuellen Strukturen in unserem Gehirn werden, die partiell bewusst sind, und die uns Teile der unterstellten realen Welt genau so zeigen, wie sie im bewussten Gehirn gedacht werden, und zwar nur so. Die Tatsache, dass es drei große Offenbarungsreligionen gibt, die sich alle auf das gleiche Etwas ‚Gott‘ berufen, diesem Gott dann aber ganz unterschiedliche Aussagen in den Mund legen [Anmerkung: seit wann schreiben Menschen vor, was Gott sagen soll?], widerspricht entweder dem Glauben an den einen Gott, der direkt spricht, oder diese Vielfalt hat schlicht damit zu tun, dass man übersieht, dass jeder Mensch ‚Gefangener seines Erkenntnisprozesses‘ ist, der nun einmal ist, wie er ist, und der nur ein Erkennen von X möglich macht im Lichte der bislang bekannten Erfahrungen/ Erkenntnisse Y. Wenn jüdische Menschen im Jahr -800 ein X erfahren mit Wissen Y1, christliche Menschen in der Zeit +100 mit Wissen Y2 und muslimische Menschen um +700 mit Wissen Y3, dann ist das Ausgangswissen jeweils völlig verschieden; was immer sie an X erfahren, es ist ein Y1(X), ein Y2(X) und ein Y3(X). Dazu die ganz anderen Sprachen. Akzeptiert man die historische Vielfalt, dann könnte man — bei gutem Willen aller Beteiligten — möglicherweise entdecken, dass man irgendwie das ‚Gleiche X‘ meint; vielleicht. Solange man die Vielfalt aber jeweils isoliert und verabsolutiert, so lange entstehen Bilder, die mit Blick auf den realen Menschen und seine Geschichte im realen Universum kaum bis gar nicht zu verstehen sind.

Schaut man sich den Menschen und sein Erkennen an, dann geschieht im menschlichen Erkennen, bei jedem Menschen, in jedem Augenblick fundamental ‚Offenbarung‘.

Das menschliche Erkennen hat die Besonderheit, dass es sich bis zu einem gewissen Grad aus der Gefangenschaft der Gegenwart befreien kann. Dies gründet in der Fähigkeit, die aktuelle Gegenwart in begrenzter Weise erinnern zu können, das Jetzt und das Vorher zu vergleichen, von Konkretem zu abstrahieren, Beziehungen in das Erkannte ‚hinein zu denken‘ (!), die als solche nicht direkt als Objekte vorkommen, und vieles mehr. Nur durch dieses Denken werden Beziehungen, Strukturen, Dynamiken sichtbar (im virtuellen Denken!), die sich so in der konkreten Gegenwart nicht zeigen; in der Gegenwart ist dies alles unsichtbar.

In dieser grundlegenden Fähigkeit zu erkennen erlebt der Mensch kontinuierlich etwas Anderes, das er weder selbst geschaffen hat noch zu Beginn versteht. Er selbst mit seinem Körper, seinem Erkennen, gehört genauso dazu: wir wurden geboren, ohne dass wir es wollten; wir erleben uns in Körpern, die wir so nicht gemacht haben. Alles, was wir auf diese Weise erleben ist ’neu‘, kommt von ‚außen auf uns zu‘, können wir ‚aus uns selbst heraus‘ nicht ansatzweise denken. Wenn irgendetwas den Namen ‚Offenbarung‘ verdient, dann dieser fundamentale Prozess des Sichtbarwerdens von Etwas (zu dem wir selbst gehören), das wir vollständig nicht gemacht haben, das uns zu Beginn vollständig unbekannt ist.

Die Geschichte des menschlichen Erkennens zeigt, dass die Menschen erst nur sehr langsam, aber dann immer schneller immer mehr von der umgebenden Welt und dann auch seit kurzem über sich selbst erkennen. Nach mehr als 13 Milliarden Jahren erkennen zu können, dass tatsächlich vor mehr als 13 Milliarden Jahren etwas stattgefunden hat, das ist keine Trivialität, das ist beeindruckend. Genauso ist es beeindruckend, dass unsere Gehirne mit dem Bewusstsein überhaupt in der Lage sind, virtuelle Modelle im Kopf zu generieren, die Ereignisse in der umgebenden Welt beschreiben und erklären können. Bis heute hat weder die Philosophie noch haben die empirischen Wissenschaften dieses Phänomen vollständig erklären können (obgleich wir heute viel mehr über unser Erkennen wissen als noch vor 100 Jahren).

Zu den wichtigen Erkenntnissen aus der Geschichte des Erkennens gehört auch, dass das Wissen ‚kumulierend‘ ist, d.h. es gibt tiefere Einsichten, die nur möglich sind, wenn man zuvor andere, einfachere Einsichten gemacht hat. Bei der Erkenntnis des großen Ganzen gibt es keine ‚Abkürzungen‘. In der Geschichte war es immer eine Versuchung, fehlendes Wissen durch vereinfachende Geschichten (Mythen) zu ersetzen. Dies macht zwar oft ein ‚gutes Gefühl‘, aber es geht an der Realität vorbei. Sowohl das kumulierende Wissen selbst wie auch die davon abhängigen alltäglichen Abläufe, die Technologien, die komplexen institutionellen Regelungen, die Bildungsprozesse usw. sie alle sind kumulierend.

Aus diesem kumulierenden Charakter von Wissen entsteht immer auch ein Problem der individuellen Verarbeitung: während dokumentiertes und technisch realisiertes Wissen als Objekt durch die Zeiten existieren kann, sind Menschen biologische Systeme, die bei Geburt nur mit einer — wenngleich sehr komplexen — Grundausstattung ihren Lebensweg beginnen. Was immer die Generationen vorher gedacht und erarbeitet haben, der jeweils neue individuelle Mensch muss schrittweise lernen, was bislang gedacht wurde, um irgendwann in der Lage zu sein, das bisher Erreichte überhaupt verstehen zu können. Menschen, die an solchen Bildungsprozessen nicht teilhaben können, sind ‚Fremde‘ in der Gegenwart; im Kopf leben sie in einer Welt, die anders ist als die umgebende reale Welt. Es sind wissensmäßig Zombies, ‚Unwissende‘ in einem Meer von geronnenem Wissen.

Sollte also das mit der Wortmarke ‚Gott‘ Gemeinte eine Realität besitzen, dann ist der Prozess der natürlichen Offenbarung, die jeden Tag, in jedem Augenblick ein wenig mehr die Erkenntnis Y über das uns vorgegebene Andere ermöglicht, die beste Voraussetzung, sich diesem Etwas ‚X = Gott‘ zu nähern. Jede Zeit hat ihr Y, mit dem sie das Ganze betrachtet. Und so sollte es uns nicht wundern, dass die Geschichte uns viele Y(X) als Deutungen des Etwas ‚X = Gott‘ anbietet.

Empirisches Wissen, Philosophisches Wissen, religiöses Wissen kreisen letztlich um ein und dieselbe Wirklichkeit; sie alle benutzen die gleichen Voraussetzungen, nämlich unsere menschlicher Existenzweise mit den vorgegebenen Erkenntnisstrukturen. Niemand hat hier einen wesentlichen Vorteil. Unterschiede ergeben sich nur dadurch, dass verschiedenen Kulturen unterschiedlich geschickt darin sind, wie sie Wissen kumulieren und wie sie dafür Sorge tragen, dass alle Menschen geeignete Bildungsprozesse durchlaufen.

IV. VEREINIGTE MENSCHHEIT

Schaut man sich an, wie die Menschen sich auch nach den beiden furchtbaren Weltkriegen und der kurzen Blüte der Idee einer Völkergemeinschaft, die Ungerechtigkeit verhindern sollte, immer wieder — und man hat den Eindruck, wieder mehr — in gegenseitige Abgrenzungen und Verteufelungen verfallen, vor grausamen lokalen Kriegen nicht zurück schrecken, die Kultur eines wirklichkeitsbewussten Wissens mutwillig schwächen oder gar zerstören, dann kann man schon mutlos werden oder gar verzweifeln.

Andererseits, schaut man die bisherige Geschichte des Universums an, die Geschichte des Lebens auf der Erde, die Geschichte des homo sapiens, die letzten 10.000 Jahre, dann kommt man nicht umhin, festzustellen, dass es eine dynamische Bewegung hin zu mehr Erkenntnis und mehr Komplexität gegeben hat und noch immer gibt. Und wenn man sieht, wie wir alle gleich gestrickt und auf intensive Kooperation angewiesen sind — und vermutlich immer mehr –, dann erscheinen die Menschen eher wie eine Schicksalsgemeinschaft, wie ‚earth children‘, wie eine ‚Gemeinschaft von Heiligen kraft Geburt‘!

Das Wort ‚Heilige‘ mag alle irritieren, die mit Religion nichts verbinden, aber die ‚Heiligen‘ sind in den Religionen alle jene Menschen, die sich der Wahrheit des Ganzen stellen und die versuchen, aus dieser Wahrheit heraus — ohne Kompromisse — zu leben. Die Wahrheit des Ganzen ist für uns Menschen primär diese Grundsituation, dass wir alle mit unseren Körpern, mit unserem Erkennen, Teil eines Offenbarungsprozesses sind, der für alle gleich ist, der alle betrifft, und aus dem wir nicht aussteigen können. Wir sind aufeinander angewiesen. Anstatt uns gegenseitig zu bekriegen und abzuschlachten, also die ‚Bösen‘ zu spielen, wäre es näherliegender und konstruktiver, uns als ‚Heilige‘ zu verhalten, die bereit sind zum Erkennen, die bereit sind aus der Erkenntnis heraus zu handeln. Das alles ist — wie wir wissen können — nicht ganz einfach, aber es hat ja auch niemand gesagt, dass es einfach sei. Das Leben auf der Erde gleicht eher einem Expeditionschor, das im Universum an einer bestimmten Stelle gelandet ist, und jetzt den Weg zum Ziel finden muss. Wir brauchen keine TV-Reality-Shows, wir selbst sind die radikalste Reality-Show, die man sich denken kann. Und sie tritt gerade in eine sehr heiße Phase ein [Anmerkung: … nicht nur wegen des Klimas 🙂 ].

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Buch: Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab? – Kapitel 2 (neu)

Der folgende Text ist der Vorabdruck des Kapitel 2 aus dem Buch Die andere Superintelligenz. Oder: schaffen wir uns selbst ab?.

Neue Version von Kap.2 vom 21.Juli 2015

Monster und Engel

Es ist noch nicht so lange her, da folgten Menschenmassen wie Marionetten den Parolen faschistischer und nationalistischer Führer. Sie bekamen Arbeit, bescheidenen Wohlstand, Ordnung und viele Belobigungen für ihr Selbstwertgefühl. Dafür waren sie willig, gehorchten den Befehlen aus dem Radio, den Wochenschauen und den lokalen Repräsentanten. Dem voraus gingen Könige und Kaiser, für die Ehre alles und der Mensch nichts war.

Tötungsorgien

Mit der Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien am 28.Juli 1914 begann der erste Weltkrieg. Im Laufe dieses Krieges standen nach Schätzungen ca. 70 Millionen Menschen unter Waffen und ca. 17 Millionen sind gefallen. Dies war bis dahin die größte Tötungsorgie in der Geschichte der Menschheit.

Konnte man denken, dass dieser Tötungswahnsinn nicht mehr zu überbieten ist, wurde man durch die Geschichte darin belehrt, dass der Mensch sehr wohl zu noch mehr Gräueltaten fähig ist.
Mit dem Überfall Japans auf China am 7.Juli 1937 begann der zweite chinesisch-japanische Krieg, der mit dem Überfall auf Pearl Harbor am 7.Dezember 1941 sich zum pazifischen Krieg ausweitete. Hitler, der China bis 1941 gegen Japan unterstützt hatte, startete dann selbst einen Krieg. Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht am 1.September 1939 auf Polen begann der zweite Weltkrieg in Europa. Der europäische, der chinesisch-japanische und der pazifische Krieg zusammen haben nach Schätzung 1 und Schätzungen 2 ca. 22 – 33 Mio. Kriegstote gefordert hat und ca. 38 – 55 Mio zivile Opfer. Das Besondere hier ist, dass es dieses Mal nicht nur die Europäer waren — genauer die Deutschen –, die diesen Tötungswahnsinn inszenierten, sondern dass im asiatisch-pazifischen Raum Japan als imperiale Macht mit dem asiatisch-japanischen Krieg demonstrierte, dass der Wahnsinn des Tötens nicht geographisch und ethnisch beschränkt ist.

Ist der Krieg als solcher schon erschreckend genug, übersteigt das systematische Töten unabhängig vom Krieg, das Grauen deutlich. Unter Hitlers Führung wurden etwa 13.1 Mio systematische Tötungen an Menschen vorgenommen, die aus religiös-ethnischen, medizinischen, politischen Gründen ausgegrenzt wurden. Von den Opfern waren ca. 45\% jüdische Mitmenschen, ca. 25\% sowjetische Kriegsgefangene und ca. 25\% nichtjüdische Zivilisten (siehe Schätzung Kriegstote). Das systematische Töten Andersdenkender war aber kein Privileg Hitlers. Vor und nach dem zweiten Weltkrieg forderten die politischen Säuberungen von Josef Stalin ca. 3 -20 Millionen Tote.

Und auch nach dem zweiten Weltkrieg ging das Opfern von Menschen im großen Stil weiter. Zwar von anderer Art, aber nicht minder grausam für die Betroffenen, war ein politisches Programm genannt der ‚Großer Sprung‘, das Mao Zedong 1958 gestartet hatte. Eine massive Umstrukturierung der Gesellschaft mit dem Ziel einer Verbesserung kalkulierte große Opfer ein. Dieses Opfer kam tatsächlich zustande durch eine schwerwiegende Hungersnot, die in China von 1959 bis 1961 ca. 36 bis 45 Mio Menschen das Leben kostete. Damit handelt es sich um die größte Hungerkatastrophe in der Geschichte der Menschheit. Das Wort ‚Demozid‘ wurde geprägt.

Ein anderer ‚Demozid‘ ereignete sich in Kambodscha, kurz nachdem die roten Khmer im April 1975 die Hauptstadt Phnom Penh erobert hatten. Unter der Leitung von Pol Pot führten die roten Khmer eine radikale Umgestaltung und Säuberung der Gesellschaft durch. Die absoluten Opferzahlen betragen — im Vergleich zur großen Hungersnot zwar ’nur‘ — ca. 2-3 Mio Menschen, was bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 8 Mio Menschen aber etwa einem Viertel der Bevölkerung entspricht, die hier auf grausamste Weise umgebracht wurde.

Die Liste von Kriegen, Verfolgungen, Folterungen, Genozids, Demozids ließe sich hier weiter fortsetzen bis in unsere Gegenwart.

Diese Ereignisse zeigen eines ganz klar: Wir Menschen sind relativ leicht im großen Stil manipulierbar; wir begehen die schlimmsten Gräueltaten, wenn andere uns dies befehlen; keine Nation scheint hier ausgenommen zu sein.

Neuentdeckung der Würde

Schon während des großen Tötens, am 1.Januar 1942, schließen sich unverhofft 26 Länder zu einer gemeinsamen Aktion gegen die kriegstreibenden Länder zusammen, was nach Beendigung des zweiten Weltkriegs am 24.Okt.1945 seine Fortsetzung in der Gründung der Vereinten Nationen (United Nations, UN) findet. Etwa drei Jahre später am 28.Dez.1948, kommt es zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Englisch, Deutsch.

Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland ereignete sich in diesem kurzen Zeitfenster eines Aufleuchtens von Bildern zu Demokratie und Menschenrechten, wie sie so historisch kaum jemals zuvor verfügbare gewesen waren und verfügbar gewesen sein konnten. Die Vorgeschichte der politischen Demokratiebewegung in Deutschland, hatte sich im politischen Durchsetzungskampf bis dahin als zu schwach erwiesen.

Vor dem Hintergrund der grausamen Tötungsorgien erscheint es wie ein Wunder, dass der Verfassungstext vom Mai 1949 mit dem Begriff der ‚Menschenwürde‘ beginnt. Gleich im Artikel 1 wird die Würde des Menschen, werden die Menschenrechte sowie nachfolgend einige Grundrechte explizit genannt. Während die ‚Menschenrechte‘ mit einem ‚darum‘ in einen logischen Zusammenhang zur Menschenwürde gestellt werden, bleibt der Zusammenhang zwischen ‚Menschenwürde‘ und ‚Menschenrechten‘ an dieser Stelle offen. Die Menschenwürde gilt als „unantastbar“ und es ist „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, „sie zu achten und zu schützen“.

Mit der Gründung der demokratischen Bundesrepublik beginnt aus der Mitte Europas heraus ein neuer Demokratisierungsprozess, der nach und nach den größten Teil West- und Mitteleuropas erfasst. Die Anfänge datieren wohl auf den 18.April 1951, dem Abschluss des dem Schuhman-Plans , und einen vorläufigen Höhepunkt findet dieser Demokratisierungsprozess in den Jahren 2004 und 2007; in diesen Jahren treten 12 neue Länder aus dem ehemaligen Ostblock als neue demokratische Mitglieder dem demokratischen Europa bei.

In all diesem Geschehen demonstriert die Geschichte, dass es in der ‚Finsternis des Daseins‘ ‚Inseln des Lichts‘ geben kann, die sich nicht aus der Finsternis selbst herleiten! Irgendetwas im Menschen befähigt ihn, nicht nur den Tod, nicht nur das Grauen, nicht nur die Menschenverachtung hervor zu bringen, sondern auch das Gegenteil: Würde, Achtung, Liebe.

Der Begriff folgt der Realität

Weder die Gründung der vereinten Nationen, noch die Verkündigung der allgemeinen Menschenrechte, noch weniger die Gründung der Bundesrepublik Deutschland waren Projekte, die sich Philosophen am grünen Tisch ausgedacht hatten. Am Anfang standen keine klaren Ideen von Menschenrechten und Demokratie, die zur Realisierung in den konkreten Ereignissen führten. Nein, es war das Grauen der realen Kriege, der unendliche Wahnsinn dieser weltweiten Tötungsorgien, die in den betroffenen und bedrohten Menschen und Nationen einen Widerstand herausforderten, einen Überlebenswillen wach riefen, dem man im Nachhinein Form und Worte verlieh, eben die Idee eines friedlichen Völkerbundes, die Idee von der absoluten Würde jedes einzelnen Menschen, die Vision einer demokratischen Gesellschaft.

Dafür Worte zu finden war kein Automatismus, und sicher beeinflusst von den demokratischen Traditionen in Frankreich, England, den USA und Deutschland. Man wird aber nirgends eindeutige und zweifelsfreie Definitionen der verwendeten Begriffe finden, niedergeschrieben in einem Lehrbuch. Es ist eher ein ‚historisches Naturereignis‘, in dem die aufwühlenden Erfahrung von Krieg und Solidarität sich neue Worte gesucht und gefunden hat. Diese Worte finden wir, die der ‚Zeit danach‘ angehören, heute vor, lesen sie, reiben uns die Augen, versuchen sie zu verstehen, und beginnen mit unseren Interpretationen.

Aufstieg des Individuums

Das Buch ‚Menschenwürde (2014)‘ von Paul Tiedemann (Paul Tiedemann,„Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014. Zur Person von Paul Tiedemann.) ist solch ein Interpretationsunternehmen, das einerseits die mögliche inhaltliche Bedeutung des Begriffs aus philosophischer Sicht erläutert, andererseits eine Einordnung in das Deutsche Rechtssystem vornimmt (Anmerkung: Eine längere Diskussion des Buches von Paul Tiefemann in 11 Beiträgen vom Autor ‚cagent‘).

Im Kapitel zwei seines Buches listet Paul Tiedemann 9 verschiedene Verwendungsweisen auf, wie unterschiedliche Gruppen mit dem Begriff ‚Menschenwürde‘ verfahren; in Kapitel drei folgen 8 weitere unterschiedliche Blickrichtungen auf das Thema. Alle diese verschiedenen Verwendungsweisen und Blickrichtungen sind kaum miteinander vereinbar.

Bedenkt man den historischen Kontext verwundert dies nicht. Es illustriert nur sehr deutlich, wie schwer sich das reflektierende Denken mit Manifestationen des Menschlichen tut und dass die Begriffe, die man benutzt, nicht das Phänomen selbst ersetzen, sondern — bestenfalls — angemessen beschreiben.

Anstatt nun die aufgelisteten Positionen im einzelnen zu analysieren greift Paul Tiedemann hier explizit auf die philosophische Reflexion zurück und versucht in Kapitel vier der Relativität der Vielfalt dadurch zu entkommen, dass er anfängt, die Wortbedeutung des Wortes ‚Menschenwürde‘ isoliert von den verschiedenen zuvor zitierten Lehrmeinungen zu analysieren. Dies wirkt etwas willkürlich, da er nicht alle historisch vorkommenden Verwendungsweisen ins Auge fasst, sondern nur eine bestimmte.

In seiner Analyse, fördert Paul Tiedemann das Subjekt als Ankerpunkt zutage, dem er eine Absolutheit zuspricht, die, anders als bei Kant, nicht unerreichbar ist, sondern hinreichend mit der Konkretheit eines menschlichen Subjekts verknüpft ist. Das Subjekt ist für ihn ein Zweck an sich, vor allen anderen Werten, darin ein absoluter Wert, und auch der einzige absolute Wert. Diese Absolutheit findet im politischen Handeln, in der Delegation der politischen Macht ihre gesellschaftliche Umsetzung, die so sein soll, dass sie den einzelnen in seiner Würde ermöglicht.

Erosion des Individuums zu Beginn des 21.Jahrhunderts

Während Kant eine Absolutheit (re-)konstruieren konnte, indem er sie von allem Kontingentem, Zufälligem, Empirischem abgekoppelt hatte, lokalisiert Paul Tiedemann die Unverfügbarkeit im Individuum, das sich seiner im freien Urteilen ‚gewiss‘ sein kann. Diese Autonomie des eigenen Entscheidens und Urteiles geht einher mit den modernen sozialwissenschaftlichen und psychologischen Erkenntnissen, dass ein junger Mensch nur über angemessene soziale Interaktionen und sprachliche Kommunikation zu jenem Umgang mit sich selbst findet, der ihn in die Lage versetzt, seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Einsichten angemessen zu identifizieren und den Einklang mit der sozialen Umwelt zu wahren. Während die Inhalte wechseln können, bleibt die grundsätzliche Fähigkeit zu Reflexion und Urteilen konstant, bildet einen ‚Raum‘, innerhalb dessen sich der einzelne als „sich selbst bestimmend“ erfahren kann und simultan auch den anderen, das Gegenüber, mitbestimmt. Dieser generellen Selbstbestimmungsmöglichkeit kommt für Tiedemann ein grundlegender Wert zu, der durch die konkreten Einschränkungen nicht aufgehoben wird. In all diesen Prozessen vollzieht sich der Aufbau einer individuellen Identität (‚Ich‘). Tiedemann benutzt zur Kennzeichnung dieses Ansatzes die Bezeichnung ‚Identitätstheorie der Menschenwürde‘ (vgl. Tiedemann (2014), S.101f).

Die Idee, den Ankerpunkt der Autonomie in der unterstellten Fähigkeit zum eigenen Urteilen zu suchen, hat etwas Bestechendes, zugleich bietet sie einen Angriffspunkt für vielerlei Infragestellungen:

  1. Wie Tiedemann selbst ausführt, ist die inhaltliche Füllung des autonomen Urteilens abhängig von den Interaktionen mit der Umwelt und zahlreichen Rahmenbedingungen. Sollte auf einen Menschen Zwang ausgeübt werden, Gewalt, dann kann er in seinem individuellen Urteilen so stark beeinflusst werden, dass sein Urteilen nicht mehr wirklich autonom ist. Aber auch wenn dem Menschen kein Vertrauen geschenkt wird, ihm wichtiges Wissen vorenthalten oder falsches Wissen aufgezwungen wird, auch dann kann sein autonomes Urteilen ihm nicht wirklich helfen. Ferner, wird ihm keine hinreichende Privatsphäre zugestanden, wird er seine spezifischen Bedürfnisse und Fähigkeiten nicht hinreichend ausleben können (Siehe zu diesen Beispielen ausführlich das Kap.7 von Tiedemann (2014)). Und wir müssen feststellen, dass es in fast jedem Land der Erde — z.T. sehr große — Menschengruppen gibt, auf die die genannten Einschränkungen zutreffen.
  2. Wie im Kapitel 1 angedeutet, bewirkt der technologische Wandel durch die verstärkte Einführung des Digitalen in nahezu allen Bereichen eine zunehmende Abbildung von zuvor privaten, persönlichen Dingen und Handlungen in den Raum des Digitalen, wodurch Privatheit real verlorengeht. Dazu kommt das wachsende Problem der Qualität des Wissens: was ist noch ‚wahr‘, was ist ‚gefaked‘? Im Digitalen ist man auf neue Weise Beleidigungen ausgesetzt, Verleumdungen, dem Stehlen von Eigentum, der Manipulation, Ausbeutung, richtigem Terror. Die Autonomie alleine hilft hier nicht.
  3. Für die Gültigkeit seiner Überlegungen verweist Paul Tiedemann auch auf die allgemeinen Gesetze der Logik. Dieser Verweis geht ins Leere, da es die Logik, die unterstellt wird, in dieser Form bis heute nicht gibt, zumindest nicht als ausgearbeitete Theorie.
  4. Am Horizont der Vision, ansatzweise auch in der Realität, erscheint eine künstliche Intelligenz, die ebenfalls den Anspruch erhebt, autonom entscheiden zu können. War es das dann mit der Würde des Menschen? Besteht die Würde des Menschen ’nur‘ in dieser Fähigkeit des autonomen Urteilens im Raume vorfindlicher Gegebenheiten?

Das ‚Monster des Tötens‘ und der ‚Engel der Menschenwürde‘ wohnen im Menschen unmittelbar nebeneinander. Die Abhängigkeit des einzelnen von seiner Umgebung ist stark und damit das Einfallstor sowohl für menschenverachtende Propaganda wie auch für lebensbejahende Werte. Wer wird in der Zukunft gewinnen: das Monster oder der Engel? Was ist für ein Leben in der Zukunft wichtiger? Was ist ‚wahrer‘?

Fortsezung mit Teil 3 (neu).