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Über die Welt reden

Dieser Text ist Teil des Textes „Neustart der Menschlichkeit (Rebooting humanity)“

(Die Englische Version findet sich HIER)

Autor Nr. 1 (Gerd Doeben-Henisch)

Kontakt: cagent@cognitiveagent.org

(Start: 5.Juni 2024, Letzte Änderung: 7.Juni 2024)

Ausgangspunkt

Es soll also ein ‚Text‘ geschrieben werden, der über die Welt spricht, einschließlich aller Lebewesen, und die Autoren sind im ersten Anlauf ‚Menschen‘. Bisher kennen wir keine Fälle, in denen Tiere oder Pflanzen selbst Texte schreiben: ihre Sicht des Lebens. Wir kennen nur Menschen die aus ‚ihrer menschlichen Sicht‘ über das Leben, über Tiere und Pflanzen schreiben. An dieser Vorgehensweise kann man viel kritisieren. Bei einem weiteren Nachdenken kann man dann vielleicht sogar feststellen, dass auch das ‚Schreiben von Menschen über andere Menschen und sich selbst‘ nicht ganz so trivial ist. Schon das Schreiben von Menschen ‚über sich selbst‘ ist fehleranfällig, kann völlig ‚daneben‘ laufen, kann vollständig ‚falsch‘ sein, was allerdings die Frager aufwirft, was denn ‚wahr‘ bzw. ‚falsch‘ ist. Man sollte also ein paar Gedanken darauf verwenden, wie wir Menschen so über die Welt und uns selbst reden können, dass wir gemeinsam eine Chance haben, nicht nur zu ‚fantasieren‘, sondern etwas zu erfassen, was ‚real‘ ist, was etwas von dem beschreibt, was uns als Menschen, als Lebewesen, als Bewohner dieses Planeten ‚real‘ auszeichnet. … aber dann poppt schon wieder die Frage auf, was denn ‚real‘ ist? Drehen wir uns im Kreis von Fragen mit Antworten, wo die Antworten selbst schon wieder Fragen sind, bei näherem Hinschauen?

Erste Schritte

Leben auf Planet Erde

Beim Start des Schreibens gehen wir davon aus, dass es den ‚Planet Erde‘ gibt und auf diesem Planeten gibt es etwas, das wir ‚Leben‘ nennen, und wir Menschen — zur Lebensform des Homo sapiens gehörend — sind Teil davon.

Sprache

Wir gehen auch davon aus, dass wir Menschen über die Fähigkeit verfügen, mittels Lauten miteinander zu kommunizieren. Diese Laute, die wir für die Kommunikation benutzen, nennen wir hier ‚Sprachlaute‘, um anzudeuten, dass die Gesamtheit der Laute für die Kommunikation ein ‚System‘ bilden, das wir letztlich ‚Sprache‘ nennen.

Bedeutung

Da wir Menschen auf diesem Planeten in der gleichen Situation für die ‚gleichen Objekte‘ ganz unterschiedliche Laute benutzen können, deutet sich an, dass die ‚Bedeutung‘ von Sprachlauten nicht fest an die Sprachlaute geknüpft ist, sondern irgendwie etwas mit dem zu tun hat, was ‚in unserem Kopf‘ stattfindet. Leider können wir nicht ‚in unseren Kopf‘ hineinschauen. Da scheint viel zu passieren, aber dieses Geschehen im Kopf ist ‚unsichtbar‘.[1] Trotzdem erleben wir im ‚Alltag‘, dass wir uns mit anderen ‚einigen‘ können, ob es gerade ‚regnet‘ oder ob es irgendwie ’stinkt‘ oder da auf dem Gehweg eine Mülltonne steht, die den Weg versperrt oder …. Also irgendwie scheint das ‚Geschehen im Kopf‘ bei unterschiedlichen Menschen gewisse ‚Übereinstimmungen‘ aufzuweisen, so dass nicht nur ich etwas Bestimmtes sehe, sondern der andere auch, und wir können sogar die gleichen Sprachlaute dafür benutzen. Und da ein Programm wie chatGPT meine Deutschen Sprachlaute z.B. in Englische Sprachlaute übersetzen kann, kann ich feststellen, dass ein anderer Mensch, der kein Deutsch spricht, statt meines Wortes ‚Mülltonne‘ z.B. das Wort ‚trash bin‘ benutzt und dann auch zustimmend nickt: ‚Yes, there is a trash bin‘. Wäre das ein Fall für eine ‚wahre Aussage‘?

Veränderungen und Erinnerungen

Da wir täglich erleben, wie der Alltag sich ständig ‚verändert‘, wissen wir, dass etwas, was gerade mal Zustimmung fand, im nächsten Moment keine Zustimmung mehr findet, weil die Mülltonne nicht mehr da steht. Diese Änderungen können wir aber nur bemerken, weil wir etwas haben, was wir ‚Erinnerung‘ nennen: wir können uns daran erinnern, dass eben an einer bestimmte Stelle eine Mülltonne stand, jetzt aber nicht mehr. Oder ist diese Erinnerung nur eine Einbildung? Kann ich meiner Erinnerung trauen? Wenn jetzt alle anderen sagen, da war doch keine Mülltonne, ich mich aber meine zu erinnern, was heißt dies?

Konkreter Körper

Ja, und dann mein Körper: immer wieder muss ich was trinken, etwas essen, bin nicht beliebig schnell, brauche etwas Platz, …. mein Körper ist etwas sehr Konkretes, mit allerlei ‚Empfindungen‘, ‚Bedürfnissen‘, einer bestimmten ‚Form‘, …. der sich im Laufe der Zeit sogar ändert: er wächst, er altert, er kann krank werden, …. ist er wie eine ‚Maschine‘?

Galaxien von Zellen

Wir wissen heute, dass unser menschlicher Körper weniger einer ‚Maschine‘ gleicht als vielmehr einer ‚Galaxie von Zellen‘. Unser Körper hat etwa 37 Billionen (10¹2) Körperzellen mit weiteren 100 Billionen Zellen im Darm, die für unser Verdauungssystem lebenswichtig sind, und diese Zellen zusammen bilden das ‚System Körper‘.[2] Das bislang eigentlich Unfassbare ist, dass diese ca. 140 Billionen Zellen ja jeweils komplett autonome Lebewesen sind, mit allem, was es zum Leben braucht. Und wenn man weiß, wie schwer wir uns als Menschen tun, schon zwischen fünf Menschen auf Dauer eine Kooperation aufzubauen und aufrecht zu halten, dann kann man zumindest ansatzweise ein wenig ahnen, was es heißt, dass 140 Billionen Lebewesen es in jeder Sekunde — und über viele Jahre, ja Jahrzehnte hinweg — schaffen, miteinander so zu kommunizieren und koordiniert zu handeln, dass das Gesamtkunstwerk ‚menschlicher Körper‘ existiert und funktioniert.

Entstehung als Frage

Und da es keinen ‚Befehlshaber‘ gibt, der allen Zellen ständig sagt, was sie tun sollen, erweitert sich dieses ‚Wunder des Systems Mensch‘ weiter um die Dimension, woher das Konzept kommt, das diese ‚Super-Galaxie der Zellen‘ dazu befähigt, so zu sein, wie sie sind. Wie funktioniert dies? Wie ist es entstanden?[3]

Hinter die Phänomene schauen

Im weiteren Verlauf wird es darauf ankommen, ausgehend vom Alltag nach und nach die ‚Oberfläche der Alltagsphänomene‘ zu durchdringen, um jene Strukturen sichtbar zu machen, die ‚hinter den Phänomenen‘ am Werke sind, jene Strukturen, die alles zusammenhalten und gleichzeitig alles beständig bewegen, verändern.

Grunddimension Zeit

Dies alles impliziert das Phänomen ‚Zeit‘ als Grundkategorie aller Wirklichkeit. Ohne Zeit gibt es auch keine ‚Wahrheit‘ …

[1] Spezialisten für Gehirnforschung werden natürlich gleich ihre Hand erheben und werden sagen wollen, dass sie mittlerweile sehr wohl ‚in den Kopf schauen‘ können, aber warten wir ab, was es mit diesem ‚in den Kopf hineinschauen‘ auf sich hat.

[2] Wenn wir für die Anzahl der Sterne in unserer Heimatgalaxie der Milchstraße mit geschätzten 100 – 400 Milliarden Sterne mal annehmen, dass es 200 Milliarden sind, dann würde unser Körpersystem dem Umfang von 700 Galaxien im Format der Milchstraße entsprechen, eine Zelle für einen Stern.

[3] Verschiedene Disziplinen der Naturwissenschaften, besonders sicher die Evolutionsbiologie, haben in den letzten ca. 150 Jahren viele Aspekte dieses Mega-Wunders partiell ausgeleuchtet. Man kann über die physikalische Sicht unsres Universum staunen, aber verglichen mit den Super-Galaxien des Lebens auf dem Planet Erde erscheint das physikalische Universum geradezu ‚langweilig‘ … Keine Angst: letztlich hängt beides untereinander zusammen: das eine erklärt das andere …

Geschichten erzählen

Fragmente des Alltags – ohne Kontext

Wir reden ständig über irgend etwas: das Essen, das Wetter, der Verkehr, die Preise beim Einkaufen, Tagesnachrichten, die Politik, den Chef, die Kollegen, Sportereignisse, Musik, …. meistens sind es ‚Fragmente‘ aus dem größeren Ganzen, das wir ‚Alltag‘ nennen. Menschen in einem der vielen Krisengebiete auf diesem Planeten, speziell jene in Unwetterkatastrophen oder gar im Krieg …, leben konkret in einer ganz anderen Welt, in einer Welt von Überleben und Tod.

Diese Fragmente mitten im Leben sind konkret, betreffen uns, aber sie erzählen aus sich heraus keine Geschichte, wo sie herkommen (Bomben, Regen, Hitze,…), warum sich dies ereignet, wie sie mit anderen Fragmenten zusammen hängen. Der Regen, der herunter prasselt, ist ein einzelnes Ereignis an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Die Brücke, die gesperrt werden muss, weil sie überaltert ist, lässt aus sich heraus auch nicht erkennen, warum gerade diese Brücke, warum gerade jetzt, warum konnte man dies nicht ‚voraus sehen‘? Die Menschen, die ‚zu viel‘ sind in einem Land oder auch ‚zu wenig‘: Warum ist das so? Konnte man dies voraus sehen? Was können wir tun? Was sollten wir tun?

Der Strom der einzelnen Ereignisse trifft auf uns, mehr oder weniger wuchtig, vielleicht auch einfach als ‚Rauschen‘: wir sind so daran gewöhnt, dass wir bestimmte Ereignisse schon gar nicht mehr wahrnehmen. Aber diese Ereignisse als solche erzählen keine ‚Geschichte über sich selbst‘; sie finden einfach statt, scheinbar unwiderstehlich; manche sagen ‚Das ist Schicksal‘.

Bedürfnis nach Sinn

Auffällig ist, dass wir Menschen aber doch versuchen, dem Ganzen einen ‚Sinn‘ zu geben, eine ‚Erklärung‘ zu suchen, warum dies so ist. Und der Alltag zeigt, dass wir viel ‚Fantasie‘ haben, was mögliche ‚Zusammenhänge‘ oder ‚Ursachen‘ betrifft. Im Blick zurück in die Vergangenheit lächeln wir gerne über verschiedene Erklärungsversuche von unseren Vorfahren: solange man über die Details unseres Körpers und überhaupt über das Leben nichts wusste, war jede Geschichte möglich. [1] In unserer Zeit mit einer seit ca. 150 Jahren etablierter Wissenschaft gibt es aber immer noch viele Millionen von Menschen (möglicherweise Milliarden?), die von Wissenschaft nichts wissen und bereit sind, nahezu jede Geschichte zu glauben, nur weil ein anderer Mensch diese Geschichte überzeugend erzählt.

Befreiung vom Augenblick durch Worte

Aufgrund dieser Fähigkeit, mit der ‚Kraft der Fantasie‘ Dinge, die man erlebt, in eine ‚Geschichte‘ zu packen, die ‚mögliche Zusammenhänge‘ andeuten, durch die Ereignisse einen ‚gedanklichen Sinn‘ bekommen, kann der Mensch versuchen, sich aus der scheinbaren ‚Absolutheit des Augenblicks‘ in gewisser Weise zu ‚befreien‘: ein Ereignis, das sich in einen ‚Zusammenhang einordnen‘ lässt, verliert seine ‚Absolutheit‘. Allein schon durch diese Art von Erzählung gewinnt der erlebende Mensch ein Stück ‚Macht‘: im Erzählen eines Zusammenhangs kann er Erzähler das Erlebnis ‚zur Sache‘ machen, über die er ’nach eigenem Gutdünken‘ verfügen kann. Diese ‚Macht durch das Wort‘ kann ‚Angst‘ lindern, die ein Ereignis auslösen kann. Dies durchzieht die Geschichte der Menschheit von den Anfängen an, soweit es die archäologischen Zeugnisse hergeben.

Vielleicht ist es nicht verkehrt, den Menschen nicht als erstes als ‚Jäger und Sammler‘ oder als ‚Ackerbauer‘ oder so einzuordnen, sondern als ‚den, der Geschichten erzählt‘.

[1] Ein solches Zauberwort war in der griechischen Philosophie der Begriff ‚Atem‘ (griechisch „pneuma“). Der Atem kennzeichnete nicht nur das individuell Lebendige, sondern wurde auch verallgemeinert zum Lebensprinzip von allem, das sowohl Körper, Seele und Geist verband wie auch das ganze Universum durchwirkte. Im Lichte des heutigen Wissens könnte man diese ‚Erklärung‘ nicht mehr erzählen, aber vor ca. 2300 Jahren war diese Überzeugung unter allen Intellektuellen ein gewisser ‚intellektueller Standard‘, das herrschende ‚Weltbild‘; man ‚glaubte‘ es. Wer etwas anderes befand sich außerhalb dieses ‚Sprachspiels‘.

Organisation einer Ordnung

Denken erschafft Beziehungen

Sobald man mittels ‚Sprache‘ einzelne Ereignisse, Sachen, Vorgänge, Eigenschaften von Sachen und mehr ‚benennen‘ kann, verfügen Menschen offensichtlich über die Fähigkeit, mittels Sprache eben nicht nur zu ‚benennen‘, sondern ‚Benanntes‘ durch ‚Anordnung von Worten im sprachlichen Ausdruck‘ in ‚gedachte Beziehungen‘ einzubetten, wodurch das einzeln Benannte nicht mehr ‚isoliert‘ vorkommt sondern ‚gedanklich verbunden‘ mit anderem. Diese grundlegende Fähigkeit eines Menschen, ‚in seinem Kopf‘ ‚Beziehungen zu denken‘, die man ‚gar nicht sehen‘, wohl aber ‚denken‘ kann [1], ist natürlich nicht auf einzelne Ereignisse und nicht auf eine einzige Beziehung beschränkt. Letztlich können wir Menschen ‚alles‘ zum Thema machen und wir können ‚jedmögliche Beziehung‘ in unserm Kopf ‚denken‘; hier gibt es keine grundsätzliche Beschränkung.

Geschichten als Naturgewalt

Nicht nur die Geschichte ist voll von Beispielen, auch unsere Gegenwart. Dass heute trotz der unfassbaren Erfolge der modernen Wissenschaft in unserem Alltag weltweit nahezu über alle Kanäle die wildesten Geschichten mit ‚rein gedachten Beziehungen‘ erzählt und auch sofort geglaubt werden, das sollte uns zu denken geben. Unsere grundlegende Eigenschaft, dass wir Geschichten erzählen können, um die Absolutheit des Augenblicks zu durchbrechen, hat offensichtlich den Charakter einer ‚Naturgewalt‘, die so tief in uns verortet ist, dass wir sie nicht ‚ausrotten‘ können; wir können sie vielleicht ‚zähmen‘, sie vielleicht ‚kultivieren‘, aber wir können sie nicht stoppen. Es ist eine ‚elementare Eigenschaft‘ unseres Denkens, sprich: unseres Gehirns im Körper.

Gedacht und Überprüft

Die Erfahrung, dass wir, die wir diejenigen sind, die Geschichten erzählen, damit Ereignisse benennen und in Beziehungen einordnen können — und zwar letztlich unbegrenzt — kann zwar real zum Chaos führen, wenn das erzählte Beziehungsgeflecht letztlich ‚rein gedacht‘ ist, ohne echten Bezug zur ‚realen Welt um uns herum‘, aber es ist zugleich auch unser größtes Kapital, da wir Menschen uns damit nicht nur grundsätzlich von der scheinbaren Absolutheit der Gegenwart befreien können, sondern wir können mit dem Erzählen von Geschichten Ausgangspunkte schaffen, ‚zunächst bloß gedachte Beziehungen‘, die wir dann aber konkret in unserem Alltag ‚überprüfen‘ können.

Ein Ordnungssystem

Wenn jemand zufällig einen anderen Menschen sieht, der irgendwie ganz anders aussieht als er es gewohnt ist, dann bilden sich in jedem Menschen automatisch alle möglichen ‚Vermutungen‘, was das da für ein Mensch ist. Belässt man es bei diesen Vermutungen, dann können diese wilden Vermutungen den ‚Kopf bevölkern‘ und die ‚Welt im Kopf‘ wird mit ‚potentiell bösen Menschen‘ bevölkert; irgendwann sind sie dann vielleicht schlicht ‚böse‘. Nimmt man aber Kontakt zu dem anderen auf, könnte man vielleicht feststellen, dass er eigentlich nett ist, interessant, lustig oder dergleichen. Die ‚Vermutungen im Kopf‘ verwandeln sich dann in ‚konkrete Erfahrungen‘, die anders sind als zunächst gedacht. ‚Vermutungen‘ in Kombination mit ‚Überprüfung‘ können so zur Bildung von ‚wirklichkeitsnahen Vorstellungen von Beziehungen‘ führen. Damit hat ein Mensch die Chance, sein ’spontanes Geflecht an gedachten Beziehungen‘, die falsch sein können — und meistens auch sind — in ein ‚überprüftes Geflecht von Beziehungen‘ zu verwandeln. Da letztlich die gedachten Beziehungen als Geflecht für uns ein ‚Ordnungssystem‘ aufspannen, in dem die Dinge des Alltags einbettet sind, erscheint es erstrebenswert, mit möglichst ‚überprüften gedachten Beziehungen‘ zu arbeiten.

[1] Der Atem des Menschen mir gegenüber, der bei den Griechen mein Gegenüber mit der Lebenskraft des Universums verbindet, die wiederum auch mit dem Geist un d der Seele zusammenhängt …

Hypothesen und Wissenschaft

Herausforderung: Methodisch geordnetes Vermuten

Die Fähigkeit zum Denken von möglichen Beziehungen, dann auch mittels Sprache, ist angeboren [1], aber die ‚Nutzung‘ dieser Fähigkeit im Alltag, z.B. so, dass wir gedachte Beziehungen mit der Wirklichkeit des Alltags abgleichen, dieses ‚Abgleichen’/ ‚Überprüfen‘ ist nicht angeboren. Wir können es tun, müssen es aber nicht tun. Es ist von daher interessant, sich zu vergegenwärtigen, dass seit dem ersten Auftreten des Homo sapiens auf diesem Planeten [2] 99,95% der Zeit vergangen sind, bis es zur Etablierung einer organisierten modernen Wissenschaft vor ca. 150 Jahren gekommen ist. Man kann dies als Hinweis deuten, dass der Übergang vom ‚freien Vermuten‘ bis zu einem ‚methodisch geordneten systematischen Vermuten‘ alles andere als einfach gewesen sein muss. Und wenn heute immer noch ein Großteil der Menschen — trotz Schule und sogar Studium –[3] eher dem ‚freien Vermuten‘ zuneigen und sich mit geordneter Überprüfung schwer tun, dann scheint es hier tatsächlich eine nicht leichte Schwelle zu geben, die ein Mensch überwinden muss — und immer wieder neu muss — , um vom ‚freien‘ zum ‚methodisch geordneten‘ Vermuten überzugehen.[4]

Ausgangspunkt für Wissenschaft

‚Der Übergang vom alltäglichen Denken zum ‚wissenschaftlichen Denken‘ ist fließend. Das Erzeugen von ‚gedachten Beziehungen‘ in Verbindung mit Sprache aufgrund auch unserer Fähigkeit der Kreativität/ der Fantasie ist letztlich auch der Ausgangspunkt von Wissenschaft. Während wir im alltäglichen Denken eher spontan und pragmatisch ’spontan gedachte Beziehungen‘ ‚überprüfen‘, versucht die ‚Wissenschaft‘ solche Überprüfungen ’systematisch‘ zu organisieren, um dann solche ‚positiv überprüften Vermutungen‘ als ‚empirisch überprüfte Vermutungen‘ bis zum Beweis des Gegenteils als ‚bedingt wahr‘ anzunehmen. Statt von ‚Vermutungen‘ spricht die Wissenschaft gerne von ‚Hypothesen‘ oder ‚Arbeitshypothesen‘, aber es bleiben ‚Vermutungen‘ durch die Kraft unsres Denkens und durch die Kraft unserer Fantasie.[5]

[1] Dies bedeutet, die genetische Information, die der Entwicklung unseres Körpers zugrunde liegt, ist so beschaffen, dass unser Körper mit seinem Gehirn während der Wachstumsphase so aufgebaut wird, dass wir genau über diese Fähigkeit zum ‚Denken von Beziehungen‘ verfügen. Interessant hier wieder die Frage, wie es möglich ist, dass sich aus einer einzigen Zelle ca. 13 Billionen Körperzellen (die ca. 100 Billionen Bakterien im Darm kommen ‚von außen‘ dazu) so entwickeln können, dass sie als ‚Gesamteindruck‘ das ‚Bild des Menschen‘ erzeugen, das wir kennen

[2] Nach heutigem Kenntnisstand vor ca. 300.000 Jahren in Ostafrika und in Nordafrika, von wo der Homo sapiens dann die gesamte Welt erwandert und erobert hat (es gab noch Reste von anderen Menschenformen, die schon länger da waren).

[3] Repräsentative empirische Studien dazu, wie viele Menschen einer Bevölkerung dazu neigen, sind mir nicht bekannt.

[4] Berücksichtigt man, dass wir Menschen als Lebensform Homo sapiens erst nach ca. 3.8 Milliarden Jahren auf diesem Planeten erschienen sind, dann machen die 300.000 Jahre Homo sapiens grob 0,008% der gesamten Zeit aus, seitdem es Leben auf dem Planeten Erde gibt. Wir sind also nicht nur als Homo sapiens ein sehr spätes ‚Produkt‘ des Lebensprozesses, sondern innerhalb unseres Homo sapiens Lebensprozesses taucht die Fähigkeit zum ’systematischen Überprüfen von Hypothesen‘ auch erst ‚ganz spät‘ auf. Aufs ganze Leben bezogen scheint daher diese Fähigkeit extrem wertvoll zu sein, was ja auch stimmt, betrachtet man die unfassbaren Erkenntnisse, die wir als Homo sapiens mit dieser Form zu denken gewinnen konnten. fragt sich nur, wie wir mit diesem Wissen umgehen. Auch diese Verhaltensweise, systematisch überprüftes Wissen dann zu nutzen, ist nicht angeboren.

[5] Die Fähigkeit der ‚Fantasie‘ ist kein Gegensatz zum ‚Wissen‘, sondern ist etwas ganz anderes. ‚Fantasie‘ ist eine Eigenschaft, die sich in dem Moment ‚zeigt‘, wo wir anfangen zu denken, vielleicht sogar schon darin, ‚dass‘ wir überhaupt denken. Da wir im Prinzip über ‚alles‘ Nachdenken können, was unsrem Denken ‚erreichbar‘ ist, ist die Fantasie ein Faktor, der hilft, ‚Auszuwählen‘, was wir denken. Fantasie ist insoweit dem Denken vor-gelagert.

Schmerz ersetzt nicht die Wahrheit …

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Email: gerd@doeben-henisch.de

Entstehungszeit: 18.Okt 2023 – 24.Okt 2023

KONTEXT

Der Terrorakt der Hamas auf israelische Bürger am 7.Oktober 2023 erschüttert die Welt. Seit Jahren erschüttern Terrorakte unsere Welt. Unter unseren Augen versucht ein Staat seit 2022 (eigentlich schon ab 2014), das ganze ukrainische Volk auf brutalste Weise auszuradieren. In vielen anderen Regionen dieser Welt findet und fand Ähnliches statt …

… Schmerz ersetzt nicht die Wahrheit [0]…

Wahrheit ist kein Automatismus. Wahrheit verfügbar zu machen erfordert erheblich mehr Anstrengung, als im Zustand partieller Wahrheit zu verweilen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch die Wahrheit kennt bzw. sich um die Wahrheit bemüht ist kleiner als das Verharren in einem Zustand der partiellen Wahrheit oder der direkten Unwahrheit.

Ob in einer Demokratie mehrheitlich die Unwahrheit vorherrscht oder eben die Wahrheit, hängt davon ab, wie eine Demokratie den Prozess der Wahrheitsfindung und der Kommunikation von Wahrheit gestaltet. Einen Automatismus zur Wahrheit gibt es nicht.

In einer Diktatur ist die Wahrscheinlichkeit für eine Verfügbarkeit von Wahrheit extrem abhängig von jenen, die die Macht zentral ausüben. Absolute Macht hat aber schon im Kern mit der Wahrheit gebrochen (was nicht ausschließt, dass diese Macht erhebliche Wirkungen entfalten kann).

Der Gang der bisherigen Geschichte des Menschen auf dem Planet Erde zeigt, dass es offensichtlich keinen einfachen schnellen Weg gibt, der alle Menschen gleichermaßen in einen glücklichen Zustand überführt. Dies muss mit dem Menschen selbst — mit uns — zu tun haben.

Das Interesse an Wahrheitsfindung, an Kultivierung von Wahrheit, an einem gemeinsamen Prozess in Wahrheit, war bislang aber niemals stark genug, um die alltäglichen Abgrenzungen, Unwahrheiten, Verfeindungen, Greueltaten … zu überwinden.

Der eigene Schmerz ist furchtbar, aber er hilft uns nicht weiter …

Wer will überhaupt eine Zukunft für uns alle?????

[0] Es gibt einen Überblicksartikel vom Autor aus dem Jahr 2018, in dem er 15 größere Texte aus dem Blog ‚Philosophie Jetzt‘ vorstellt ( „INFORMELLE KOSMOLOGIE. Teil 3a. Evolution – Wahrheit – Gesellschaft. Synopse der bisherigen Beiträge zur Wahrheit in diesem Blog“ ( https://www.cognitiveagent.org/2018/03/20/informelle-kosmologie-teil-3a-evolution-wahrheit-gesellschaft-synopse-der-bisherigen-beitraege-zur-wahrheit-in-diesem-blog/ )), in denen die Sache mit der Wahrheit aus vielen Gesichtspunkten betrachtet wird. In den 5 Jahren danach hat sich der gesellschaftliche Umgang mit der Wahrheit dramatisch weiter verschlechtert.

Hass hebt Wahrheit auf …

Wahrheit hat mit Wissen zu tun. Wissen ist bei Menschen aber den Emotionen untergeordnet. Was immer wir wissen oder wissen wollen, wenn unsere Emotionen dagegen sind, werden wir das Wissen einklammern.

Eine Form von Emotion ist der Hass. Die zerstörerische Wirkung von Hass begleitet die Geschichte der Menschheit wie ein Schatten und er hinterlässt überall eine Spur der Verwüstung: im Hassenden selbst, und in seiner Umgebung.

Das Ereignis des unmenschlichen Überfalls am 7.Oktober 2023 in Israel, von der Hamas für sich in Anspruch genommen, ist ohne Hass nicht denkbar.

Verfolgt man die Geschichte der Hamas seit ihrer Gründung 1987 [1,2], dann kann man sehen, dass der Hass schon als ein wesentliches Moment in der Gründung grundgelegt ist. Zu diesem Hass gesellt sich das Moment einer religiösen Deutung, die sich islamisch nennt, die aber eine spezielle, sehr radikalisierte und zugleich fundamentalistische Form des Islams repräsentiert.

Die Geschichte des Staates Israel ist komplex, nicht minder die Geschichte des Judentums. Und dass das heutige Judentum auch starke Anteile enthält, die eindeutig fundamentalistisch sind und denen Hass nicht fremd ist, dies führt innerhalb vieler anderer Faktoren im Kern auch zu einer Konstellation von fundamentalistischen Gegensätzen auf beiden Seiten, die aus sich heraus keine Lösungsansätze erkennen lassen. Die vielen anderen Menschen in Israel und Palästina ‚drumherum‘ sind Teil dieser ‚fundamentalistischen Kraftfelder‘, die Menschlichkeit und Wahrheit in ihrer Nähe schlicht verdunsten lassen. An der Spur des Blutes kann man diese Wirklichkeit erkennen.

Sowohl das Judentum wie auch der Islam haben wunderbare Dinge hervorgebracht, aber was bedeutet all dies angesichts eines brennenden Hasses, der alles beiseite schiebt, der nur sich selbst sieht.

[1] Jeffrey Herf, Sie machen den Hass zum Weltbild, FAZ 20.Okt. 23, S.11 (Abriss der Geschichte der Hamas und ihr Weltbild, als Teil der größeren Geschichte)

[2] Joachim Krause, Die Quellen des Arabischen Antisemitismus, FAZ, 23.10.2023,S.8 (Dieser Text ergänzt die Darstellung von Jeffrey Herf. Nach Krause wurde der arabische Antisemitismus seit den 1920iger/ 30iger Jahren über die 1928 gegründete Muslimbrüderschaft weit in die arabische Welt hineingetragen.)

Zerbrechende Gesellschaft

Wenn die Wahrheit schwindet, der Hass wächst (und damit indirekt auch das Vertrauen verdunstet), dann befindet sich eine Gesellschaft im freien Fall. Dagegen gibt es kein Mittel; Waffeneinsatz kann es nicht heilen, nur verschlimmern.

Allein die Tatsache, dass wir glauben, man könnte mangelnde Wahrheit, schwindendes Vertrauen, vor allem aber manifesten Hass nur durch Gewalt ausrotten, zeigt, wie ernst wir diese Phänomene nehmen und zugleich, wie hilflos wir uns diesen Haltungen gegenüber erleben.

In einer Welt, deren Fortbestand an die Verfügbarkeit von Wahrheit und Vertrauen geknüpft ist, ist es ein schrilles Alarmzeichen zu sehen, wie schwer wir uns als Menschen im Umgang mit fehlender Wahrheit und Hass tun.

Ist Hass unheilbar?

Wenn man sieht, wie zäh sich Hass in der Menschheit hält, wir unfassbar grausam ein Handeln sein kann, was von Hass angetrieben wird, und wie hilflos wir Menschen im Angesichts von Hass wirken, dann muss man vielleicht die Frage stellen, ob Hass letztlich nicht eine Art Krankheit ist, eine, die den Hassenden selbst und — ganz besonders — den Gehassten mit schweren Schäden, letztlich mit dem Tod bedroht?

Bei normalen Krankheiten haben wir gelernt, nach Heilmitteln zu suchen , die von der Krankheit befreien können. Wie ist es aber bei einer Krankheit Hass? Was hilft hier? Hilft hier irgendetwas? Müssen wir Menschen, die von Hass befallen sind, wie zu früheren Zeit bei Menschen mit tödlichen Krankheiten (die Pest!) , hassende Menschen ausgrenzen, wegsperren, in ein Niemandsland verschicken? … aber jeder weiß, dass dies nicht geht… Was aber geht? Was hilft gegen Hass?

Nach ca. 300.000 Jahren Homo sapiens auf diesem Planeten wirken wir seltsam hilflos im Angesicht der Krankheit Hass.

Das Schlimme ist, dass es andere Menschen gibt, die in jedem hassenden Menschen ein mögliches Werkzeug sehen, diesen Hass mit geeigneter Manipulation auf Ziele umzufunktionieren, die der Manipulator gerne geschädigt oder gar zerstört sehen will. Dadurch verschwindet der Hass nicht; im Gegenteil, er fühlt sich bestätigt und neues Unrecht schürt die Entstehung von neuem Hass … die Krankheit breitet sich weiter aus.

Eines der größten Ereignisse im gesamten bekannten Universum, die Entstehung des geheimnisvollen Lebens auf diesem Planet Erde, hat einen wunden Punkt, an dem dieses Leben so seltsam schwach und hilflos wirkt. Die Menschen haben im Lauf der bisherigen Geschichte gezeigt, dass sie zu Taten fähig sind, die viele Generationen überdauern, die vielen Menschen mehr Leben ermöglichen, die …. aber angesichts von Hass seltsam hilflos wirken … und der Hassende ist sich selbst genommen, unfähig zu allem anderen … im freien Fall in sein dunkles Inneres …

Statt Hass brauchen wir (minimal, skizzenhaft):

  • Wasser, damit Menschen leben können. Dazu eine Infrastruktur, die Wasser bereit stellt. Dazu andere Menschen, die sich um diese Infrastruktur kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Nahrung, damit Menschen leben können. Dazu eine Infrastruktur, die diese Nahrung herstellt, lagert, aufbereitet, transportiert, verteilt, und die Nahrung bereit stellt. Dazu andere Menschen, die sich um diese Infrastruktur kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • einen Wohnbereich, damit Menschen leben können. Dazu eine Infrastruktur, die diesen Wohnbereich herstellt, bereit stellt, erhält, und verteilt. Dazu andere Menschen, die sich um diese Bereitstellung kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Energie, gegen Kälte, gegen Hitze, für alltägliche Abläufe, um Leben zu können. Dazu eine Infrastruktur, die diese Energie herstellt, bereit stellt, erhält, und verteilt. Dazu andere Menschen, die sich um diese Bereitstellung kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Die Berechtigung und die Teilhabe, Wasser, Nahrung, Wohnen und Energie bekommen zu können. Dazu eine Infrastruktur an Vereinbarungen, damit dies alles möglich ist. Dazu andere Menschen, die sich um diese Vereinbarungen kümmern. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Ausbildung, um in der Lage zu sein, Aufgaben im realen Leben übernehmen und erfolgreich ausführen zu können. Dazu braucht es andere Menschen, die genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Ausbildung anbieten und durchführen zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Medizinische Versorgung, um bei vielen Verletzungen, Unfällen, Krankheiten helfen zu können. Dazu braucht es andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche medizinische Versorgung anbieten und durchführen zu können; dazu auch die notwendigen Einrichtungen und Ausrüstungen. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Kommunikationseinrichtungen, damit jeder jederzeit die hilfreichen Informationen bekommen kann, die er braucht, um sich in seiner Welt sachgemäß orientieren zu können: Wann, wer, wo, wie, was …. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Informationen anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Transporteinrichtungen, damit Menschen und Sachen an die Orte kommen können, zu denen sie hin müssen. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Infrastrukturen anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Entscheidungsstrukturen, die die vielfältigen Bedürfnisse und notwendigen Leistungen so vermitteln, dass möglichst alle all das zur Verfügung haben, was sie für ihr alltägliches Leben benötigen. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Infrastrukturen anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Ordnungskräfte, die dafür Sorge tragen, dass Störungen und Verletzungen jener Infrastrukturen, die für das alltägliche Leben notwendig sind, behoben werden, ohne dass neue Störungen entstehen. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Dienst anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • ausreichend Land, um für all diese Anforderungen genügend Raum zur Verfügung stellen können, dazu geeignete Böden (Wasser, Nahrung, Wohnen, Transport, Lagerung, Produktion, …)
  • ein geeignetes Klima
  • ein funktionierendes Ökosystem
  • eine leistungsfähige Wissenschaft, welche die Welt erkundet, um zu wissen, was geht, was nicht geht, was auf uns zukommt, …. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Dienst anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • eine geeignete Technologie, um alle die Aufgaben erfolgreich durchführen zu können, die im Alltag und für die Wissenschaft benötigt werden. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Dienst anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • ein Wissen in den Köpfen der Menschen, das dazu geeignet ist, das Geschehen im Alltag hinreichend gut verstehen zu können, so dass sie verantwortungsvoll mitdenken, sich selbständig orientieren und entscheiden zu können. Dazu braucht es eine geeignete Infrastruktur und andere Menschen, die dafür genügend Erfahrung und Wissen haben, um solche Dienst anbieten zu können. Diese anderen Menschen brauchen auch alles, was sie für ihr Leben benötigen, damit sie diese Aufgabe erfüllen können.
  • Zielvorstellungen (Präferenzen, Werte, …) in den Köpfen der Menschen, welche dazu geeignet sind, im Geschehen des Alltags hinreichend gut Entscheidungen fällen zu können. Dazu braucht es im alltäglichen Leben eine gegenseitige Hilfestellung von Allen, damit die junge Generation sich mit diesen Zielen vertraut machen und selbständig überprüfen kann, um nach und nach aus eigener Kraft diese Ziele anwenden kann.
  • hinreichend viel Zeit und Frieden, damit die bisher genannten Prozesse stattfinden und ihre Wirkung erbringen können.
  • hinreichend gute und dauerhafte Beziehungen zu anderen Bevölkerungsgruppen, die die gleichen Ziele verfolgen.
  • eine hinreichende Gemeinsamkeit zwischen all den Bevölkerungsgruppen, die auf dem Planet Erde leben und mit der Realität dieses Planeten (Erdbeben, Vulkane, Klima, verfügbares Land, …) den Bedarf für ihr Leben dort gemeinsam lösen müssen, wo sie alle betroffen sind.
  • einen dauerhaften positiv-konstruktiven Wettbewerb um jene Zielvorstellungen, die das Leben von möglichst allen Menschen auf diesem Planeten (in diesem Sonnensystem, in dieser Galaxie, ….) auch für die Zukunft möglich erscheinen lassen.
  • der Freiheit, die im Innern der erfahrbaren Welt anwesend ist, so auch in jedem Lebewesen, besonders auch im Menschen, sollte so viel Raum wie möglich gegeben werden, da es nur diese Freiheit ist, die angesichts einer sich beständig verändernden Welt falsche Vorstellungen von gestern so überwinden kann, damit wir in der Welt der Zukunft vielleicht bestehen können.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

Homo Sapiens: empirische und nachhaltig-empirische Theorien, Emotionen, und Maschinen. Eine Skizze

5.Aug 2023 – 29.Aug 2023 (10:37h)

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Email: gerd@doeben-henisch.de

(Eine Englische Version findet sich hier: https://www.uffmm.org/2023/08/24/homo-sapiens-empirical-and-sustained-empirical-theories-emotions-and-machines-a-sketch/)

Kontext

Dieser Text stellt die Skizze zu einem Vortrag dar, der im Rahmen der Konferenz „KI – Text und Geltung. Wie verändern KI-Textgeneratoren wissenschaftliche Diskurse?“ (25./26.August 2023, TU Darmstadt) gehalten werden soll. [1] Die Englische Version des überarbeiteten Vortrags findet sich schon jetzt HIER: https://www.uffmm.org/2023/10/02/collective-human-machine-intelligence-and-text-generation-a-transdisciplinary-analysis/ . Die Deutsche Version des überarbeiteten Vortrags wird im Verlag Walter de Gruyter bis Ende 2023/ Anfang 2024 erscheinen. Diese Veröffentlichung wird hier dann bekannt gegeben werden.

Sehr geehrtes Auditorium,

In dieser Tagung mit dem Titel „KI – Text und Geltung. Wie verändern KI-Textgeneratoren wissenschaftliche Diskurse?“ geht es zentral um wissenschaftliche Diskurse und den möglichen Einfluss von KI-Textgeneratoren auf diese Diskurse. Der heiße Kern bleibt aber letztlich das Phänomen Text selbst, seine Geltung.

SICHTWEISEN-TRANS-DISZIPLINÄR

In dieser Konferenz werden zu diesem Thema viele verschiedene Sichten vorgetragen, die zu diesem Thema möglich sind.

Mein Beitrag zum Thema versucht die Rolle der sogenannten KI-Textgeneratoren dadurch zu bestimmen, dass aus einer ‚transdisziplinären Sicht‘ heraus die Eigenschaften von ‚KI-Textgeneratoren‘ in eine ’strukturelle Sicht‘ eingebettet werden, mit deren Hilfe die Besonderheiten von wissenschaftlichen Diskursen herausgestellt werden kann. Daraus können sich dann ‚Kriterien für eine erweiterte Einschätzung‘ von KI-Textgeneratoren in ihrer Rolle für wissenschaftliche Diskurse ergeben.

Einen zusätzlichen Aspekt bildet die Frage nach der Struktur der ‚kollektiven Intelligenz‘ am Beispiel des Menschen, und wie sich diese mit einer ‚Künstlichen Intelligenz‘ im Kontext wissenschaftlicher Diskurse möglicherweise vereinen kann.

‚Transdisziplinär‘ bedeutet in diesem Zusammenhang eine ‚Meta-Ebene‘ aufzuspannen, von der aus es möglich sein soll, die heutige ‚Vielfalt von Textproduktionen‘ auf eine Weise zu beschreiben, die ausdrucksstark genug ist, um eine ‚KI-basierte‘ Texterzeugung von einer ‚menschlichen‘ Texterzeugung unterscheiden zu können.

MENSCHLICHE TEXTERZEUGUNG

Die Formulierung ‚wissenschaftlicher Diskurs‘ ist ein Spezialfall des allgemeineren Konzepts ‚menschliche Texterzeugung‘.

Dieser Perspektivenwechsel ist meta-theoretisch notwendig, da es auf den ersten Blick nicht der ‚Text als solcher ‚ ist, der über ‚Geltung und Nicht-Geltung‘ entscheidet, sondern die ‚Akteure‘, die ‚Texte erzeugen und verstehen‘. Und beim Auftreten von ‚verschiedenen Arten von Akteuren‘ — hier ‚Menschen‘, dort ‚Maschinen‘ — wird man nicht umhin kommen, genau jene Unterschiede — falls vorhanden — zu thematisieren, die eine gewichtige Rolle spielen bei der ‚Geltung von Texten‘.

TEXTFÄHIGE MASCHINEN

Bei der Unterscheidung in zwei verschiedenen Arten von Akteuren — hier ‚Menschen‘, dort ‚Maschinen‘ — sticht sofort eine erste ‚grundlegende Asymmetrie‘ ins Auge: sogenannte ‚KI-Textgeneratoren‘ sind Gebilde, die von Menschen ‚erfunden‘ und ‚gebaut‘ wurden, es sind ferner Menschen, die sie ‚benutzen‘, und das wesentliche Material, das von sogenannten KI-Generatoren benutzt wird, sind wiederum ‚Texte‘, die als ‚menschliches Kulturgut‘ gelten.

Im Falle von sogenannten ‚KI-Textgeneratoren‘ soll hier zunächst nur so viel festgehalten werden, dass wir es mit ‚Maschinen‘ zu tun haben, die über ‚Input‘ und ‚Output‘ verfügen, dazu über eine minimale ‚Lernfähigkeit‘, und deren Input und Output ‚textähnliche Objekte‘ verarbeiten kann.

BIOLOGISCH-NICHT-BIOLOGISCH

Auf der Meta-Ebene wird also angenommen, dass wir einerseits über solche Akteure verfügen, die minimal ‚textfähige Maschinen‘ sind — durch und durch menschliche Produkte –, und auf der anderen Seite über Akteure, die wir ‚Menschen‘ nennen. Menschen gehören als ‚Homo-Sapiens Population‘ zur Menge der ‚biologischen Systeme‘, während ‚textfähige Maschinen‘ zu den ’nicht-biologischen Systemen‘ gehören.

LEERSTELLE INTELLIGENZ-BEGRIFF

Die hier vorgenommene Transformation des Begriffs ‚KI-Textgenerator‘ in den Begriff ‚textfähige Maschine‘ soll zusätzlich verdeutlichen, dass die verbreitete Verwendung des Begriffs ‚KI‘ für ‚Künstliche Intelligenz‘ eher irreführend ist. Es gibt bislang in keiner wissenschaftlichen Disziplin einen allgemeinen, über die Einzeldisziplin hinaus anwendbaren und akzeptierten Begriff von ‚Intelligenz‘. Für die heute geradezu inflatorische Verwendung des Begriffs KI gibt es keine wirkliche Begründung außer jener, dass der Begriff so seiner Bedeutung entleert wurde, dass man ihn jederzeit und überall benutzen kann, ohne etwas Falsches zu sagen. Etwas, was keine Bedeutung besitzt, kann weder wahr‘ noch ‚falsch‘ sein.

VORAUSSETZUNGEN FÜR TEXT-GENERIERUNG

Wenn nun die Homo-Sapiens Population als originärer Akteur für ‚Text-Generierung‘ und ‚Text-Verstehen‘ identifiziert wird, soll nun zunächst untersucht werden, welches denn ‚jene besonderen Eigenschaften‘ sind, die eine Homo-Sapiens Population dazu befähigt, Texte zu generieren und zu verstehen und sie ‚im alltäglichen Lebensprozess erfolgreich anzuwenden‘.

GELTUNG

Ein Anknüpfungspunkt für die Untersuchung der besonderen Eigenschaften einer Homo-Sapiens Text-Generierung und eines Text-Verstehens ist der Begriff ‚Geltung‘, der im Tagungsthema vorkommt.

Auf dem primären Schauplatz des biologischen Lebens, in den alltäglichen Prozessen, im Alltag, hat die ‚Geltung‘ eines Textes mit ‚Zutreffen‘ zu tun. Wenn ein Text nicht von vornherein mit einem ‚fiktiven Charakter‘ geplant wird, sondern mit einem ‚Bezug zum Alltagsgeschehen‘, das jeder im Rahmen seiner ‚Weltwahrnehmung‘ ‚überprüfen‘ kann, dann hat ‚Geltung im Alltag‘ damit zu tun, dass das ‚Zutreffen eines Textes überprüft‘ werden kann. Trifft die ‚Aussage eines Textes‘ im Alltag ‚zu‘, dann sagt man auch, dass diese Aussage ‚gilt‘, man räumt ihr ‚Geltung‘ ein, man bezeichnet sie auch als ‚wahr‘. Vor diesem Hintergrund könnte man geneigt sein fortzusetzen und zu sagen: ‚Trifft‘ die Aussage eines Textes ’nicht zu‘, dann kommt ihr ‚keine Geltung‘ zu; vereinfacht zur Formulierung, dass die Aussage ’nicht wahr‘ sei bzw. schlicht ‚falsch‘.

Im ‚realen Alltag‘ ist die Welt allerdings selten ’schwarz‘ und ‚weiß‘: nicht selten kommt es vor, dass wir mit Texten konfrontiert werden, denen wir aufgrund ihrer ‚gelernten Bedeutung‘ geneigt sind ‚eine mögliche Geltung‘ zu zuschreiben, obwohl es möglicherweise gar nicht klar ist, ob es eine Situation im Alltag gibt — bzw. geben wird –, in der die Aussage des Textes tatsächlich zutrifft. In solch einem Fall wäre die Geltung dann ‚unbestimmt‘; die Aussage wäre ‚weder wahr noch falsch‘.

ASYMMETRIE: ZUTREFFEN – NICHT-ZUTREFFEN

Man kann hier eine gewisse Asymmetrie erkennen: Das ‚Zutreffen‘ einer Aussage, ihre tatsächliche Geltung, ist vergleichsweise eindeutig. Das ‚Nicht-Zutreffen‘, also eine ‚bloß mögliche‘ Geltung, ist hingegen schwierig zu entscheiden.

Wir berühren mit diesem Phänomen der ‚aktuellen Nicht-Entscheidbarkeit‘ einer Aussage sowohl das Problem der ‚Bedeutung‘ einer Aussage — wie weit ist überhaupt klar, was gemeint ist? — als auch das Problem der ‚Unabgeschlossenheit unsres Alltags‘, besser bekannt als ‚Zukunft‘: ob eine ‚aktuelle Gegenwart‘ sich als solche fortsetzt, ob genau so, oder ob ganz anders, das hängt davon ab, wie wir ‚Zukunft‘ generell verstehen und einschätzen; was die einen als ’selbstverständlich‘ für eine mögliche Zukunft annehmen, kann für die anderen schlicht ‚Unsinn‘ sein.

BEDEUTUNG

Dieses Spannungsfeld von ‚aktuell entscheidbar‘ und ‚aktuell noch nicht entscheidbar‘ verdeutlicht zusätzlich einen ‚autonomen‘ Aspekt des Phänomens Bedeutung: hat sich ein bestimmtes Wissen im Gehirn gebildet und wurde dieses als ‚Bedeutung‘ für ein ‚Sprachsystem‘ nutzbar gemacht, dann gewinnt diese ‚assoziierte‘ Bedeutung für den Geltungsbereich des Wissens eine eigene ‚Realität‘: es ist nicht die ‚Realität jenseits des Gehirns‘, sondern die ‚Realität des eigenen Denkens‘, wobei diese Realität des Denkens ‚von außen betrachtet‘ etwas ‚Virtuelles‘ hat.

Will man über diese ‚besondere Realität der Bedeutung‘ im Kontext des ‚ganzen Systems‘ sprechen, dann muss man zu weitreichenden Annahmen greifen, um auf der Meta-Ebene einen ‚begrifflichen Rahmen‘ installieren zu können, der in der Lage ist, die Struktur und die Funktion von Bedeutung hinreichend beschreiben zu können. Dafür werden minimal die folgenden Komponenten angenommen (‚Wissen‘, ‚Sprache‘ sowie ‚Bedeutungsbeziehung‘):

  1. WISSEN: Es gibt die Gesamtheit des ‚Wissens‘, das sich im Homo-Sapiens Akteur im Laufe der Zeit im Gehirn ‚aufbaut‘: sowohl aufgrund von kontinuierlichen Interaktionen des ‚Gehirns‘ mit der ‚Umgebung des Körpers‘, als auch aufgrund von Interaktionen ‚mit dem Körper selbst‘, sowie auch aufgrund der Interaktionen ‚des Gehirns mit sich selbst‘.
  2. SPRACHE: Vom Wissen zu unterscheiden ist das dynamische System der ‚potentiellen Ausdrucksmittel‘, hier vereinfachend ‚Sprache‘ genannt, die sich im Laufe der Zeit in Interaktion mit dem ‚Wissen‘ entfalten können.
  3. BEDEUTUNGSBEZIEHUNG: Schließlich gibt es die dynamische ‚Bedeutungsbeziehung‘, ein Interaktionsmechanismus, der beliebige Wissenselemente jederzeit mit beliebigen sprachlichen Ausdrucksmitteln verknüpfen kann.

Jede dieser genannten Komponenten ‚Wissen‘, ‚Sprache‘ wie auch ‚Bedeutungsbeziehung‘ ist extrem komplex; nicht weniger komplex ist auch ihr Zusammenspiel.

ZUKUNFT UND EMOTIONEN

Neben dem Phänomen Bedeutung wurde beim Phänomen des Zutreffens auch sichtbar, dass die Entscheidung des Zutreffens auch von einer ‚verfügbaren Alltagssituation‘ abhängt, in der sich eine aktuelle Entsprechung ‚konkret aufzeigen‘ lässt oder eben nicht.

Verfügen wir zusätzlich zu einer ‚denkbaren Bedeutung‘ im Kopf aktuell über keine Alltagssituation, die dieser Bedeutung im Kopf hinreichend korrespondiert, dann gibt es immer zwei Möglichkeiten: Wir können diesem gedachten Konstrukt trotz fehlendem Realitätsbezug den ‚Status einer möglichen Zukunft‘ verleihen oder nicht.

Würden wir uns dafür entscheiden, einer ‚Bedeutung im Kopf‘ den Status einer möglichen Zukunft zu zusprechen, dann stehen meistens folgende zwei Anforderungen im Raum: (i) Lässt sich im Lichte des verfügbaren Wissens hinreichend plausibel machen, dass sich die ‚gedachte mögliche Situation‘ in ‚absehbarer Zeit‘ ausgehend von der aktuellen realen Situation ‚in eine neue reale Situation transformieren lässt‘? Und (ii) Gibt es ’nachhaltige Gründe‚ warum man diese mögliche Zukunft ‚wollen und bejahen‘ sollte?

Die erste Forderung verlangt nach einer leistungsfähigen ‚Wissenschaft‘, die aufhellt, ob es überhaupt gehen kann. Die zweite Forderung geht darüber hinaus und bringt unter dem Gewand der ‚Nachhaltigkeit‘ den scheinbar ‚irrationalen‘ Aspekt der ‚Emotionalität‘ ins Spiel: es geht nicht nur einfach um ‚Wissen als solches‘, es geht auch nicht nur um ein ’sogenanntes nachhaltiges Wissen‘, das dazu beitragen soll, das Überleben des Lebens auf dem Planet Erde — und auch darüber hinaus — zu unterstützen, es geht vielmehr auch um ein ‚gut finden, etwas bejahen, und es dann auch entscheiden wollen‘. Diese letzten Aspekte werden bislang eher jenseits von ‚Rationalität‘ angesiedelt; sie werden dem diffusen Bereich der ‚Emotionen‘ zugeordnet; was seltsam ist, da ja jedwede Form von ‚üblicher Rationalität‘ genau in diesen ‚Emotionen‘ gründet.[2]

WISSENSCHAFTLICHER DISKURS UND ALLTAGSSITUATIONEN

In diesem soeben angedeuteten Kontext von ‚Rationalität‘ und ‚Emotionalität‘ ist es nicht uninteressant, dass im Tagungsthema der ‚wissenschaftliche Diskurs‘ als Referenzpunkt thematisiert wird, um den Stellenwert textfähiger Maschinen abzuklären.

Es fragt sich, inwieweit ein ‚wissenschaftlicher Diskurs‘ überhaupt als Referenzpunkt für einen erfolgreichen Text dienen kann?

Dazu kann es helfen, sich bewusst zu machen, dass das Leben auf diesem Planet Erde sich in jedem Moment in einer unfassbar großen Menge von ‚Alltagssituationen‘ abspielt, die alle gleichzeitig stattfinden. Jede ‚Alltagssituation‘ repräsentiert für die Akteure eine ‚Gegenwart‘. Und in den Köpfen der Akteure findet sich ein individuell unterschiedliches Wissen darüber, wie sich eine Gegenwart in einer möglichen Zukunft ‚verändern kann‘ bzw. verändern wird.

Dieses ‚Wissen in den Köpfen‘ der beteiligten Akteure kann man generell ‚in Texte transformieren‘, die auf unterschiedliche Weise einige der Aspekte des Alltags ’sprachlich repräsentieren‘.

Der entscheidende Punkt ist, dass es nicht ausreicht, dass jeder ‚für sich‘ alleine, ganz ‚individuell‘, einen Text erzeugt, sondern dass jeder zusammen ‚mit allen anderen‘, die auch von der Alltagssituation betroffen sind, einen ‚gemeinsamen Text‘ erzeugen muss. Eine ‚kollektive‘ Leistung ist gefragt.

Und es geht auch nicht um ‚irgendeinen‘ Text, sondern um einen solchen, der so beschaffen ist, dass er die ‚Generierung möglicher Fortsetzungen in der Zukunft‘ erlaubt, also das, was traditionell von einem ‚wissenschaftlichen Text‘ erwartet wird.

Aus der umfangreichen Diskussion — seit den Zeiten eines Aristoteles — was denn ‚wissenschaftlich‘ bedeuten soll, was eine ‚Theorie‘ ist, was eine ‚empirische Theorie‘ sein soll, skizziere ich das, was ich hier das ‚minimale Konzept einer empirischen Theorie‘ nenne.

  1. Ausgangspunkt ist eine ‚Gruppe von Menschen‘ (die ‚Autoren‘), die einen ‚gemeinsamen Text‘ erstellen wollen.
  2. Dieser Text soll die Eigenschaft besitzen, dass er ‚begründbare Voraussagen‘ für mögliche ‚zukünftige Situationen‘ erlaubt, denen sich dann in der Zukunft ‚irgendwann‘ auch eine ‚Geltung zuordnen lässt‘.
  3. Die Autoren sind in der Lage, sich auf eine ‚Ausgangssituation‘ zu einigen, die sie mittels einer ‚gemeinsamen Sprache‘ in einen ‚Ausgangstext‘ [A] transformieren.
  4. Es gilt als abgemacht, dass dieser Ausgangstext nur ’solche sprachliche Ausdrücke‘ enthalten darf, die sich ‚in der Ausgangssituation‘ als ‚wahr‘ ausweisen lassen.
  5. In einem weiteren Text stellen die Autoren eine Reihe von ‚Veränderungsregeln‘ [V] zusammen, die ‚Formen von Veränderungen‘ an einer gegebenen Situation ins Wort bringen.
  6. Auch in diesem Fall gilt es als abgemacht, dass nur ’solche Veränderungsregeln‘ aufgeschrieben werden dürfen, von denen alle Autoren wissen, dass sie sich in ‚vorausgehenden Alltagssituationen‘ als ‚wahr‘ erwiesen haben.
  7. Der Text mit den Veränderungsregeln V liegt auf einer ‚Meta-Ebene‘ verglichen mit dem Text A über die Ausgangssituation, der relativ zum Text V auf einer ‚Objekt-Ebene‘ liegt.
  8. Das ‚Zusammenspiel‘ zwischen dem Text V mit den Veränderungsregeln und dem Text A mit der Ausgangssituation wird in einem eigenen ‚Anwendungstext‘ [F] beschrieben: Hier wird beschrieben, wann und wie man eine Veränderungsregel (in V) auf einen Ausgangstext A anwenden darf und wie sich dabei der ‚Ausgangstext A‘ zu einem ‚Folgetext A*‘ verändert.
  9. Der Anwendungstext F liegt damit auf einer nächst höheren Meta-Ebene zu den beiden Texten A und V und kann bewirken, dass der Anwendungstext den Ausgangstext A verändert wird.
  1. In dem Moment, wo ein neuer Folgetext A* vorliegt, wird der Folgetext A* zum neuen Anfangstext A.
  2. Falls der neue Ausgangstext A so beschaffen ist, dass sich wieder eine Veränderungsregel aus V anwenden lässt, dann wiederholt sich die Erzeugung eines neuen Folgetextes A*.
  3. Diese ‚Wiederholbarkeit‘ der Anwendung kann zur Generierung von vielen Folgetexten <A*1, …, A*n> führen.
  4. Eine Serie von vielen Folgetexten <A*1, …, A*n> nennt man üblicherweise auch eine ‚Simulation‘.
  5. Abhängig von der Beschaffenheit des Ausgangstextes A und der Art der Veränderungsregeln in V kann es sein, dass mögliche Simulationen ‚ganz unterschiedlich verlaufen können‘. Die Menge der möglichen wissenschaftlichen Simulationen repräsentiert ‚Zukunft‘ damit also nicht als einen einzigen, bestimmten Verlauf, sondern als eine ‚beliebig große Menge möglicher Verläufe‘.
  6. Die Faktoren, von denen unterschiedliche Verläufe abhängen, sind vielfältig. Ein Faktor sind die Autoren selbst. Jeder Autor ist ja mit seiner Körperlichkeit vollständig selbst Teil genau jener empirischen Welt, die in einer wissenschaftlichen Theorie beschrieben werden soll. Und wie bekannt, kann jeder menschliche Akteur seine Meinung jederzeit ändern. Er kann buchstäblich im nächsten Moment genau das Gegenteil von dem tun, was er zuvor gedacht hat. Und damit ist die Welt schon nicht mehr die gleiche, wie zuvor in der wissenschaftlichen Beschreibung angenommen.

Schon dieses einfache Beispiel zeigt, dass die Emotionalität des ‚Gut-Findens, des Wollens, und des Entscheidens‘ der Rationalität wissenschaftlicher Theorien voraus liegt. Dies setzt sich in der sogenannten ‚Nachhaltigkeitsdiskussion‘ fort.

NACHHALTIGE EMPIRISCHE THEORIE

Mit dem soeben eingeführten ‚minimalen Konzepts einer empirischen Theorie (ET)‘ lässt sich direkt auch ein ‚minimales Konzept einer nachhaltigen empirischen Theorie (NET)‘ einführen.

Während eine empirische Theorie einen beliebig großen Raum an begründeten Simulationen aufspannen kann, die den Raum von vielen möglichen Zukünften sichtbar machen, verbleibt den Akteuren des Alltags die Frage, was sie denn von all dem als ‚ihre Zukunft‘ haben wollen? In der Gegenwart erleben wir die Situation, dass die Menschheit den Eindruck erweckt, als ob sie damit einverstanden ist, das Leben jenseits der menschlichen Population mehr und mehr nachhaltig zu zerstören mit dem erwartbaren Effekt der ‚Selbst-Zerstörung‘.

Dieser in Umrissen vorhersehbare Selbst-Zerstörungseffekt ist aber im Raum der möglichen Zukünfte nur eine Variante. Die empirische Wissenschaft kann sie umrisshaft andeuten. Diese Variante vor anderen auszuzeichnen, sie als ‚gut‘ zu akzeptieren, sie ‚zu wollen‘, sich für diese Variante zu ‚entscheiden‘, liegt in jenem bislang kaum erforschten Bereich der Emotionalität als Wurzel aller Rationalität.

Wenn sich Akteure des Alltags für eine bestimmte rational aufgehellte Variante von möglicher Zukunft entschieden haben, dann können sie jederzeit mit einem geeigneten ‚Evaluationsverfahren (EVAL)‘ auswerten, wie viel ‚Prozent (%) der Eigenschaften des Zielzustandes Z‘ bislang erreicht worden sind, vorausgesetzt, der favorisierte Zielzustand wird in einen passenden Text Z transformiert.

Anders formuliert: in dem Moment, wo wir Alltagsszenarien über geeignete Texte in einen rational greifbaren Zustand transformiert haben, nehmen die Dinge eine gewisse Klarheit an und werden dadurch — in gewisser Weise — einfach. Dass wir solche Transformationen vornehmen und auf welche Aspekte eines realen oder möglichen Zustands wir uns dann fokussieren, das ist aber als emotionale Dimension der textbasierten Rationalität vor-gelagert.[2]

MENSCH-MASCHINE

Nach diesen vorbereitenden Überlegungen stellt sich die abschließende Frage, ob und wie die Hauptfrage dieser Tagung „Wie verändern KI-Textgeneratoren wissenschaftliche Diskurse?“ in irgendeiner Weise beantwortet werden kann?

Meine bisherigen Ausführungen haben versucht aufzuzeigen, was es bedeutet, dass Menschen kollektiv Texte erzeugen, die die Kriterien für einen wissenschaftlichen Diskurs erfüllen, der zudem die Anforderungen für empirische oder gar nachhaltig-empirische Theorien erfüllt.

Dabei zeigt sich, dass sowohl bei der Generierung eines kollektiven wissenschaftlichen Textes wie auch bei seiner Anwendung im Alltag ein enger Wechselbezug sowohl mit der gemeinsamen erfahrbaren Welt wie auch mit den dynamischen Wissens- und Bedeutungskomponenten in jedem Akteur eine Rolle spielen.

Der Aspekt der ‚Geltung‘ ist Teil eines dynamischen Weltbezugs, dessen Einschätzung als ‚wahr‘ beständig im Fluss ist; während der eine Akteur vielleicht dazu tendiert zu sagen „Ja, kann stimmen“, tendiert ein anderer Akteur vielleicht gerade zum Gegenteil. Während die einen eher dazu tendieren, eine mögliche Zukunftsvariante X zu favorisieren, wollen die anderen lieber die Zukunftsvariante Y. Rationale Argumente fehlen; die Gefühle sprechen. Während eine Gruppe gerade beschlossen hat, dem Plan Z zu ‚glauben‘ und ihn ‚umzusetzen‘, wenden sich die anderen ab, verwerfen Plan Z, und tun etwas ganz anderes.

Dieser unstete, unsichere Charakter des Zukunft-Deutens und Zukunft-Handelns begleitet die Homo Sapiens Population von Anbeginn. Der unverstandene emotionale Komplex begleitet den Alltag beständig wie ein Schatten.[2]

Wo und wie können ‚textfähige Maschinen‘ in dieser Situation einen konstruktiven Beitrag leisten?

Angenommen es liegt ein Ausgangstext A vor, dazu ein Veränderungstext V sowie eine Anleitung F, dann könnten heutige Algorithmen alle möglichen Simulationen schneller durchrechnen als es Menschen könnten.

Angenommen zusätzlich es läge auch noch ein Zieltext Z vor, dann könnte ein heutiger Algorithmus auch eine Auswertung zum Verhältnis zwischen einer aktuellen Situation als A und dem Zieltext Z berechnen.

Mit anderen Worten: wäre eine empirische oder eine nachhaltig-empirische Theorie mit ihren notwendigen Texten formuliert, dann könnte ein heutiger Algorithmus alle möglichen Simulationen und den Grad der Zielerfüllung automatisch schneller berechnen, als jeder Mensch allein.

Wie steht es aber mit der (i) Ausarbeitung einer Theorie bzw. (ii) mit der vor-rationalen Entscheidung für eine bestimmte empirische oder gar nachhaltig-empirische Theorie ?

Eine klare Antwort auf beide Fragen erscheint mir zum aktuellen Zeitpunkt kaum möglich, verstehen wir Menschen doch noch zu wenig, wie wir selbst im Alltag kollektiv Theorien bilden, auswählen, überprüfen, vergleichen und auch wieder verwerfen.

Meine Arbeitshypothese zum Thema lautet: dass wir sehr wohl lernfähige Maschinen brauchen werden, um in der Zukunft die Aufgabe erfüllen zu können, brauchbare nachhaltig-empirische Theorien für den gemeinsamen Alltag zu entwickeln. Wann dies aber real geschehen wird und in welchem Umfang scheint mir zum jetzigen Zeitpunkt weitgehend unklar.

ANMERKUNGEN

[1] https://zevedi.de/themen/ki-text/

[2] Das Sprechen über ‚Emotionen‘ im Sinne von ‚Faktoren in uns‘, die uns dazu bewegen, aus dem Zustand ‚vor dem Text‘ in den Zustand ‚geschriebener Text‘ überzugehen, der lässt sehr viele Aspekte anklingen. In einem kleinen explorativen Text „STÄNDIGE WIEDERGEBURT – Jetzt. Schweigen hilft nicht …“ ( https://www.cognitiveagent.org/2023/08/28/staendige-wiedergeburt-jetzt-schweigen-hilft-nicht-exploration/ ) hat der Autor versucht, einige dieser Aspekte anzusprechen. Beim Schreiben wird deutlich, dass hier sehr viele ‚individuell subjektive‘ Aspekte eine Rolle spielen, die natürlich nicht ‚isoliert‘ auftreten, sondern immer auch einen Bezug zu konkreten Kontexten aufblitzen lassen, die sich mit dem Thema verknüpfen. Dennoch, es ist nicht der ‚objektive Kontext‘, der die Kernaussage bildet, sondern die ‚individuell subjektive‘ Komponente, die im Vorgang des ‚ins-Wort-Bringens‘ aufscheint. Diese individuell-subjektive Komponenten wird hier versuchsweise als Kriterium für ‚authentische Texte‘ benutzt im Vergleich zu ‚automatisierten Texten‘ wie jene, die von allerlei Bots generiert werden können. Um diesen Unterschied greifbarer zu machen, hat der Autor sich dazu entschieden, mit dem zitierten authentischen Text zugleich auch einen ‚automatisierten Text‘ mit gleicher Themenstellung zu erzeugen. Dazu hat er chatGBT4 von openAI benutzt. Damit beginnt ein philosophisch-literarisches Experiment, um auf diese Weise vielleicht den möglichen Unterschied sichtbarer zu machen. Aus rein theoretischen Gründen ist klar, dass ein von chatGBT4 erzeugter Text im Ursprung niemals ‚authentische Texte‘ erzeugen kann, es sei denn, er benutzt als Vorlage einen authentischen Text, den er abwandeln kann. Dann ist dies aber ein klares ‚fake Dokument‘. Um solch einem Missbrauch vorzubeugen, schreibt der Autor im Rahmen des Experiments den authentischen Text zu erst und beauftragt dann chatGBT4 zur vorgegebenen Themenstellung etwas zu schreiben, ohne dass chatGBT4 den authentischen Text kennt, da er noch nicht über das Internet in die Datenbasis von chatGBT4 Eingang gefunden hat.

DER AUTOR

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ABSTRAKTE MORAL in einer ENDLICHEN und VERÄNDERLICHEN WELT

(16.Juni 2023 – 19.Juni 2023, 15:15h)

KONTEXT

Die Bedeutung und die Befolgung von moralischen Werten im Kontext des alltäglichen Handelns hat schon immer für Spannungen, Diskussionen und handfeste Konflikte gesorgt.

In diesem Text soll kurz beleuchtet werden, warum dies so ist, und warum dies vermutlich nie anders sein wird, so lange wir Menschen so sind, wie wir sind.

ENDLICHE-UNENDLICHE WELT

In diesem Text wird angenommen, dass die Wirklichkeit, in der wir uns von Kindheit an ‚vorfinden‘, eine ‚endliche‘ Welt ist. Damit ist gemeint, dass kein Phänomen, auf das wir in dieser Welt stoßen — wir selbst mit eingeschlossen — ‚unendlich‘ ist. Anders ausgedrückt: alle Ressourcen, auf die wir stoßen, sind ‚begrenzt‘. Auch die ‚Sonnenenergie, die im heutigen Sprachgebrauch als ‚erneuerbar‘ angesehen wird, ist ‚begrenzt‘, wenngleich diese Begrenzung die Lebenszeit vieler Generationen von Menschen überdauert.

Diese ‚Endlichkeit‘ ist aber kein Gegensatz dazu, dass sich unsere endliche Welt kontinuierlich in einem ‚Veränderungsprozess‘ befindet, der von vielen Seiten gespeist wird. Eine ’sich-selbst-verändernde Endlichkeit‘ ist damit ein Etwas, was an und in sich irgendwie ‚über sich hinaus weist‘! Die ‚Wurzeln‘ dieser ‚immanenten Veränderlichkeit‘ sind weitgehend vielleicht noch unklar, aber die ‚Auswirkungen‘ der immanenten Veränderlichkeit‘ deuten an, dass das jeweils ‚konkret Endliche‘ nicht das Entscheidende ist; das ‚jeweils konkret Endliche‘ ist eher eine Art ‚Indikator‘ für eine ‚immanente Veränderungsursache‘, die sich mittels konkreter Endlichkeiten in Veränderung ‚manifestiert‘. Die ‚Formen konkreter Veränderungsmanifestationen‘ können daher vielleicht eine Art ‚Ausdruck‘ sein, von etwas, was ‚dahinter immanent wirkt‘.

In der Physik gibt es das Begriffspaar ‚Energie‘ und ‚Masse‘, letztere als Synonym für ‚Materie‘. Atomphysik und Quantenmechanik haben uns gelehrt, dass die verschieden ‚Manifestationen von Masse/ Materie‘ nur eine ‚Zustandsform von Energie‘ sein können. Die überall und immer angenommene ‚Energie‘ ist jener ‚Ermöglichungsfaktor‘, der sich in all den bekannten Formen von Materie ‚manifestieren‘ kann. ‚Sich-verändernde-Materie‘ kann man dann verstehen als eine Form von ‚Information‘ über die ‚ermöglichende Energie‘.

Setzt man das, was die Physik bislang über ‚Energie‘ herausgefunden hat, als jene Form von ‚Unendlichkeit‘, die sich uns über die erfahrbare Welt erschließt, dann sind die verschiedenen ‚Manifestationen von Energie‘ in diversen ‚Formen von Materie‘ Formen konkreter Endlichkeiten, die aber im Kontext der unendlichen Energie letztlich nicht wirklich endlich sind. Alle bekannten materiellen Endlichkeiten sind nur ‚Übergänge‘ (‚Transitionen‘) in einem nahezu unendlichen Raum von möglichen Endlichkeiten, der letztlich in der ‚unendlichen Energie‘ gründet. Ob es ’neben‘ oder ‚hinter‘ oder ‚qualitativ nochmals ganz anders zu‘ der ‚erfahrbaren Unendlichkeit‘ noch eine ‚andere Unendlichkeit‘ gibt, ist damit völlig offen.[1]

ALLTAGSERFAHRUNGEN

Unser normale Lebenskontext ist das, was wir heute ‚Alltag‘ nennen: ein Bündel von regelmäßigen Abläufen, vielfach verbunden mit charakteristischen Verhaltens-Rollen. Dazu gehört die Erfahrung, einen ‚endlichen Körper‘ zu haben; dass ‚Abläufe real Zeit benötigen‘; dass jeder Prozess durch seinen eigenen ‚typischen Ressourcenverbrauch‘ charakterisiert ist; dass ‚alle Ressourcen endlich‘ sind (wobei es hier unterschiedliche Zeit-Skalen geben kann (siehe das Beispiel mit der Sonnenenergie)).

Aber auch hier: das ‚Eingebettet-Sein‘ aller Ressourcen und ihr Verbrauch in eine umfassende Veränderlichkeit macht aus allen Angaben ‚Momentaufnahmen‘, die ihre ‚Wahrheit‘ nicht allein ‚im Moment‘ haben, sondern in der ‚Gesamtheit der Abfolge‘! An sich ‚kleine Veränderungen‘ im Alltag können, wenn sie andauern, Größen annehmen und Wirkungen erzielen, die einen ‚bekannten Alltag‘ soweit verändern, dass lang bekannte ‚Anschauungen‘ und ‚lang praktizierte Verhaltensweisen‘ irgendwann ’nicht mehr stimmen‘: Das Format des eigenen Denkens und Verhaltens gerät dann in zunehmendem Widerspruch zur erfahrbaren Welt. Dann ist der Punkt gekommen, wo die immanente Unendlichkeit sich in der alltäglichen Endlichkeit ‚manifestiert‘ und uns darin ‚demonstriert‘, dass der ‚gedachte Kosmos in unserem Kopf‘ eben nicht der ‚wahre Kosmos‘ ist. Letztlich ist diese immanente Unendlichkeit ‚wahrer‘ als die ’scheinbare Endlichkeit‘.

HOMO SAPIENS (Wir)

Neben den lebensfreien materiellen Prozessen in dieser endlichen Welt gibt es seit ca. 3.5 Mrd. Jahren die Erscheinungsformen, die wir ‚Leben‘ nennen, und sehr spät — quasi ‚gerade eben‘ — zeigte sich in den Milliarden von Lebensformen eine, die wir ‚Homo sapiens‘ nennen. Das sind wir.

Die heutigen Kenntnisse von dem ‚Weg‘, den das Leben in diesen 3.5 Mrd. Jahren ‚genommen‘ hat, waren und sind nur möglich, weil die Wissenschaft gelernt hat, das ’scheinbar Endliche‘ als ‚Momentaufnahme‘ eines andauernden Veränderungsprozesses zu begreifen, der seine ‚Wahrheit‘ nur in der ‚Gesamtheit der einzelnen Momente‘ zeigt. Dass wir als Menschen, als die ‚Spätlinge‘ in diesem Lebens-Entstehungs-Prozess‘, über die Fähigkeit verfügen, aufeinander folgende ‚Momente‘ ‚einzeln‘ wie auch ‚in Abfolge‘ ‚erkennen‘ zu können, liegt an der besonderen Beschaffenheit des ‚Gehirns‘ im ‚Körper‘ und der Art und Weise, wie unser Körper mit der umgebenden Welt ‚interagiert‘. Von der ‚Existenz einer immanenten Unendlichkeit‘ wissen wir also nicht ‚direkt‘, sondern nur ‚indirekt‘ über die ‚Prozesse im Gehirn‘, die auf eine ’neuronal programmierte Weise‘ Momente identifizieren, speichern, prozessieren und in möglichen Abfolgen ‚anordnen‘ können. Also: unser Gehirn ermöglicht uns aufgrund einer vorgegebenen neuronalen und körperlichen Struktur, ein ‚Bild/ Modell‘ einer möglichen immanenten Unendlichkeit zu ‚konstruieren‘, von dem wir annehmen, dass es die ‚Ereignisse um uns herum‘ einigermaßen gut ‚repräsentieren‘.

DENKEN

Eine Eigenschaft, die dem Homo Sapiens zugeschrieben wird, heißt ‚Denken‘; ein Begriff, der bis heute nur vage und sehr vielfältig durch verschiedene Wissenschaften beschrieben wird. Von einem anderen Homo Sapiens erfahren wir von seinem Denken nur durch seine Art des ‚Sich Verhaltens‘, und ein Spezialfall davon ist ’sprachliche Kommunikation‘.

Sprachliche Kommunikation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie grundsätzlich mit ‚abstrakten Begriffen‘ arbeitet, denen als solches direkt kein einzelnes Objekt in der realen Welt entspricht (‚Tasse‘, ‚Haus‘, ‚Hund‘, ‚Baum‘, ‚Wasser‘ usw.). Stattdessen ordnet das menschliche Gehirn ‚völlig automatisch‘ (‚unbewusst‘!) unterschiedlichste konkrete Wahrnehmungen dem einen oder anderen abstrakten Begriff so zu, dass ein Mensch A sich mit einem Menschen B darüber einigen kann, ob man dies konkrete Phänomen da vorne dem abstrakten Begriff ‚Tasse‘, ‚Haus‘, ‚Hund‘, ‚Baum‘, oder ‚Wasser‘ zuordnet. Irgendwann weiß im Alltag Mensch A welche konkrete Phänomene gemeint sein können, wenn Mensch B ihn fragt, ob er eine ‚Tasse Tee‘ habe, bzw. ob der ‚Baum‘ Äpfel trägt usw.

Diese empirische belegte ‚automatische Bildung‘ von abstrakten Konzepten durch unser Gehirn basiert nicht nur auf einem einzigen Moment, sondern diese automatischen Konstruktionsprozesse arbeiten mit den ‚wahrnehmbaren Abfolgen‘ von endlichen Momenten ‚eingebettet in Veränderungen‘, die das Gehirn selbst auch automatisch ‚erstellt‘. ‚Veränderung als solche‘ ist insofern kein ‚typisches Objekt‘ der Wahrnehmung, sondern ist das ‚Resultat eines Prozesses‘, der im Gehirn stattfindet, der ‚Folgen von einzelnen Wahrnehmungen‘ konstruiert, und diese ‚errechneten Folgen‘ gehen als ‚Elemente‘ in die Bildung von ‚abstrakten Begriffen‘ ein: ein ‚Haus‘ ist von daher kein ’statisches Konzept‘, sondern ein Konzept, das viele einzelne Eigenschaften umfassen kann, das aber als ‚Konzept‘ ‚dynamisch erzeugt‘ wird, so dass ’neue Elemente‘ dazu kommen können oder ‚vorhandene Elemente‘ möglicherweise wieder ‚weg genommen‘ werden.

MODELL: WELT ALS PROZESS

Obwohl es bislang keine allgemein akzeptierte umfassende Theorie des menschlichen Denkens gibt, gibt es doch viele unterschiedliche Modelle (alltäglicher Begriff für den korrekteren Begriff ‚Theorien‘), die versuchen, wichtige Aspekte des menschlichen Denkens anzunähern.

Das vorausgehende Bild zeigt die Umrisse eines minimal einfachen Modells zu unserem Denken.

Dieses Modell nimmt an, dass die umgebende Welt — mit uns selbst als Bestandteile dieser Welt — als ein ‚Prozess‘ zu verstehen ist, bei dem man zu einem gewählten ‚Zeitpunkt‘ in idealisierter Weise alle ‚beobachtbaren Phänomene‘ beschreiben kann, die dem Beobachter zu diesem Zeitpunkt wichtig sind. Diese Beschreibung eines ‚Weltausschnitts‘ sei hier ‚Situationsbeschreibung‘ zum Zeitpunkt t oder einfach ‚Situation‘ zu t genannt.

Dann benötigt man ein ‚Wissen über mögliche Veränderungen‘ von Elementen der Situationsbeschreibung in der Art und Weise (vereinfacht): ‚Wenn X Element der Situationsbeschreibung zu t ist, dann wird für eine nachfolgende Situation zu t entweder X gelöscht oder durch ein neues X* ersetzt‘. Möglicherweise gibt es für das Löschen oder die Ersetzung mehrere Alternativen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten. Solche ‚Beschreibungen von Veränderungen‘ werden hier vereinfachend ‚Veränderungsregeln‘ genannt.

Zusätzlich gibt es als Teil des Modells noch eine ‚Spielanleitung‘ (klassisch: ‚Folgerungsbegriff‘), die erklärt wann und wie man einer Veränderungsregel auf eine gegebene Situation Sit zu t so anwenden kann, dass zum nachfolgenden Zeitpunkt t+1 eine Situation Sit* existiert, in der die Veränderungen vorgenommen worden sind, die die Veränderungsregel beschreibt.

Im Normalfall gibt es mehr als eine Veränderungsregel, die gleichzeitig mit den anderen angewendet werden kann. Auch dies gehört zur Spielanleitung.

Dieses minimale Modell kann und muss man auch vor dem Hintergrund der durchgängigen Veränderung sehen.

Für diese Struktur von Wissen wird vorausgesetzt, dass man ‚Situationen‘ beschreiben kann, mögliche Veränderungen solch einer Situation, und dass man ein Konzept haben kann, wie man Beschreibungen von erkannte möglichen Veränderungen auf eine gegebene Situation anwenden kann.

Mit der Erkenntnis einer immanenten Unendlichkeit, die sich in vielen konkreten endlichen Situationen manifestiert, ist sogleich klar, dass die Menge der angenommenen Veränderungsbeschreibungen mit den beobachtbaren Veränderungen korrespondieren sollte, da ansonsten die Theorie nur einen geringen praktischen Nutzen hat. Ebenso ist es natürlich wichtig, dass die angenommenen Situationsbeschreibungen mit der beobachtbaren Welt korrespondieren. Die Korrespondenz-Anforderungen zu erfüllen bzw. ihr Zutreffen zu überprüfen ist alles andere als trivial.

ABSTRAKT – REAL – INDETERMINIERT

Zu diesen ‚Korrespondenz-Anforderungen‘ hier einige zusätzliche Überlegungen, in denen die Sicht der Alltagsperspektive zur Sprache kommt.

Zu beachten ist, dass ein ‚Modell‘ nicht die Umwelt selbst ist, sondern nur eine ’symbolische Beschreibung‘ eines Umweltausschnitts aus der Sicht und mit dem Verständnis eines menschlichen ‚Autors‘! Auf welche Eigenschaften der Umwelt sich eine Beschreibung bezieht, das weiß nur der Autor selbst, der die gewählten ‚Symbole‘ (Text oder Sprache) ‚in seinem Kopf‘ mit bestimmten Eigenschaften der Umwelt ‚verknüpft‘, wobei diese Eigenschaften der Umwelt ebenfalls ‚im Kopf‘ repräsentiert sein müssen, quasi ‚Wissensabbilder‘ von ‚Wahrnehmungsereignissen‘, die durch die Umwelteigenschaften ausgelöst worden sind. Diese ‚Wissensabbilder im Kopf‘ sind für den jeweiligen Kopf ‚real‘; verglichen mit der Umgebung sind sie aber grundsätzlich nur ‚fiktiv‘; es sei denn, es gibt zwischen aktuellen fiktiven ‚Bilder im Kopf‘ und den ‚aktuellen Wahrnehmungen‘ von ‚Umweltereignissen‘ aktuell einen Zusammenhang, der die ‚konkreten Elemente der Wahrnehmung‘ als ‚Elemente der fiktiven Bilder‘ erscheinen lässt. Dann wären die ‚fiktiven‘ Bilder ‚fiktiv und real‘.

Aufgrund des ‚Gedächtnisses‘, dessen ‚Inhalt‘ im ‚Normalzustand‘ mehr oder weniger ‚unbewusst‘ sind, können wir aber ‚erinnern‘, dass bestimmte ‚fiktive Bilder‘ in der Vergangenheit mal ‚fiktiv und real‘ waren. Dies kann dazu führen, dass wir im Alltag dazu tendieren, fiktiven Bilder, die in der Vergangenheit schon mal ‚real‘ waren, auch in der aktuellen Gegenwart eine ‚vermutliche Realität‘ zuzuschreiben. Diese Tendenz ist im alltäglichen Leben vermutlich von hoher praktischer Bedeutung. In vielen Fällen funktionieren diese ‚Annahmen‘ auch. Dieses ’spontan-für-real-Halten‘ kann aber auch oft daneben liegen; eine häufige Quelle für Fehler.

Das ’spontan-für-real-Halten‘ kann aus vielen Gründen nachteilig sein. So können die fiktiven Bilder (als unausweichlich abstrakte Bilder) schon als solche vielleicht nur ‚partiell angemessen‘ sein. Der Kontext der Anwendung kann sich geändert haben. Generell befindet sich die Umgebung ‚im Fluss‘: Sachverhalte, die gestern gegeben waren, können heute anders sein.

Die Gründe für die anhaltenden Veränderungen sind verschieden. Neben solchen Veränderungen, die wir durch unsere Erfahrung als ein ‚identifizierbares Muster‘ erkennen konnten, gibt es auch Veränderungen, die wir noch keinem Muster zuordnen konnten; diese können für uns einen ‚zufälligen Charakter‘ haben. Schließlich gibt es auch noch die verschiedenen ‚Lebensformen‘, die von ihrer Systemstruktur her bei aller ‚partiellen Determiniertheit‘ grundsätzlich ’nicht determiniert‘ sind (man kann dies auch ‚immanente Freiheit‘ nennen). Das Verhalten diese Lebensformen kann zu allen anderen erkannten Mustern konträr liegen. Ferner verhalten sich Lebensformen nur partiell ‚einheitlich‘, wenngleich Alltagsstrukturen mit ihren ‚Verhaltensregeln‘ — und viele anderen Faktoren — Lebensformen mit ihrem Verhalten in eine bestimmte Richtung ‚drängen‘ können.

Erinnert man sich an dieser Stelle nochmals an die vorausgehenden Gedanken zur ‚immanenten Unendlichkeit‘ und der Sicht, dass die einzelnen, endlichen Momente nur als ‚Teil eines Prozesses‘ verstehbar sind, dessen ‚Logik‘ bis heute weitgehend noch nicht entschlüsselt ist, dann ist klar, dass jegliche Art von ‚Modellbildung‘ von innerhalb der umfassenden Veränderungsprozesse immer nur einen vorläufigen Näherungscharakter haben kann, zumal erschwerend dazu kommt, dass die menschlichen Akteure ja nicht nur ‚passiv Aufnehmende‘ sind, sondern zugleich immer auch ‚aktiv Handelnde‘, die durch ihr Handeln mit auf den Veränderungsprozess einwirken! Diese menschlichen Einwirkungen resultieren aus der gleichen immanenten Unendlichkeit wie jene, die alle übrigen Veränderungen bewirkt. Die Menschen (wie das gesamte Leben) sind damit real ‚ko-Kreativ‘ …. mit all den Verantwortlichkeiten, die sich daraus ergeben.

MORAL ÜBER ALLEM

Was man unter ‚Moral‘ genau zu verstehen hat, muss man aus vielen hundert — oder gar mehr — verschiedenen Texten heraus lesen. Jede Zeit — und sogar jede Region in dieser Welt — hat dazu unterschiedliche Versionen entwickelt.

In diesem Text wird davon ausgegangen, dass mit ‚Moral‘ solche ‚Anschauungen‘ gemeint sind, die dazu beitragen sollen, dass ein einzelner Mensch (oder eine Gruppe oder …) in Fragen der ‚Entscheidung‘, soll ich eher A oder B tun, ‚Hinweise‘ bekommen soll, wie diese Frage ‚am besten‘ beantwortet werden kann.

Erinnert man sich an dieser Stelle daran, was zu vor gesagt wurde zu jener Denkform, die ‚Prognosen‘ erlaubt (das Denken in expliziten ‚Modellen‘ oder ‚Theorien‘) , dann müsste es unabhängig von eine aktuellen ‚Situationsbeschreibung‘ und unabhängig vom möglichen ‚Veränderungswissen‘ eine ‚Bewertung‘ der ‚möglichen Fortsetzungen‘ geben. Es muss also ’neben‘ der Beschreibung einer Situation, wie sie ‚ist‘ mindestens eine ‚zweite Ebene‘ (eine ‚Meta-Ebene‘) geben, die ‚über‘ die Elemente der ‚Objektebene so sprechen kann, dass z.B. gesagt werden kann, dass ein ‚Element A‘ aus der Objektebene ‚gut‘ oder ’schlecht‘ oder ’neutral‘ ist oder mit einer bestimmten graduellen ‚Abstimmung‘ ‚gut‘ oder ’schlecht‘ oder ’neutral‘. Dies kann auch mehrere Elemente oder ganze Teilmengen der Objektebene betreffen. Dies kann man machen. Damit es ‚rational akzeptierbar‘ ist, müssten diese Bewertungen aber mit ‚irgendeiner Form von Motivation‘ verknüpft sein, ‚warum‘ diese Bewertung angenommen werden soll. Ohne solch eine ‚Motivation von Bewertungen‘ würde solch eine Bewertung als ‚pure Willkür‘ erscheinen.

An dieser Stelle wird die ‚Luft‘ recht ‚dünn‘: in der bisherigen Geschichte wurde bislang kein überzeugendes Modell für eine moralische Begründung bekannt, das letztlich nicht auf die Entscheidung von Menschen zurück zu führen ist, bestimmte Regeln als ‚gültig für alle‘ (Familie, Dorf, Stamm, …) anzusetzen. Oft lassen sich die Begründungen noch in den konkreten ‚Lebensumständen‘ verorten, genauso oft treten die konkreten Lebensumstände im Laufe der Zeit ‚in den Hintergrund‘ und stattdessen werden abstrakte Begriffe eingeführt, die man mit einer ’normativen Kraft‘ ausstattet, die sich einer konkreteren Analyse entziehen. Ein rationaler Zugriff ist dann kaum bis gar nicht mehr möglich.

In einer Zeit wie im Jahr 2023, in dem das verfügbare Wissen dazu ausreicht, die wechselseitigen Abhängigkeiten von buchstäblich jedem von jedem erkennen zu können, dazu die Veränderungsdynamik, die mit der Komponenten ‚Erderwärmung‘ den ’nachhaltigen Bestand des Lebens auf der Erde‘ substantiell bedrohen kann bzw. bedroht, erscheinen ‚abstrakt gesetzte Normbegriffe‘ nicht nur ‚aus der Zeit‘ gefallen, nein, sie sind höchst gefährlich, da sie den Erhalt des Lebens für die weitere Zukunft substantiell behindern können.

META-MORAL (Philosophie)

Es stellt sich dann die Frage, ob dieses ‚rationale schwarze Loch‘ von ‚begründungsfreien Normbegriffen‘ die Endstation menschlichen Denkens markiert oder ob das Denken hier nicht gerade erst anfangen sollte?

Traditionell versteht sich eigentlich die Philosophie als jene Denkhaltung, in der jedes ‚Gegebene‘ — dazu gehören dann auch jegliche Art von Normbegriffen — zu einem ‚Gegenstand des Denkens‘ gemacht werden kann. Und gerade das philosophische Denken hat in Jahrtausende langem Ringen genau dieses Ergebnis hervorgebracht: es gibt keinen Punkt im Denken, aus dem sich alles Sollen/ alles Bewerten, ‚einfach so‘ ‚ableiten lässt.

Im Raum des philosophischen Denkens, auf der Meta-Moral-Ebene, kann man zwar immer mehr Aspekte unserer Situation als ‚Menschheit‘ in einer dynamischen Umwelt (mit dem Menschen selbst als Teil dieser Umwelt) ‚thematisieren‘, ‚benennen‘, in eine ‚potentielle Beziehungen‘ einordnen, ‚Denkexperimente‘ über ‚mögliche Entwicklungen‘ anstellen, aber dieses philosophische Meta-Moral-Wissen ist komplett transparent und immer identifizierbar. Die Folgerungen, warum etwas ‚besser‘ erscheint als etwas anderes, sind immer ‚eingebettet‘, ‚bezogen‘. Die Forderungen nach einer ‚autonomen Moral‘, nach einer ‚absoluten Moral‘ neben dem philosophischen Denken erscheinen vor diesem Hintergrund ‚grundlos‘, ‚willkürlich‘, der ‚Sache fremd‘. Eine rationale Begründung ist nicht möglich.

Ein ‚rational Unerkennbares‘ mag es geben, gibt es sogar unausweichlich, aber dieses rational Unerkennbare ist unsere schiere Existenz, das tatsächliche reale Vorkommen, für das es bislang keine rationale ‚Erklärung gibt‘, genauer: noch nicht gibt. Dies ist aber kein ‚Freifahrschein‘ für Irrationalität. In der ‚Irrationalität‘ verschwindet alles, sogar das ‚rational Unerkennbare‘, und dieses gehört mit zu den wichtigsten ‚Sachverhalten‘ in der Welt des Lebens.

DER AUTOR

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ANMERKLUNGEN

[1] Die verschiedenen Formen von ‚Unendlichkeit‘, die mit den Arbeiten von Georg Cantor in die Mathematik eingeführt und intensiv weiter untersucht wurden, haben mit der im Text beschrieben erfahrbaren Endlichkeit/ Unendlichkeit nichts zu tun: https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Cantor . Allerdings, will man die ‚Erfahrung‘ von realer Endlichkeit/ Unendlichkeit ‚beschreiben‘, dann wird man möglicherweise auf Beschreibungsmittel der Mathematik zurückgreifen wollen. Nur ist nicht von vornherein ausgemacht, ob die mathematischen Konzepte mit der zur Sache stehenden empirischen Erfahrung ‚harmonieren‘.

DIE LETZTE GESCHICHTE DER MENSCHHEIT. Theaterstück. Notizen von einem Abend

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 24.Januar 2023 – 25.Januar 2023
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Ein Theaterbesuch gestern Abend im Schauspiel Frankfurt. Ein junger Regisseur, Leon Bornemann, eine tolle Schauspielerin Tanja Merlin Graf, ein junger Autor Sören Hornung ( Mehr Informationen: https://www.schauspielfrankfurt.de/spielplan/a-z/die-letzte-geschichte-der-menschheit/ ).

Form

Der folgende Text stellt eine spontane Wiedergabe einiger Impressionen dar, die sich während und nach dem Theaterstück ergeben haben. Leider gab es nach der Aufführung keine Möglichkeit zu einem Gespräch mit dem Publikum, was schade ist: da wird mit viel Aufwand, Engagement, ja, vermutlich auch mit viel ‚Liebe‘, ein wunderbares Stück vorbereitet, und dann lässt man die ‚Wirkung‘ dieses Stücks quasi ‚ins Leere‘ laufen … natürlich nicht ganz ‚leer‘, da es ja immerhin ‚Menschen‘ sind, die in ihrem Erleben und Denken in der Direktheit des Geschehens ‚betroffen‘ sind, ob sie wollen oder nicht. Eine Wirkung, die man ja eigentlich ‚wollen sollte‘ als Theatertruppe, aber die Wirkungen werden in die ‚Einsamkeit des individuellen Erlebens‘ verbannt, so, als wolle man ja gar nicht wissen, was solch eine Aufführung ‚anrichtet‘.

Dabei ist es ja eigentlich toll, wenn eine Aufführung eine ‚Wirkung‘ hat.

Allerdings, wenn es nicht nur um ‚Unterhaltung‘ geht, sondern irgendwie doch auch um Mitteilen, Kommunizieren, Anregen, vielleicht sogar ‚zum Denken bringen‘ als Vorstufe eines möglichen ‚Verstehens‘ (was man einem Theaterstück unterstellen darf?), dann ist die ‚Wucht des Aufpralls des Bühnengeschehens‘ im individuellen Erleben zu groß — und sicher auch zu ‚komplex‘ –, als dass man dies alleine ohne Austausch, so einfach ‚verdauen‘ kann.

… also schreibe ich hier ein paar verstreute Impressionen auf.

DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT (Stück)

Ich gebe hier jetzt nicht das Stück wieder. Wer es kennen lernen will, hat am 7.Februar 2023 nochmals Gelegenheit, es sich anzuschauen.

Worum es geht, wird einem gleich zu Beginn von einer weiblichen Person, die sich als Roboter darstellt, ‚ins Gesicht geredet‘: „Mein Name ist KARL. Ich bin eine KI und komme aus dem Jahr 5.144. So, jetzt ist es raus.“ Und zur Hintergrundgeschichte kann man erfahren, dass es um eine
„Künstliche Intelligenz aus der Zukunft geht, die „mithilfe einer selbstgebauten Zeitmaschine … in die Vergangenheit gereist [ist], um uns Menschen zu begegnen. Alles, was KARL über uns weiß, hat KARL auf Youtube gelernt. Beim Binge-Watching aller jemals produzierten Videos hat KARL leider verpasst, dass die Menschheit währenddessen ausgestorben ist. Jetzt ist KARL enorm einsam und vermisst die Menschen, die KARL nie persönlich Kennenlernen konnte. In KARLs postapokalyptischer Gegenwart (also unserer Zukunft bzw. der Zukunft der Erde, denn uns gibt es in der Zukunft, also in KARLs Gegenwart ja nicht mehr) sieht es insgesamt ziemlich trostlos aus. Durch eine Zeitverwerfung tritt KARL deshalb mit uns in Kontakt und möchte uns das Aussterben ausreden.“

Was dann folgt ist eine beeindruckende Einzeldarstellung der Schauspielerin, die ca. 48 Minuten lang ohne Pause eine Komposition von Körperhaltungen, Bewegungen und Monologen darbietet, die zu keinem Moment Spannung vermissen lassen.

Der Bühnenraum, durchgehend ohne Veränderungen, bietet in vielen Dimensionen Anregungen an, die bekannte Bilder aus dem Alltag wachrufen und im Zuschauer entsprechende Gefühle und gedankliche Assoziationen lebendig werden lassen.

Das Drehbuch führt den Zuschauer hinein in die Welt des Autors, der ein Bild von KI (Künstlicher Intelligenz) entstehen lässt, das letztlich den vielen Mustern ähnelt, die sich in den vielen Science Fiction Filmen (und zahllosen Science Fiction Romanen) [1] auch finden. Allerdings, die Art und Weise wie der Autor diese bekannten Bilder auf der Bühne durch eine einzige Schauspielerin — warum eigentlich nicht Frau + Mann + X? — umsetzt, wirkt in dieser Form packend, zieht einen in Bann.

Und diese KI wird instrumentalisiert zu einer Art ‚Spiegel der Menschheit‘, zum Menschen, und darin — indirekt — leicht anklagend auch an die Zuschauer, von denen der Autor annimmt, dass sie auch zu der Menschheit gehören, über die sein Stück handelt.

Auch hier, trotz innovativer Darstellungsform, die hier zum Vorschein kommenden Bilder sind die üblichen: die Menschheit ‚vergeigt‘ es, sie inszeniert ’sehenden Auges‘ ihren eigenen Untergang; warum wohl? Na ja, weil sie eben schlecht ist (obwohl sich viele doch so toll finden?).

Bei diesen Impressionen könnte man es belassen; immerhin hat man ja etwas ‚erlebt‘, ‚emotional‘, dazu ungewohnte kreative Bilder einer Bühne, einer Schauspielerin, von ungewohnten Dialogen und Bewegungen ….

ZWISCHENFRAGE(n)

Da ich als Autor Wissenschaftler bin (dann auch noch in der Nähe des Themas), aber auch Philosoph (Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie), dann auch tatsächlich und real auch ‚Hochschul-Lehrer‘ (nicht nur ‚Forscher‘), habe ich zum Thema natürlich eine Meinung, auch zur ‚Form‘ als ‚Theaterstück‘ (Keine Angst, ich bin NICHT gegen Theater, eher für mehr Theater).

Was mich beschäftigt, und geradezu ‚weh tut‘, das sind die ‚Bilder in den Köpfen‘, die im Medium des Theaterstücks ’sichtbar‘ werden und darin ‚zur Wirkung kommen‘. Bilder einer KI, die es so weder gibt noch jemals geben wird; aber auch Bilder der Menschheit, die im ersten Moment so ‚plausibel‘ erscheinen‘, in einem zweiten Moment aber — wenn man über ‚andere Bilder‘ verfügt — nur noch teilweise plausibel sind, und in den Teilen, wo sie ’nicht plausibel sind‘, sind sie das, was man normalerweise als ‚falsch‘ versteht.

Folgt daraus, dass das Theaterstück ‚Fake News‘ verbreitet?

Würde man ‚Ja‘ sagen, dann würden letztlich alle Menschen täglich ‚Fake News‘ verbreiten, da jeder Mensch nur über ein kleines Fragment des ungeheuren Wissens verfügt, das zur Zeit die Bibliotheken, Datenbanken und Blogs dieser Welt überschwemmt, vielfach aufbereitet durch immer mehr Algorithmen, die alles, was sie finden, mit statistischen Modellen zu immer neuen Texten zusammenbauen, ohne jegliche Realitätskontrolle.[2]

Die wenigstens Menschen glauben, dass sie etwas ‚Falsches‘ tun, fühlen sich engagiert, sind oft voller Emotionen, die für sie Realität markieren.

‚Fake News‘ im Sinne von unfertigen oder falschen Texten sind aber — so scheint es — eher der ‚Normalfall‘, in den wir hineingeboren werden, der uns durch die Arbeitsweise unseres Gehirns — unbewusst ! — ‚angeboren‘ ist. Wenn wir keine besonderen Maßnahmen ergreifen, dann sind wir alle ohne Ausnahme jeden Tag ‚Fake News Produzenten‘, begleitet von vielen Emotionen.[3].

WISSENSCHAFT – SPIEL – THEATER ???

Wir leben in einer Welt, in der neben Wirtschaft und Wissenschaft das Theater immer noch eine gewisse gesellschaftliche (kulturelle!?) Anerkennung besitzt. ‚Spielen‘ besitzt keine gleichwertige Anerkennung, obgleich es die wichtigste allgemeine ‚Form des Lernens‘ ist, über die wir Menschen verfügen. Gibt es zwischen ‚Wissenschaft‘, ‚Theater‘ und ‚Spielen‘ einen irgendwie gearteten Zusammenhang?

‚Fake News‘, jenes Wissen, das in den Köpfen von Menschen existiert, aber keinen oder stark deformierten Zusammenhang mit der ‚realen Welt‘ besitzt, hat die Menschen von Anbeginn begleitet. Die Erkenntnis, dass ‚die Welt‘, die wir als gegeben voraussetzen, gar nicht die Welt ist, wie sie existiert, sondern zunächst mal nur die Welt, die unser Gehirn mit Hilfe unseres Körpers als Teil der realen Welt ‚in uns erzeugt‘ — für uns ‚real‘, verglichen aber mit der ‚realen Welt um uns herum (einschließlich unserer Körper) nur ‚virtuell‘ –, diese Erkenntnis ist vergleichsweise neu. In den ca. 3.5 Milliarden Jahre vor dem Auftreten des homo sapiens (unsere Lebensform) war sie noch nicht verfügbar. Und in den ca. 300.000 Jahren Geschichte des homo sapiens — also ‚unsere‘ Geschichte — beginnt sie erst in den letzten ca. 5000 Jahren ‚aufzublitzen‘, wird aber erst seit ca. 300 – 400 Jahren schrittweise systematisiert. Irgendwann nannten wir Menschen dies ‚Wissenschaft‘, ‚empirische Wissenschaft‘, die versucht, das ‚virtuelle Wissen im Kopf eines einzelnen Menschen‘ durch nachvollziehbare und reproduzierbare Experimente — zwischen Menschen — , mit der realen Welt abzugleichen. Das daraus entstandene und immer noch entstehende überprüfbare, reproduzierbare Wissen ist seitdem explodiert. Plötzlich können wir ‚in die Tiefen des Universums‘ schauen, können ‚in der Zeit rückwärts gehen‘, sogar zu den Anfängen des Lebens auf unserem Planeten, können in die ‚Tiefen der Materie‘ schauen, können in die Bausteine des Lebens schauen; nicht nur Atome und Moleküle, sondern auch in die Zellen, aus denen alle Lebensform bestehen, auch wir Menschen. Jeder einzelne Mensch besteht z.B. aus so vielen Zellen, wie 450 Galaxien im Format der Milchstraße Stern umfasst. Insgesamt gibt es auf dem kleinen blauen Planet Erde weit mehr biologische Zellen, als das bekannte Universum nach Hochrechnungen an Sternen besitzt! Anders gesagt, auf der unscheinbaren Erde hat sich im scheinbar so großen Universum eine ‚Zell-Universum‘ gebildet, das weit größer und um ein Vielfaches komplexer ist als das Universum der Sterne. Wir nennen es schlicht ‚Leben‘.

Was bedeutet dies?

Eigentlich bedeutet es sehr viel. Die sogenannten ‚heiligen Bücher‘ der Menschheit erzählen von all dem nichts. Wie auch.

Aber, was erzählen wir selbst, die wir ‚als Menschheit‘ diese — schaurig schönen — Ungeheuerlichkeiten entdeckt haben?

Die Wissenschaft als primäre ‚Akteurin‘ dieses Erkenntnisprozesses ‚verheddert sich‘ seit Jahren in ihren eigenen Datenmengen, im Sprachwirrwarr ‚zwischen den Disziplinen‘. In den Theatern dieser Welt begnügt man sich damit — täuscht der Eindruck? — , vom Abfall der täglichen Klischees zu leben (nur besser aufbereitet). Und jene Lernform, mit der alle Kinder dieser Welt ohne Lehrer und Schulen ihre Welt ‚fast von selbst‘ ‚erobern‘, die Form des ‚Spiels‘, fristet ein Schattendasein im Schlagschatten von Wissenschaft, offizieller Bildung und Theater, obgleich Menschen ein großes Bedürfnis haben, zu spielen.[4]

Im Rahmen der Hochschullehre experimentieren wir an der Frankfurt University of Applied Sciences seit Jahren mit neuen Lehrformaten, durch die die Studierenden — so die Idee — vielleicht besser erkennen können, welcher Zusammenhang zwischen dem Thema ‚Nachhaltige Entwicklung‘, der ‚Rolle der Bürger‘ und der ‚Wissenschaft‘ besteht, und wie man diese Themen für eine gemeinsame bessere Zukunft vereinen könnte. Unsere letzten Überlegungen dazu kann man im oksimo.org Blog nachlesen.[5] Bei diesen Experimenten, für die wir auf viele verschiedene ‚Instrumente‘ zurückgreifen, haben wir eher zufällig entdeckt, dass es eine starke strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem Konzept einer ’nachhaltigen empirischen Theorie‘, dem Format ‚Spiel‘ und dem Format ‚Theaterstück‘ gibt (und vermutlich gibt es noch mehr potentielle Mitglieder dieser ‚Äquivalenzklasse‘).[6]

Aus diesen Erkenntnissen könnte man den Schluss ziehen, dass die bislang ‚harte Trennung‘ zwischen Wissenschaft (damit auch den Hochschulen), Spielen und Theater eine ‚Artefakt‘ eines kulturellen Musters ist, das noch stark in der ‚Vergangenheit‘ lebt und zu wenig in jener ‚Vor-Form von Zukunft‘, die wir brauchen, um unsere Chancen, als Menschheit auch in der ‚Zukunft‘ [7] leben zu können, zu erhöhen.

Post Script

Ich konnte diese Zeilen jetzt nur schreiben, weil ich dieses Theaterstück gesehen habe. Theaterstücke können — neben vielen anderen Aspekten –, wenn sie gut gemacht sind (dieses war gut ‚gemacht‘) , genau dieses bewirken: wie eine Art Katalysator jenes Wissen und Erleben heraus kitzeln, das uns auszeichnet. Sie müssten dann vielleicht aber auch den Mut haben und den Aufwand wagen, sich dem ‚Post Processing‘ ihrer Wirkungen zu stellen. Es geht nicht nur um das altertümliche Kunstverständnis eines esoterischen ‚Kunsterlebnisses‘; es geht sehr wohl um ‚Lernprozesse‘, an denen wir alle teilhaben sollten, um uns wechselseitig zu helfen, unser gemeinsames Dasein und mögliches Schicksal besser zu verstehen. Die im Stück apostrophierte ‚Einsamkeit‘ des einzelnen im Netzwerk der ’sozialen Medien‘, vor dem Terminal im Gespräch mit einer KI, die sollte vielleicht für Theaterbesucher nicht zwanghaft reproduziert werden. Wenn man schon erkennt, dass ‚Vereinsamung‘ ein Thema ist, dann müsste Theater sich hier vielleicht etwas ‚Moderneres‘ einfallen lassen, etwas, was dem ‚mehr Mensch sein‘ helfen könnte …

KOMMENTARE

[1] Eine kleine Liste von Science fiction Filmen (mit Kurzkommentar) findet sich hier: https://wiki.cognitiveagent.org/doku.php?id=cagent:sciencefiction

[2] Die KI-Forscher selbst sprechen hier davon, dass diese Algorithmen ‚träumen’…

[3] Demokratien sind hier besonders gefährdet, da ja alles über Mehrheiten läuft. Wenn einflussreiche Gruppen mit bestimmten Meinungsbildern die Gehirne der Bevölkerung ‚überschwemmen‘ (früher sprach man von ‚Propaganda‘ oder gar ‚Gehirnwäsche‘), dann kann man in einer Demokratie nahezu alles umsetzen, ohne zu Waffen greifen zu müssen. Und da Politiker nicht anders sind als ihre Wähler, merken viele nicht unbedingt, dass sie selbst zur Verstärkung von Fake News und ‚Zerstörung von Öffentlichkeit‘ beitragen ….(Woraus keineswegs folgt, dass Demokratien schlecht sind! Jedes tolle Instrument wirkt schlecht, wenn man es falsch bedient …)

[4] Laut statista ( https://de.statista.com/statistik/daten/studie/712928/umfrage/anzahl-der-computerspieler-in-deutschland/ ) gab es im Jahr 2020 allein in Deutschland ca. 34 Millionen Menschen, die Computerspiele machen, nicht die gezählt, die ’normale‘ Spiele spielen.

[5] Der ganze Blog widmet sich dem Thema ‚Bürgerwissenschaft 2.0‘ und ‚Nachhaltigkeit‘. Hier am Beispiel möglicher Lehrformate: https://www.oksimo.org/2022/11/04/anwendung-lehre/

[6] Siehe dazu die Überlegungen hier: https://www.oksimo.org/2022/12/14/nachhaltige-empirische-theorie-verschiedene-formate/

[7] Den wenigstens ist — so der Anschein — bewusst, dass die ‚Zukunft‘ kein ‚Objekt wie irgendein anderes‘ ist, sie ist ‚radikal unbekannt‘. Wir könne sie in ‚möglichen Umrissen‘ nur ‚erahnen‘ im Lichte eines Wissens, das ansatzweise die ‚Veränderungsdynamik‘ des Universums ‚versteht‘. Der homo sapiens als Teil der Biosphäre ist Teil dieser Veränderungsdynamik. Solange wir aber eher in ‚Fake News‘ verharren als in brauchbarem realem Wissen können wir natürlich nicht allzu viel Konstruktives tun; wir bestaunen dann nur die immer größeren Schäden, die wir auf dem Planeten, an der Biosphäre (zu der wir gehören) anrichten…. „Hier spricht KI Karl“ …

DER AUTOR

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Das Ende der Evolution, von Matthias Glaubrecht,2021 (2019). Lesenotizen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 8.September 2022 – 10. September 2022, 10:12h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Kontext

In dem Parallelblock uffmm.org entwickelt der Autor das Konzept einer nachhaltigen empirischen Theorie (siehe z.B. „COMMON SCIENCE as Sustainable Applied Empirical Theory, besides ENGINEERING, in a SOCIETY“, ein Beitrag, der hervorgegangen ist aus den Überlegungen zu „From SYSTEMS Engineering to THEORY Engineering“), in der die Menschheit eine zentrale Rolle spielt, nicht losgelöst von der Biosphäre, nicht losgelöst vom gesamten Universum, sondern als eine ‚Handlungsmacht‘, die in diesen empirischen Substrat genannt ‚empirische Wirklichkeit‘ eingebettet ist.

Vor diesem Hintergrund erscheint das Buch von Glaubrecht zum Ende der Evolution auf den ersten Blick wie eine willkommene Ergänzung, eine Geschichte aus der Sicht der biologischen Evolution, wie ein ‚missing link‘, in dem das aktuelle wissenschaftliche Chaos und die zerstörerischen Kräfte einer entfesselten menschlichen Population ihren Erzähler finden.

Doch, lässt man sich auf die ruhig und sachlich wirkende ‚Erzählungen‘ dieses Buches ein, dann begegnet man im geradezu epischen Prolog Gedankenmuster, die wie ‚Disharmonien‘ wirken, wie ‚falsche Töne‘ in einer ansonsten berauschenden Sinfonie von Klängen.

Ein Prolog wie eine Ouvertüre

Ausschnitt aus dem berühmten ‚blue marbel‘ Bild von William Anders Anders während der Appollo-8 Mission 1968 (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:NASA-Apollo8-Dec24-Earthrise.jpg)

Glaubrecht lässt seine Erzählung beginnen mit dem einem Foto von William Alison Anders, einem Astronauten der Apollo-8 Mission 1968, das um die Welt ging, und mittlerweile einen ‚Kultstatus‘ hat: die blaue Kugel im Schwarz des umgebenden interstellaren Raumes, wundersam, so unwirklich, ein Bild ‚wie im Traum‘. Und doch, es ist kein Traum. Es ist der Ort von etwas, was wir gelernt haben, ‚biologisches Leben‘ zu nennen. Ein multidimensionales Phänomen, das nach heutigem Kenntnistand einzigartig im gesamten bekannten Universum ist. Diesen ‚Gedanken der Einzigartigkeit‘ greift Glaubrecht auf und pointiert ihn sehr stark, indem er die neuesten Forschungen zu einem ‚möglichen extra-terrestrischen Leben‘ auswertet und diese Option eines ‚anderen Lebens irgendwo dort draußen‘ quasi ad absurdum führt. (vgl. SS.21-24)

Nach diesem argumentativen ‚knock down‘ für die Option eines Lebens außerhalb der Erde wendet er sich dann dem Phänomen des Lebens auf der blauen Erde zu, und rafft die ca. 3.5 Milliarden Jahre Entstehung des Lebens auf der Erde mit Akzentuierung des Homo sapiens in 14 Zeilen auf S.24 zusammen. Die 14 Zeilen schließen mit der Bemerkung „obgleich wir … im kosmischen Maßstab kaum mehr sind als eine Eintagsfliege der irdischen Evolution“.

Fast könnte man das Buch an dieser Stelle zuklappen, es beiseite legen, und vergessen, dass es dieses Buch gibt.

Was immer der Autor Glaubrecht an wunderbaren Dingen in seinem Kopf haben mag, weiß, denkt, fühlt, mit dieser Aussage am Ende seiner 14 Zeilen Evolution auf S.24 deutet er an, dass er den Menschen in seiner biologischen Erscheinungsweise sehr ‚klassisch biologisch‘ sieht, Produkt einer ‚biologischen Hervorbringung‘, von der viele Biologen zu glauben wissen, was biologisches Leben ist. Dieser sich hier nurmehr ‚andeutende Akzent‘, dieser ‚gedankliche Tonfall‘, wird die ganze ‚Sinfonie der Gedanken‘ im weiteren Gang begleiten, verfolgen, und zu Disharmonien führen, die das ganze Werk in einen Abgrund zu reißen drohen, aus dem es kein gedankliches Entkommen zu geben scheint. ‚Schwarze Löcher‘ sind nicht nur ein Problem der heutigen theoretischen Physik.

Nachdem Glaubrecht (SS.24-28) die großen Phänomene einer tiefgreifenden Störung der Biosphäre und ihrer planetarischen Umgebung ins Bewusstsein gerufen hat (Bevölkerungsentwicklung, Ressourcenverbrauch, dramatisches Artensterben, Klimaextreme), deutet er auf das widersprüchliche Phänomen hin, dass es gesellschaftlich zwar schon — auch seit längerem — eine gewisse Wahrnehmung dieser Phänomene gibt (vgl. z.B. S.27), dass diese partiellen gesellschaftlichen Wahrnehmungen aber noch zu keiner wirklich wirksamen gesellschaftlichen Verhaltensänderung geführt zu haben scheinen.

Wer sollte diese ‚Gegenbewegung‘ zu einer wahrnehmbaren globalen zerstörerischen Dynamik auslösen? Woher sollte sie kommen?

Auf den Seiten 28-30 bekennt sich Glaubrecht klar zum Faktor ‚Wissen‘: „Der Schlüssel zu allem ist Wissen; ohne Kenntnis der Fakten und Hintergründe, der Daten und Quellen ist ein sicherer Umgang mit den komplexen Szenarien unserer Gegenwart nicht möglich, geschweige denn, dass sich die Herausforderungen der Zukunft meistern lassen.“(S.28) Allerdings, diese Bemerkung ist wichtig, Wissenschaft kann wirklich verlässlich „nur Vergangenes und bereits Geschehenes deuten“.(S.29) Dies klingt eher resignativ und wäre möglicherweise kaum ein Hilfe, gäbe es nicht doch auch — so Glaubrecht — die Möglichkeit, aus der Vergangenheit zu „lernen“ und „mithin Vorhersagen erleichtern“.(vgl. S.29)

Glaubrecht sagt nicht viel — eigentlich gar nichts — zur Frage, wie denn überhaupt Prognosen möglich sein können, was ihre Randbedingungen sind. Und irgendwie scheint ihm diese Option der ‚Prognose‘ ein wenig suspekt zu sein, beginnt er doch dann den Abschnitt darüber, wie er in seinem Buch arbeiten will, mit einem verstärkten Zweifel an der Möglichkeit von Prognosen (sein Zitat von Niels Bohr, S.30, Zeilen 1-2) und stellt fest „Tatsächlich ist Wissenschaft immer nur im Rückblick wirklich gut“.(S.30)

Damit mehren sich die Fragen, was Glaubrecht denn genau unter ‚Wissenschaft‘ versteht? Prognosen bezweifelt er, und der ‚Rückblick‘ soll es richten? Und er betont, dass es hier nicht nur um sein eigenes „Bauchgefühl“ — das eines einzelnen Wissenschaftlers — geht, der „sein Bauchgefühl zur Wissensautorität erhebt“ (S.28), sondern darum „Evidenzen“ zu sichern.(vgl. S.28f) Er verweist dann auf die Wissenschaftstheorie, die betone, dass das Gute an Wissenschaft sei, „dass wir ein Verfahren haben, den Gegenständen unserer Forschung gerecht zu werden, und unsere Ansichten, Befunde und Meinungen methodisch zu testen gelernt haben, statt uns im Vagen und Wunschdenken zu verlieren.“(S.29)

Eine Formulierung wie „den Gegenständen unserer Forschung gerecht zu werden“ ist natürlich ‚vage‘, und der Hinweis „unsere Ansichten, Befunde und Meinungen methodisch zu testen gelernt haben“ soll vielleicht weiter beruhigend wirken, aber diese Formulierung ist auch vage. Eine Kernbedeutung von ‚Testen‘ ist normalerweise jene, dass ich aus ‚Annahmen‘, die ich als Wissenschaftler — warum auch immer — mache, eine ‚Folgerung‘ (eine ‚Prognose‘) ableite, die ich dann ‚teste‘. Dieses Konzept der Generierung von ‚Prognosen‘ setzt einen ‚Mechanismus‘ (ein ‚Verfahren‘) voraus, wie ich aus Annahmen eine Prognose ‚ableiten‘ kann. Wie zirka 2.500 Jahre Philosophie und etwa 150 Jahre Wissenschaftsphilosophie zeigen, ist dies alles andere als ein ‚trivialer Sachverhalt‘. Glaubrecht schweigt dazu. Was sagt dies über seine Wissenschaftlichkeit … und jene der Evolutionsbiologie und Biodiversitätsforschung? Fakten ja, aber keine Prognosen?

Und es gibt noch einen Punkt, der bedenklich stimmen kann, ja sollte. Nach seiner wissenschaftsphilosophischen Verortung, die sich in vagen Andeutungen erschöpft, kommt er zu folgender Feststellung: „Just beim Blick in die biohistorischen Vergangenheit ist die Evolutionsforschung in ihrem Metier. Ausgerüstet mit dem Blick des Evolutionsbiologen und dem Wissen des Biodiversitätsforschers zur Artenvielfalt ebenso wie Artenschwund soll es hier um den Menschen, seine Wurzeln in der Natur und die Entwicklung seiner Kultur sowie um unseren Umgang mit der Natur gehen; schließlich auch darum, wohin uns das zukünftig führt“.(S.30)

Dass „Evolutionsbiologen und … Biodiversitätsforscher“ besonders geschult sind, um ‚evolutionäre biologische Prozesse‘ sowie die ‚Entwicklung von biologischen Arten‘ zu identifizieren und zu beschreiben, das mag man zunächst noch glauben; den nächsten Schritt, nämlich solche ‚auf Beobachtung beruhenden Evidenzen‘ dann sogar in ‚geeignete voraussagefähige Modelle‘ einzuordnen, muss man nicht unbedingt glauben. Noch weniger sollte man so ohne weiteres glauben, dass ‚Evolutionsbiologen und Biodiversitätsforscher‘ einfach so auch befähigt sind, komplexe Phänomene wie ‚Kultur‘ bzw. überhaupt ‚menschliche Gesellschaften‘ zu beschreiben. Ein Schreiner mag zwar an einem Haus Aspekte erkennen, die mit seiner Profession als Schreiner Überschneidungen aufweisen, aber er wird damit nicht zum ‚Multi-Handwerker‘, keinesfalls automatisch zum ‚Architekt‘ oder ‚Bauingenieur‘.

Mit dieser Selbstüberschätzung einzelner Disziplinen steht Glaubrecht nicht alleine. Er reproduziert damit nur ein Muster, was sich heute — leider — in nahezu allen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen findet: jeder kultiviert seine eigene ‚Wissenschaftssprache‘, seine eigenen ‚wissenschaftlichen Methoden‘, aber die Fähigkeit zum ‚transdisziplinären‘ Denken und zu einer ‚gemeinsamen allgemeinen Theorie‘ existiert bislang eher nur in Absichtserklärungen. Eine der Folgen von dieser ’spendid isolation‘ der moderner Einzelwissenschaften ist genau das, was Glaubrecht — zu Recht — konstatiert: es gibt viele, verstreute Wahrnehmungen von ‚bedenklichen Entwicklungen‘ auf diesem Planeten, aber eine ‚Zusammenschau‘, die sich über ein ‚gemeinsames Wissen‘ organisieren müsste, findet nicht statt, weil wir als Menschen uns den Luxus leisten, in den Köpfen der überwältigenden Mehrheit ‚Weltbilder‘ zu hegen, die mit der realen Welt und ihrer Dynamik wenig zu tun haben. Für populistische und autokratische Gesellschaften eine ideale Umgebung.

Diese eher kritischen Bemerkungen zum wissenschaftlichen Setting des Buches sollten aber nicht davon ablenken, dass die Fülle der Fakten und Einsichten zu jenen Veränderungsprozessen planetarischen Ausmaßes, die Glaubrecht darbietet, wichtig sind. Diese Fülle ist atemberaubend. Doch diese wunderbare Seite des Buches darf nicht darüber hinweg täuschen, dass das schwierige wissenschaftlichen Setting des Buches sich voraussichtlich dort bemerkbar machen wird, wo es um eine Einschätzung der möglichen Zukunft gehen wird, ob und wie wir diese werden bewerkstelligen können. Auf dem Weg dahin wird es natürlich vielfach Sachverhalte geben, deren Einschätzung aufgrund seines Vorverständnisses vorzüglich in die Richtung seines Vorwissens laufen werden. Dies ist unausweichlich.

Auf den Seiten 30-35 lässt Glaubrecht umrisshaft erkennen, wie er sein Buch in drei Teilen organisieren will. Vor dem Blick in die Zukunft (Prognose!) ein langer Blick zurück in die Vergangenheit: Befunde, Fakten, Zusammenhänge. (vgl. S.30)

Im Rückblick auf den bisherigen Weg des Menschen zeichnet er das Bild eines „Pfadfinders“, der neugierig umherzieht, der sich überall aus einer scheinbar kostenlosen, unerschöpflichen Natur bedient, und der sich dabei rein zahlenmäßig dermaßen vermehrt, dass er nach und nach die gesamte planetarische Oberfläche in Besitz genommen und dabei so verändert hat, dass der Lebensraum nicht nur für erschreckend viele andere Arten genommen und zerstört wurde, sondern mittlerweile auch für sich selbst. Diese Auswirkungen des Menschen auf den Planeten sind so massiv, dass Geowissenschaftler eine neue erdgeschichtliche Epoche mit Namen „Anthropozän“ vorschlagen. (vgl.S.33) Alle Indizien deuten auf ein neues, sechstes, planetarisches Artensterben hin.(vgl. S.33) Dass es für uns Menschen scheinbar immer noch funktioniert trotz der aufweisbaren massiven Schäden überall lässt erahnen, wie komplex und redundant das gesamte biologische Ökosystem aufgebaut ist; in Milliarden von Jahren hat es sich in einer Weise ‚organisiert‘, die von einer großen ‚Resilienz‘ [1],[1.1], [1.2] zeugt. Doch diese ist nicht ‚unendlich‘; wenn die zerstörerischen Belastungen bestimmte Punkte — die berühmten ‚tipping points‘ — überschreiten, dann bricht das System so zusammen, dass eine Regenerierung — wenn überhaupt — möglicherweise nur über viele Millionen Jahre möglich sein wird und dann … (vgl. S.34f)

Wie dieser aktuell dramatische Prozess letztlich ausgehen wird: Glaubrecht lässt diese Frage bewusst unbeantwortet. Er plant zwar, einen ‚worst case‘ und ein mögliches ‚happy end‘ zu schildern (vgl.S36), aber welcher dieser beiden Fälle — oder womöglich noch ein dritter — letztlich eintreten wird, hängt vom Verhalten von uns Menschen in den nächsten Jahren ab. Wiederholt weist er darauf hin, dass der ‚Klimawandel‘, der heute in alle Munde ist, letztlich ja nur eine Nebenwirkung des eigentlichen Hauptproblems, der Verwüstung des Ökosystems ist. Eine Konzentration auf das Klima bei Vernachlässigung des ökologischen Problems kann daher kontraproduktiv sein.(vgl. S.36f)

Womit sich die Frage stellt, ob uns Menschen letztlich — biologisch und kulturell — die Mittel fehlen, mit dieser Problematik angemessen umzugehen? „Ist der Mensch letztlich ein vernunftloses Tier?“ (S.36)

(Paläo-)Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Religion …

Gefühlt könnte der Prolog auf S.37 enden. Glaubrecht bringt aber noch Gedanken ins Spiel, die mit Evolutionsbiologie und Biodiversität eigentlich nichts mehr zu tun haben. Sein methodologisches wissenschaftliches Programm von S.30 wird damit deutlich gesprengt. Es folgt eine Skizze des Homo sapiens in den letzten 12.000 Jahren in denen die „überschaubaren Jäger und Sammler Horden“ (S.37) sich in Bauern verwandelten, in immer komplexere Gesellschaften leben mit all den Phänomenen, die frühe komplexe Gesellschaften so mit sich brachten (Ungleichheit, Gewalt, Unterdrückung, Krankheiten, Soziales als Stress, ..). Diese Darstellung ist durchsät mit ‚Bewertungen‘, die all dies Neue eher ’negativ‘ erscheinen lassen gegenüber der vorausgehenden ‚positiven‘ Zeit der wenigen, frei umherziehenden Horden.(vgl. S.37f)

Mit Evolutionsbiologie und Biodiversität hat dies nicht mehr viel zu tun. Glaubrecht bezieht sich an dieser Stelle direkt und ausführlich auf Schalk und Michel (EN 2016, DE 2017), die das Buch der Bibel aus anthropologischer Sicht interpretieren. Dazu führen sie eine dreifache Typologie der menschlichen ‚Natur‘ ein: (i) ‚Biologisch‘, (ii) ‚Kultur‘, (iii) ‚Vernunft‘. Abgesehen davon, dass die für die Klassifikation benutzten Begriffe in ihrem Verwendungskontext und ihrem Bedeutungsfeld mehr als vage sind, erscheint die Zuschreibung dieser Begriffe zur biologischen Lebensform des homo sapiens philosophisch und wissenschaftsphilosophisch zunächst sehr willkürlich (wenngleich diese Art der Typisierung sehr populär ist). Die in der Anthropologie (und auch den Geisteswissenschaften) sehr beliebte Gegenübersetzung von ‚Biologisch‘ und ‚Kultur‘ und dann auch noch zur ‚Vernunft‘ sitzt tief in den Köpfen der Vertreter dieser Disziplinen, aber dies sind ‚Denkprodukte‘ einer Epoche, ‚Artefakte‘ eines Denkens, das viele Jahrhunderte, ja viele Jahrtausende, nichts anderes gekannt hat. Wenn man aber im 20.Jahrhundert, und jetzt sogar im 21.Jahrhundert, lebt, darf man sich über diese denkerische Naivität schon wundern.

Fast schon extrem ist in diesem Zusammenhang die Zurichtung des Blicks auf das Phänomen der jüdisch-christlichen Religion mit der ‚Bibel‘ als Referenzpunkt. Bedenkt man, wie umfassend und reichhaltig die verschiedenen Gesellschaften und Kulturen der Menschheit in allen Erdteilen schon ab -5000 waren (man denke z.B. an Indien, China, Ägypten,) dann erscheint diese Blickverengung nicht nur extrem, sondern auch willkürlich.

Die Interpretation der Bibel, die Schaik und Michel präsentieren (und die Glaubrecht durch sein ausführliches Zitieren mindestens wohlwollend zur Kenntnis nimmt)(vgl. SS.38ff), ist zwar bei vielen immer noch populär, ist aber wissenschaftlich in keiner Weise zu rechtfertigen. Wie die verdienstvolle Arbeit der kritischen Bibelwissenschaften (ab dem 18.Jahrhundert)[2],[3] zeigt, muss man den Text des Alten Testaments als das Produkt eines Entstehungsprozesses sehen, der inhaltlich bis in die Zeit vor -900 (oder sogar weiter) zurückverweist. Er dokumentiert das vielstimmige Ringen von Menschen aus vielen verschiedenen Regionen und Zeiten, um eine Antwort auf letzten und doch auch sehr konkrete Fragen des Verhaltens im Alltag zu finden. In diesen Texten wird deutlich, dass diese Sichten keinesfalls ‚monoton‘ waren, sondern vielstimmig, teilweise geradezu konträr.[4] Und sowohl am Beispiel der jüdisch-christlichen Tradition wie auch an den Beispielen der verschiedenen anderen Religionen ist unübersehbar, dass es letztlich nicht die sogenannten ‚religiösen Inhalte‘ waren, die ganze Völker ‚befriedet‘ haben, sondern massive Machtinteressen (eng gekoppelt an finanziellen Interessen), die sich die religiösen Erzählungen für ihre Zwecke nutzbar machten um damit viele Völker äußerst blutig zu unterwerfen bzw. die Unterworfenen dogmatisch-autokratisch zu regieren. Dass sich modernes Denken, moderne Wissenschaft trotz dieser gedanklichen Unterdrückung überhaupt entwickeln konnten, ist dann fast schon ein Wunder. Die destruktive Kraft der religiösen Traditionen erlebt heute in vielen populistisch-fundamentalistischen Strömungen immer noch eine globale Wirkung, die ein modernes, dem Leben zugewandtes kritisches Denken eher verhindert und freie Gesellschaften gefährdet.[6]

Die massive Unterdrückung von anderem Fühlen und Denken, die von der jüdisch-christlichen Tradition mindestens ausging (und das war nicht die einzige Religion, die sich so verhielt) basiert im Kern auf bestimmten Überzeugungen, was ‚der Mensch‘ und was ‚Geschichte‘ ist. Während die Bibel selbst — und hier insbesondere das alte Testament — noch vielstimmig und gar konträr daherkommt, entstanden in den Zeiten nach der ‚Kanonisierung‘ [7] der verschiedenen Schriften immer mehr ‚verfestigte‘ Interpretationen, die zwar geeignet waren, Machtansprüche der herrschenden Institutionen durchzusetzen, sie verkleisterten aber das ursprüngliche Bild, machten seine menschlichen Verwurzelungen eher unsichtbar, und leisteten damit einer starren Dogmatisierung Vorschub. ‚Anderes‘ Denken war erst einmal ‚fremd‘, ‚gefährlich‘, ‚falsch‘. Dass die ‚Intelligenz der mittelalterlichen Mönche‘ es über mehrere Jahrhunderte hin schaffte, das ‚Denken der Griechischen Philosophie, vor allem das Denken des Aristoteles‘, in einen konstruktiven Dialog mit dem christlichen Dogma zu bringen, grenzt schon fast an ein Wunder. Allerdings schafften diese großartigen Denker es nicht, das christliche Lehramt in zentralen Positionen zu erneuern. Die aufkommenden neuen empirischen Wissenschaften (bis hin zur Evolutionsbiologie) wurden ebenfalls zunächst verteufelt, verfolgt, gar auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die christliche Begleitung der europäischen Unterwerfung der Völker anderer Kontinente ermöglichte zwar neue Einsichten und Verhaltensweisen speziell des Jesuitenordens, der sich überall auf die Seiten der ursprünglichen Bewohner schlug (Nord- und Südamerika, Asien), indem sie diese Sprachen lernten, Wörterbücher herausgaben, deren Kleidung und religiösen Praktiken teilweise übernahmen, oder sie (in Südamerika) aktiv gegen die portugiesisch-spanischen Ausbeuter zu schützen versuchten, doch wurden sie dafür von der Institution gnadenlos abgestraft: ohne Vorankündigung wurden sie über Nacht überall verfolgt, eingekerkert, gefoltert, umgebracht. Die später aufkeimende kritischen Bibelwissenschaften hatten genug Erkenntnisse, um die naiven Grundanschauungen des christlichen Dogmas zu erschüttern und als haltlos zu erweisen. Aber auch diese wurden lange unterdrückt und innerhalb der Institution dann soweit ‚abgeschwächt‘, dass notwendige Korrekturen am Gesamtbild von ‚Mensch‘, ‚Geschichte‘, ‚Institution‘ dann doch wieder unterblieben.

Wenn die Autoren Schaik und Michels — mit Billigung von Glaubrecht — diese ‚finstere Maschine‘ einer dogmatischen christlichen Religion (mit vielen ihrer späteren Ablegern) letztlich ‚glorifizierend‘ preisen als einen ‚menschheitsverbindenden Verhaltenskodex‘, den man irgendwie zurück haben möchte (S.41), dann erscheint dies vor dem Hintergrund der massiven Fakten als ‚extrem naiv‘; mit Wissenschaft hat dies nicht das Geringste zu tun.

Typisierung: Natur – Kultur – Vernunft

Ich möchte hier nochmals auf die für Schaik und Michels grundlegende Typisierung der menschlichen ‚Natur‘ als (i) ‚Biologisch‘, (ii) ‚Kulturell‘, (iii) ‚Vernunft‘ (vgl. S.39f) zurück kommen, die sich prozesshaft in einem komplexen Phänomen von „kumulativer kultureller Evolution“ (S.40) niederschlägt.

Wenn ich ein technisches System wie einen Computer nehme, dann besteht dieser aus (i) Hardware, die festlegt, welche technischen Systemzustände im Prinzip möglich sind (Hardware, die mittlerweile partiell ‚adaptiv‘ sein kann), aus (ii) Software, die aus dem Raum der möglichen Systemzustände eine charakteristische Teilmenge von Zuständen auswählt, und — für den menschlichen Benutzer bedeutsam — (iii) das beobachtbare Input-Output-Verhalten des Systems, das mit dem menschlichen Verhalten eine ‚Symbiose‘ eingeht. Ein Mensch im Jahr 2022, der ein sogenanntes ‚Smartphone‘ benutzt, der denkt während der Nutzung weder über die Hardware noch über die Software nach; er erlebt das technische System direkt und unmittelbar als ‚Teil seines eigenen Handlungsraumes‘. Letztlich ‚verschwindet‘ in der Wahrnehmung das technische System als etwas ‚Anderes‘; es gehört zum Menschen so wie sein Arm, seine Hand, seine Beine.

Die Dreifach-Typologie von Schaik und Michel (literarisch approbiert von Glaubrecht) liese sich auf die Menge der Smartphones anwenden: (i) der menschliche Körper als Manifestation des ‚Biologischen‘ entspricht der Hardware als Manifestation des Technischen. (ii) Die ‚Kultur‘ entspricht der Software, deren Regelmengen die Menge der Systemzustände festlegen. (iii) die ‚Vernunft‘ entspricht jenen typischen ‚Reaktionen‘ des technischen Systems auf die Anforderungen seitens des menschlichen Benutzers, in denen das System ‚antwortet‘, ‚erinnert‘, ‚Konsequenzen sichtbar macht‘, ‚Assoziationen herstellt‘, usw.

Wer jetzt einwenden möchte, dass diese ‚Auslegung der Begriffe‘ in diesem Beispiel doch etwas ‚willkürlich‘ sei, der sollte sich fragen, wie denn Schaik und Michel die Verwendung ihrer Begriffe rechtfertigen. Ihre Verwendung der Begriffe ist absolut beliebig.

Im Smartphone-Beispiel wird allerdings klar, dass die unterschiedlichen ‚Erscheinungsweisen‘ dieses technischen Systems (Hardware, Software, Input-Output-Verhalten) zwar sprachlich unterschiedlich gehandhabt werden können, dass aber jede ‚Ontologisierung‘ dieser drei Erscheinungsweisen in Richtung eigenständiger ‚Naturen‘ die tatsächliche Funktionalität des Systems stark verzerren würde. Jeder Informatiker weiß, dass das beobachtbare Input-Output-Verhalten des Smartphones (so ‚klug‘ es auch erscheinen mag), letztlich nur eine spezielle Abbildung der inneren Systemzustände ist, die von der aktiven Software aus der Menge der möglichen technischen Systemzustände ausgewählt wird. Das eine kann man nicht ohne das andere verstehen. Das technische System bildet als solches ein einziges ‚funktionales Ganzes‘. Und in dem Maße wie Computersysteme über ‚Sensoren‘ verfügen (das Smartphone hat sehr viele), die ‚Signale der Außenwelt‘ messen können, und/ oder auch über ‚Aktoren‘ (hat ein Smartphone auch), auf die Außenwelt physikalisch einwirken kann, dann kann ein Smartphone ‚Zustände der Außenwelt‘ in seine ‚internen Systemzustände‘ ‚abbilden‘, und es kann — falls die Software so ausgelegt wurde — auch Eigenschaften der Außenwelt (und auch über sich selbst) ‚lernen‘. Nicht rein zufällig sprechen ja heute fast alle vom ‚Smart‘-Phone, also von einem ‚klugen‘ Phone, von einem klugen technischen System. Selbstfahrende Autos und ‚autonome Roboter‘ gehören auch in diese Rubrik der ‚klugen‘, ‚vernünftigen‘ Maschine.

Wenn jetzt wieder jemand (vorzugsweise Anthropologen und Geisteswissenschaftler) einwenden würden, dass man diese Begriffe ‚klug‘ und ‚vernünftig‘ hier nicht anwenden darf, da sie ‚unpassend‘ seien, dann kann man gerne zurückfragen, wie Sie denn diese Begriffe definieren? Die Verwendungen dieser Begriffe in der Literatur ist dermaßen vielfältig und vage, dass es schwer fallen dürfte, eine ’scharfe‘ Definition zu geben, die eine gewisse Mehrheit findet. Nichts anderes machen die Informatiker. Weitgehend ohne Kenntnis der philosophischen Literatur benutzen sie diese Begriffe in ihrem Kontext. Sie haben allerdings den Vorteil, dass ihre technischen Systeme schärfere Definitionen zulassen. Von einer ‚klugen‘ Maschine in einem Atemzug mit einem ‚klugen‘ Menschen zu sprechen, erhöht zwar den kulturellen Verwirrtheitsgrad, bislang scheint dies aber niemanden ernsthaft zu stören.

Um es klar zu sagen: das von mir konstruierte Beispiel ist genau das, ein Beispiel; es ersetzt keine umfassende ‚Theorie‘ über den Menschen als Moment der biologischen Evolution auf diesem blauen Planeten. Von einer solchen Theorie sind wir aktuell auch noch — so scheint es — gefühlte Lichtjahre entfernt. Auf jeden Fall dann, wenn Biologen und Anthropologen kein Problem damit zu haben scheinen, solch ein finsteres Phänomen wie die jüdisch-christliche Religion in ihrer historischen Manifestation (sind andere besser?) als positives Beispiel einer Bewältigung des Lebens auf diesem Planeten zu qualifizieren. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Biologen und Anthropologen sich mehr damit beschäftigen würden, wie denn alle diese — scheinbar widersprüchlichen Phänomene ‚biologische Systeme‘, ‚Kultur‘ und ‚Vernunft‘ tatsächlich zusammenhängen. Die — geradezu naive — Verherrlichung der frühen Phase des ‚vorgesellschaftlichen‘ homo sapiens und die — ebenso naiven — Kassandra-Rufen-ähnliche Klassifizierungen von zunehmend komplexen Gesellschaftsbildungen zerstört das Phänomen, was es wissenschaftlich zu erklären gilt, bevor man es überhaupt richtig zur Kenntnis genommen hat. Hier bleibt erheblich ‚Luft nach oben‘.[8]

KOMMENTARE

wkp := Wikipedia, [de, en, …]

[1] Resilienz: Dieser Begriff wird von verschiedenen Disziplinen in Anspruch genommen. Nach meinen Recherchen taucht er als erstes in der Ökologie auf [1.1], wo er sich als wichtiger theoretischer Begriff etabliert hat.[1.2]

[1.1] C.S. Holling. Resilience and stability of ecological systems. Annual Review of Ecology and Systematics, 4(1):1–23, 1973. Online: https://www.jstor.org/stable/2096802

[1.2] Brand, F. S., and K. Jax. 2007. Focusing the meaning(s) of resilience: resilience as a descriptive concept and a boundary object. Ecology and Society 12(1): 23. [online] URL: http://www.ecologyandsociety.org/vol12/iss1/art23/

[1.3] Peter Jakubowski. Resilienz – eine zusätzliche denkfigur für gute stadtentwicklung. Informationen zur Raumentwicklung, 4:371–378, 2013.

[2] Biblische Exegese in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Biblische_Exegese

[3] Historisch-kritische Methode in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Historisch-kritische_Methode_(Theologie)

[4] Ein sehr prominentes Beispiel sind die beiden verschiedenen Versionen der sogenannten ‚Schöpfungsgeschichten‘ zu Beginn des heutigen biblischen Textes, die aus ganz verschiedenen Zeiten stammen, eine ganz verschiedene Sprache benutzen (im hebräischen Text direkt sichtbar), und die ganz unterschiedliche Bilder von Gott, Mensch und Schöpfung propagieren.

[5] Carel van Schaik und Kai Michel, „Das Tagebuch der Menschheit: Was die Bibel über unsere Evolution verrät“, Rowohlt Taschenbuch; 8. Edition (17. November 2017)(Original: The Good Book of Human Nature. An Evolutionary Reading of the Bible, 2016)

[6] Sehr aufschlussreich ist der Umgang der christlichen Tradition mit der sogenannten ‚Spiritualität‘ und ‚Mystik‘: nahezu alle großen geistlichen Lebensgemeinschaften (oft ‚Orden‘ genannt) durften nur existieren, wenn sie sich vollständig der Kontrolle der Institution unterwarfen. Falls nicht, wurden sie verfolgt oder getötet. ‚Subjektivität‘, ‚individuelle Erfahrung‘, nichtautoritäre Praxis, andere Gesellschaftsformen, wurden kompromisslos unterdrückt, ebenso jede Art von abweichender Weltsicht (man denke z.B. nur an Galilei und Co.).

[7] Die ‚Kanonisierung‘ der Bibel meint den historischen Prozess, in dem festgelegt wurde, welche Schriften zum Alten und Neuen Testament gezählt werden sollten und welche nicht. Wie man sich vorstellen kann, war dieser Prozess in keiner Weise ‚trivial‘.(Siehe auch: wkp-de, https://de.wikipedia.org/wiki/Kanon_(Bibel))

[8] Eine sehr interessante alternative Sicht im Bereich (Kultur-)Antropologie und Soziologie zum Verständnis des Phänomens Mensch bietet das interessante Buch von Pierre Lévy  “Collective Intelligence. mankind’s emerging world in cyberspace” (translated by Robert Bonono),1997 (French: 1994), Perseus Books, 11 Cambridge Center Cambridge, MA, United States. Allerdings scheint auch dieses Buch — trotz seiner neuen Akzente — noch eher im ‚alten Denken‘ verhaftet zu sein als in einem ’neuen Denken‘.

[8.1] Eine Folge von Kommentaren zu Pierre Lévy’s Buch findet sich hier: Gerd Doeben-Henisch, 2022, „Pierre Lévy : Collective Intelligence – Chapter 1 – Introduction“, https://www.uffmm.org/2022/03/17/pierre-levy-collective-intelligence-preview/ (mit Fortsetzungs-Links)

Ein Überblick über alle Beiträge des Autors nach Titeln findet sich HIER.

WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1991/1994 (1999)

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 21.Februar 2022
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Kontext

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Fortsetzung der Besprechung der beiden Artikel von Popper „A World of Propensities“ (1988, 1990) sowie „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“ (1989,1990).[1] Der vorliegende Beitrag „All Life is Problem Solving“ (1991, 1994/1999)[2] stammt aus einem späteren Buch.

Vorbemerkung

In den beiden vorausgehenden Besprechungen wurden grobe Linien eines umfassenden Theoriebegriffs von Popper deutlich, in dem es weniger um ‚technische Details‘ eines begrifflichen Theoriebegriffs geht als vielmehr um eine philosophische Gesamtsicht von ‚Wissen‘ als konstitutiver Teil von jedem ‚biologischen Organismus‘. Damit werden alle ‚pragmatischen Konstituenten‘ eines Theoriebegriffs deutlich — einschließlich der möglichen Akteure –, aber die endgültige begriffliche Ausformulierung fehlt noch.

In dem vorliegenden Text „All Life is Problem Solving“ folgt Popper wieder eher seiner bisherigen ‚Gesamtphilosophischen Sicht‘ und weniger technischen Details.

Leben ist Problem Lösen

Von den beiden vorausgehenden Texten her kommend ist klar, dass das biologische Leben, so, wie Popper es rekonstruiert, in nichts anderem besteht als ‚Probleme zu lösen‘. Das zentrale Problem ist das ‚Überleben schlechthin‘, das sich dann in vielfältigen Formen realisieren kann. Bei den komplexeren Lebensformen finden wir unfassbare Netzwerk von vielen Faktoren vor, die alle ineinander greifen, die sich auf unterschiedlichen ‚Realisierungsebenen‘ organisiert haben, die unterschiedlichen Zeithorizonten folgen, so dass es immer schwerer wird, in dieser Vielfalt das allem innewohnende Ziel noch zweifelsfrei erkennen zu können.

Gleichzeitig mit dem Ansteigen der Komplexität der ‚inneren‘ Strukturen sind biologische Lebensformen als Akteure in einer Umwelt auch in der Lage, immer komplexere ‚Handlungsformate‘ hervor zu bringen, die die unterschiedlichsten ‚Ereignisse‘ in der umgebenden ‚Ereigniswelt‘ auslösen können. Über diese ‚erzeugten Ereignisse‘ können auch verschiedene Akteure ‚miteinander interagieren‘ um damit ‚Kommunikation‘ zu realisieren, oder ‚Koordination des Verhaltens‘ zu ermöglichen oder auch zur ‚Veränderung von Umgebungseigenschaften‘ in Richtung Werkzeuge, Bauten, Maschinen, usw. ‚Gesellschaft‘, ‚Technologie‘ und ‚Kultur‘ erscheinen in dieser Perspektive als ‚Auswirkungen menschlichen Verhaltens‘ auf die Ereigniswelt ohne die Menschen aber auch auf die Menschen selbst.

Gesellschaft – Kultur – Technologie

Für Popper scheint ‚Gesellschaft‘ der primäre Begriff zu sein. Abgeleitet scheint die ‚Kultur‘ als ein Teilphänomen innerhalb der Gesellschaft zu sein, und als weiteres spezielles Phänomen innerhalb von Kultur nennt Popper ‚Technologie‘. Genauere begriffliche Abgrenzungen nimmt er nicht vor.

Das unterstellte ‚innere Wechselverhältnis zwischen Kultur und Technologie‘ illustriert Popper dadurch, dass er eine Reihe von ‚technologischen Erfindungen‘ aufzählt, die im Laufe der Geschichte die Kultur ‚verändert‘ haben. In seinen Beispielen charakterisiert Popper ‚Technologie‘ ansatzweise als spezielle Verfahrensweisen/ Maschinen, die Menschen in ihrem Alltag benutzen können, und wie durch diese Nutzung sich vieles in den bekannten Abläufen ändert. Abläufe sind für gewöhnlich konstituiert durch Akteure, die bestimmte Rollenanforderungen erfüllen müssen, die implizit von ‚Werten‘ (und möglichen ‚Sanktionen‘) gesteuert werden, und durch die Verschiedenes ‚bewirkt‘ werden kann. Einerseits kosten diese Abläufe Ressourcen (Zeit, Kraft, Energie, Material, …), andererseits erlangt man dadurch ‚Ergebnisse‘ und ‚Anerkennungen‘, die gesellschaftlich ‚honoriert‘ werden.

Konstituieren also diverse ‚Abläufe‘ mit bestimmten ‚Rollen‘, ‚Regelwerken‘ und ‚Werten‘ den ‚Stoff, aus dem Kultur besteht‘, dann kommt ‚Technologie‘ in diesen Abläufen vor als ’nicht-menschliche Faktoren‘, die die Art und Weise der Abläufe verändern können (weniger Zeitbedarf, weniger Materialbedarf, weniger menschliche Anstrengung, weniger Kosten, …, größere Ergebnisse, mehr ‚Erfolg‘, …). Technik erscheint in dieser Sicht als ein ‚Medium‘, durch das sich eine aktuelle Kultur ‚fließend verändern‘ kann. Es wird kaum diskutiert, es wird einfach gehandelt, und das veränderte Handeln verändert das Erleben, das Miteinander, verändert bisherige ‚Skripte‘ und bisherige ‚Rollen‘, verändert letztlich unmerklich das ganze Denken und Verstehen.

Zeitsprung

Als Popper seinen Vortrag in Bad Homburg 1991 hielt, da war das später so einflussreiche World Wide Web [3] zwar im Prinzip schon ‚erfunden‘, aber es war noch nicht das öffentliche, später und heute dann globale Phänomen, das mittlerweile in nahezu jeden Lebensbereich eingedrungen ist, das immer mehr ‚überall‘ benutzt wird, und das durch diese umfassende Nutzung de facto das gesamte gesellschaftliche Leben der meisten Länder auf dieser Erde real und — wie es aussieht — nachhaltig verändert hat. Mit dieser umfassenden realen Veränderung des alltäglichen Lebens hat sich auch das ‚Denken‘ in diesem täglichen Ereignisstrom real verändert. Ein Bereich, in dem man diese deutlich ablesen kann, ist der Sozialisierungsprozess der heutigen Kinder verglichen mit Kindern von z.B. 1950 – 1955. Natürlich spielen hier viele andere Faktoren auch eine Rolle, aber der Faktor World Wide Web ist gut greifbar und in seinen Wirkungen (1950 – 1955 nicht vorhanden), heute gut abgrenzbar.

Klar ist hier, dass Technologie von Kultur nicht abgrenzbar ist. Technologie ist das Medium, in dem wir unsere Kultur leben.

Eine der interessanten Fragen in diesem Zusammenhang ist, ob und wie sich die Fähigkeit des Menschen zum Problemlösen dadurch möglicherweise verändert hat:

  1. Welche Probleme erkennen wir überhaupt als solche, die wir lösen müssten, um überleben zu können?
  2. Welche dieser Problemen können wir durch die neue WWW-Technologie besser lösen?
  3. Welche dieser Problemen können wir durch die neue WWW-Technologie jetzt schlechter oder gar nicht mehr lösen?

Für die Beantwortung dieser Fragen arbeiten wir am oksimo Projekt.

Anmerkung

[1] Karl Popper, „A World of Propensities“,(1988) sowie „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“, (1989) in: Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[2] Karl Popper, „All Life is Problem Solving“, Artikel, ursprünglich ein Vortrag 1991 auf Deutsch, erstmalig publiziert in dem Buch (auf Deutsch) „Alles Leben ist Problemlösen“ (1994), dann in dem Buch (auf Englisch) „All Life is Problem Solving“, 1999, Routledge, Taylor & Francis Group, London – New York

[3] World Wide Web in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/World_Wide_Web

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1989/1990

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 19.-21.Februar 2022, 14:05h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Vorbemerkung

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Fortsetzung der vorausgehenden Besprechung von Popper’s erstem Artikel „A World of Propensities“ (1988, 1990). In diesem neuen Post steht der zweite Artikel von Popper im Zentrum „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“ (1989,1990)[0]. Der Text von Popper geht zurück auf seine erste öffentliche Rede für die Alumni der London School of Economics 1989, 40 Jahre nach seiner Ernennung zum Professor für Logik und wissenschaftliche Methoden an der L.S.E. Der Text des Artikels wurde von ihm gegenüber der ursprünglichen Rede leicht erweitert.

Rückblick als Zusammenfassung

(Mit eigenen Worten …)

Im vorausgehenden Text hatte Popper sehr grundsätzlich die Idee entwickelt, dass in der Abfolge beobachtbarer Ereignisse mit möglichen Häufigkeiten ‚mehr enthalten‘ ist als bloß ein ‚wiederholtes Auftreten‘. Ereignisse in der uns umgebenden Ereigniswelt — mit unserem Körper ebenfalls als ein Ereignis darin — stehen nicht beziehungslos im Raum, sondern stehen in einem realen Zusammenhang mit allem anderen, kontinuierlich eingebettet in reale Wechselbeziehungen vielfältiger Art, und dieser Zusammenhang dauert an als ‚Gegenwart‘, in der sich diese realen Konstellationen in Form von ‚Wirkungen‘ manifestieren. Die Wirklichkeit erscheint in dieser Sicht als ein ‚Prozess‘, in dem alles mit allem verbunden ist und sich durch die kontinuierlichen ‚Wirkungen‘, die von den einzelnen Komponenten ausgehen, sich selbst kontinuierlich auch verändern kann. Eine Wirkung, die innerhalb solch eines dynamischen Prozesses als ‚Ereignis‘ beobachtbar (= messbar) wird, muss man daher als eine ‚Tendenz‘ (‚propensity‘) begreifen, die ‚vorkommt‘, weil es einen realen Zusammenhang gibt, der sie bedingt. Tendenzen kann man daher verstehen als ‚Geräusche des Daseins‘, ‚Mitteilungen des So-Seins‘, oder als ‚Sound der Welt‘. Man kann es beim bloßen Wahrnehmen, beim Sound als solchem, belassen, oder man kann den Sound als ‚Spur‘ sehen, als ‚Zeichen‘, als ‚Abdruck von etwas‘, das sich ‚mitteilt.

Popper legt Wert darauf, dass die einzelnen Töne des Sounds, die einzelnen Ereignisse, weder ‚deterministisch‘ sind noch ‚rein zufällig‘. Irgendetwas dazwischen. Das Auftreten dieser Töne kann ‚Muster‘ andeuten, ‚Regelhaftigkeiten‘, durch die unser Denken angeregt werden kann, zwischen aufeinander folgenden Ereignissen ‚Beziehungen‘ zu sehen, ‚Zusammenhänge‘, aber diese Beziehungen sind aufgrund der Art ihres Auftretens ‚fragil‘: sie können auftreten mit einer gewissen Häufigkeit, phasenweise vielleicht sogar mit einer gewissen ‚Konstanz der Häufigkeiten‘, aber es gibt ‚keine absoluten Garantien‘, dass dies immer so bleiben wird. Im Alltag neigen wir dazu, solche sich wiederholenden ‚Beziehungen‘ in ‚Hypothesen‘ umzuwandeln, an die wir die ‚Erwartung‘ knüpfen, dass sich ein solches hypothetische Muster reproduziert. Falls ja, fühlen wir uns ‚bestätigt‘; falls nein, steigen Zweifel auf, ob wir uns mit unserer Annahme geirrt haben. Im einen Grenzfall, wenn das Muster sich immer und immer wiederholt, neigen wir dazu es als ‚feste Regel‘, als ‚Gesetz‘ zu sehen. Im anderen Grenzfall, wenn das Muster sich trotz aller Versuche, es als Ereignis zu reproduzieren (Experiment, Test), nicht wieder einstellt, dann neigen wir dazu, unsere ‚Hypothese‘ wieder zu verwerfen. Doch zwischen ‚Annahme‘ eines Musters als ‚gesetzmäßig‘ und als ‚verworfen‘ liegt ein Raum voller Schattierungen. Der bekannte Spruch ‚Die Hoffnung stirbt zuletzt‘ kann andeuten, dass das ‚Verwerfen‘ einer Hypothese — je nach Art und Stärke der Erwartungen — sehr lange hinausgezögert werden kann … manche ‚glauben‘ auf jeden Fall, dass es irgendwie doch möglich sein kann, egal was passiert …

Diese Sichtweise Poppers deckt sich nicht mit einer theoretischen (mathematischen) Wahrscheinlichkeit, nicht mit einer rein subjektiven Wahrscheinlichkeit, auch nicht mit einer deskriptiven (empirischen) Wahrscheinlichkeit, selbst wenn es jeweils ‚Überschneidungen‘ gibt. Eher ist es eine Kombination von allen Dreien plus eine charakteristische Erweiterung:

  1. Wenn man beginnt, beobachtbare Ereignisse zu ’notieren‘, zu ‚protokollieren‘ und sie nach verschiedenen formalen Kriterien ‚anzuordnen‘ ohne weiter reichenden Interpretationen zu formulieren, dann bewegt man sich im Feld einer empirischen deskriptiven Wahrscheinlichkeit, die mit Häufigkeiten arbeitet. Damit würde auch Popper anfangen.
  2. Wenn man diese ‚empirischen Befunde‘ dann versucht in weiter reichende ‚Beziehungen‘ einzuordnen, dann braucht man eine theoretische Struktur. Eine solche bietet die theoretische Wahrscheinlichkeit. In ihr kann man beliebig viele Strukturen (= Modelle, Theorien) definieren und versuchsweise in Beziehung setzen zu empirischen Befunden. Je nach Modell kann man dann die empirischen Befunde unterschiedlich interpretieren und daraus unterschiedliche Voraussagen ableiten. Im Experiment kann man weiter versuchen, zu überprüfen, welches angenommene Modell sich ‚mehr‘ bestätigt als ein anderes.
  3. Jeder einzelne Mensch bildet im Alltag automatisch sein ’subjektives Modell‘ von Wahrscheinlichkeiten aufgrund seiner Alltagserfahrung. Dies kann sich auf Dauer als ‚mehr oder weniger zutreffend‘ erweisen. Würde jemand versuchen, seine Alltagserfahrung ‚wissenschaftlich zu analysieren‘ würde er sowohl eine ‚deskriptive‘ Wahrscheinlichkeit ausbilden können wie auch eine ‚theoretische‘ Wahrscheinlichkeit.
  4. Die Sichtweisen (1) – (3) zwingen nicht dazu, jenseits der beobachtbaren und klassifizierbaren Ereignisse eine ‚reale Welt von Kontexten (mit Situationen als Teilaspekten)‘ anzunehmen, deren reale Beschaffenheit so ist, dass von ihr ‚Wirkungen‘ ausgehen, die sich als ‚beobachtbare Ereignisse‘ manifestieren und die in ihrer zeitlich geordneten ‚Gesamtheit‘ dann als ‚Tendenzen‘ verstanden werden können, die ‚objektiv‘ sind, da sie mit realen Kontexten in einem unauflösbaren Zusammenhang stehen. Diese vierte Dimension der ‚objektiven Tendenzen‘ ist der ‚Mehrwert, den Popper in die Sicht der Dinge einbringt

Soweit die Kernthese von Popper zu ‚objektiven Tendenzen‘, zusammengefasst, nicht als 1-zu-1 Formulierung von Popper.

Ein wissender Körper

Im vorausgehenden Text hatte ich bei der Kommentierung von Poppers Text spontan an verschiedenen Stellen Überlegungen eingestreut, in denen ich weitergehende Annahmen über die Arbeitsweise unseres Körpers mit seinem Gehirn beschrieben habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich Poppers Beitrag zu einer evolutionären Theorie des Wissens noch nicht gelesen. Ich selbst hatte mich aber auch schon seit mindestens 30 Jahren mit der evolutionären Perspektive unserer körperlich-geistigen Existenz beschäftigt und erleben dürfen, dass erst mit Einbeziehung der evolutionären Perspektive viele grundlegenden Eigenschaften unser Daseins in einem rationalen Kontext (= Menge von Hypothesen) erscheinen, der ‚plausibel‘ wirkt (aber ‚auf Abruf‘; es kann sich ändern).

Mit Beginn der Lektüre des zweiten Artikels war ich daher nicht wenig (positive) überrascht, dass Popper der evolutionären Perspektive unseres wissenden Körpers so viel Gewicht beimaß. [0b]

Popper beginnt seinen Artikel mit der (Hypo-)These, dass Tiere Wissen (‚knowledge‘) besitzen.(vgl. S.30) Da wir als Menschen nicht direkt wissen können, was ‚Wissen‘ aus der Innensicht von Tieren ist sondern nur aus unserer ‚Selbsterfahrung‘ als Menschen, räumt Popper ein, dass die These „Tiere besitzen Wissen“ im ersten Augenblick ‚anthropomorph‘ klingt; das wäre dann eine bloße ‚Projektion‘ von menschlichen Eigenschaften auf Tiere; einer solchen Projektion käme dann zunächst kein weiterer empirischer Erkenntniswert zu. Aber Popper bleibt beharrlich und stellt fest, dass seine Rede nicht als „bloße Metapher“ gemeint sei. Darüber hinaus verteidigt er seine anthropomorphe Redeweise mit dem Argument, dass wir über biologische Phänomene gar nicht anders als anthropomorph reden könnten, da unser eigener Körper mit seinen Eigenschaften als (natürlicher) Referenzpunkt dient, über den wir einen ersten Zugang zu ‚homologen‘ (= strukturähnlichen, formähnlichen) Eigenschaften der anderen Lebensformen finden.(vgl. S.30) Und er wiederholt seine These, dass die ‚Formähnlichkeiten‘ zwischen menschlichem Körper (und Verhalten) mit nicht-menschlichen Körpern (und Verhalten) nicht rein äußerlich sei, sondern dass die formähnlichen Teile auch ähnliche Funktionen haben, z.B. die Annahme, dass das Gehirn eines Tieres auch irgendwie ‚Wissen‘ hat, erzeugt analog wie beim Menschen.(vgl.S.30f).

Er unterscheidet sehr schnell zwischen ‚Wissen‘ und dem ‚Wissen um Wissen‘ (‚being aware of‘) und meint, dass aus der Annahme von ‚Wissen‘ in nicht-menschlichen Lebensformen nicht unbedingt folgt, dass diese sich ihres Wissens ‚bewusst‘ seien noch ist auszuschließen, dass bei uns Menschen ‚Wissen‘ auch ‚unbewusst‘ (’not aware of‘, ‚unconscious‘) sein kann.(vgl. S.31) Bei Menschen manifestiert sich ‚unbewusstes Wissen‘ oft in Form von ‚Erwartungen‘, deren wir uns oft erst bewusst werden, wenn sie ‚enttäuscht‘ werden.(vgl. S.31)

Popper stellt dann eine Art Liste von Vermutungen zusammen, die sich aus der Eingangs-Annahme ergeben können, dass Tiere über Wissen verfügen (vgl. SS.32-39):

  1. ERWARTUNGEN: Wie schon zuvor erwähnt, zeigt sich Wissen in Form von ‚Erwartungen‘
  2. UNSICHERHEIT: Erwartungen sind objektiv unsicher; der jeweilige Akteur kann mit einer Erwartung aber so umgehen, als ob sie ’sicher‘ sei.
  3. HYPOTHESEN: Die überwiegende Menge an Wissen besteht aus Hypothesen.
  4. OBJEKTIV WAHR: Trotz eines hypothetischen Charakters kann Wissen ‚objektiv wahr‘ sein, weil es sich auf ‚objektive Fakten‘ (= reale Ereignisse) stützt.
  5. WAHR ≠ SICHER: Wahrheit und Sicherheit müssen klar unterschieden werden. In der Welt der realen Ereignisse kann etwas ‚wahr‘ und zugleich unsicher sein. In der Welt des abstrakten Denkens (z.B. Mathematik) kann es wahr und zugleich sicher sein.
  6. TESTEN: Wegen mangelnder Sicherheit in der realen Welt müssen wahre Aussagen immer wieder getestet werden, ob sie ’noch‘ zutreffen (weil die reale Welt sich in konstanter Veränderung befindet).
  7. Wie (4)
  8. FALSCHE SICHERHEIT: In der realen, sich ständig verändernden Welt, kann es keine absolute Sicherheit geben.
  9. WISSEN ÜBERALL: Verknüpft man ‚Wissen‘ an der Wurzel mit ‚Erwartungen‘, dann muss man allen biologischen Lebensformen ein Minimum an Wissen zusprechen.
  10. Erläuterung zu (9) mit Bäumen.
  11. Weitere Erläuterung zu (9) mit Bäumen.
  12. LANGZEIT und KURZZEIT EREIGNISSE: Reaktionen eines Organismus auf Kurzzeit Ereignisse setzten gewisse ‚Fähigkeiten‘ voraus, die sich über Generationen als ’strukturelle Eigenschaften‘ adaptiv herausgebildet haben müssen, damit sie als Basis des Reagierens verfügbar sind.
  13. Erläuterung zu (12) am Beispiel von Wildgänsen, die adaptiert sind, auf jagende Füchse zu reagieren.
  14. Erläuterung zu (12). Strukturelle Anpassungen setzen voraus, dass es Umweltbedingungen gibt, die über lange Zeit hinreichend konstant waren.
  15. ADAPTION und WISSEN mit ERWARTUNGEN durch VERSUCH & IRRTUM: Ein reales Ereignis wird nur dann für einen einzelnen Akteur zu einer ‚Sache‘ (zu einem ‚Fakt‘, zu einer ‚Information‘) wenn verfügbares Wissen das Ereignis entsprechend ‚einordnen‘ kann. Verfügbares Wissen entsteht aber nur durch einen individuellen ‚Lernprozess‘ bestehend aus vielen kleinen ‚Versuchen‘ mit Erwartung und nachfolgender Bestätigung/ Nicht-Bestätigung. Adaptierte Strukturen in einem Individuum in einer sich verändernden Welt mit partiell konstanten Mustern können nur über einen Prozess von vielen ‚Reproduktions-Versuchen‘ in einer Population entstehen, wenn’un-passende‘ Strukturen weniger leistungsfähig sind wie andere.
  16. LANGZEIT-/KURZZEIT ANPASSUNG/WISSEN: Kurzzeit-Wissen setzt Langzeit-Anpassung und darin kodiertes Wissen voraus. Sowohl Langzeit-Strukturen/Wissen als auch Kurzzeit-Wissen sind beide ‚hypothetisch‘: sie bilden sich anlässlich ‚realer Ereignisse‘, erben aber die Unsicherheit der Ereigniswelt als solcher.
  17. WISSEN IST ÜBERLEBENSORIENTIERT: Jede Form von Wissen in jedem biologischen Organismus (von der kleinsten Zelle bis zum Menschen) dient dazu, dem Menschen für sein Überleben zu dienen.
  18. ALTER DES WISSENS: Das Phänomen des Wissens begleitet das Leben von Anfang an.
  19. UNIVERSUM-LEBEN-WISSEN: Insofern das Leben mit dem ganzen Universum verknüpft ist (zu 100%!) ist auch das Wissen ein Aspekt des gesamten Universums.

Popper illustriert viele der in der Liste aufgeführten Punkte dann an der realen Geschichte der Evolution anhand konkreter Forschungen aus seiner Zeit. (vgl. SS.39 – 45) Der Grundtenor: Leben spielt sich primär in Form von chemischen Prozessen in jeweiligen Umgebungen ab. Die ‚Makro‘-Phänomene, die wir vom Leben aus dem ‚Alltag der Körper‘ kennen, sind im Sinne der Komplexität so ‚unfassbar weit‘ von diesen elementaren Prozessen entfernt, dass es für uns Menschen bis heute — trotz Wissenschaft — noch kaum möglich ist, alle diese Prozesse hinreichend zu verstehen. Speziell der Übergang vom Planeten Erde ‚vor‘ den Phänomenen einzelligen Lebens hin zu einzelligem Leben ist trotz mittlerweile vielfacher Versuche leider noch nicht wirklich klar.[5],[6]

Die wichtigsten Erkenntnisse aus alledem

An dieser Stelle stellt sich Popper selbst die Frage, was aus alledem jetzt folgt? („… the main lesson to be drawn …“(S.45)

Und mit all den ungeheuerlichen Geschehnissen der Evolution vor Augen fällt eines ganz klar auf: allein nur um zu wissen, was ‚um ihn herum‘ der Fall ist, benötigt der Organismus eine ‚Struktur‘, deren Eigenschaften den Organismus in die Lage versetzen, bestimmte Umweltereignisse zu ‚registrieren‘, dieses ‚Registrierte‘ in interne Zustände so zu ‚übersetzen‘, dass der Organismus darauf in einer Weise ‚reagieren‘ kann, die für sein Überleben zuträglich ist. Und da es neben den ‚Langzeit-Ereignissen‘ (Eigenschaften der Umgebung, die sich nur langfristig ändern), auch sehr viele ‚Kurzzeit-Ereignisse‘ gibt, die mal so oder mal so sind, benötigt der Organismus neben den ‚Strukturen‘ auch ‚flexible Prozesse‘ des ‚akuten Lernens‘, die aktuell, ‚on demand‘, Antworten ermöglichen, die jetzt gebraucht werden, nicht irgendwann.

Popper greift an dieser Stelle eine Terminologie von Kant [7] auf der zwischen ‚a priori‘ und ‚a posteriori‘ Wissen unterschieden hat. [6] Angewendet auf seine Untersuchungen interpretiert Popper das ‚Wissen a priori‘ als jenes Wissen, das schon da sein muss, damit ein konkretes Ereignis überhaupt ‚als irgendetwas‘ erkannt werden kann („to make sense of our sensations“, S.46). Und dieses ‚voraus zu setzende Wissen‘ sieht er als Wissen a priori‘, das sowohl als verfügbare Struktur (= Körper, Gehirn…) auftritt wie auch innerhalb dieser Struktur als ein ‚Wissen a posteriori‘, das ein Ereignis zu einem ‚irgendwie sinnhaften Ereignis‘ werden lassen kann.(„… without it, what our senses can tell us can make no sense.“ (S.46) Innerhalb dieses voraus zu setzenden Wissens müssen die grundsätzlichen Unterscheidungen zu ‚Raum‘, ‚Zeit‘ und ‚Kausalität‘ möglich sein. Und Popper meint, dass Kant mit seinen erkenntniskritischen Rekonstruktionen grundlegende Einsichten der Evolutionstheorie vorweg genommen habe.(vgl. S.46)

Und, indem Popper Kant so hoch lobt, geht er unmittelbar dazu über, ihn — auf seine Weise — gewissermaßen zu ‚transformieren‘, indem er sagt, dass der Anteil des ‚apriorischen Wissens‘ eher bei 99% liegt und der des ‚aposteriorischen Wissens‘ eher bei 1%. Diesen Schluss zieht er aus der Tatsache (= seine Interpretation von einer Sachlage!), dass die verschiedenen sensorischen Ereignisse im Körper eines Organismus als solche nur ‚Ja-Nein-Zustände‘ sind, die eine wie auch immer geartete ‚Bedeutung‘ nur bekommen, wenn es einen ‚Deutungsrahmen‘ gibt, mit Hilfe von dem ein sensorisches Ja-Nein als ‚Laut‘ oder als ‚Farbe‘ oder als ‚Geschmack‘ usw. ‚gedeutet‘ (abgebildet) werden kann. Dies heißt, dass generell Ereignisse nach einem Deutungsrahmen verlangen, der schon ‚da sein muss‘, damit er wirken kann. Und da ein Organismus primär aus chemischen Prozessen besteht, muss das ‚apriorische Wissen‘ in diesen chemischen Prozessen verfügbar sein („… inborn … in our chemical constitution“. (S.46)) Ferner kann das Verhältnis zwischen zu klassifizierenden sensorischen Daten und dem Wissen a priori nicht deterministisch sein, da diese Klassifikationen ‚falsch‘ sein können, sie partiell erst durch ‚Versuch und Irrtum‘ entstehen. Insgesamt ermöglicht das Wissen zudem ‚Erwartungen‘, aufgrund deren der Organismus handelt (und deshalb ‚irren‘ kann).

Hier deutet sich ein konstruktiver Konflikt an in der Annahme, dass es schon ein apriorisches Wissen geben muss, das zu Klassifikationsleistungen befähigt, und zugleich, dass solch ein apriorisches Wissen weder ‚vollständig‘ zu sein scheint (Poppers Beispiel: der Frosch, der zwar Fliegen erkennen kann als sein Futter, aber nur dann, wenn sie sich bewegen), noch ‚fertig im Detail‘, da ‚Irrtümer‘ auftreten können, aus denen ‚gelernt‘ werden kann. Dem Ganzen (Wissen) haftet etwas ‚prozesshaftes‘ an: es hat schon immer etwas, was ‚funktioniert‘, aber es kann sich selbst in Interaktion mit ‚dem Anderen‘ irgendwie immer weiter verändern.(vgl. S.47)

Das zugrunde liegende Schema könnte man vielleicht wie folgt formulieren: (i) ein Organismus braucht eine Struktur, die registrierte Ja-Nein-Ereignisse ‚Klassifizieren/ Deuten‘ kann, und parallel (ii) braucht es aufgrund des bisherigen Wissens eine ‚Erwartung‘, anhand deren eine aktuelle Deutung als ‚bestätigend‘ erscheint oder ’nicht-bestätigend‘. Aus dieser Differenz kann dann eine Veränderung des Verhaltens resultieren, das ‚versuchsweise‘ Ereignisse schafft, die dann ‚eher bestätigen‘ und ‚weniger enttäuschen (Irrtum, Fehler, …)‘. Das Ganze wird dadurch ‚komplex‘, dass für dieses Schema mindestens zwei Zeitschemata anzunehmen sind: (a) langfristige strukturelle Änderungen (’strukturelles Lernen‘) des gesamten Organismus über Reproduktion und ‚Erfolg‘ in der Population (wer überlebt besser), sowie (b) kurzfristige Änderungen (’situationsbezogenes Lernen‘), das in wechselnden ‚hypothetischen Bildern der Welt‘ beständig als Hypothese und Erwartung wirksam ist, die im Konfliktfall (keine Bestätigung) ‚modifiziert‘ werden können.

Popper zieht in diesem Kontext eine Parallele zum modernen Begriff einer Theorie, die als Hypothese versucht, hilfreiche Deutungen zu liefern, und die in Konfrontation mit der Ereigniswelt (über Experimente) bestätigt oder nicht bestätigt wird. Im Prozess des Erwartens und Korrigierens vollzieht sich eine Form der ‚Anpassung‘ des menschlichen Denkens an jene Ereigniswelt (die wir ‚Welt‘ nennen, ‚Natur‘, ‚Universum‘, …), in der wir uns — ungefragt — vorfinden, in der wir versuchen, zu überleben. (vgl. S.48f) Popper äußert dann noch eine Analogie der Art, dass der Unterschied zwischen der hochentwickelten Wissenskultur eines einzelnen Homo sapiens und jener eines einzelnen Bakteriums letztlich nur graduell ist; grundsätzlich hat ein Bakterium, ein Einzeller, schon alle Merkmale, über die höher entwickelte biologische Lebensformen verfügen.(vgl. S.49f) Insbesondere sieht Popper in jedem lernfähigen Organismus auch — mindestens implizit — ‚Werte‘ in Aktion, nämlich überall dort, wo ‚entschieden‘ werden muss, welche der möglichen Optionen ausgewählt werden soll. In einfachen Organismen geschieht dies weitgehend strukturell-apriorisch; im Fall komplexer Lebewesen mit elaborierten Nervensystemen kann es zusätzlich künstlich eingeführte ‚Regelsysteme‘ geben — wie z.B. ‚gesellschaftliche Normen‘, ‚Konventionen‘, ‚Sitten und Gebräuche‘, ‚Vereinbarte Gesetze‘ usw. –, die auf einen individuellen Entscheidungsprozess einwirken können, ohne den individuellen Entscheidungsprozess dabei ganz außer Kraft zu setzen.(vgl. S.50f)

Nachbemerkung – Epilog

Nimmt man beide Beiträge als eine mögliche Einheit, dann entsteht ein spannender Zusammenhang, eine spannende Gesamt-Hypothese über die Natur der uns umgebenden Ereigniswelt mit uns selbst (über unseren Körper) als Teil davon.

Mit unserem Körper erleben wir interne Ereignisse in Form angeborener und angelernter gedeuteter Strukturen, die uns ein ‚Bild von der Welt mit uns als Teil‘ liefern, mit ‚Erwartungen‘, die in uns entstehen, mit Bestätigungen und Mangel an Bestätigungen, mit der Möglichkeit eines Handelns, das die Struktur der Ereignisse um uns herum — und uns selbst — verändern kann.

Die Welt ist ein dynamisches, changierendes Etwas, ein Gesamtprozess, dessen endgültige Gestalt, dessen inneren ‚Antriebskräfte‘ schwer fassbar sind, ist doch jedes Lebewesen — nicht nur wir Menschen — Teil davon.

Im Versuch dieses dynamische Etwas ‚zu fassen‘, ‚dingfest‘ zu machen, bleiben uns nur einzelne Ereignisse, hier und jetzt, und immer wieder neue Ereignisse im hier und jetzt; abstrakte Bilder (Schatten der Erinnerung), in denen einige häufiger vorkommen als andere. Bisweilen haben wir das Gefühl, dass sich ‚Regeln‘ andeuten, ‚Muster‘, aber sie sind niemals ‚100-prozentig stabil‘ (‚deterministisch‘), aber auch niemals nur ‚rein zufällig‘, sondern irgendwie genau dazwischen. Was ist das? Der Sound des Lebens? Wir sind Teil dieses Sounds. Verstehen wir uns selbst? Verstehen wir die große Partitur, in der wir vorkommen? Alles deutet darauf hin, dass das Gesamtereignis ’sich selbst komponiert‘! Im Kern aller Ereignisse findet man eine große ‚Freiheit‘, die sich im ‚Kleid der Optionen‘ eine Gestalt sucht, eine Gestalt die vorweg niemand kennen kann, und die doch nicht beliebig sein wird…

Im Alltagsgeschäft der heutigen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen — die absolut notwendig sind; ohne die geht gar nichts — findet man von diesem erfrischenden Hauch einer super-lebendigen Singularität nicht viel. Jeder ist mit dem Auszählen seiner Einzelexperimente beschäftigt. Im Mainstream träumt man von sogenannter Künstlicher Intelligenz, die alle unsere Problem überwinden wird; welch absolut schrottige Idee. Der ‚Supercomputer‘ des Lebens auf diesem Planeten ist davon mehrfache Galaxien weit entfernt.

Anmerkungen

[0] Karl Popper, „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“, Vortrag 1989, erweiterter Text in: Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[0b] Die Einbeziehung der Erkenntnisse der Evolutionsbiologie in eine philosophische Gesamtsicht findet sich nicht nur bei Popper. Schon der Verhaltensforscher und Philosoph Konrad Lorenz [2] hatte in einem Aufsatz 1941 [2b]einen Zusammenhang zwischen der Erkenntnistheorie von Kant und den Erkenntnissen der Biologie hergestellt. Dies wird bei Lorenz dann 1973 in sein Hauptwerk „Die Rückseite des Spiegels …“ zu einer großen Gesamtschau ausgeweitet, in dem er explizit eine Verbindung zieht zwischen der morphologischen Entwicklung in der Evolution und den Formen der Erkenntnis. [2c]. Ein anderer starker Denker im Spannungsfeld von Biologie und Philosophie war Humberto Maturana [3], der in den Jahren 1968 – 1978 viele grundlegende Beiträge zum Thema verfasst hat.[2b] In Deutschland ist u.a. noch zu nennen Gerhard Vollmer mit seinem Buch Evolutionäre Erkenntnistheorie‘ von 1975.

[1] Evolutionäre Erkenntnistheorie in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Evolution%C3%A4re_Erkenntnistheorie //* Dieser Artikel ist nicht besonders gut *//

[1b] Evolutionary Epistemology in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Evolutionary_epistemology //* Dieser Artikel ist nicht besonders gut *//

[2] Konrad Lorenz in wkp-ed: https://en.wikipedia.org/wiki/Konrad_Lorenz und in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad_Lorenz

[2b] K. Lorenz: Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie. In: Blätter für Deutsche Philosophie. Band 15, 1941, S. 94–125

[2c] K.Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens (1973), in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_R%C3%BCckseite_des_Spiegels

[3] Humberto Maturana in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Humberto_Maturana

[3b] Humberto R.Maturana, Erkennen; Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Friedr.Viehweg & Sohn, Braunschweig – Wiesbaden, 1982 (Enthält von Maturana autorisiert in deutscher Übersetzung Arbeiten aus den Jahren 1968 – 1978).

[4] Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie. Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie. S. Hirzel, Stuttgart 1975. Zu Vollmer in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Vollmer

[5] Evolution in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Evolution

[6] Hans R.Kricheldorf, Leben durch chemische Evolution?, Springer-Verlag, 2019, ISBN: 978-3-662-57978-7

[7] A priori in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/A_priori

[8] Immanuel Kant in wpd-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_Kant

[9] Die hier benutzten anthropomorphen Begriffe sind als ‚Hilfsbegriffe‘ zu betrachten, da eine ‚präzisere‘ Begrifflichkeit einen ausgearbeiteten begrifflichen Rahmen (Modell, Theorie) voraussetzen würde, die erst dann möglich ist, wenn man sich über die grundsätzlichen Sachverhalte besser verständigt hat.

Fortsetzung

Es gibt einen dritten Artikel von Popper, der in diesen Zusammenhang gehört. Eine Besprechung findet sich HIER.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1988/1990

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 16.-17.Februar 2022, 18:00h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Vorbemerkung

In einer Welt voller Bücher — gefühlt: unendlich viele Bücher — ist kaum voraussagbar, welches Buch man im Februar 2022 lesen wird. Dass es dann das Büchlein ‚A World of Propensities‘ (1990 (reprint 1995))[2a] von Karl Popper [1] sein würde, hing von einem ganzen Bündel von Faktoren ab, von denen jeder für sich ‚eine Rolle‘ spielte, aber dass es dann zu diesem konkreten Buch zu diesem konkreten Zeitpunkt gekommen ist, war aus Sicht der einzelnen Faktoren nicht direkt ableitbar. Auch das ‚Zusammenspiel‘ der verschiedenen Faktoren war letztlich nicht voraussagbar. Aber es ist passiert.

Im Rahmen meiner Theoriebildung für das oksimo-Paradigma (einschließlich der oksimo-Software)[4] Hatte ich schon viele Posts zur möglichen/ notwendigen Theorie für das oksimo-Paradigma in verschiedenen Blocks geschrieben [3a], sogar einige zum frühen Popper [3b], aber mir scheint, so richtig bin ich mit der Position von Popper in seiner ‚Logik der Forschung‘ von 1934 bzw. dann mit der späteren Englischen Ausgabe ‚The Logic of Scientific Discovery‘ (1959)[2b] noch nicht klar gekommen.

Im Frühjahr 2022 war es eine seltene Mischung aus vielerlei Faktoren, die mich über den Umweg der Lektüre von Ulanowizc [5], und zwar seines Buches „Ecology: The Ascendant Perspective“ (1997), auf den späten Popper aufmerksam machten. Ulanowizc erwähnt Popper mehrfach an prominenter Stelle, und zwar speziell Poppers Büchlein über Propensities. Da dieses schmale Buch mittlerweile vergriffen ist, kam ich dann nur durch die freundliche Unterstützung [6b] der Karl Popper Sammlung der Universität Klagenfurt [6a] zu einer Einsicht in den Text.

Der nachfolgende Text beschäftigt sich mit dem ersten der beiden Aufsätze die sich in dem Büchlein finden: „A World of Propensities: Two New Views of Causality“.[7][*]

Wahrscheinlichkeit, Wahrheit, Hypothese, Bekräftigung, … Vorgeplänkel

In seiner Einleitung im Text erinnert Popper an frühere Begegnungen mit Mitgliedern des Wiener Kreises [1b] und die Gespräche zu Theme wie ‚absolute Theorie der Wahrheit‘, ‚Wahrheit und Sicherheit‘, ‚Wahrscheinlichkeitsbasierte Induktion‘, ‚Theorie der Wahrscheinlichkeit‘ sowie ‚Grad der Bekräftigung einer Wahrscheinlichkeit‘.

Während er sich mit Rudolf Carnap 1935 noch einig wähnte in der Unterscheidung von einer Wahrscheinlichkeit im Sinne einer Wahrscheinlichkeitstheorie und einem ‚Grad der Bestätigung‘ (‚degree of confirmation‘) , war er sehr überrascht — und auch enttäuscht — 1950 in einem Buch von Carnap [8], [8b] zu lesen, dass für Carnap dies alles das Gleiche sei: mathematische Wahrscheinlichkeit und empirische Bestätigung eines Ereignisses. Hatte Carnap mit dieser Veränderung seiner Auffassung auch die Position einer ‚Absolutheit der Wahrheit‘ verlassen, die für Popper 1935 immer noch wichtig war? Und selbst in der Rede von 1988 hält Popper das Postulat von der Absolutheit der Wahrheit hoch, sich dabei auf Aristoteles [9], Alfred Tarski [10] und Kurt Gödel [11] beziehend (S.5f).

In einer Welt mit einem endlichen Gehirn, in einem endlichen Körper (bestehend aus ca. 36 Billionen Zellen (10^12)[12], in einer Welt von nicht-abzählbar vielen realen Ereignissen, war mir nie klar, woran (der frühe) Popper (und auch andere) die Position einer ‚absoluten Wahrheit‘ fest machen konnten/ können. Dass wir mit unserem endlichen – und doch komplexen, nicht-linearem — Gehirn von ‚Konkretheiten‘ ‚abstrahieren‘ können, Begriffe mit ‚offenen Bedeutungen‘ bilden und diese im Kontext der Rede/ eines Textes zu Aussagen über Aspekte der Welt benutzen können, das zeigt jeder Augenblick in unserem Alltag (ein für sich außergewöhnliches Ereignis), aber ‚absolute Wahrheit‘ … was kann das sein? Wie soll man ‚absolute Wahrheit‘ definieren?

Popper sagt, dass wir — und wenn wir uns noch so anstrengen — in unserem „Ergebnis nicht sicher“ sein können, das Ergebnis kann sogar „nicht einmal wahr“ sein.(vgl. S.6) Und wenn man sich dann fragt, was dann noch bleibt außer Unsicherheit und fehlender Wahrheit, dann erwähnt er den Sachverhalt, dass man von seinen „Fehlern“ auf eine Weise „lernen“ kann, dass ein „mutmaßliches (‚conjectural‘) Wissen“ entsteht, das man „testen“ kann.(vgl. S.6) Aber selbst dann, wenn man das Wissen testen kann, sind diese Ergebnisse nach Popper „nicht sicher“; obwohl sie „vielleicht wahr“ sind, diese Wahrheit aber ist damit dennoch „nicht endgültig bestätigt (‚established‘)“. Und er sagt sogar: „Selbst wenn sie [ergänzt: die Ergebnisse] sich als nicht wahr erweisen, … eröffnen sie den Weg zu noch besseren [ergänzt: Ergebnissen].“ (S.6)

Diese ‚changierende Sprechweise‘ über ‚wahre Ergebnisse‘ umschreibt das Spannungsfeld zwischen ‚absoluten Wahrheit‘ — die Popper postuliert — und jenen konkreten Sachverhalten, die wir im Alltag zu ‚Zusammenhängen (Hypothesen)‘ verdichten können, in denen wir einzelne Ereignisse ‚zusammen bringen‘ mit der ‚Vermutung‘, dass sie auf eine nicht ganz zufällige Weise zusammen gehören. Und, ja, diese unsere alltägliche Vermutungen (Hypothesen) können sich ‚alltäglich bestätigen‘ (wir empfinden dies so) oder auch nicht (dies kann Zweifel wecken, ob es ‚tatsächlich so ist‘).(vgl. S.6)

Das Maximum dessen, was wir — nach Popper — in der alltäglichen Erkenntnis erreichen können, ist das Nicht-Eintreten einer Enttäuschung einer Vermutung (Erwartung, Hypothese). Wir können dann „hoffen“, dass die Hypothese „wahr ist“, aber sie könnte sich dann beim nächsten Test vielleicht doch noch als „falsch“ erweisen. (vgl. S.6)

In all diesen Aussagen, dass ein Ergebnis ’noch nicht als wahr erwiesen wurde‘ fungiert der Begriff der ‚Wahrheit‘ als ein ‚Bezugspunkt‘, anhand dessen man eine vorliegende Aussage ‚vergleichen‘ kann und mit diesem Vergleich dann zum Ergebnis kommen kann, dass eine vorliegende Aussage ‚verglichen mit einer wahren Aussage‘ nicht wahr ist.

Messen als Vergleichen ist in der Wissenschaft der Goldstandard, aber auch im ganz normalen Alltag. Wo aber findet sich der Vergleichspunkt ‚wahr Aussage‘ anhand dessen eine konkrete Aussage als ’nicht dem Standard entsprechend‘ klassifiziert werden kann?

Zur Erinnerung: es geht jetzt hier offensichtlich nicht um einfache ‚Sachverhaltsfeststellungen‘ der Art ‚Es regnet‘, ‚Es ist heiß‘, ‚Der Wein schmeckt gut‘ …, sondern es geht um die Beschreibung von ‚Zusammenhängen‘ zwischen ‚isolierten, getrennten Ereignissen‘ der Art (i) ‚Die Sonne geht auf‘, (ii) ‚Es ist warm‘ oder ‚(i) ‚Es regnet‘, (ii) ‚Die Straße ist nass‘.

Wenn die Sonne aufgeht, kann es warm werden; im Winter, bei Kälte und einem kalten Wind kann man die mögliche Erwärmung dennoch nicht merken. Wenn es regnet dann ist die Straße normalerweise nass. Falls nicht, dann fragt man sich unwillkürlich, ob man vielleicht nur träumt?

Diese einfachen Beispiele deuten an, dass ‚Zusammenhänge‘ der Art (i)&(ii) mit einer gewissen Häufigkeit auftreten können, aber es keine letzte Sicherheit gibt, dass dies der Fall sein muss.

Wo kommt bei alldem ‚Wahrheit‘ vor?

‚Wahrheit an sich‘ ist schwer aufweisbar. Dass ein ‚Gedanke‘ ‚wahr‘ ist, kann man — wenn überhaupt — nur diskutieren, wenn jemand seinem Gedanken einen sprachlichen Ausdruck verleiht und der andere anhand des sprachlichen Ausdrucks (i) bei sich eine ‚Bedeutung aktivieren‘ kann und (ii) diese aktivierte Bedeutung dann entweder (ii.1) — schwacher Fall — innerhalb seines Wissens mit ‚anderen Teilen seines Wissens‘ ‚abgleichen‘ kann oder aber (ii.2) — starker Fall — seine ‚interne Bedeutung‘ mit einer Gegebenheit der umgebenden realen Ereigniswelt (die als ‚Wahrnehmung‘ verfügbar ist) vergleichen kann. In beiden Fällen kann der andere z.B. zu Ergebnissen kommen wie (a) ‚Ja, sehe ich auch so‘ oder (b) ‚Nein, sehe ich nicht so‘ oder (c) ‚Kann ich nicht entscheiden‘.

In diesen Beispielen wäre ‚Wahrheit‘ eine Eigenschaft, die der Beziehung zwischen einem sprachlichen Ausdruck mit seiner möglichen ‚Bedeutung‘ ‚zu etwas anderem‘ zukommt. Es geht in diesen Beispielen um eine dreistellige Beziehung: die beiden Größen (Ausdruck, gewusste Bedeutung) werden in Beziehung gesetzt zu (wahrgenommenem oder erinnertem oder gefolgertem Sachverhalt).[13]

‚Wahrgenommenes‘ resultiert aus Interaktionen unseres Körpers mit der umgebenden realen Ereigniswelt (wobei unsere Körper selbst ein Ereignis in der umgebenden realen Ereigniswelt ist).[14]

‚Bedeutungen‘ sind ‚gelernte Sachverhalte‘, die uns über unsere ‚Wahrnehmung‘ ‚bekannt geworden sind‘ und in der Folge davon möglicherweise auf eine schwer bestimmbare Weise in unser ‚Gedächtnis‘ übernommen wurden, aus dem Heraus wir sie auf eine ebenfalls schwer bestimmbaren Weise in einer ‚erinnerten Form‘ uns wiederholt wieder ‚bewusst machen können‘. Solche ‚wahrnehmbaren‘ und ‚erinnerbaren‘ Sachverhalte können von unserem ‚Denken‘ in schwer bestimmbarer Form eine spezifische ‚Bedeutungsbeziehung‘ mit Ausdrücken einer Sprache eingehen, welche wiederum nur über Wahrnehmung und Erinnern uns bekannt geworden sind.[15]

Aus all dem geht hervor, dass dem einzelnen Akteur mit seinen gelernten Ausdrücke und ihren gelernten Bedeutungen nur das ‚Ereignis der Wiederholung‘ bleibt, um einem zunächst ‚unbestimmt Gelerntem‘ eine irgendwie geartete ‚Qualifikation‘ von ‚kommt vor‘ zu verleihen. Kommt also etwas vor im Lichte von gelernten Erwartungen neigen wir dazu, zu sagen, ‚es trifft zu‘ und in diesem eingeschränkten Sinne sagen wir auch, dass ‚es wahr ist‘. Diese gelernten Wahrheiten sind ’notorisch fragil‘. Jene, die ‚im Laufe der Zeit‘ sich immer wieder ‚bewähren‘ gewinnen bei uns ein ‚höheres Vertrauen‘, sie haben eine ‚hohe Zuverlässigkeit‘, sind allerdings nie ganz sicher‘.

Zusätzlich erleben wir im Alltag das ständige Miteinander von ‚Konkretheiten‘ in der Wahrnehmung und ‚Allgemeinheiten‘ der sprachlichen Ausdrücke, eine ‚Allgemeinheit‘ die nicht ‚absolut‘ ist. sondern als ‚Offenheit für viel Konkretes‘ existiert. In der Sprache haben wir Unmengen von Worten wie ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘, ‚Tisch‘, Hund‘ usw. die sich nicht nur auf ein einziges Konkretes beziehen, sondern auf — potentiell unendlich — viele konkrete Gegebenheiten. Dies liegt daran, dass es viele verschiedene konkrete Gegebenheiten gibt, die trotz Unterschiede auch Ähnlichkeiten aufweisen, die dann als ‚Tasse‘, ‚Stuhl‘ usw. bezeichnet werden. Unser Gehirn verfügt über ‚automatische (= unbewusste) Prozesse‘, die die Konkretheiten aus der Wahrnehmung in ‚Muster‘ transformieren, die dann als ‚Repräsentanten‘ von verschiedenen wahrgenommenen Konkretheiten fungieren können. Diese Repräsentanten sind dann das ‚Material der Bedeutung‘, mit denen sprachliche Ausdrücke — auch automatisch — verknüpft werden können.[15]

Unser ‚Denken‘ kann mit abstrakten Repräsentanten arbeiten, kann durch Benutzung von sprachlichen Ausdrücken Konstruktionen mit abstrakten Konzepten und Ausdrücken bilden, denen bedeutungsmäßig direkt nichts in der realen Ereigniswelt entsprechen muss bzw. auch nicht entsprechen kann. Logik [17] und Mathematik [18] sind bekannte Beispiele, wie man mit gedanklich abstrakten Konzepten und Strukturen ‚arbeiten‘ kann, ohne dass ein Bezug zur realen Ereigniswelt bestehe muss oder jemals bestehen wird. Innerhalb dieser Welt abstrakter Strukturen und abstrakter Ausdrücke kann es dann sogar in einem eingeschränkten Sinne ‚Wahrheit‘ als Übereinstimmung von abstrakten Ausdrücken, deren abstrakten Bedeutungen und den anderen gedachten abstrakten Strukturen geben, aber diese ‚abstrakten Wahrheiten‘ sind in keiner Weise auf die reale Ereigniswelt übertragbar. Für uns gibt es nur das Modell der Alltagssprache, die mit ihren ‚offenen abstrakten‘ Bedeutungen auf Konkretes Bezug nehmen kann und zwischen Gegenwart und Vergangenheit eine ‚gedachte Beziehung‘ herstellen kann, ebenso auch zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu einer gedachten Zukunft. Inwieweit sich diese gedachten Beziehungen (Vermutungen, Hypothesen, …) dann in der realen Ereigniswelt bestätigen lassen, muss fallweise geprüft werden.

Die Welt der Wissenschaften erweckt den Eindruck, dass es mittlerweile eine große Zahl von solchen Hypothesen gibt, die allesamt als ‚weitgehend zuverlässig‘ angesehen werden, und aufgrund deren wir nicht nur unser bisheriges Wissen beständig ‚erweitern‘, sondern auch in einer Vielzahl von praktischen Anwendungen nutzen (Technologie, Landwirtschaft, Medizin, …).

Und an dieser Stelle greift Popper sehr weit aus, indem er diese für die Wissenschaften charakteristische „mutige, und abenteuerliche Weise des Theoretisierens“, ergänzt um „seriöse Tests“, im „biologischen Leben selbst“ am Werke sieht (vgl. S.7): die beobachtbare Entwicklung zu immer „höheren (‚higher‘) Formen“ des Lebens geschah/ geschieht durch Schaffung von „neuen Versuchen“ (‚trials‘), deren „Einbringung in die Realität“ (‚exposure‘), und dann das „Ausmerzen von Irrtümern“ (‚errors‘) durch „Testen“.(vgl. S.7) Mit dieser permanenten Kreativität neuer Lösungsansätze, deren Ausprobieren und dem daraus Lernen im Beseitigen von Fehlschlägen hat es nicht nur das biologische Leben als Ganzes geschafft, nach und nach die Welt quasi zu erobern, sondern in der Variante moderner empirischer Wissenschaft ist die Lebensform des Homo sapiens dabei, diese Eroberung auf neue Weise zu ergänzen. Während die biologische Evolution vor dem Homo sapiens primär um das nackte Überleben kämpfen musste, kann der Homo sapiens zusätzlich ‚reines Verstehen‘ praktizieren, das dann als ‚Werkzeug‘ zum Überleben beitragen kann. Für Popper ist ‚Verstehen‘ (‚understand‘) und ‚Lernen‘ (‚to learn more‘) das entscheidende Charakteristikum der Lebensform des Homo sapiens (als Teil des gesamten biologischen Lebens). Und in diesem Verstehensprojekt geht es um alles: um den ganzen Kosmos bis hin zum letzten Atom, um die Entstehung des Lebens überhaupt, um den ‚menschlichen Geist‘ (‚human mind‘) und die Art und Weise wie er stattfindet.(vgl. S.7)

Nach dieser ‚Einstimmung‘ wendet sich Popper dem speziellen Problem der Kausalität zu.

Kausalität – Ein wissenschaftliches Chamäleon

Der Begriff der ‚Kausalität‘ ist uns allen über den Alltag in vielfältigen Formen bekannt, ohne dass wir dazu gewöhnlich ein klares begriffliches Konzept entwickeln.

Geht es hingegen ‚um Etwas‘, z.B. um Geld, oder Macht, oder um eine gute Ernte, oder die Entwicklung einer Region, usw. , dann ist die Frage ‚Was was wie bewirkt‘ nicht mehr ganz egal. ‚Soll ich nun investieren oder nicht?‘ ‚Ist dieses Futter für die Tiere besser und auf Dauer bezahlbar oder nicht?‘ ‚Wird die neue Verkehrsregelung tatsächlich Lärm und CO2-Ausstoß reduzieren oder nicht?‘ ‚Ist Aufrüstung besser als Neutralität?‘ ‚Wird die Menge des jährlichen Plastikmülls die Nahrungsketten im Meer und damit viele davon abhängige Prozesse nachhaltig zerstören oder nicht?‘

Wenn Philosophen und Wissenschaftler von Kausalität sprechen meinten sie in der Vergangenheit meist viel speziellere Kontexte. So erwähnt Popper die mechanistischen Vorstellungen im Umfeld von Descartes; hier waren alle Ereignisse klar bestimmt, determiniert.(vgl. S.7) Mit der Entwicklung der Quantenmechanik — spätestens ab 1927 mit der Entdeckung des Unsicherheitsprinzips durch Werner Heisenberg [19], [19a] — wurde bewusst, dass die Ereignisse in der Natur keinesfalls vollständig klar und nicht vollständig determiniert sind. (vgl. S7f)

Damit trat eine inhärente Unsicherheit hervor, die nach einer neuen Lösung verlangte. Die große Zeit des Denkens in Wahrscheinlichkeiten begann.[20] Man kann das Denken in Wahrscheinlichkeiten grob in drei (vier) Sichtweisen unterscheiden: (i) In einer theoretischen — meist mathematischen — Sicht [21] definiert man sich abstrakte Strukturen, über die man verschiedene Operationen definieren kann, mit denen sich dann unterschiedliche Arten von Wahrscheinlichkeiten durchspielen lassen. Diese abstrakten (theoretischen) Wahrscheinlichkeiten haben per se nichts mit der realen Welt der Ereignisse zu tun. Tatsächlich erweisen sich aber viele rein theoretische Modelle als erstaunlich ’nützlich‘ bei der Interpretation realweltlicher Ereignisfolgen. (ii) In einer subjektivistischen Sicht [22] nimmt man subjektive Einschätzungen zum Ausgangspunkt , die man formalisieren kann, und die Einschätzungen zum möglichen Verhalten des jeweiligen Akteurs aufgrund seiner subjektiven Einschätzungen erlauben. Da subjektive Weltsichten meistens zumindest partiell unzutreffend sind, z.T. sogar überwiegend unzutreffend, sind subjektive Wahrscheinlichkeiten nur eingeschränkt brauchbar, um realweltliche Prozesse zu beschreiben.(iii) In einer (deskriptiv) empirischen Sicht betrachtet man reale Ereignisse, die im Kontext von Ereignisfolgen auftreten. Anhand von diversen Kriterien mit der ‚Häufigkeit‘ als Basisterm kann man die Ereignisse zu unterschiedlichen Mustern ‚gruppieren‘, ohne dass weitergehende Annahmen über mögliche Wirkzusammenhänge mit ‚auslösenden Konstellationen von realen Faktoren‘ getätigt werden. Nimmt man eine solche ‚deskriptive‘ Sicht aber zum Ausgangspunkt, um weitergehende Fragen nach möglichen realen Wirkzusammenhängen zu stellen, dann kommt man (iv) zu einer eher objektivistischen Sicht. [23] Hier sieht man in der Häufigkeiten von Ereignissen innerhalb von Ereignisfolgen mögliche Hinweise auf reale Konstellationen, die aufgrund ihrer inhärenten Eigenschaften diese Ereignisse verursachen, allerdings nicht ‚monokausal‘ sondern ‚multikausal‘ in einem nicht-deterministischem Sinne. Dies konstituiert die Kategorie ‚Nicht deterministisch und zugleich nicht rein zufällig‘.[24]

Wie der nachfolgende Text zeigen wird, findet man Popper bei der ‚objektivistischen Sicht‘ wieder. Er bezeichnet Ereignisse, die durch Häufigkeiten auffallen, als ‚Propensities‘, von mir übersetzt als ‚Tendenzen‘, was letztlich aber nur im Kontext der nachfolgenden Erläuterungen voll verständlich wird.

Popper sagt von sich, dass er nach vielen Jahren Auseinandersetzung mit der theoretischen (mathematischen) Sicht der Wahrscheinlichkeit (ca. ab 1921) (vgl. S.8f) zu dieser — seiner — Sicht gelangt ist, die er 1956 zum ersten Mal bekannt gemacht und seitdem kontinuierlich weiter entwickelt hat.[24]

Also, wenn man beobachtbare Häufigkeiten von Ereignissen nicht isoliert betrachtet (was sich angesichts des generellen Prozesscharakters aller realen Ereignisse eigentlich sowieso verbietet), dann kommt man wie Popper zu der Annahme, dass die beobachtete — überzufällige aber dennoch auch nicht deterministische — Häufigkeit die nachfolgende ‚Wirkung‘ einer realen Ausgangskonstellation von realen Faktoren sein muss, deren reale Beschaffenheit einen ‚Anlass‘ liefert, dass ‚etwas Bestimmtes passiert‘, was zu einem beobachtbaren Ereignis führt.(vgl. S.11f, dazu auch [25]) Dies schließt nicht aus, dass diese realen Wirkungen von spezifischen ‚Bedingungen‘ abhängig sein können, die erfüllt sein müssen, damit es zur Wirkung kommt. Jede dieser Bedingungen kann selbst eine ‚Wirkung‘ sein, die von anderen realen Faktoren abhängig ist, die wiederum bedingt sind, usw. Obwohl also ein ‚realer Wirkzusammenhang‘ vorliegen kann, der als solcher ‚klar‘ ist — möglicherweise sogar deterministisch — kann eine Vielzahl von ‚bedingenden Faktoren‘ das tatsächliche Auftreten der Wirkung so beeinflussen, dass eine ‚deterministische Wirkung‘ dennoch nicht als ‚deterministisch‘ auftritt.

Popper sieht in dieser realen Inhärenz von Wirkungen in auslösenden realen Faktoren eine bemerkenswerte Eigenschaft des realen Universums.(vgl. S.12) Sie würde direkt erklären, warum Häufigkeiten (Statistiken) überhaupt stabil bleiben können. (vgl. S.12). Mit dieser Interpretation bekommen Häufigkeiten einen objektiven Charakter. ‚Häufigkeiten‘ verwandeln sich in Indikatoren für ‚objektive Tendenzen‘ (‚propensities‘), die auf ‚reale Kräfte‘ verweisen, deren Wirksamkeit zu beobachtbaren Ereignissen führen.(vgl. S.12)

Die in der theoretischen Wahrscheinlichkeit verbreitete Charakterisierung von wahrscheinlichen Ereignissen auf einer Skala von ‚1‘ (passiert auf jeden Fall) bis ‚0‘ (passiert auf keinen Fall) deutet Popper für reale Tendenzen dann so um, dass alle Werte kleiner als 1 darauf hindeuten, dass es mehrere Faktoren gibt, die aufeinander einwirken, und dass der ‚Nettoeffekt‘ aller Einwirkungen dann zu einer realen Wirkung führt die kleiner als 1 ist, aber dennoch vorhanden ist; man kann ihr über Häufigkeiten sogar eine phasenweise Stabilität im Auftreten zuweisen, so lange sich die Konstellation der wechselwirkenden Faktoren nicht ändert.(vgl. S.13) Was hier aber wichtig ist — und Popper weist ausdrücklich darauf hin — die ‚realen Tendenzen‘ verweisen nicht auf einzelne konkrete, spezielle Eigenschaften inhärent in einem Objekt, sondern Tendenzen korrespondieren eher mit einer ‚Situation‘ (’situation‘), die als komplexe Gesamtheit bestimmte Tendenzen ‚zeigt‘.(vgl. SS.14-17) [26]

Schaut man nicht nur auf die Welt der Physik sonder lenkt den Blick auf den Alltag, in dem u.a. auch biologische Akteure auftreten, speziell auch Lebensformen vom Typ Homo sapiens, dann explodiert der Raum der möglichen Faktoren geradezu, die Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen können. Nicht nur bildet der Körper als solcher beständig irgendwelche ‚Reize‘ aus, die auf den Akteur einwirken, sondern auch die Beschaffenheit der Situation wirkt in vielfältiger Weise. Insbesondere wirkt sich die erworbene Erfahrung, das erworbene Wissen samt seinen unterschiedlichen emotionalen Konnotationen auf die Art der Wahrnehmung aus, auf die Art der Bewertung des Wahrgenommenen und auf den Prozess möglicher Handlungsentscheidungen. Diese Prozesse können extrem labil sein, so dass Sie in jedem Moment abrupt geändert werden können. Und dies gilt nicht nur für einen einzelnen Homo sapiens Akteur, sondern natürlich auch für die vielen Gruppen, in denen ein Homo sapiens Akteur auftreten kann bzw. auftritt bzw. auftreten muss. Dieses Feuerwerk an sich wechselseitig beständig beeinflussenden Faktoren sprengt im Prinzip jede Art von Formalisierung oder formalisierter Berechnung. Wir Menschen selbst können dem ‚Inferno des Alles oder Nichts‘ im Alltag nur entkommen, wenn wir ‚Konventionen‘ einführen, ‚Regeln des Verhaltens‘, ‚Rollen definieren‘ usw. um das praktisch unberechenbare ‚Universum der alltäglichen Labilität‘ partiell zu ‚zähmen‘, für alltägliche Belange ‚berechenbar‘ zu machen.

Popper zieht aus dieser Beschaffenheit des Alltags den Schluss, das Indeterminismus und freier Wille zum Gegenstandsbereich und zum Erklärungsmodell der physikalischen und biologischen Wissenschaften gehören sollten.(vgl. S.17f)

Popper folgert aus einer solchen umfassenden Sicht von der Gültigkeit der Tendenzen-Annahme für vorkommende reale Ereignisse, dass die Zukunft nicht determiniert ist. Sie ist objektiv offen.(vgl. S.18)

Näher betrachtet ist die eigentliche zentrale Einsicht tatsächlich gar nicht die Möglichkeit, dass bestimmte Wirkzusammenhänge vielleicht tatsächlich determiniert sein könnten, sondern die Einsicht in eine durchgängige Beschaffenheit der uns umgebenden realen Ereigniswelt die sich – dies ist eine Hypothese! — durchgängig als eine Ansammlung von komplexen Situationen manifestiert, in denen mögliche unterscheidbare Faktoren niemals isoliert auftreten, sondern immer als ‚eingebettet‘ in eine ‚Nachbarschaften‘, so dass sowohl jeder Faktor selbst als auch die jeweiligen Auswirkungen dieses einen Faktors immer in kontinuierlichen Wechselwirkungen mit den Auswirkungen anderer Faktoren stehen. Dies bedeutet, dass nicht nur die starke Idealisierungen eines mechanistischen Weltbildes — auch eine Hypothese — als fragwürdig angesehen werden müssen, sondern auch die Idealisierung der Akteure zu einer ‚ Monade‘ [27],[27b], die die Welt letztlich nur ‚von sich aus‘ erlebt und gestaltet — eine andere Hypothese –.[27c]

Denkt man gemeinsam mit Popper weiter in die Richtung einer totalen Verflechtung aller Faktoren in einem kontinuierlich-realen Prozess, der sich in realen Tendenzen manifestiert (vgl. S.18f), dann sind alle üblichen endlichen, starren Konzepte in den empirischen Wissenschaften letztlich nicht mehr seriös anwendbar. Die ‚Zerstückelung‘ der Wirklichkeit in lauter einzelne, kleine, idealisierte Puzzle-Teile, wie sie bis heute Standard ist, führt sich relativ schnell ad absurdum. Die übliche Behauptung, auf andere Weise könne man eben nichts Verwertbares Erkennen, läuft beständig Gefahr, auf diese Weise die reale Problematik der konkreten Forschungspraxis deutlich zu überdehnen, nur weil man in der Tat Schwierigkeiten hat, die vorfindliche Komplexität ‚irgendwie experimentell nachvollziehbar‘ zu rekonstruieren.

Popper dehnt seine Beispiele für die Anwendbarkeit einer objektivistischen Sicht von realen Tendenzen weiterhin aus auf die Chemie (vgl. S.19f) und auf die Evolution des Lebens. (vgl. S.20) Und auch wenn er zuvor sagte, dass die Zukunft objektiv offen sei, so ist sie dennoch in der realen Gegenwart implizit gegenwärtig in den Aktivitäten der vorhandenen realen Faktoren.(vgl. S.20) Anders formuliert, jede Zukunft entscheidet sich immer jetzt, in der Gegenwart, auch wenn die lebenden Akteure zu einem bestimmten Zeitpunkt vielleicht das Geflecht der vielen Faktoren und Wirkungen nur unvollständig durchschauen. Mangelndes Wissen ist auch ein realer Faktor und kann als solcher u.U. wichtige Optionen übersehen, die — würde man sie kennen — vielleicht viel Unheil ersparen würden.

Nachbemerkung – Epilog

Verglichen mit den vielen Seiten Text, die Popper im Laufe seines Lebens geschrieben hat, erscheint der hier kommentierte kurze Text von 27 Seiten verschwindend kurz, gering, möglicherweise gar unbedeutend.

Betrachtet man aber die Kernthesen von Poppers theoretischem Prozess, dann tauchen diese Kernthesen in diesem kurzen Text letztlich alle auf! Und seine Thesen zur Realität von beobachtbaren Tendenzen enthalten alles, was er an Kritik zu all jenen Wissenschaftsformen gesagt hat, die dieser Kernthese nicht folgen. Der ganze riesige Komplex zur theoretischen Wahrscheinlichkeit, zu subjektiver Wahrscheinlichkeit und zu den vielfältigen Spezialformen von Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit sagen letztlich nicht viel, wenn sie die objektivistische Interpretation von Häufigkeiten, dazu im Verbund mit der Annahme eines grundlegenden realen Prozesses, in dem sich alle realen Faktoren in beständiger realer Wechselbeziehung befinden, nicht akzeptieren. Die moderne Quantenmechanik wäre in einer realen Theorie der objektiven Tendenzen tatsächlich eine Teiltheorie, weil sie nur einige wenige — wenngleich wichtige — Aspekte der realen Welt thematisiert.

Poppers Mission einer umfassenden Theorie von Wahrheit als Innensicht einer umfassenden prozesshaften Realität bleibt — so scheint es mir — weiterhin brandaktuell.

Fortsetzung Popper 1989

Eine Kommentierung des zweiten Artikels aus dem Büchlein findet sich HIER.

Anmerkungen

Abkürzung: wkp := Wikipedia, de := Deutsche, en := Englische

[*] Es gibt noch zwei weiter Beiträge vom ’späten‘ Popper, die ich in den Diskurs aufnehmen möchte, allerdings erst nachdem ich diesen Beitrag rezipiert und in das finale Theorieformat im Kontext des oksimo-Paradigmas eingebunden habe.

[1] Karl Popper in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper (auch in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper )

[1b] Wiener Kreis (‚vienna circle‚) in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Kreis und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Vienna_Circle

[2a] Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[2b] Karl Popper, The Logic of Scientific Discovery, zuerst publiziert 1935 auf Deutsch als  Logik der Forschung, dann 1959 auf Englisch durch  Basic Books, New York (viele weitere Ausgaben folgten; ich benutze die eBookausgabe von Routledge (2002))

[3a] Die meisten wohl im uffmm.org Blog.

[3b] Oksimo und Popper in uffmm.org: https://www.uffmm.org/2021/03/15/philosophy-of-science/

[4] Das oksimo-Paradigma und die oksimo-Software auf oksimo.org: https://www.oksimo.org/

[5] Robert Ulanowizc in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Ulanowicz

[5b] Robert Ulanowizc, Ecology: The Ascendant Perspective, Columbia University Press (1997) 

[6a] Karl-Popper Sammlung der Universität Klagenfurt in wkp-de: https://www.aau.at/universitaetsbibliothek-klagenfurt/karl-popper-sammlung/

[6b] An dieser Stelle möchte ich die freundliche Unterstützung von Mag. Dr. Thomas Hainscho besonders erwähnen.

[7] Eine kürzere Version dieses Artikels hat Popper 1988 auf dem Weltkongress der Philosophie 1988 im Brighton vorgetragen (Vorwort zu [2a]).

[8] Rudolf Carnap in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Carnap

[8b] Rudolf Carnap,  Logical Foundations of Probability. University of Chicago Press (1950)

[9] Aristoteles in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Aristoteles

[10] Alfred Tarski in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Tarski

[11] Kurt Gödel in wkp-ed: https://en.wikipedia.org/wiki/Kurt_G%C3%B6del

[12] Aus dem Buch von Kegel „Die Herrscher der Welt…“: Siehe https://www.cognitiveagent.org/2015/12/06/die-herrscher-der-welt-mikroben-besprechung-des-buches-von-b-kegel-teil-1/

[13] Natürlich ist die Sachlage bei Betrachtung der hier einschlägigen Details noch ein wenig komplexer, aber für die grundsätzliche Argumentation reicht diese Vereinfachung.

[14] Das sagen uns die vielen empirischen Arbeiten der experimentellen Psychologie und Biologie, Hand in Hand mit den neuen Erkenntnissen der Neuropsychologie.

[15] Hinter diesen Aussagen stecken die Ergebnisse eines ganzen Bündels von wissenschaftlichen Disziplinen: vorweg wieder die experimentelle Psychologie mit hunderten von einschlägigen Arbeiten, ergänzt um Linguistik/ Sprachwissenschaften, Neurolinguistik, ja auch verschiedene philosophische ‚Zuarbeiten‘ aus dem Bereich Alltagssprache (hier unbedingt der späte Wittgenstein [16] als großer Inspirator) und der Semiotik.

[16] Ludwig Wittgenstein in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Wittgenstein

[17] Logik ( ‚logic‚) in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Logik und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Logic

[18] Mathematik (‚mathematics‚) in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Mathematik und wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Mathematics

[19] Werner Heisenberg in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Werner_Heisenberg

[19b] Unsicherheitsprinzip (‚uncertainty principle‘) in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Uncertainty_principle

[20] Natürlich gab es schon viele Jahrhunderte früher unterschiedliche Vorläufer eines Denkens in Wahrscheinlichkeiten.

[21] Theoretische Wahrscheinlichkeit, z.B. in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Probability

[22] Subjektive Wahrscheinlichkeit, z.B. in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Subjektiver_Wahrscheinlichkeitsbegriff; illustrieret mit der Bayeschen Wahrscheinlichkeit in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Bayesian_probability

[23] Objektivistische Wahrscheinlichkeit, nur ansatzweise erklärt in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Objektivistischer_Wahrscheinlichkeitsbegriff

[23b] Deskriptive Statistik in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Deskriptive_Statistik (siehe auch ‚descriptive statistics in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Descriptive_statistics

[24] Zu verschiedenen Sichten von Wahrscheinlichkeiten sie auch: Karl Popper, The Open Universe: An Argument for Indeterminism, 1956–57 (as privately circulated galley proofs;) 1982 publiziert als Buch

[25] Hier sei angemerkt, dass ein Akteur natürlich nur dann ein bestimmtes Ereignis wahrnehmen kann, wenn er (i) überhaupt hinschaut und (ii) er über geeignete Beobachtungsinstrumente (= Messgeräte) verfügt, die das jeweilige Ereignis anzeigen. So sah die Welt z.B. ohne Fernglas und Mikroskop ‚einfacher‘ aus als mit.

[26] Diese Betonung einer Situation als Kontext für Tendenzen schließt natürlich nicht aus, dass die Wissenschaften im Laufe der Zeit gewisse Kontexte (z.B. das Gehirn, der Körper, …) schrittweise immer mehr auflösen in erkennbare ‚Komponenten‘, deren individuelles Verhalten in einem rekonstruierbaren Wechselspiel unterschiedliche Ereignisfolgen hervorbringen kann, die zuvor nur grob als reale Tendenz erkennbar waren. Tatsächlich führt eine zunehmende ‚Klarheit‘ bzgl. der internen Struktur einer zuvor nicht analysierbaren Situation auch zur Entdeckung von weiteren Kontextfaktoren, die zuvor unbekannt waren.(vgl. S.14f)

[27] Gottfried Wilhelm Leibniz in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Wilhelm_Leibniz

[27b] Monadenlehre von Leibnuz in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Monade_(Philosophie)

[27c] Allerdings muss man bemerken, dass die Leibnizsche Monadenlehre natürlich in einem ziemlich anderen ‚begrifflichen Koordinatensystem‘ einzubetten ist und die Bezugnahme auf diese Lehre nur einen stark vereinfachten Aspekt trifft.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

PRAKTISCHE KOLLEKTIVE MENSCH-MASCHINE INTELLIGENZ by design. Problem und Vision

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 13.-15.Februar 2021
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Letzte Korrekturen: 16.Februar 2021, 14:40h

KONTEXT

In diesem Beitrag soll das Konzept einer praktischen kollektiven Mensch-Maschine Intelligenz by design, das im vorausgehenden Beitrag grob vorgestellt worden ist, weiter konkretisiert werden. In diesem Text geht es um eine erste Beschreibung der auslösenden Problemstellung und einem möglichen Zukunftskonzept.

Bisher zum Thema veröffentlicht:

PROBLEMSTELLUNG

Die Problemstellung, die hier beschrieben wird, wird so knapp wie möglich gehalten.

Eine ausführliche Beschreibung könnte sehr schnell viele hundert Seiten umfassen, da es bei dem Problem um nichts weniger als um uns selbst geht, um unsere Situation als Menschen in einem Alltag; hier primär um einen Alltag in der Bundesrepublik Deutschland. Doch da es um das generelle Problem geht, wie beliebige Menschen weltweit — wenn sie denn wollen — gemeinsam ihr Wissen, ihre Erfahrungen, ihre Motive so austauschen, dass dabei ihre Gegenwart mit identifizierten Problemen vorkommt, mögliche Zielvorstellungen, wie es denn besser sein könnte, mögliche Maßnahmen, wie man die Gegenwart schrittweise ändern könnte, geht es nicht nur um Deutschland, nicht nur um Europa, sondern um die ganze Menschheit. Auf diesem Planet Erde zu überleben ist schon jetzt nur noch möglich, wenn alles positiv-konstruktiv zusammenspielt; Nachhaltigkeit ist hier keine ‚Modewort‘ sondern knallharte Realität: entweder wir lösen das Problem gemeinsam oder wir werden gemeinsam untergehen.

Es macht daher Sinn, mit möglichst wenig, möglichst einfach, anzufangen, um die Problembeschreibung dann schrittweise auszuweiten.

DER MENSCH SELBST

Der primäre Ansatzpunkt der Problemstellung ist der Mensch selbst, Wir, die Lebensform des homo sapiens. Die biologische Evolution hat dem homo sapiens mindestens zwei Eigenschaften mitgegeben, die ihm eine besondere Rolle — und damit auch eine besondere Verantwortung ? — zukommen lässt (für weitere Erläuterungen zu den folgenden Gedanken siehe z.B. [1] und [2]):

Außen nach Innen

(i) Ein einzelner homo sapiens ist so gebaut, dass er automatisch die Realität der Außenwelt in die Realität seiner Gehirnzustände verwandelt, und innerhalb dieser realen Gehirnzustände real-virtuelle Signalzustände erzeugt, die speziell und partiell Eigenschaften der realen Welt außerhalb des Gehirns (einschließlich des Gehirns selbst) in real-virtuelle Zustände innerhalb des Gehirns verwandelt. Diese internen virtuellen Zustände sind partiell das, was wir subjektiv als Welt erleben (der größte Teil der neuronalen Zustände ist unbewusst). Zwischen der auslösenden realen Welt und der internen virtuellen Welt kann es große Unterschiede geben.

Ausdruckssysteme

(ii) Zusätzlich verfügt der homo sapiens über die Eigenschaft und Fähigkeit, auch intern, virtuell, ein eigenes Ausdruckssystem zu entwickeln, das über Lernprozesse mit sehr vielen (wie vielen?) Aspekten der internen virtuellen Welt verknüpft werden kann. Durch eine Übersetzung des internen Ausdruckssystem in äußerliche, reale Ereignisse (Laute, Gesten, Schriftzeichen,…) kann das eine Gehirn unter bestimmten Bedingungen mit einem anderen Gehirn eine Interaktion aufbauen, die zu einer Kommunikation führen kann: Laute erzeugt von einem Gehirn A können Bezug nehmen auf interne Zustände des Gehirns A und — unter speziellen Bedingungen — können diese Laute in einem anderen Gehirn B auf seine eigenen internen Zustände bezogen werden. Es fragt sich nur: auf welche? Die Koordinierung der Zuordnung in zwei verschiedenen Gehirnen ist eine spezifische Lernleistung und Teil einer Lebenswelt, einer Kultur. Erfahrungsgemäß ist eine Koordinierung am einfachsten und stabilsten, wenn verschiedene Gehirne sich auf ein Ereignis in der realen Außenwelt beziehen (‚es regnet‘), das bei allen Beteiligten interne Prozesse auslöst. Ähnlich gut, wenngleich nicht ganz so eindeutig, sind Ereignisse im realen Körper, sofern die Körper eine hinreichend ähnliche Struktur untereinander aufweisen (‚Ich sehe dort ein Licht‘, ‚Zahnschmerzen‘, ‚Ellbogen gestoßen‘, …). Schwieriger bis ganz schwierig wird es bei subjektiven Ereignissen und Prozessen wie verschiedene Emotionen, Gefühle, Stimmungen, Ängste, Überlegungen usw. Diese sind einem anderen Gehirn prinzipiell verschlossen, es sei denn …

Als einzige Lebensform auf dem Planet Erde — und vielleicht im gesamten bekannten Universum — verfügt die Lebensform des homo sapiens über diese einzigartige Fähigkeiten.[4] Die Geschichte des homo sapiens zeigt — soweit sie anhand von Artefakten rekonstruierbar ist –, dass der homo sapiens zu Kooperationsleistungen fähig war, die schrittweise zu hochkomplexen Siedlungsformen, Technologien, kulturellen Mustern und Wissensformen geführt haben, wie wir sie heute kennen.

ÜBER-INDIVIDUELLE KOMPLEXITÄT

Kooperation durch Kommunikation verweist aus sich heraus aber auch auf einen Umstand, der für die Lebensform des homo sapiens heute zu einem eigenen Problem geworden zu sein scheint. Kooperation kann reale und gedachte Zusammenhänge hervorbringen, die die Perspektive des einzelnen soweit übersteigen, dass der einzelne sich angesichts der gemeinsam hervorgebrachten Leistung nicht nur stolz über die gemeinsam erbrachte Leistung fühlen kann (‚Ja, zusammen können wir ganz viel.‘), sondern ihn auch überfordert. Ich habe diese Form der Überforderung früher als Negative Komplexität bezeichnet [5a,b]: Wenn die für eine bestimmte Lebensform typischen Signale seiner spezifischen Umwelt [6] zahlenmäßig die Verarbeitungskapazitäten des Gehirns wesentlich übersteigen, dann wird die Menge der Lebensform-typischen Informationen in einer Weise größer, dass diese überschießende Menge nicht mehr positiv zur Lebensführung beiträgt, sondern mehr und mehr unbewältigt ist und die Lebensführung dadurch stark negativ beeinflusst werden kann.

Viele einzelne Menschen können zusammen, im Verbund, Landwirtschaft betreiben, große Häuser bauen, Verkehrssystem ermöglichen, viele Hunderttausend Bücher schreiben, aber der einzelne versteht heute immer weniger von dem Zusammenhang, wie das Ganze genau funktioniert [7], und bei vielen Hunderttausend Büchern ist völlig klar, dass das kumulierte Wissen von einem einzelnen nicht mehr rezipiert werden kann. Durch Computer, Internet, und Datenbanken ist die Ereignismenge weiter angeschwollen und macht jeden Experten zu einem Dummkopf, der nichts mehr versteht, weil das individuelle Gehirn, diese Wunderwerk der Evolution, mit seinen endlichen Möglichkeiten, mit diesen Quantitäten einfach nicht mithalten kann.[3] Ein einzelnes menschliches Gehirn ist ein unfassbarer Hotspot von Freiheit und potentieller Zukunft, aber für eine Kommunikation und Koordination mit vielen Milliarden Menschen, in der es real um Verstehen geht, nicht einfach nur Dabei sein, ist es nicht geschaffen. Die hervorgebrachte Komplexität überfordert aktuell ihre Hervorbringer.

Diese Situation markiert den Kern des Problems, um das es hier gehen soll.

VISION: MÖGLICHE LÖSUNG?

Wenn man in der Gegenwart eine Konstellation von Sachverhalten erkennt, die man als ein Problem klassifiziert, dann ist dies natürlich abhängig vom Wissensstand des Sprechers/ Schreibers. Wissen ist notorisch unvollständig und kann mehr oder weniger falsch sein. Nichts desto Trotz: solange der Sprecher zu diesem Zeitpunkt kein anderes Wissen zur Verfügung hat, wird er — will er denn überhaupt handeln — dieses aktuelle Wissen zum Maßstab für sein Handeln nehmen müssen. Dieses Handeln kann in die Irre führen, es kann Schäden anrichten, aber für den Handelnden ist es vielleicht die einzige Chance, heraus zu finden, dass sein aktuelles Wissen nicht gut ist, dass es falsch ist. ‚Durch Fehler lernen‘ ist eine alte Alltagsweisheit.

Diese grundsätzliche Fehler-Behaftetheit eines aktuellen Wissens resultiert aus der Tatsache, dass uns die Zukunft grundsätzlich nicht bekannt ist.[8] Unser Körper mit seinem Gehirn transformiert zwar kontinuierlich — ohne dass wir dies explizit wollen — aktuelle Gegenwart in stark veränderte innere Zustände, die dann durch verschiedene Speichervorgänge das werden, was wir erinnerbare Gegenwart nennen, unsere Vergangenheit, aber die Zukunft im engeren Sinne, das, was im zeitlichen Anschluss an das Gegenwärtige die neue aktuelle Gegenwart sein wird, diese Zunft kennen wir nicht. Zukunft als solche kommt in unserem Erfahrungsbereich nirgendwo vor; sie ist kein Objekt der Wahrnehmung.

Klassifizieren wir also einige Sachverhalte der Gegenwart als ein Problem, und wir möchten dazu beitragen, dass dieses Problem mindestens abgeschwächt wird, vielleicht sogar ganz gelöst wird, dann müssen wir für uns irgendwie das Bild einer möglichen Zukunft entwickeln, in der die angedachte Lösung (= die Vision), kein bloßer Gedanke ist, sondern die neue Realität, die neue Gegenwart.

Damit stellt sich die grundsätzliche — letztlich philosophische — Frage, in welcher Form wir überhaupt über die Zukunft nachdenken können, wenn wir nur Fragmente einer Gegenwart und unterschiedlich neuronal abgewandelte Fragmente unserer Vergangenheit zur Verfügung haben? Was nützt es mir, zu wissen, dass es gestern in London geregnet hat, in Paris die Sonne schien, und es in Moskau kühl war? Was nützt es mir, zu wissen, dass im 20.Jahrhundert zwei große Kriege stattgefunden haben? Was nützt es mir, zu wissen, dass es in den vergangenen 5000 Jahren viele Großreiche gab, mit hochkomplexen Organisationsformen, die heute aber völlig verschwunden sind? Was nützt es mir, zu wissen, dass sich die heutigen biologischen Lebensformen im Rahmen dessen, was wir biologische Evolution nennen, im Laufe von 3.5 Milliarden Jahren schrittweise heraus gebildet haben? Was nützt es mir, zu wissen, dass das heute bekannte Universum vor ca. 13.7 Milliarden (10^9) entstanden ist? [9]

Von den modernen empirischen Wissenschaften (entwickelt seit ca. 400 Jahren, nimmt man Galilei Galileo als einen groben Bezugspunkt [13])) wissen wir, dass wissenschaftliche Erkenntnis im größeren Stil erst möglich wurde, nachdem man nicht nur das Konzept von standardisierten und reproduzierbaren Messverfahren entwickelt hatte, sondern man auch explizite begriffliche Zusammenhänge (=Theorien) formulieren konnte, so dass es möglich wurde, Beziehungen zwischen den einzelnen Messwerten zu beschreiben. Für sich alleine sind Messwerte (= empirische Daten) zwar individuell, punktuell bedeutungsvoll (‚Die Laborratte im Labyrinth X zum Zeitpunkt T gemessen mit Verfahren V öffnete die weiße Tür und nicht die schwarze.‘), aber man kann daraus zunächst nichts weiter ableiten. Wenn man aber weiß, dass die Forscher ein Verhaltensexperiment durchführen, bei dem eine Laborratte zwischen zwei Türen mit unterschiedlicher Farbe wählen kann und hinter der weißen Tür gelegentlich Futter zu finden ist, nicht aber hinter der schwarzen, und man dann feststellt, dass die Laborrate nach anfänglichem zufälligen Entscheiden ab dem ersten Fund von Futter hinter der weißen Tür die weiße Tür eindeutig bevorzugt, dann kann ein empirisches Datum im Kontext einer zeitlichen Folge von Daten im weiteren Kontext des Experiments von theoretischer Bedeutung sein: man kann einen Zusammenhang formulieren, der besagt, dass die Laborratte (meistens hat man mehrere), wenn sie sich in einer unübersichtlichen Umgebung bewegt, sich Wege in solch einer Umgebung so einprägen kann, dass sie bei Erfolg (Hunger und Futter) aufgrund der Gedächtnisleistung genau jenen Weg finden und wählen kann, der zum Futter geführt hat.(Das klassische Experiment dazu stammt von Tolman [11]).

Im Falle der empirischen Verhaltensforschung (siehe auch [12]) sind Aussagen über das Verhalten von Organismen natürlich in ihrem zeitlichen Horizont sehr begrenzt, da nicht nur die Lebensdauer eines biologischen Organismus sehr begrenzt ist, sondern auch, weil biologische Organismen grundlegend lernende Systeme sind, die ihr Verhalten z.T. dramatisch ändern können. Dennoch lassen sich mit verhaltensbasierten Theorien Voraussagen über ein mögliches Verhalten in der Zukunft ableiten, die begrenzt hilfreich sein können.

Im Falle von nicht-biologischen Systemen wie Planeten, Sonnensystemen, Galaxien usw. kann man aufgrund der Stabilität der Systeme eher belastbare Voraussagen in die Zukunft machen. So kann man mit den heutigen physikalischen Theorien z.B. die Voraussage ableiten, dass der Lebensraum Erde spätestens in 1.4 Milliarden Jahren aufgrund der Ausdehnung der Sonne für die heutigen biologischen Lebensformen unbewohnbar sein wird. Zusätzlich kann man ableiten, dass in spätestens 2.7 Milliarden Jahren von heute aus unsere Milchstraßen Galaxie mit der Andromeda Galaxie kollidieren wird.[10] Im ‚Nahbereich‘ der nächsten Jahrzehnte gibt es Hochrechnungen zur Entwicklung des Erdklimas und der damit zusammenhängenden Lebensbedingungen auf der Erde.

Das Verlassen einer als Problem klassifizierten Situation hin zu einer im Denken als möglich erscheinenden zukünftigen Situation, in der das Problem zumindest minimiert, wenn nicht gar aufgelöst, worden ist, kann nur erfolgen, wenn es (i) mindestens ansatzweise eine Vorstellung von solch einer zukünftigen Situation (= Vision) gibt, und (ii) man sich einen Weg vorstellen kann, wie man von der problematisierten Gegenwart zu einer gewünschten Zukunft als einer neuen Gegenwart kommen kann.

Ein Weg bedeutet hier eine Folge von einzelnen Situationen, in der jede Situation das Ergebnis von vorausgehenden Veränderungen ist. Änderungen werden durch Ereignisse hervorgebracht, die auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden können. Zum Teil liegen diese Ursachen in der Eigengesetzlichkeit der jeweiligen Umgebung, zum Teil aber auch im absichtlichen Verhalten von Akteuren, z.B. auch bei uns Menschen.

VISION

Die Herausforderung besteht also darin,

  1. eine Form zu finden,
  2. wie beliebige Menschen
  3. zu beliebigen Problemsituationen
  4. gemeinsam
  5. Wege konstruieren können, auf die man — so wird gehofft — in der Zukunft eine neue Gegenwart erreichen kann,
  6. in der das Problem zumindest minimiert ist.
  7. Für die notwendige Kommunikation zwischen den beteiligten Menschen sollte primär die Alltagssprache genügen,
  8. nach Bedarf erweiterbar um spezielle Ausdruckssysteme.
  9. Die gemeinsamen Denkversuche sollten ferner durch automatisierte Simulationen
  10. und Bewertungen unterstützt werden können.
  11. Sofern verfügbar, sollten auch lernfähige Algorithmen eingesetzt werden können.

QUELLENNACHWEISE

[1] Gerd Doeben-Henisch, 1.Februar 2021, REAL-VIRTUELL. Ein Einschub, https://www.cognitiveagent.org/2021/02/01/real-virtuell-ein-einschub/ (Dieser Text setzt viele andere Texte voraus)

[2] Gerd Doeben-Henisch, 3.Februar 2021, EINE KULTUR DES MINIMALEN IRRTUMS? Ergänzende Notiz, https://www.cognitiveagent.org/2021/02/03/eine-kultur-des-minimalen-irrtums-ergaenzende-notiz/ (Dieser Text setzt viele andere Texte voraus)

[3] Diese Problematik zeigt sich in vielen Bereichen, u.a. auch im wissenschaftlichen Publikationssystem selbst, etwa: Moshe Y.Vardi, Reboot the Computing-Research Publication System, Communications of the ACM, Januar 2021, Vol.64, Nr.1, S.7: https://cacm.acm.org/magazines/2021/1/249441-reboot-the-computing-research-publication-systems/fulltext

[4] In der biologischen Verhaltensforschung hat man mittlerweile bei sehr vielen Lebensformen verschieden vom homo sapiens aufzeigen können, dass diese auch über Ausdruckssysteme verfügen, die zur Kommunikation über Eigenschaften der Außenwelt wie auch über die partielle Eigenschaften der Innenwelt geeignet sind. Es scheint sich also bei der Fähigkeit der Kommunikation mittels eines Ausdruckssystems um eine graduelle Fähigkeit zu handeln: beim homo sapiens ist diese Eigenschaft bislang am stärksten ausgeprägt, aber es gibt ähnliche, wenngleich einfachere Formen, auch bei anderen Lebensformen. Sieh z.B. Stichwort ‚animal language‘ in Wikipedia [EN]: https://en.wikipedia.org/wiki/Animal_language

[5a] Döben-Henisch, G.[2006] Reinforcing the global heartbeat: Introducing the planet earth simulator project In M. Faßler & C. Terkowsky (Eds.), URBAND FICTIONS. Die Zukunft des Städtischen. München, Germany: Wilhelm Fink Verlag, 2006, pp.251-263

[5b] Doeben-Henisch, G.[2006] Reducing Negative Complexity by a Semiotic System In: Gudwin, R., & Queiroz, J., (Eds). Semiotics and Intelligent Systems Development. Hershey et al: Idea Group Publishing, 2006, pp.330-342

[6] Jakob von Uexküll, 1909, Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin: J. Springer. (Download: https://ia802708.us.archive.org/13/items/umweltundinnenwe00uexk/umweltundinnenwe00uexk.pdf )(Zuletzt: 26.Jan 2021)

[7] Beispiel, eines von vielen: Ein älterer Ingenieur erzählte mir am Beispiel des Abwassersystems einer großen Deutschen Stadt, dass es kaum noch Experten gibt, die das ganze System kennen, und die wenigen, die es gibt, stehen vor dem Berufsende …

[8] Gerd Doeben-Henisch, 25.Januar 2021, Gedanken und Realität. Das Nichts konstruieren. Leben Schmecken. Notiz, https://www.cognitiveagent.org/2021/01/23/gedanken-und-realitaet-das-nichts-konstruieren-leben-schmecken-notiz/

[9] Stichwort ‚age of the universe‘ in der englischen Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Age_of_the_universe

[10] Unter dem Stichwort ‚Formation and Evolution of the Solar System‘ findet sich in der Englischen Wikipedia ein Eintrag: https://en.wikipedia.org/wiki/Formation_and_evolution_of_the_Solar_System#Timeline_of_Solar_System_evolution

[11] Edward Tolman, 1948, COGNITIVE MAPS IN RATS AND MEN, The Psychological Review, 55(4), 189-208, online auch hier: http://psychclassics.yorku.ca/Tolman/Maps/maps

[12] Charles R. Gallistel.The Organization of Learning. MIT Press, 1990.

[13] Stichwort ‚Galileo Galilei‘ in der Englischen Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Galileo_Galilei

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