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DIE LETZTE GESCHICHTE DER MENSCHHEIT. Theaterstück. Notizen von einem Abend

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 24.Januar 2023 – 25.Januar 2023
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Ein Theaterbesuch gestern Abend im Schauspiel Frankfurt. Ein junger Regisseur, Leon Bornemann, eine tolle Schauspielerin Tanja Merlin Graf, ein junger Autor Sören Hornung ( Mehr Informationen: https://www.schauspielfrankfurt.de/spielplan/a-z/die-letzte-geschichte-der-menschheit/ ).

Form

Der folgende Text stellt eine spontane Wiedergabe einiger Impressionen dar, die sich während und nach dem Theaterstück ergeben haben. Leider gab es nach der Aufführung keine Möglichkeit zu einem Gespräch mit dem Publikum, was schade ist: da wird mit viel Aufwand, Engagement, ja, vermutlich auch mit viel ‚Liebe‘, ein wunderbares Stück vorbereitet, und dann lässt man die ‚Wirkung‘ dieses Stücks quasi ‚ins Leere‘ laufen … natürlich nicht ganz ‚leer‘, da es ja immerhin ‚Menschen‘ sind, die in ihrem Erleben und Denken in der Direktheit des Geschehens ‚betroffen‘ sind, ob sie wollen oder nicht. Eine Wirkung, die man ja eigentlich ‚wollen sollte‘ als Theatertruppe, aber die Wirkungen werden in die ‚Einsamkeit des individuellen Erlebens‘ verbannt, so, als wolle man ja gar nicht wissen, was solch eine Aufführung ‚anrichtet‘.

Dabei ist es ja eigentlich toll, wenn eine Aufführung eine ‚Wirkung‘ hat.

Allerdings, wenn es nicht nur um ‚Unterhaltung‘ geht, sondern irgendwie doch auch um Mitteilen, Kommunizieren, Anregen, vielleicht sogar ‚zum Denken bringen‘ als Vorstufe eines möglichen ‚Verstehens‘ (was man einem Theaterstück unterstellen darf?), dann ist die ‚Wucht des Aufpralls des Bühnengeschehens‘ im individuellen Erleben zu groß — und sicher auch zu ‚komplex‘ –, als dass man dies alleine ohne Austausch, so einfach ‚verdauen‘ kann.

… also schreibe ich hier ein paar verstreute Impressionen auf.

DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT (Stück)

Ich gebe hier jetzt nicht das Stück wieder. Wer es kennen lernen will, hat am 7.Februar 2023 nochmals Gelegenheit, es sich anzuschauen.

Worum es geht, wird einem gleich zu Beginn von einer weiblichen Person, die sich als Roboter darstellt, ‚ins Gesicht geredet‘: „Mein Name ist KARL. Ich bin eine KI und komme aus dem Jahr 5.144. So, jetzt ist es raus.“ Und zur Hintergrundgeschichte kann man erfahren, dass es um eine
„Künstliche Intelligenz aus der Zukunft geht, die „mithilfe einer selbstgebauten Zeitmaschine … in die Vergangenheit gereist [ist], um uns Menschen zu begegnen. Alles, was KARL über uns weiß, hat KARL auf Youtube gelernt. Beim Binge-Watching aller jemals produzierten Videos hat KARL leider verpasst, dass die Menschheit währenddessen ausgestorben ist. Jetzt ist KARL enorm einsam und vermisst die Menschen, die KARL nie persönlich Kennenlernen konnte. In KARLs postapokalyptischer Gegenwart (also unserer Zukunft bzw. der Zukunft der Erde, denn uns gibt es in der Zukunft, also in KARLs Gegenwart ja nicht mehr) sieht es insgesamt ziemlich trostlos aus. Durch eine Zeitverwerfung tritt KARL deshalb mit uns in Kontakt und möchte uns das Aussterben ausreden.“

Was dann folgt ist eine beeindruckende Einzeldarstellung der Schauspielerin, die ca. 48 Minuten lang ohne Pause eine Komposition von Körperhaltungen, Bewegungen und Monologen darbietet, die zu keinem Moment Spannung vermissen lassen.

Der Bühnenraum, durchgehend ohne Veränderungen, bietet in vielen Dimensionen Anregungen an, die bekannte Bilder aus dem Alltag wachrufen und im Zuschauer entsprechende Gefühle und gedankliche Assoziationen lebendig werden lassen.

Das Drehbuch führt den Zuschauer hinein in die Welt des Autors, der ein Bild von KI (Künstlicher Intelligenz) entstehen lässt, das letztlich den vielen Mustern ähnelt, die sich in den vielen Science Fiction Filmen (und zahllosen Science Fiction Romanen) [1] auch finden. Allerdings, die Art und Weise wie der Autor diese bekannten Bilder auf der Bühne durch eine einzige Schauspielerin — warum eigentlich nicht Frau + Mann + X? — umsetzt, wirkt in dieser Form packend, zieht einen in Bann.

Und diese KI wird instrumentalisiert zu einer Art ‚Spiegel der Menschheit‘, zum Menschen, und darin — indirekt — leicht anklagend auch an die Zuschauer, von denen der Autor annimmt, dass sie auch zu der Menschheit gehören, über die sein Stück handelt.

Auch hier, trotz innovativer Darstellungsform, die hier zum Vorschein kommenden Bilder sind die üblichen: die Menschheit ‚vergeigt‘ es, sie inszeniert ’sehenden Auges‘ ihren eigenen Untergang; warum wohl? Na ja, weil sie eben schlecht ist (obwohl sich viele doch so toll finden?).

Bei diesen Impressionen könnte man es belassen; immerhin hat man ja etwas ‚erlebt‘, ‚emotional‘, dazu ungewohnte kreative Bilder einer Bühne, einer Schauspielerin, von ungewohnten Dialogen und Bewegungen ….

ZWISCHENFRAGE(n)

Da ich als Autor Wissenschaftler bin (dann auch noch in der Nähe des Themas), aber auch Philosoph (Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie), dann auch tatsächlich und real auch ‚Hochschul-Lehrer‘ (nicht nur ‚Forscher‘), habe ich zum Thema natürlich eine Meinung, auch zur ‚Form‘ als ‚Theaterstück‘ (Keine Angst, ich bin NICHT gegen Theater, eher für mehr Theater).

Was mich beschäftigt, und geradezu ‚weh tut‘, das sind die ‚Bilder in den Köpfen‘, die im Medium des Theaterstücks ’sichtbar‘ werden und darin ‚zur Wirkung kommen‘. Bilder einer KI, die es so weder gibt noch jemals geben wird; aber auch Bilder der Menschheit, die im ersten Moment so ‚plausibel‘ erscheinen‘, in einem zweiten Moment aber — wenn man über ‚andere Bilder‘ verfügt — nur noch teilweise plausibel sind, und in den Teilen, wo sie ’nicht plausibel sind‘, sind sie das, was man normalerweise als ‚falsch‘ versteht.

Folgt daraus, dass das Theaterstück ‚Fake News‘ verbreitet?

Würde man ‚Ja‘ sagen, dann würden letztlich alle Menschen täglich ‚Fake News‘ verbreiten, da jeder Mensch nur über ein kleines Fragment des ungeheuren Wissens verfügt, das zur Zeit die Bibliotheken, Datenbanken und Blogs dieser Welt überschwemmt, vielfach aufbereitet durch immer mehr Algorithmen, die alles, was sie finden, mit statistischen Modellen zu immer neuen Texten zusammenbauen, ohne jegliche Realitätskontrolle.[2]

Die wenigstens Menschen glauben, dass sie etwas ‚Falsches‘ tun, fühlen sich engagiert, sind oft voller Emotionen, die für sie Realität markieren.

‚Fake News‘ im Sinne von unfertigen oder falschen Texten sind aber — so scheint es — eher der ‚Normalfall‘, in den wir hineingeboren werden, der uns durch die Arbeitsweise unseres Gehirns — unbewusst ! — ‚angeboren‘ ist. Wenn wir keine besonderen Maßnahmen ergreifen, dann sind wir alle ohne Ausnahme jeden Tag ‚Fake News Produzenten‘, begleitet von vielen Emotionen.[3].

WISSENSCHAFT – SPIEL – THEATER ???

Wir leben in einer Welt, in der neben Wirtschaft und Wissenschaft das Theater immer noch eine gewisse gesellschaftliche (kulturelle!?) Anerkennung besitzt. ‚Spielen‘ besitzt keine gleichwertige Anerkennung, obgleich es die wichtigste allgemeine ‚Form des Lernens‘ ist, über die wir Menschen verfügen. Gibt es zwischen ‚Wissenschaft‘, ‚Theater‘ und ‚Spielen‘ einen irgendwie gearteten Zusammenhang?

‚Fake News‘, jenes Wissen, das in den Köpfen von Menschen existiert, aber keinen oder stark deformierten Zusammenhang mit der ‚realen Welt‘ besitzt, hat die Menschen von Anbeginn begleitet. Die Erkenntnis, dass ‚die Welt‘, die wir als gegeben voraussetzen, gar nicht die Welt ist, wie sie existiert, sondern zunächst mal nur die Welt, die unser Gehirn mit Hilfe unseres Körpers als Teil der realen Welt ‚in uns erzeugt‘ — für uns ‚real‘, verglichen aber mit der ‚realen Welt um uns herum (einschließlich unserer Körper) nur ‚virtuell‘ –, diese Erkenntnis ist vergleichsweise neu. In den ca. 3.5 Milliarden Jahre vor dem Auftreten des homo sapiens (unsere Lebensform) war sie noch nicht verfügbar. Und in den ca. 300.000 Jahren Geschichte des homo sapiens — also ‚unsere‘ Geschichte — beginnt sie erst in den letzten ca. 5000 Jahren ‚aufzublitzen‘, wird aber erst seit ca. 300 – 400 Jahren schrittweise systematisiert. Irgendwann nannten wir Menschen dies ‚Wissenschaft‘, ‚empirische Wissenschaft‘, die versucht, das ‚virtuelle Wissen im Kopf eines einzelnen Menschen‘ durch nachvollziehbare und reproduzierbare Experimente — zwischen Menschen — , mit der realen Welt abzugleichen. Das daraus entstandene und immer noch entstehende überprüfbare, reproduzierbare Wissen ist seitdem explodiert. Plötzlich können wir ‚in die Tiefen des Universums‘ schauen, können ‚in der Zeit rückwärts gehen‘, sogar zu den Anfängen des Lebens auf unserem Planeten, können in die ‚Tiefen der Materie‘ schauen, können in die Bausteine des Lebens schauen; nicht nur Atome und Moleküle, sondern auch in die Zellen, aus denen alle Lebensform bestehen, auch wir Menschen. Jeder einzelne Mensch besteht z.B. aus so vielen Zellen, wie 450 Galaxien im Format der Milchstraße Stern umfasst. Insgesamt gibt es auf dem kleinen blauen Planet Erde weit mehr biologische Zellen, als das bekannte Universum nach Hochrechnungen an Sternen besitzt! Anders gesagt, auf der unscheinbaren Erde hat sich im scheinbar so großen Universum eine ‚Zell-Universum‘ gebildet, das weit größer und um ein Vielfaches komplexer ist als das Universum der Sterne. Wir nennen es schlicht ‚Leben‘.

Was bedeutet dies?

Eigentlich bedeutet es sehr viel. Die sogenannten ‚heiligen Bücher‘ der Menschheit erzählen von all dem nichts. Wie auch.

Aber, was erzählen wir selbst, die wir ‚als Menschheit‘ diese — schaurig schönen — Ungeheuerlichkeiten entdeckt haben?

Die Wissenschaft als primäre ‚Akteurin‘ dieses Erkenntnisprozesses ‚verheddert sich‘ seit Jahren in ihren eigenen Datenmengen, im Sprachwirrwarr ‚zwischen den Disziplinen‘. In den Theatern dieser Welt begnügt man sich damit — täuscht der Eindruck? — , vom Abfall der täglichen Klischees zu leben (nur besser aufbereitet). Und jene Lernform, mit der alle Kinder dieser Welt ohne Lehrer und Schulen ihre Welt ‚fast von selbst‘ ‚erobern‘, die Form des ‚Spiels‘, fristet ein Schattendasein im Schlagschatten von Wissenschaft, offizieller Bildung und Theater, obgleich Menschen ein großes Bedürfnis haben, zu spielen.[4]

Im Rahmen der Hochschullehre experimentieren wir an der Frankfurt University of Applied Sciences seit Jahren mit neuen Lehrformaten, durch die die Studierenden — so die Idee — vielleicht besser erkennen können, welcher Zusammenhang zwischen dem Thema ‚Nachhaltige Entwicklung‘, der ‚Rolle der Bürger‘ und der ‚Wissenschaft‘ besteht, und wie man diese Themen für eine gemeinsame bessere Zukunft vereinen könnte. Unsere letzten Überlegungen dazu kann man im oksimo.org Blog nachlesen.[5] Bei diesen Experimenten, für die wir auf viele verschiedene ‚Instrumente‘ zurückgreifen, haben wir eher zufällig entdeckt, dass es eine starke strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem Konzept einer ’nachhaltigen empirischen Theorie‘, dem Format ‚Spiel‘ und dem Format ‚Theaterstück‘ gibt (und vermutlich gibt es noch mehr potentielle Mitglieder dieser ‚Äquivalenzklasse‘).[6]

Aus diesen Erkenntnissen könnte man den Schluss ziehen, dass die bislang ‚harte Trennung‘ zwischen Wissenschaft (damit auch den Hochschulen), Spielen und Theater eine ‚Artefakt‘ eines kulturellen Musters ist, das noch stark in der ‚Vergangenheit‘ lebt und zu wenig in jener ‚Vor-Form von Zukunft‘, die wir brauchen, um unsere Chancen, als Menschheit auch in der ‚Zukunft‘ [7] leben zu können, zu erhöhen.

Post Script

Ich konnte diese Zeilen jetzt nur schreiben, weil ich dieses Theaterstück gesehen habe. Theaterstücke können — neben vielen anderen Aspekten –, wenn sie gut gemacht sind (dieses war gut ‚gemacht‘) , genau dieses bewirken: wie eine Art Katalysator jenes Wissen und Erleben heraus kitzeln, das uns auszeichnet. Sie müssten dann vielleicht aber auch den Mut haben und den Aufwand wagen, sich dem ‚Post Processing‘ ihrer Wirkungen zu stellen. Es geht nicht nur um das altertümliche Kunstverständnis eines esoterischen ‚Kunsterlebnisses‘; es geht sehr wohl um ‚Lernprozesse‘, an denen wir alle teilhaben sollten, um uns wechselseitig zu helfen, unser gemeinsames Dasein und mögliches Schicksal besser zu verstehen. Die im Stück apostrophierte ‚Einsamkeit‘ des einzelnen im Netzwerk der ’sozialen Medien‘, vor dem Terminal im Gespräch mit einer KI, die sollte vielleicht für Theaterbesucher nicht zwanghaft reproduziert werden. Wenn man schon erkennt, dass ‚Vereinsamung‘ ein Thema ist, dann müsste Theater sich hier vielleicht etwas ‚Moderneres‘ einfallen lassen, etwas, was dem ‚mehr Mensch sein‘ helfen könnte …

KOMMENTARE

[1] Eine kleine Liste von Science fiction Filmen (mit Kurzkommentar) findet sich hier: https://wiki.cognitiveagent.org/doku.php?id=cagent:sciencefiction

[2] Die KI-Forscher selbst sprechen hier davon, dass diese Algorithmen ‚träumen’…

[3] Demokratien sind hier besonders gefährdet, da ja alles über Mehrheiten läuft. Wenn einflussreiche Gruppen mit bestimmten Meinungsbildern die Gehirne der Bevölkerung ‚überschwemmen‘ (früher sprach man von ‚Propaganda‘ oder gar ‚Gehirnwäsche‘), dann kann man in einer Demokratie nahezu alles umsetzen, ohne zu Waffen greifen zu müssen. Und da Politiker nicht anders sind als ihre Wähler, merken viele nicht unbedingt, dass sie selbst zur Verstärkung von Fake News und ‚Zerstörung von Öffentlichkeit‘ beitragen ….(Woraus keineswegs folgt, dass Demokratien schlecht sind! Jedes tolle Instrument wirkt schlecht, wenn man es falsch bedient …)

[4] Laut statista ( https://de.statista.com/statistik/daten/studie/712928/umfrage/anzahl-der-computerspieler-in-deutschland/ ) gab es im Jahr 2020 allein in Deutschland ca. 34 Millionen Menschen, die Computerspiele machen, nicht die gezählt, die ’normale‘ Spiele spielen.

[5] Der ganze Blog widmet sich dem Thema ‚Bürgerwissenschaft 2.0‘ und ‚Nachhaltigkeit‘. Hier am Beispiel möglicher Lehrformate: https://www.oksimo.org/2022/11/04/anwendung-lehre/

[6] Siehe dazu die Überlegungen hier: https://www.oksimo.org/2022/12/14/nachhaltige-empirische-theorie-verschiedene-formate/

[7] Den wenigstens ist — so der Anschein — bewusst, dass die ‚Zukunft‘ kein ‚Objekt wie irgendein anderes‘ ist, sie ist ‚radikal unbekannt‘. Wir könne sie in ‚möglichen Umrissen‘ nur ‚erahnen‘ im Lichte eines Wissens, das ansatzweise die ‚Veränderungsdynamik‘ des Universums ‚versteht‘. Der homo sapiens als Teil der Biosphäre ist Teil dieser Veränderungsdynamik. Solange wir aber eher in ‚Fake News‘ verharren als in brauchbarem realem Wissen können wir natürlich nicht allzu viel Konstruktives tun; wir bestaunen dann nur die immer größeren Schäden, die wir auf dem Planeten, an der Biosphäre (zu der wir gehören) anrichten…. „Hier spricht KI Karl“ …

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1989/1990

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 19.-21.Februar 2022, 14:05h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Vorbemerkung

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Fortsetzung der vorausgehenden Besprechung von Popper’s erstem Artikel „A World of Propensities“ (1988, 1990). In diesem neuen Post steht der zweite Artikel von Popper im Zentrum „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“ (1989,1990)[0]. Der Text von Popper geht zurück auf seine erste öffentliche Rede für die Alumni der London School of Economics 1989, 40 Jahre nach seiner Ernennung zum Professor für Logik und wissenschaftliche Methoden an der L.S.E. Der Text des Artikels wurde von ihm gegenüber der ursprünglichen Rede leicht erweitert.

Rückblick als Zusammenfassung

(Mit eigenen Worten …)

Im vorausgehenden Text hatte Popper sehr grundsätzlich die Idee entwickelt, dass in der Abfolge beobachtbarer Ereignisse mit möglichen Häufigkeiten ‚mehr enthalten‘ ist als bloß ein ‚wiederholtes Auftreten‘. Ereignisse in der uns umgebenden Ereigniswelt — mit unserem Körper ebenfalls als ein Ereignis darin — stehen nicht beziehungslos im Raum, sondern stehen in einem realen Zusammenhang mit allem anderen, kontinuierlich eingebettet in reale Wechselbeziehungen vielfältiger Art, und dieser Zusammenhang dauert an als ‚Gegenwart‘, in der sich diese realen Konstellationen in Form von ‚Wirkungen‘ manifestieren. Die Wirklichkeit erscheint in dieser Sicht als ein ‚Prozess‘, in dem alles mit allem verbunden ist und sich durch die kontinuierlichen ‚Wirkungen‘, die von den einzelnen Komponenten ausgehen, sich selbst kontinuierlich auch verändern kann. Eine Wirkung, die innerhalb solch eines dynamischen Prozesses als ‚Ereignis‘ beobachtbar (= messbar) wird, muss man daher als eine ‚Tendenz‘ (‚propensity‘) begreifen, die ‚vorkommt‘, weil es einen realen Zusammenhang gibt, der sie bedingt. Tendenzen kann man daher verstehen als ‚Geräusche des Daseins‘, ‚Mitteilungen des So-Seins‘, oder als ‚Sound der Welt‘. Man kann es beim bloßen Wahrnehmen, beim Sound als solchem, belassen, oder man kann den Sound als ‚Spur‘ sehen, als ‚Zeichen‘, als ‚Abdruck von etwas‘, das sich ‚mitteilt.

Popper legt Wert darauf, dass die einzelnen Töne des Sounds, die einzelnen Ereignisse, weder ‚deterministisch‘ sind noch ‚rein zufällig‘. Irgendetwas dazwischen. Das Auftreten dieser Töne kann ‚Muster‘ andeuten, ‚Regelhaftigkeiten‘, durch die unser Denken angeregt werden kann, zwischen aufeinander folgenden Ereignissen ‚Beziehungen‘ zu sehen, ‚Zusammenhänge‘, aber diese Beziehungen sind aufgrund der Art ihres Auftretens ‚fragil‘: sie können auftreten mit einer gewissen Häufigkeit, phasenweise vielleicht sogar mit einer gewissen ‚Konstanz der Häufigkeiten‘, aber es gibt ‚keine absoluten Garantien‘, dass dies immer so bleiben wird. Im Alltag neigen wir dazu, solche sich wiederholenden ‚Beziehungen‘ in ‚Hypothesen‘ umzuwandeln, an die wir die ‚Erwartung‘ knüpfen, dass sich ein solches hypothetische Muster reproduziert. Falls ja, fühlen wir uns ‚bestätigt‘; falls nein, steigen Zweifel auf, ob wir uns mit unserer Annahme geirrt haben. Im einen Grenzfall, wenn das Muster sich immer und immer wiederholt, neigen wir dazu es als ‚feste Regel‘, als ‚Gesetz‘ zu sehen. Im anderen Grenzfall, wenn das Muster sich trotz aller Versuche, es als Ereignis zu reproduzieren (Experiment, Test), nicht wieder einstellt, dann neigen wir dazu, unsere ‚Hypothese‘ wieder zu verwerfen. Doch zwischen ‚Annahme‘ eines Musters als ‚gesetzmäßig‘ und als ‚verworfen‘ liegt ein Raum voller Schattierungen. Der bekannte Spruch ‚Die Hoffnung stirbt zuletzt‘ kann andeuten, dass das ‚Verwerfen‘ einer Hypothese — je nach Art und Stärke der Erwartungen — sehr lange hinausgezögert werden kann … manche ‚glauben‘ auf jeden Fall, dass es irgendwie doch möglich sein kann, egal was passiert …

Diese Sichtweise Poppers deckt sich nicht mit einer theoretischen (mathematischen) Wahrscheinlichkeit, nicht mit einer rein subjektiven Wahrscheinlichkeit, auch nicht mit einer deskriptiven (empirischen) Wahrscheinlichkeit, selbst wenn es jeweils ‚Überschneidungen‘ gibt. Eher ist es eine Kombination von allen Dreien plus eine charakteristische Erweiterung:

  1. Wenn man beginnt, beobachtbare Ereignisse zu ’notieren‘, zu ‚protokollieren‘ und sie nach verschiedenen formalen Kriterien ‚anzuordnen‘ ohne weiter reichenden Interpretationen zu formulieren, dann bewegt man sich im Feld einer empirischen deskriptiven Wahrscheinlichkeit, die mit Häufigkeiten arbeitet. Damit würde auch Popper anfangen.
  2. Wenn man diese ‚empirischen Befunde‘ dann versucht in weiter reichende ‚Beziehungen‘ einzuordnen, dann braucht man eine theoretische Struktur. Eine solche bietet die theoretische Wahrscheinlichkeit. In ihr kann man beliebig viele Strukturen (= Modelle, Theorien) definieren und versuchsweise in Beziehung setzen zu empirischen Befunden. Je nach Modell kann man dann die empirischen Befunde unterschiedlich interpretieren und daraus unterschiedliche Voraussagen ableiten. Im Experiment kann man weiter versuchen, zu überprüfen, welches angenommene Modell sich ‚mehr‘ bestätigt als ein anderes.
  3. Jeder einzelne Mensch bildet im Alltag automatisch sein ’subjektives Modell‘ von Wahrscheinlichkeiten aufgrund seiner Alltagserfahrung. Dies kann sich auf Dauer als ‚mehr oder weniger zutreffend‘ erweisen. Würde jemand versuchen, seine Alltagserfahrung ‚wissenschaftlich zu analysieren‘ würde er sowohl eine ‚deskriptive‘ Wahrscheinlichkeit ausbilden können wie auch eine ‚theoretische‘ Wahrscheinlichkeit.
  4. Die Sichtweisen (1) – (3) zwingen nicht dazu, jenseits der beobachtbaren und klassifizierbaren Ereignisse eine ‚reale Welt von Kontexten (mit Situationen als Teilaspekten)‘ anzunehmen, deren reale Beschaffenheit so ist, dass von ihr ‚Wirkungen‘ ausgehen, die sich als ‚beobachtbare Ereignisse‘ manifestieren und die in ihrer zeitlich geordneten ‚Gesamtheit‘ dann als ‚Tendenzen‘ verstanden werden können, die ‚objektiv‘ sind, da sie mit realen Kontexten in einem unauflösbaren Zusammenhang stehen. Diese vierte Dimension der ‚objektiven Tendenzen‘ ist der ‚Mehrwert, den Popper in die Sicht der Dinge einbringt

Soweit die Kernthese von Popper zu ‚objektiven Tendenzen‘, zusammengefasst, nicht als 1-zu-1 Formulierung von Popper.

Ein wissender Körper

Im vorausgehenden Text hatte ich bei der Kommentierung von Poppers Text spontan an verschiedenen Stellen Überlegungen eingestreut, in denen ich weitergehende Annahmen über die Arbeitsweise unseres Körpers mit seinem Gehirn beschrieben habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich Poppers Beitrag zu einer evolutionären Theorie des Wissens noch nicht gelesen. Ich selbst hatte mich aber auch schon seit mindestens 30 Jahren mit der evolutionären Perspektive unserer körperlich-geistigen Existenz beschäftigt und erleben dürfen, dass erst mit Einbeziehung der evolutionären Perspektive viele grundlegenden Eigenschaften unser Daseins in einem rationalen Kontext (= Menge von Hypothesen) erscheinen, der ‚plausibel‘ wirkt (aber ‚auf Abruf‘; es kann sich ändern).

Mit Beginn der Lektüre des zweiten Artikels war ich daher nicht wenig (positive) überrascht, dass Popper der evolutionären Perspektive unseres wissenden Körpers so viel Gewicht beimaß. [0b]

Popper beginnt seinen Artikel mit der (Hypo-)These, dass Tiere Wissen (‚knowledge‘) besitzen.(vgl. S.30) Da wir als Menschen nicht direkt wissen können, was ‚Wissen‘ aus der Innensicht von Tieren ist sondern nur aus unserer ‚Selbsterfahrung‘ als Menschen, räumt Popper ein, dass die These „Tiere besitzen Wissen“ im ersten Augenblick ‚anthropomorph‘ klingt; das wäre dann eine bloße ‚Projektion‘ von menschlichen Eigenschaften auf Tiere; einer solchen Projektion käme dann zunächst kein weiterer empirischer Erkenntniswert zu. Aber Popper bleibt beharrlich und stellt fest, dass seine Rede nicht als „bloße Metapher“ gemeint sei. Darüber hinaus verteidigt er seine anthropomorphe Redeweise mit dem Argument, dass wir über biologische Phänomene gar nicht anders als anthropomorph reden könnten, da unser eigener Körper mit seinen Eigenschaften als (natürlicher) Referenzpunkt dient, über den wir einen ersten Zugang zu ‚homologen‘ (= strukturähnlichen, formähnlichen) Eigenschaften der anderen Lebensformen finden.(vgl. S.30) Und er wiederholt seine These, dass die ‚Formähnlichkeiten‘ zwischen menschlichem Körper (und Verhalten) mit nicht-menschlichen Körpern (und Verhalten) nicht rein äußerlich sei, sondern dass die formähnlichen Teile auch ähnliche Funktionen haben, z.B. die Annahme, dass das Gehirn eines Tieres auch irgendwie ‚Wissen‘ hat, erzeugt analog wie beim Menschen.(vgl.S.30f).

Er unterscheidet sehr schnell zwischen ‚Wissen‘ und dem ‚Wissen um Wissen‘ (‚being aware of‘) und meint, dass aus der Annahme von ‚Wissen‘ in nicht-menschlichen Lebensformen nicht unbedingt folgt, dass diese sich ihres Wissens ‚bewusst‘ seien noch ist auszuschließen, dass bei uns Menschen ‚Wissen‘ auch ‚unbewusst‘ (’not aware of‘, ‚unconscious‘) sein kann.(vgl. S.31) Bei Menschen manifestiert sich ‚unbewusstes Wissen‘ oft in Form von ‚Erwartungen‘, deren wir uns oft erst bewusst werden, wenn sie ‚enttäuscht‘ werden.(vgl. S.31)

Popper stellt dann eine Art Liste von Vermutungen zusammen, die sich aus der Eingangs-Annahme ergeben können, dass Tiere über Wissen verfügen (vgl. SS.32-39):

  1. ERWARTUNGEN: Wie schon zuvor erwähnt, zeigt sich Wissen in Form von ‚Erwartungen‘
  2. UNSICHERHEIT: Erwartungen sind objektiv unsicher; der jeweilige Akteur kann mit einer Erwartung aber so umgehen, als ob sie ’sicher‘ sei.
  3. HYPOTHESEN: Die überwiegende Menge an Wissen besteht aus Hypothesen.
  4. OBJEKTIV WAHR: Trotz eines hypothetischen Charakters kann Wissen ‚objektiv wahr‘ sein, weil es sich auf ‚objektive Fakten‘ (= reale Ereignisse) stützt.
  5. WAHR ≠ SICHER: Wahrheit und Sicherheit müssen klar unterschieden werden. In der Welt der realen Ereignisse kann etwas ‚wahr‘ und zugleich unsicher sein. In der Welt des abstrakten Denkens (z.B. Mathematik) kann es wahr und zugleich sicher sein.
  6. TESTEN: Wegen mangelnder Sicherheit in der realen Welt müssen wahre Aussagen immer wieder getestet werden, ob sie ’noch‘ zutreffen (weil die reale Welt sich in konstanter Veränderung befindet).
  7. Wie (4)
  8. FALSCHE SICHERHEIT: In der realen, sich ständig verändernden Welt, kann es keine absolute Sicherheit geben.
  9. WISSEN ÜBERALL: Verknüpft man ‚Wissen‘ an der Wurzel mit ‚Erwartungen‘, dann muss man allen biologischen Lebensformen ein Minimum an Wissen zusprechen.
  10. Erläuterung zu (9) mit Bäumen.
  11. Weitere Erläuterung zu (9) mit Bäumen.
  12. LANGZEIT und KURZZEIT EREIGNISSE: Reaktionen eines Organismus auf Kurzzeit Ereignisse setzten gewisse ‚Fähigkeiten‘ voraus, die sich über Generationen als ’strukturelle Eigenschaften‘ adaptiv herausgebildet haben müssen, damit sie als Basis des Reagierens verfügbar sind.
  13. Erläuterung zu (12) am Beispiel von Wildgänsen, die adaptiert sind, auf jagende Füchse zu reagieren.
  14. Erläuterung zu (12). Strukturelle Anpassungen setzen voraus, dass es Umweltbedingungen gibt, die über lange Zeit hinreichend konstant waren.
  15. ADAPTION und WISSEN mit ERWARTUNGEN durch VERSUCH & IRRTUM: Ein reales Ereignis wird nur dann für einen einzelnen Akteur zu einer ‚Sache‘ (zu einem ‚Fakt‘, zu einer ‚Information‘) wenn verfügbares Wissen das Ereignis entsprechend ‚einordnen‘ kann. Verfügbares Wissen entsteht aber nur durch einen individuellen ‚Lernprozess‘ bestehend aus vielen kleinen ‚Versuchen‘ mit Erwartung und nachfolgender Bestätigung/ Nicht-Bestätigung. Adaptierte Strukturen in einem Individuum in einer sich verändernden Welt mit partiell konstanten Mustern können nur über einen Prozess von vielen ‚Reproduktions-Versuchen‘ in einer Population entstehen, wenn’un-passende‘ Strukturen weniger leistungsfähig sind wie andere.
  16. LANGZEIT-/KURZZEIT ANPASSUNG/WISSEN: Kurzzeit-Wissen setzt Langzeit-Anpassung und darin kodiertes Wissen voraus. Sowohl Langzeit-Strukturen/Wissen als auch Kurzzeit-Wissen sind beide ‚hypothetisch‘: sie bilden sich anlässlich ‚realer Ereignisse‘, erben aber die Unsicherheit der Ereigniswelt als solcher.
  17. WISSEN IST ÜBERLEBENSORIENTIERT: Jede Form von Wissen in jedem biologischen Organismus (von der kleinsten Zelle bis zum Menschen) dient dazu, dem Menschen für sein Überleben zu dienen.
  18. ALTER DES WISSENS: Das Phänomen des Wissens begleitet das Leben von Anfang an.
  19. UNIVERSUM-LEBEN-WISSEN: Insofern das Leben mit dem ganzen Universum verknüpft ist (zu 100%!) ist auch das Wissen ein Aspekt des gesamten Universums.

Popper illustriert viele der in der Liste aufgeführten Punkte dann an der realen Geschichte der Evolution anhand konkreter Forschungen aus seiner Zeit. (vgl. SS.39 – 45) Der Grundtenor: Leben spielt sich primär in Form von chemischen Prozessen in jeweiligen Umgebungen ab. Die ‚Makro‘-Phänomene, die wir vom Leben aus dem ‚Alltag der Körper‘ kennen, sind im Sinne der Komplexität so ‚unfassbar weit‘ von diesen elementaren Prozessen entfernt, dass es für uns Menschen bis heute — trotz Wissenschaft — noch kaum möglich ist, alle diese Prozesse hinreichend zu verstehen. Speziell der Übergang vom Planeten Erde ‚vor‘ den Phänomenen einzelligen Lebens hin zu einzelligem Leben ist trotz mittlerweile vielfacher Versuche leider noch nicht wirklich klar.[5],[6]

Die wichtigsten Erkenntnisse aus alledem

An dieser Stelle stellt sich Popper selbst die Frage, was aus alledem jetzt folgt? („… the main lesson to be drawn …“(S.45)

Und mit all den ungeheuerlichen Geschehnissen der Evolution vor Augen fällt eines ganz klar auf: allein nur um zu wissen, was ‚um ihn herum‘ der Fall ist, benötigt der Organismus eine ‚Struktur‘, deren Eigenschaften den Organismus in die Lage versetzen, bestimmte Umweltereignisse zu ‚registrieren‘, dieses ‚Registrierte‘ in interne Zustände so zu ‚übersetzen‘, dass der Organismus darauf in einer Weise ‚reagieren‘ kann, die für sein Überleben zuträglich ist. Und da es neben den ‚Langzeit-Ereignissen‘ (Eigenschaften der Umgebung, die sich nur langfristig ändern), auch sehr viele ‚Kurzzeit-Ereignisse‘ gibt, die mal so oder mal so sind, benötigt der Organismus neben den ‚Strukturen‘ auch ‚flexible Prozesse‘ des ‚akuten Lernens‘, die aktuell, ‚on demand‘, Antworten ermöglichen, die jetzt gebraucht werden, nicht irgendwann.

Popper greift an dieser Stelle eine Terminologie von Kant [7] auf der zwischen ‚a priori‘ und ‚a posteriori‘ Wissen unterschieden hat. [6] Angewendet auf seine Untersuchungen interpretiert Popper das ‚Wissen a priori‘ als jenes Wissen, das schon da sein muss, damit ein konkretes Ereignis überhaupt ‚als irgendetwas‘ erkannt werden kann („to make sense of our sensations“, S.46). Und dieses ‚voraus zu setzende Wissen‘ sieht er als Wissen a priori‘, das sowohl als verfügbare Struktur (= Körper, Gehirn…) auftritt wie auch innerhalb dieser Struktur als ein ‚Wissen a posteriori‘, das ein Ereignis zu einem ‚irgendwie sinnhaften Ereignis‘ werden lassen kann.(„… without it, what our senses can tell us can make no sense.“ (S.46) Innerhalb dieses voraus zu setzenden Wissens müssen die grundsätzlichen Unterscheidungen zu ‚Raum‘, ‚Zeit‘ und ‚Kausalität‘ möglich sein. Und Popper meint, dass Kant mit seinen erkenntniskritischen Rekonstruktionen grundlegende Einsichten der Evolutionstheorie vorweg genommen habe.(vgl. S.46)

Und, indem Popper Kant so hoch lobt, geht er unmittelbar dazu über, ihn — auf seine Weise — gewissermaßen zu ‚transformieren‘, indem er sagt, dass der Anteil des ‚apriorischen Wissens‘ eher bei 99% liegt und der des ‚aposteriorischen Wissens‘ eher bei 1%. Diesen Schluss zieht er aus der Tatsache (= seine Interpretation von einer Sachlage!), dass die verschiedenen sensorischen Ereignisse im Körper eines Organismus als solche nur ‚Ja-Nein-Zustände‘ sind, die eine wie auch immer geartete ‚Bedeutung‘ nur bekommen, wenn es einen ‚Deutungsrahmen‘ gibt, mit Hilfe von dem ein sensorisches Ja-Nein als ‚Laut‘ oder als ‚Farbe‘ oder als ‚Geschmack‘ usw. ‚gedeutet‘ (abgebildet) werden kann. Dies heißt, dass generell Ereignisse nach einem Deutungsrahmen verlangen, der schon ‚da sein muss‘, damit er wirken kann. Und da ein Organismus primär aus chemischen Prozessen besteht, muss das ‚apriorische Wissen‘ in diesen chemischen Prozessen verfügbar sein („… inborn … in our chemical constitution“. (S.46)) Ferner kann das Verhältnis zwischen zu klassifizierenden sensorischen Daten und dem Wissen a priori nicht deterministisch sein, da diese Klassifikationen ‚falsch‘ sein können, sie partiell erst durch ‚Versuch und Irrtum‘ entstehen. Insgesamt ermöglicht das Wissen zudem ‚Erwartungen‘, aufgrund deren der Organismus handelt (und deshalb ‚irren‘ kann).

Hier deutet sich ein konstruktiver Konflikt an in der Annahme, dass es schon ein apriorisches Wissen geben muss, das zu Klassifikationsleistungen befähigt, und zugleich, dass solch ein apriorisches Wissen weder ‚vollständig‘ zu sein scheint (Poppers Beispiel: der Frosch, der zwar Fliegen erkennen kann als sein Futter, aber nur dann, wenn sie sich bewegen), noch ‚fertig im Detail‘, da ‚Irrtümer‘ auftreten können, aus denen ‚gelernt‘ werden kann. Dem Ganzen (Wissen) haftet etwas ‚prozesshaftes‘ an: es hat schon immer etwas, was ‚funktioniert‘, aber es kann sich selbst in Interaktion mit ‚dem Anderen‘ irgendwie immer weiter verändern.(vgl. S.47)

Das zugrunde liegende Schema könnte man vielleicht wie folgt formulieren: (i) ein Organismus braucht eine Struktur, die registrierte Ja-Nein-Ereignisse ‚Klassifizieren/ Deuten‘ kann, und parallel (ii) braucht es aufgrund des bisherigen Wissens eine ‚Erwartung‘, anhand deren eine aktuelle Deutung als ‚bestätigend‘ erscheint oder ’nicht-bestätigend‘. Aus dieser Differenz kann dann eine Veränderung des Verhaltens resultieren, das ‚versuchsweise‘ Ereignisse schafft, die dann ‚eher bestätigen‘ und ‚weniger enttäuschen (Irrtum, Fehler, …)‘. Das Ganze wird dadurch ‚komplex‘, dass für dieses Schema mindestens zwei Zeitschemata anzunehmen sind: (a) langfristige strukturelle Änderungen (’strukturelles Lernen‘) des gesamten Organismus über Reproduktion und ‚Erfolg‘ in der Population (wer überlebt besser), sowie (b) kurzfristige Änderungen (’situationsbezogenes Lernen‘), das in wechselnden ‚hypothetischen Bildern der Welt‘ beständig als Hypothese und Erwartung wirksam ist, die im Konfliktfall (keine Bestätigung) ‚modifiziert‘ werden können.

Popper zieht in diesem Kontext eine Parallele zum modernen Begriff einer Theorie, die als Hypothese versucht, hilfreiche Deutungen zu liefern, und die in Konfrontation mit der Ereigniswelt (über Experimente) bestätigt oder nicht bestätigt wird. Im Prozess des Erwartens und Korrigierens vollzieht sich eine Form der ‚Anpassung‘ des menschlichen Denkens an jene Ereigniswelt (die wir ‚Welt‘ nennen, ‚Natur‘, ‚Universum‘, …), in der wir uns — ungefragt — vorfinden, in der wir versuchen, zu überleben. (vgl. S.48f) Popper äußert dann noch eine Analogie der Art, dass der Unterschied zwischen der hochentwickelten Wissenskultur eines einzelnen Homo sapiens und jener eines einzelnen Bakteriums letztlich nur graduell ist; grundsätzlich hat ein Bakterium, ein Einzeller, schon alle Merkmale, über die höher entwickelte biologische Lebensformen verfügen.(vgl. S.49f) Insbesondere sieht Popper in jedem lernfähigen Organismus auch — mindestens implizit — ‚Werte‘ in Aktion, nämlich überall dort, wo ‚entschieden‘ werden muss, welche der möglichen Optionen ausgewählt werden soll. In einfachen Organismen geschieht dies weitgehend strukturell-apriorisch; im Fall komplexer Lebewesen mit elaborierten Nervensystemen kann es zusätzlich künstlich eingeführte ‚Regelsysteme‘ geben — wie z.B. ‚gesellschaftliche Normen‘, ‚Konventionen‘, ‚Sitten und Gebräuche‘, ‚Vereinbarte Gesetze‘ usw. –, die auf einen individuellen Entscheidungsprozess einwirken können, ohne den individuellen Entscheidungsprozess dabei ganz außer Kraft zu setzen.(vgl. S.50f)

Nachbemerkung – Epilog

Nimmt man beide Beiträge als eine mögliche Einheit, dann entsteht ein spannender Zusammenhang, eine spannende Gesamt-Hypothese über die Natur der uns umgebenden Ereigniswelt mit uns selbst (über unseren Körper) als Teil davon.

Mit unserem Körper erleben wir interne Ereignisse in Form angeborener und angelernter gedeuteter Strukturen, die uns ein ‚Bild von der Welt mit uns als Teil‘ liefern, mit ‚Erwartungen‘, die in uns entstehen, mit Bestätigungen und Mangel an Bestätigungen, mit der Möglichkeit eines Handelns, das die Struktur der Ereignisse um uns herum — und uns selbst — verändern kann.

Die Welt ist ein dynamisches, changierendes Etwas, ein Gesamtprozess, dessen endgültige Gestalt, dessen inneren ‚Antriebskräfte‘ schwer fassbar sind, ist doch jedes Lebewesen — nicht nur wir Menschen — Teil davon.

Im Versuch dieses dynamische Etwas ‚zu fassen‘, ‚dingfest‘ zu machen, bleiben uns nur einzelne Ereignisse, hier und jetzt, und immer wieder neue Ereignisse im hier und jetzt; abstrakte Bilder (Schatten der Erinnerung), in denen einige häufiger vorkommen als andere. Bisweilen haben wir das Gefühl, dass sich ‚Regeln‘ andeuten, ‚Muster‘, aber sie sind niemals ‚100-prozentig stabil‘ (‚deterministisch‘), aber auch niemals nur ‚rein zufällig‘, sondern irgendwie genau dazwischen. Was ist das? Der Sound des Lebens? Wir sind Teil dieses Sounds. Verstehen wir uns selbst? Verstehen wir die große Partitur, in der wir vorkommen? Alles deutet darauf hin, dass das Gesamtereignis ’sich selbst komponiert‘! Im Kern aller Ereignisse findet man eine große ‚Freiheit‘, die sich im ‚Kleid der Optionen‘ eine Gestalt sucht, eine Gestalt die vorweg niemand kennen kann, und die doch nicht beliebig sein wird…

Im Alltagsgeschäft der heutigen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen — die absolut notwendig sind; ohne die geht gar nichts — findet man von diesem erfrischenden Hauch einer super-lebendigen Singularität nicht viel. Jeder ist mit dem Auszählen seiner Einzelexperimente beschäftigt. Im Mainstream träumt man von sogenannter Künstlicher Intelligenz, die alle unsere Problem überwinden wird; welch absolut schrottige Idee. Der ‚Supercomputer‘ des Lebens auf diesem Planeten ist davon mehrfache Galaxien weit entfernt.

Anmerkungen

[0] Karl Popper, „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“, Vortrag 1989, erweiterter Text in: Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[0b] Die Einbeziehung der Erkenntnisse der Evolutionsbiologie in eine philosophische Gesamtsicht findet sich nicht nur bei Popper. Schon der Verhaltensforscher und Philosoph Konrad Lorenz [2] hatte in einem Aufsatz 1941 [2b]einen Zusammenhang zwischen der Erkenntnistheorie von Kant und den Erkenntnissen der Biologie hergestellt. Dies wird bei Lorenz dann 1973 in sein Hauptwerk „Die Rückseite des Spiegels …“ zu einer großen Gesamtschau ausgeweitet, in dem er explizit eine Verbindung zieht zwischen der morphologischen Entwicklung in der Evolution und den Formen der Erkenntnis. [2c]. Ein anderer starker Denker im Spannungsfeld von Biologie und Philosophie war Humberto Maturana [3], der in den Jahren 1968 – 1978 viele grundlegende Beiträge zum Thema verfasst hat.[2b] In Deutschland ist u.a. noch zu nennen Gerhard Vollmer mit seinem Buch Evolutionäre Erkenntnistheorie‘ von 1975.

[1] Evolutionäre Erkenntnistheorie in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Evolution%C3%A4re_Erkenntnistheorie //* Dieser Artikel ist nicht besonders gut *//

[1b] Evolutionary Epistemology in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Evolutionary_epistemology //* Dieser Artikel ist nicht besonders gut *//

[2] Konrad Lorenz in wkp-ed: https://en.wikipedia.org/wiki/Konrad_Lorenz und in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad_Lorenz

[2b] K. Lorenz: Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie. In: Blätter für Deutsche Philosophie. Band 15, 1941, S. 94–125

[2c] K.Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens (1973), in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_R%C3%BCckseite_des_Spiegels

[3] Humberto Maturana in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Humberto_Maturana

[3b] Humberto R.Maturana, Erkennen; Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Friedr.Viehweg & Sohn, Braunschweig – Wiesbaden, 1982 (Enthält von Maturana autorisiert in deutscher Übersetzung Arbeiten aus den Jahren 1968 – 1978).

[4] Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie. Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie. S. Hirzel, Stuttgart 1975. Zu Vollmer in der wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Vollmer

[5] Evolution in wkp-en: https://en.wikipedia.org/wiki/Evolution

[6] Hans R.Kricheldorf, Leben durch chemische Evolution?, Springer-Verlag, 2019, ISBN: 978-3-662-57978-7

[7] A priori in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/A_priori

[8] Immanuel Kant in wpd-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_Kant

[9] Die hier benutzten anthropomorphen Begriffe sind als ‚Hilfsbegriffe‘ zu betrachten, da eine ‚präzisere‘ Begrifflichkeit einen ausgearbeiteten begrifflichen Rahmen (Modell, Theorie) voraussetzen würde, die erst dann möglich ist, wenn man sich über die grundsätzlichen Sachverhalte besser verständigt hat.

Fortsetzung

Es gibt einen dritten Artikel von Popper, der in diesen Zusammenhang gehört. Eine Besprechung findet sich HIER.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

WAS IST DER MENSCH?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062 20.Juli 2020
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

AKTUALISIERUNGEN: Letzte Aktualisierung 21.7.2020 (Korrekturen; neue Links)

KONTEXT

In den vielen vorausgehenden Beiträgen in diesem Blog wurde die Frage nach dem Menschen, was das angemessene Bild vom Menschen sein könnte, schon oft gestellt. Möglicherweise wird diese Frage auch in der Zukunft sich immer wieder neu stellen, weil wir immer wieder auf neue Aspekte unseres Menschseins stoßen. Ich bin diese Tage auf einen Zusammenhang gestoßen, der mir persönlich in dieser Konkretheit neu ist (was nicht ausschließt, dass andere dies schon ganz lange so sehen). Hier einige weitere Gedanken dazu.

DER MENSCH IN FRAGMENTEN

In der evolutionsbiologischen Perspektive taucht der homo sapiens — also wir — sehr, sehr spät auf. Vom Jahr 2020 aus betrachtet, bilden wir den aktuellen Endpunkt der bisherigen Entwicklung wohl wissend, dass es nur ein Durchgangspunkt ist in einem Prozess, dessen Logik und mögliche Zielrichtung wir bislang nur bedingt verstehen.

Während man bei der Betrachtung der letzten Jahrtausende Menschheitsgeschichte bisweilen den Eindruck haben könnte, dass die Menschen sich als Menschen als etwas irgendwie Besonderes angesehen haben (was die Menschen aber nicht davon abgehalten hat, sich gegenseitig zu bekämpfen, sich zu bekriegen, sich regelrecht abzuschlachten), könnte man bei der Betrachtung der letzten 100 Jahre den Eindruck gewinnen, als ob die Wissenschaft die Besonderheit des Menschen — so es sie überhaupt gab — weitgehend aufgelöst hat: einmal durch die Einbettung in das größere Ganze der Evolution, dann durch einen vertieften Blick in die Details der Anatomie, des Gehirns, der Organe, der Mikro- und Zellbiologie, der Genetik, und schließlich heute durch das Aufkommen digitaler Technologien, der Computer, der sogenannten künstlichen Intelligenz (KI); dies alles lässt den Menschen auf den ersten Blick nicht mehr als etwas Besonders erscheinen.

Diese fortschreitende Fragmentierung des Menschen, des homo sapiens, findet aber nicht nur speziell beim Menschen statt. Die ganze Betrachtungsweise der Erde, des Universums, der realen Welt, ist stark durch die empirischen Wissenschaften der Gegenwart geprägt. In diesen empirischen Wissenschaften gibt es — schon von ihrem methodischen Ansatz her — keine Geheimnisse. Wenn ich nach vereinbarten Messmethoden Daten sammle, diese in ein — idealerweise — mathematisches Modell einbaue, um Zusammenhänge sichtbar zu machen, dann kann ich möglicherweise Ausschnitte der realen Welt als abgeschlossene Systeme beschreiben, bei denen der beschreibende Wissenschaftler außen vor bleibt. Diese partiellen Modelle bleiben notgedrungen Fragmente. Selbst die Physik, die für sich in Anspruch nimmt, das Ganze des Universums zu betrachten, fragmentiert die reale Welt, da sich die Wissenschaftler selbst, auch nicht die Besonderheiten biologischen Lebens generell, in die Analyse einbeziehen. Bislang interessiert das die meisten wenig. Je nach Betrachtungsweise kann dies aber ein fataler Fehler sein.

DER BEOBACHTER ALS BLINDE FLECK

Die Ausklammerung des Beobachters aus der Beschreibung des Beobachtungsgegenstands ist in den empirischen Wissenschaften Standard, da ja das Messverfahren idealerweise invariant sein soll bezüglich demjenigen, der misst. Bei Beobachtungen, in denen der Beobachter selbst das Messinstrument ist, geht dies natürlich nicht, da die Eigenschaften des Beobachters in den Messprozess eingehen (z.B. überall dort, wo wir Menschen unser eigenes Verhalten verstehen wollen, unser Fühlen und Denken, unser Verstehen, unser Entscheiden, usw.). Während es lange Zeit eine strenge Trennung gab zwischen echten (= harten) Wissenschaften, die strikt mit dem empirischen Messideal arbeiten, und jenen quasi (=weichen) Wissenschaften, bei denen irgendwie der Beobachter selbst Teil des Messprozesses ist und demzufolge das Messen mehr oder weniger intransparent erscheint, können wir in den letzten Jahrzehnten den Trend beobachten, dass die harten empirischen Messmethoden immer mehr ausgedehnt werden auch auf Untersuchungen des Verhaltens von Menschen, allerdings nur als Einbahnstraße: man macht Menschen zwar zu Beobachtungsgegenständen partieller empirischer Methoden, die untersuchenden Wissenschaftler bleiben aber weiterhin außen vor. Dieses Vorgehen ist per se nicht schlecht, liefert es doch partiell neue, interessante Einsichten. Aber es ist gefährlich in dem Moment, wo man von diesem — immer noch radikal fragmentiertem — Vorgehen auf das Ganze extrapoliert. Es entstehen dann beispielsweise Bücher mit vielen hundert Seiten zu einzelnen Aspekten der Zelle, der Organe, des Gehirns, aber diese Bücher versammeln nur Details, Fragmente, eine irgendwie geartete Zusammenschau bleibt aus.

Für diese anhaltende Fragmentierung gibt es sicher mehr als einen Grund. Einer liegt aber an der Wurzel des Theoriebegriffs, der Theoriebildung selbst. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Anschauung entstehen Theorien, Modelle, also jene begrifflichen Gebilde, mit denen wir einzelne Daten deuten, nicht aus einem Automatismus, sondern sie beruhen auf gedanklichen Entscheidungen in den Köpfen der Wissenschaftler selbst: grundsätzlich gibt es immer mehr als eine Option, wie ich etwas angehen will. Jede Option verlangt also eine Entscheidung, eine Wahl aus einem großen Bereich von Möglichkeiten. Die Generierung einer Theorie ist von daher immer ein komplexer Prozess. Interessanterweise gibt es in kaum einer der heutigen empirischen Disziplinen das Thema Wie generieren wir eine Theorie? als eigene Themenstellung. Obwohl hier viele Grundentscheidungen fallen, obwohl hier viel Komplexität rational aufgehellt werden müsste, betreiben die sogenannten harten Wissenschaften hier ein weitgehend irrationales Geschäft. Das Harte an den empirischen Wissenschaften gründet sich in diesem Sinne nicht einmal in einer weichen Reflexion; es gibt schlicht gar keine offizielle Reflexion. Die empirischen Wissenschaften sind in dieser Hinsicht fundamental irrational. Dass sie trotz ihrer fundamentalen Irrationalität interessante Detailergebnisse liefern kann diesen fundamentalen Fehler in der Wurzel nur bedingt ausgleichen. Die interessante Frage ist doch, was könnten die empirischen Wissenschaften noch viel mehr leisten, wenn sie ihre grundlegende Irrationalität an der Wurzel der Theoriebildung schrittweise mit Rationalität auffüllen würden?

HOMO SAPIENS – DER TRANSFORMER

(Ein kleiner Versuch, zu zeigen, was man sehen kann, wenn man die Grenzen der Disziplinen versuchsweise (und skizzenhaft) überschreitet)

Trotz ihrer Irrationalität an der Wurzel hat die Evolutionsbiologie viele interessante Tatbestände zum homo sapiens sichtbar gemacht, und andere Wissenschaften wie z.B. Psychologie, Sprachwissenschaften, und Gehirnwissenschaft haben weitere Details beigesteuert, die quasi ‚auf der Straße‘ herumliegen; jeder produziert für sich fleißig partielle Modelle, aber niemand ist zuständig dafür, diese zusammen zu bauen, sie versuchsweise zu integrieren, mutig und kreativ eine Synthese zu versuchen, die vielleicht neue Aspekte liefern kann, mittels deren wir viele andere Details auch neu deuten könnten. Was Not tut ist eine Wissenschaft der Wissenschaften, nicht als Privatvergnügen eines einzelnen Forschers, sondern als verpflichtender Standard für alle. In einer Wissenschaft der Wissenschaften wäre der Beobachter, der Forscher, die Forschergruppe, selbst Teil des Untersuchungsgegenstandes und damit in der zugehörigen Meta-Theorie aufzuhellen.

Anmerkung: Im Rahmen der Theorie des Engineering gibt es solche Ansätze schon länger, da das Scheitern eines Engineeringprozesses ziemlich direkt auf die Ingenieure zurück schlägt; von daher sind sie äußerst interessiert daran, auf welche Weise der Faktor Mensch — also auch sie selbst — zum Scheitern beigetragen hat. Hier könnte die Wissenschaft eine Menge von den Ingenieuren lernen.

Neben den vielen Eigenschaften, die man am homo sapiens entdecken kann, erscheinen mir drei von herausragender Bedeutung zu sein, was sich allerdings erst so richtig zeigt, wenn man sie im Zusammenspiel betrachtet.

Faktor 1: Dass ein homo sapiens einen Körper [B, body] mit eingebautem Gehirn [b, brain] hat, unterscheidet ihn nicht unbedingt von anderen Lebensformen, da es viele Lebensformen im Format Körper mit eingebautem Gehirn gibt. Dennoch ist schon mal festzuhalten, dass der Gehirn-Körper [b_B] eines homo sapiens einen Teil der Eigenschaften seiner Realwelt-Umgebung [RW] — und der eigene Körper gehört aus Sicht des Gehirns auch zu dieser Realwelt-Umgebung — ausnahmslos in neuronale Zustände [NN] im Gehirn verwandelt/ transformiert/ konvertiert und diese neuronale Zustände auf vielfältige Weise Prozesshaft bearbeitet (Wahrnehmen, Speichern, Erinnern, Abstrahieren, Assoziieren, bewerten, …). In dieser Hinsicht kann man den Gehirn-Körper als eine Abbildung, eine Funktion verstehen, die u.a. dieses leistet: b_B : RW —–> RW_NN. Will man berücksichtigen, dass diese Abbildung durch aktuell verfügbare Erfahrungen aus der Vergangenheit modifiziert werden kann, dann könnte man schreiben: b_B : RW x RW_NN —–> RW_NN. Dies trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass wir das, was wir aktuell neu erleben, automatisch mit schon vorhandenen Erfahrungen abgleichen und automatisch interpretieren und bewerten.

Faktor 2: Allein schon dieser Transformationsprozess ist hochinteressant, und er funktioniert bis zu einem gewissen Grad auch ganz ohne Sprache (was alle Kinder demonstrieren, wenn sie sich in der Welt bewegen, bevor sie sprechen können). Ein homo sapiens ohne Sprache ist aber letztlich nicht überlebensfähig. Zum Überleben braucht ein homo sapiens das Zusammenwirken mit anderen; dies verlangt ein Minimum an Kommunikation, an sprachlicher Kommunikation, und dies verlangt die Verfügbarkeit einer Sprache [L].

Wir wir heute wissen, ist die konkrete Form einer Sprache nicht angeboren, wohl aber die Fähigkeit, eine auszubilden. Davon zeugen die vielen tausend Sprachen, die auf dieser Erde gesprochen werden und das Phänomen, dass alle Kinder irgendwann anfangen, Sprachen zu lernen, aus sich heraus.

Was viele als unangenehm empfinden, das ist, wenn man als einzelner als Fremder, als Tourist in eine Situation gerät, wo alle Menschen um einen herum eine Sprache sprechen, die man selbst nicht versteht. Dem Laut der Worte oder dem Schriftzug eines Textes kann man nicht direkt entnehmen, was sie bedeuten. Dies liegt daran, dass die sogenannten natürlichen Sprachen (oft auch Alltagssprachen genannt), ihre Bedeutungszuweisungen im Gehirn bekommen, im Bereich der neuronalen Korrelate der realen Welt RW_NN. Dies ist auch der Grund, warum Kinder nicht von Geburt an eine Sprache lernen können: erst wenn sie minimale Strukturen in ihren neuronalen Korrelaten der Außenwelt ausbilden konnten, können die Ausdrücke der Sprache ihrer Umgebung solchen Strukturen zugeordnet werden. Und so beginnt dann ein paralleler Prozess der Ausdifferenzierung der nicht-sprachlichen Strukturen, die auf unterschiedliche Weise mit den sprachlichen Strukturen verknüpft werden. Vereinfachend kann man sagen, dass die Bedeutungsfunktion [M] eine Abbildung herstellt zwischen diesen beiden Bereichen: M : L <–?–> RW_NN, wobei die sprachlichen Ausdrücke letztlich ja auch Teil der neuronalen Korrelate der Außenwelt RW_NN sind, also eher M: RW_NN_L <–?–>RW_NN.

Während die grundsätzliche Fähigkeit zur Ausbildung einer bedeutungshaltigen Sprache [L_M] (L :_ Ausrucksseite, M := Bedeutungsanteil) nach heutigem Kenntnisstand angeboren zu sein scheint, muss die Bedeutungsrelation M individuell in einem langen, oft mühsamen Prozess, erlernt werden. Und das Erlernen der einen Sprache L_M hilft kaum bis gar nicht für das Erlernen einer anderen Sprache L’_M‘.

Faktor 3: Neben sehr vielen Eigenschaften im Kontext der menschlichen Sprachfähigkeit ist einer — in meiner Sicht — zusätzlich bemerkenswert. Im einfachen Fall kann man unterscheiden zwischen den sprachlichen Ausdrücken und jenen neuronalen Korrelaten, die mit Objekten der Außenwelt korrespondieren, also solche Objekte, die andere Menschen zeitgleich auch wahrnehmen können. So z.B. ‚die weiße Tasse dort auf dem Tisch‘, ‚die rote Blume neben deiner Treppe‘, ‚die Sonne am Himmel‘, usw. In diesen Beispielen haben wir auf der einen Seite sprachliche Ausdrücke, und auf der anderen Seite nicht-sprachliche Dinge. Ich kann mit meiner Sprache aber auch sagen „In dem Satz ‚die Sonne am Himmel‘ ist das zweite Wort dieses Satzes grammatisch ein Substantiv‘. In diesem Beispiel benutze ich Ausdrücke der Sprache um mich auf andere Ausdrücke einer Sprache zu beziehen. Dies bedeutet, dass ich Ausdrücke der Sprache zu Objekten für andere Ausdrücke der Sprache machen kann, die über (meta) diese Objekte sprechen. In der Wissenschaftsphilosophie spricht man hier von Objekt-Sprache und von Meta-Sprache. Letztlich sind es zwei verschiedenen Sprachebenen. Bei einer weiteren Analyse wird man feststellen können, dass eine natürliche/ normale Sprache L_M scheinbar unendlich viele Sprachebenen ausbilden kann, einfach so. Ein Wort wie Demokratie z.B. hat direkt kaum einen direkten Bezug zu einem Objekt der realen Welt, wohl aber sehr viele Beziehungen zu anderen Ausdrücken, die wiederum auf andere Ausdrücke verweisen können, bis irgendwann vielleicht ein Ausdruck dabei ist, der Objekte der realen Welt betrifft (z.B. der Stuhl, auf dem der Parlamentspräsident sitzt, oder eben dieser Parlamentspräsident, der zur Institution des Bundestages gehört, der wiederum … hier wird es schon schwierig).

Die Tatsache, dass also das Sprachvermögen eine potentiell unendlich erscheinende Hierarchie von Sprachebenen erlaubt, ist eine ungewöhnlich starke Eigenschaft, die bislang nur beim homo sapiens beobachtet werden kann. Im positiven Fall erlaubt eine solche Sprachhierarchie die Ausbildung von beliebig komplexen Strukturen, um damit beliebig viele Eigenschaften und Zusammenhänge der realen Welt sichtbar zu machen, aber nicht nur in Bezug auf die Gegenwart oder die Vergangenheit, sondern der homo sapiens kann dadurch auch Zustände in einer möglichen Zukunft andenken. Dies wiederum ermöglicht ein innovatives, gestalterisches Handeln, in dem Aspekte der gegenwärtigen Situation verändert werden. Damit kann dann real der Prozess der Evolution und des ganzen Universums verändert werden. Im negativen Fall kann der homo sapiens wilde Netzwerke von Ausdrücken produzieren, die auf den ersten Blick schön klingen, deren Bezug zur aktuellen, vergangenen oder möglichen zukünftigen realen Welt nur schwer bis gar nicht herstellbar ist.

Hat also ein entwickeltes Sprachsystem schon für das Denken selbst eine gewisse Relevanz, spielt es natürlich auch für die Kommunikation eine Rolle. Der Gehirn-Körper transformiert ja nicht nur reale Welt in neuronale Korrelate b_B : RW x RW_NN —–> RW_NN (mit der Sprache L_B_NN als Teil von RW_NN), sondern der Gehirn-Körper produziert auch sprachliche Ausdrücke nach außen b_B : RW_NN —–> L. Die sprachlichen Ausdrücke L bilden von daher die Schnittstelle zwischen den Gehirnen. Was nicht gesagt werden kann, das existiert zwischen Gehirnen nicht, obgleich es möglicherweise neuronale Korrelate gibt, die wichtig sind. Nennt man die Gesamtheit der nutzbaren neuronalen Korrelate Wissen dann benötigt es nicht nur eine angemessene Kultur des Wissens sondern auch eine angemessene Kultur der Sprache. Eine Wissenschaft, eine empirische Wissenschaft ohne eine angemessene (Meta-)Sprache ist z.B. schon im Ansatz unfähig, mit sich selbst rational umzugehen; sie ist schlicht sprachlos.

EIN NEUES UNIVERSUM ? !

Betrachtet man die kontinuierlichen Umformungen der Energie-Materie vom Big Bang über Gasnebel, Sterne, Sternenhaufen, Galaxien und vielem mehr bis hin zur Entstehung von biologischem Leben auf der Erde (ob auch woanders ist komplexitätstheoretisch extrem unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich), dort dann die Entwicklung zu Mehrzellern, zu komplexen Organismen, bis hin zum homo sapiens, dann kommt dem homo sapiens eine einzigartig, herausragende Rolle zu, der er sich bislang offensichtlich nicht richtig bewusst ist, u.a. möglicherweise auch, weil die Wissenschaften sich weigern, sich professionell mit ihrer eigenen Irrationalität zu beschäftigen.

Der homo sapiens ist bislang das einzig bekannte System im gesamten Universum, das in er Lage ist, die Energie-Materie Struktur in symbolische Konstrukte zu transformieren, in denen sich Teile der Strukturen des Universums repräsentieren lassen, die dann wiederum in einem Raum hoher Freiheitsgrade zu neue Zuständen transformiert werden können, und diese neuen — noch nicht realen — Strukturen können zum Orientierungspunkt für ein Verhalten werden, das die reale Welt real transformiert, sprich verändert. Dies bedeutet, dass die Energie-Materie, von der der homo sapiens ein Teil ist, ihr eigenes Universum auf neue Weise modifizieren kann, möglicherweise über die aktuellen sogenannten Naturgesetze hinaus.

Hier stellen sich viele weitere Fragen, auch alleine schon deswegen, weil der Wissens- und Sprachaspekt nur einen kleinen Teil des Potentials des homo sapiens thematisiert.

MASLOW UND DIE NEUE WISSENSCHAFT. Nachbemerkung zu Maslow (1966)

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Datum: 21.Juni 2020 (Korrekturen: 24.Juni 2020)

KONTEXT

Wenn man sich nicht nur wundern will, warum das Phänomen von ‚Fake News‘ oder ‚Verschwörungstheorien‘ so verbreitet ist und selbst vor akademischer Bildung nicht Halt macht, dann muss man versuchen, den Mechanismus zu verstehen, der diesem Phänomen zugrunde liegt. Von den vielen Zugängen zu dieser Frage finde ich das Buch von Maslow (1966) The Psychology of Science besonders aufschlussreich.

VERLUST DES PHÄNOMENS

Maslow erlebte seine Arbeit als Psychotherapeut im Spannungsfeld zur damaligen experimentellen verhaltensorientierten Psychologie im Stil von Watson. Während er als Psychotherapeut versuchte, die ganze Bandbreite der Phänomene ernst zu nehmen, die sich in der Begegnung mit konkreten Menschen ereignet, gehörte es zum damaligen Programm einer empirischen Verhaltens-Psychologie, die Phänomene im Kontext von Menschen auf beobachtbares Verhalten zu beschränken, und hier auch nur auf solche Phänomene, die sich in (damals sehr einfachen) experimentellen Anordnungen reproduzieren lassen. Außerdem galt das Erkenntnisinteresse nicht den individuellen Besonderheiten, sondern allgemeinen Strukturen, die sich zwischen allen Menschen zeigen.

Maslow verallgemeinert die Betrachtung dahingehend, dass er die Einschränkung der Phänomene aus Sicht einer bestimmten Disziplin als Charakteristisch für die Wissenschaft seiner Zeit diagnostiziert. Er meinte in dieser Ausklammerung von Phänomenen eine tiefer liegende Tendenz zu erkennen, in der letztlich die Methode über das Phänomen gestellt wird: wehe dem Phänomen, wenn es nicht zu den vereinbarten Methoden passt; es hat hier nichts zu suchen. In dem Moment, in dem die Wissenschaft von sich aus entscheiden darf, was als Phänomen gelten darf und was nicht, gerät sie in Gefahr, ein Spielball von psychologischen und anderen Dynamiken und Interessen zu werden, die sich hinter der scheinbaren Rationalität von Wissenschaft leicht verstecken können. Aus der scheinbar so rationalen Wissenschaft wird verdeckt eine irrationale Unternehmung, die sich selbst immunisiert, weil sie ja alle Phänomene ausklammern kann, die ihr nicht passen.

VERLUST DER EINHEIT

Zu der verdeckten Selbstimmunisierung von wissenschaftlichen Disziplinen kommt erschwerend hinzu, dass die vielen einzelnen Wissenschaften weder begrifflich noch prozedural auf eine Integration, auf eine potentielle Einheit hin ausgelegt sind. Dies hier nicht verstanden als eine weitere Immunisierungsstrategie, sondern als notwendiger Prozess der Integration vieler Einzelaspekte zu einem möglichen hypothetischen Ganzen. Ohne solche übergreifenden Perspektiven können viele Phänomene und daran anknüpfende einzelwissenschaftliche Erkenntnisse keine weiterreichende Deutung erfahren. Sie sind wie einzelne Findlinge, deren Fremdheit zu ihrem Erkennungszeichen wird.

SUBJEKTIV – OBJEKTIV

In der orthodoxen Wissenschaft, wie Maslow die rigorosen empirischen Wissensschaften nennt, wird ein Begriff von empirisch, von objektiv vorausgesetzt, der den Anspruch erhebt, die reale Welt unabhängig von den internen Zuständen eines Menschen zu vermessen. Dies geht einher mit der Ausklammerung der Subjektivität, weil diese als Quelle allen Übels in den früheren Erkenntnistätigkeiten des Menschen diagnostiziert wurde. Mit der Ausklammerung der Subjektivität verschwindet aber tatsächlich auch der Mensch als entscheidender Akteur. Zwar bleibt der Mensch Beobachter, Experimentator und Theoriemacher, aber nur in einem sehr abstrakten Sinne. Die inneren Zustände eines Menschen bleiben in diesem Schema außen vor, sind quasi geächtet und verboten.

Diese Sehweise ist selbst im eingeschränkten Bild der empirischen Wissenschaften heute durch die empirischen Wissenschaften selbst grundlegend in Frage gestellt. Gerade die empirischen Wissenschaften machen deutlich, dass unser Bewusstsein, unser Wissen, unser Fühlen funktional an das Gehirn gebunden sind. Dieses Gehirn sitzt aber im Körper. Es hat keinen direkten Kontakt mit der Welt außerhalb des Körpers. Dies gilt auch für die Gehirne von Beobachtern, Experimentatoren und Theoriekonstrukteuren. Keiner von ihnen sieht die Welt außerhalb des Körpers, wie sie ist! Sie alle leben von dem, was das Gehirn aufgrund zahlloser Signalwege von Sensoren an der Körperoberfläche oder im Körper einsammelt und daraus quasi in Echtzeit ein dreidimensionales Bild der unterstellten Welt da draußen mit dem eigenen Körper als Teil dieser Welt errechnet. Dies bedeutet, dass alles, was wir bewusst wahrnehmen, ein internes, subjektives Modell ist, eine Menge von subjektiven Ereignissen (oft Phänomene genannt, oder Qualia), von denen einige über Wahrnehmungsprozesse mit externen Ursachen verknüpft sind, die dann bei allen Menschen in der gleichen Situation sehr ähnliche interne Wahrnehmungsereignisse erzeugen. Diese Wahrnehmungen nennen wir objektiv, sie sind aber nur sekundär objektiv; primär sind sie interne, subjektive Wahrnehmungen. Die Selbstbeschränkung der sogenannten empirischen Wissenschaften auf solche subjektiven Phänomene, die zeitgleich mit Gegebenheiten außerhalb des Körpers korrelieren, hat zwar einen gewissen praktischen Vorteil, aber der Preis, den die sogenannten empirischen Wissenschaften dafür zahlen, ist schlicht zu hoch. Sie opfern die interessantesten Phänomene im heute bekannten Universum nur, um damit ihre einfachen, schlichten Theorien formulieren zu können.

In ihrer Entstehungszeit — so im Umfeld der Zeit von Galilelo Galilei — war es eine der Motivationen der empirischen Wissenschaften gewesen, sich gegen die schwer kontrollierbaren Thesen einer metaphysischen Philosophie als Überbau der Wissenschaften zu wehren. Die Kritik an der damaligen Metaphysik war sicher gerechtfertigt. Aber In der Gegenbewegung hat die empirische Wissenschaft gleichsam — um ein Bild zu benutzen — das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: durch die extreme Reduktion der Phänomene auf jene, die besonders einfach sind und durch das Fehlen eines klaren Kriteriums, wie man der Gefahr entgeht, wichtige Phänomene schon im Vorfeld auszugrenzen, wurde die moderne empirische Wissenschaft selbst zu einer irrationalen dogmatischen Veranstaltung.

Es ist bezeichnend, dass die modernen empirischen Wissenschaften über keinerlei methodischen Überbau verfügen, ihre eigene Position, ihr eigenes Vorgehen rational und transparent zu diskutieren. Durch die vollständige Absage an Philosophie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftsphilosophie — oder wie man die Disziplinen nennen will, die sich genau mit diesen Fragen beschäftigen — hat sich die empirische Wissenschaft der Neuzeit einer nachhaltigen Rationalität beraubt. Eine falsche Metaphysik zu kritisieren ist eines, aber sich selbst angemessen zu reflektieren, ein anderes. Und hier muss man ein Komplettversagen der modernen empirischen Wissenschaften konstatieren, was Maslow in seinem Buch über viele Kapitel, mit vielen Detailbeobachtungen aufzeigt.

DAS GANZE IST EIN DYNAMISCHES ETWAS

Würden die empirischen Wissenschaften irgendwann doch zur Besinnung kommen und ihren Blick nicht vor der ganzen Breite und Vielfalt der Phänomene verschließen, dann würden sie feststellen können, dass jeder Beobachter, Experimentator, Theoriemacher — und natürlich alle Menschen um sie herum — über ein reiches Innenleben mit einer spezifischen Dynamik verfügen, die kontinuierlich darauf einwirkt, was und wie wir denken, warum, wozu usw. Man würde feststellen, dass das Bewusstsein nur ein winziger Teil eines Wissens ist, das weitgehend in dem um ein Vielfaches größeren Unbewusstsein verortet ist, das unabhängig von unserem Bewusstsein funktioniert, kontinuierlich arbeitet, all unsere Wahrnehmung, unser Erinnern, unser Denken usw. prägt, das angereichert ist mit einer ganzen Bandbreite von Bedürfnissen und Emotionen, über deren Status und deren funktionale Bedeutung für den Menschen wir bislang noch kaum etwas wissen (zum Glück gab und gibt es Wissenschaften, die sich mit diesen Phänomenen beschäftigen, wenngleich mit großen Einschränkungen).

Und dann zeigt sich immer mehr, dass wir Menschen vollständig Teil eines größeren BIOMs sind, das eine dynamische Geschichte hinter sich hat in einem Universum, das auch eine Geschichte hinter sich hat. Alle diese Phänomene hängen unmittelbar untereinander zusammen, was bislang aber noch kaum thematisiert wird.

Das Erarbeiten einer Theorie wird zu einem dynamischen Prozess mit vielen Faktoren. Bei diesem Prozess kann man weder die primäre Wahrnehmung gegen konzeptuelle Modelle ausspielen, noch konzeptuelle Modelle gegen primäre Wahrnehmung, noch kann man die unterschiedlichen internen Dynamiken völlig ausklammern. Außerdem muss der Theoriebildungsprozess als gesellschaftlicher Prozess gesehen werden. Was nützt eine elitäre Wissenschaft, wenn der allgemeine Bildungsstand derart ist, dass Verschwörungstheorien als ’normal‘ gelten und ‚wissenschaftliche Theorien‘ als solche gar nicht mehr erkannt werden können? Wie soll Wissenschaft einer Gesellschaft helfen, wenn die Gesellschaft Wissenschaft nicht versteht, Angst vor Wissenschaft hat und die Wissenschaft ihrer eigenen Gesellschaft entfremdet ist?

BOTSCHAFT AN SICH SELBST?

Das biologische Leben ist das komplexeste Phänomen, das im bislang bekannten Universum vorkommt (daran ändert zunächst auch nicht, dass man mathematisch mit Wahrscheinlichkeiten herumspielt, dass es doch irgendwo im Universum etwas Ähnliches geben sollte). Es ist ein dynamischer Prozess, dessen Manifestationen man zwar beobachten kann, dessen treibende Dynamik hinter den Manifestationen aber — wie generell mit Naturgesetzen — nicht direkt beobachtet werden kann. Fasst man die Gesamtheit der beobachtbaren Manifestationen als Elemente einer Sprache auf, dann kann diese Sprache möglicherweise eine Botschaft enthalten. Mit dem Auftreten des homo sapiens als Teil des BIOMs ist der frühest mögliche Zeitpunkt erreicht, an dem das Leben ‚mit sich selbst‘ sprechen kann. Möglicherweise geht es gerade nicht um den einzelnen, wenngleich der einzelne im Ganzen eine ungewöhnlich prominente Stellung einnimmt. Vielleicht fängt die neue Wissenschaft gerade erst an. In der neuen Wissenschaft haben alle Phänomene ihre Rechte und es gibt keine Einzelwissenschaften mehr; es gibt nur noch die Wissenschaft von allen für alles ….

KONTEXT ARTIKEL

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BRAUCHT VIRTUALITÄT REALITÄT? Selbstvernichtung kennt viele Gesichter … Notiz

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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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So 15.Dezember 2019

Änderung: 15.12.2019, 14:30h im Text.

Alte Version hier als PDF:

KONTEXT

Das Thema in diesem Beitrag kam in der einen oder anderen Weise auch in vorausgehenden Beiträgen schon mehrfach zur Sprache. In diesem Beitrag versucht der Autor dieses Textes eine thematische Zuspitzung am Beispiel der empirischen Wissenschaften, die in dieser Weise in diesem Blog so noch nicht vorkam. Zwischen den heutigen Extremen von allgemeinem Wissenschafts-Bashing auf der einen, und einer eher kritiklose Überhöhung der Wissenschaften auf der anderen Seite möchte dieser Beitrag verdeutlichen, dass der modernen empirischen Wissenschaft eine evolutionäre Schlüsselrolle zukommt. Aus dieser postulierten Notwendigkeit folgt aber kein Automatismus für eine gesellschaftlich angemessene Umsetzung von empirischer Wissenschaft.

VIRTUELLE WELTEN ALS INNOVATION

Mit der Verbreitung der Computertechnologie seit den 1950iger Jahren wurde es zunehmend möglich, mit Computern erzeugte Bilder und Sounds so gut zu berechnen, dass es für das sinnliche Wahrnehmungsvermögen des Menschen immer schwerer wird, die so künstlich erzeugten computerbasierten Ereignisse von der realen Körperwelt zu unterscheiden. Nach einem 3/4 Jahrhundert Entwicklung muss man feststellen, dass die junge Generation diese computergestützten virtuellen Ereignisse schon so ’normal‘ ansieht wie die reale Welt ihrer Körper. Es entsteht der Eindruck, dass die reale Welt der Körper und die Interaktion dieser Körper mit der ‚realen‘ Welt im heutigen Weltbild immer weniger Bedeutung einnimmt bis dahin, dass die reale Welt eher als ‚das Fremde‘ erscheint und die computergestützte ‚virtuelle Welt‘ als das primär Vertraute, und damit scheinbar zur ’neuen Realität‘ wird.

VERKEHRTE WELT

Macht man sich bewusst, dass es seit der Existenz erster biologischer Zellen vor ca. 3.5 Mrd. Jahren mindestens 2.9 Mrd. Jahre gebraucht hat, bis vielzellige Tiere aufgetreten sind, und von da ab hat es bis ca. vor 600.000 Jahren gebraucht, bis die Lebensform des homo sapiens ins Geschehen eingriff. Der homo sapiens — der moderne Mensch, wir — zeigt erstmals nicht nur Bewusstsein, sondern im weiteren Verlauf auch ein symbolisches Sprachvermögen.

Innerhalb der Entwicklung des homo sapiens ist es erst innerhalb der letzten 100 Jahre gelungen, durch moderne Evolutionsbiologie, Psychologie und Physiologie herauszufinden, dass es das Gehirn des Menschen ist, das alle Signale von den Sinnesorganen — sowohl der äußeren wie der inneren — einsammelt und daraus in Zeitintervallen von ca. 50 – 500 Millisekunden jeweils ein aktuelles Lagebild zu errechnen, das uns Menschen dann über unser Bewusstsein als ein virtuelles Bild der uns umgebenden realen Körperwelt zur Verfügung steht. Der Clou an dieser Konstruktion ist, dass wir dieses virtuelle Bild der realen Welt als ‚reales Bild‘ nehmen. Außer einige Philosophen in den letzten ca. 3000 Jahren kommt kein Mensch — nicht einmal in der Gegenwart — auf die Idee, sein vermeintlich reales Bild der Welt als ein virtuelles Bild der realen Welt anzusehen.

WISSENSCHAFT ALS EVOLUTIONÄRES EREIGNIS

Wer sich auf eine Reise in die Geschichte der Ideen begibt kann feststellen, dass die Menschen in der Vergangenheit sehr wohl einen Sinn für Realität ausprägen konnten. In allen Bereichen, in denen es ums Überleben geht (Reisen in unbekanntem Gelände, Landwirtschaft, Kriege, technische Konstruktionen, …) bildeten sich Verhaltensweisen und Anschauungen heraus, in denen der Bezug zu bestimmten Eigenschaften der realen Körperwelt charakteristisch waren: Sternbilder für die Reise, Jahreszeiten für die Planung in der Landwirtschaft, Materialeigenschaften für Waffen im Krieg und für Bauten, …

Aber erst vor ca. 400 Jahren begann mit Galileo Galilei und einigen seiner Zeitgenossen das, was wir heute moderne empirische Wissenschaft nennen. Es dauerte mehr als ca. 200 Jahre bis sich das Paradigma ‚moderne empirische Wissenschaft‘ sowohl in den Bildungseinrichtungen wie auch in der ganzen Gesellschaft einigermaßen verankern konnte. Doch ist die Verbreitung von empirischer Wissenschaft bis heute nicht umfassend und vollständig, ja, es gibt Anzeichen, die den Eindruck erwecken, als ob die moderne empirische Wissenschaft in vielen Bereichen wieder zurück gedrängt wird. Der Ausdruck ‚fake news‘ ist in der digitalisierten Welt zu einem Massenphänomen geworden, das sich immer weiter ausbreitet; eine Art mentaler Virus, der immer weiter um sich greift.

Diese Entwicklung ist bizarr und gefährlich. Es hat die gesamte bisherige Entwicklungszeit des biologischen Lebens auf der Erde gebraucht hat, bis das Leben auf dieser Erde die Fähigkeit zur empirischen Wissenschaft erreicht hat, um damit den ‚Bann‘ der körperinneren Virtualität zu durchbrechen um das Innere am Äußeren zu orientieren.

Dazu kommt die erst kürzliche Nutzung der Computertechnologie, die strukturell in jeder biologischen Zelle seit 3.5 Mrd. Jahren am Werke ist. Die mögliche Symbiose von Mensch und Computertechnologie markiert das größte und wichtigste Ereignis zum möglichen Überleben des Lebens nicht nur auf der Erde, sondern im ganzen bekannten Universum. Denn die Erde wird spätestens mit der fusionsbedingten Aufblähung der Sonne in ca. 0.9 Mrd. Jahren einen Temperaturanstieg erleben, der Leben auf der Erde schrittweise unmöglich machen wird. Nur im Zusammenwirken aller Lebensformen — und hier mit der besonderen Rolle des homo sapiens — kann das Leben im Universum eventuell überleben.

ALLTAG

Bislang hat man aber nicht den Eindruck, dass sich der homo sapiens seiner wichtigen Rolle für das gesamte Leben bewusst ist. Bislang demonstriert der homo sapiens eine große Verachtung für das Leben, verbraucht planlos wichtige Ressourcen, zerstört immer massiver das gesamte Ökosystem, dessen Funktionieren seine eigene Lebensbasis ist, und bekriegt sich untereinander. Die aktuellen politischen Systeme erwecken bislang nicht den Eindruck, als ob sie den aktuellen Herausforderungen gewachsen sind.

Die noch funktionierende Wissenschaft muss feststellen, dass politische Macht nicht automatisch wissenschaftliche Erkenntnisse übernimmt. Die politischen Systeme denken in kurzfristigen Zeiträumen, gewichten Tagesinteressen höher als langfristige Entwicklungen, und lassen weitgehend ein adäquates Verstehen vermissen. Das adäquate Verstehen ist — so scheint es — kein Automatismus.

WISSENSCHAFTS-ÖKOSYSTEM

Es braucht ein Ökosystem der besonderen Art, um gesellschaftliche Erkenntnisprozess kontinuierlich möglich zu machen. Wie lernt man dies, wenn es dafür keine Ausbilder gibt, weil der Sachverhalt neu ist?

Greifbar ist, dass die Förderung ausschließlich von Einzelwissenschaften nicht ausreichend ist, um das mögliche Zusammenwirken von mehreren Einzelwissenschaften in komplexen Problemstellungen zu fördern. Dazu bedarf es begriffliche und methodische Reflexionen in der Breite, kontinuierlich verankert in jeder Disziplin, und dennoch verknüpft in einem übergreifenden Verbund. In früheren Zeiten hatte dies die Philosophie geleistet. Neuer Ansätze wie die Wissenschaftsphilosophie haben bislang nirgends den Eingang in den alltäglichen Wissenschaftsbetrieb gefunden.

So gesehen vermehrt sich ständig die Anzahl der aufspielenden Einzelwissenschaften, aber für eine notwendige Gesamtschau fehlen die begrifflichen Dramaturgen. Wo sollen diese herkommen? Das moderne Wissenschaftssystem hat diese nicht vorgesehen und treibt damit freiwillig in eine Komplexität, die sie mehr und mehr von der sie ermöglichenden Gesellschaft abkoppelt. Eine wunderbare Zeit für ‚fake news‘, da ihnen keine öffentlich vermittelte Rationalität entgegen wirkt.

ÄUSSERES AM INNEREN MESSEN

Neben der gefährlichen Desintegration der vielen Einzelwissenschaften tragen die modernen empirischen Wissenschaften ein weiteres Defizit mit sich herum, das langfristig mindestens genauso gefährlich ist: die Ausklammerung der Innerlichkeit des Menschen. Die Erschließung der empirischen Realität für den Erkenntnisprozess war ein entscheidender Schritt als Gegengewicht zu der extrem schwer zu verstehenden inneren Erfahrung des Menschen in seinem Bewusstsein sowie deren Interaktion mit dem gesamten Gehirn und Körper. Aus der anfänglichen Schwierigkeit der empirischen Wissenschaften, das Innere des Menschen zu vermessen, folgt aber nicht notwendigerweise, dass das Innere deshalb grundsätzlich unwichtig oder unwissenschaftlich sei. Die mehr als 3000 Jahre feststellbaren spirituellen Traditionen quer in allen menschlichen Kulturen bilden starke Indikatoren, dass die vielfältigen inneren Erfahrungen für das Lebensgefühl und den Zustand eines menschlichen Lebens von großer Bedeutung sein können bzw. sind.

Unterstützt von einer neuen Querschnittwissenschaft zur Reflexion auf Wissenschaft und möglichen Integrationen von bislang getrennten einzelnen Disziplinen sollte entsprechend auch der Gegenstandsbereich der empirischen Wissenschaften in Richtung auf die inneren Zustände des Menschen radikal ausgeweitet werden. Im Rahmen der Bedeutungsfelder von Meditation, Spiritualität und Mystik gibt es viele starke Indikatoren für eine den einzelnen Menschen übersteigende Perspektive, die die Vielheit und Vielfalt des biologischen Lebens in möglicherweise in neuer Weise von innen her erschließen kann. Die bisherige Quantenmechanik erscheint in diesem Kontext nicht als ein Endpunkt sondern eher als ein Startpunkt, das Ganze nochmals von vorne neu zu denken.

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Brexit – Computerinterface – Zukunft. Wie hängt dies zusammen?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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19.-20.Oktober 2019

Aktualisierung: 3.Nov.2019 auf dieser Seite

LEITGEDANKE

Wenn das, was wir nicht sehen, darüber entscheidet, was wir sehen,
dann lohnt es sich, für einen Moment inne zu halten, und sich darüber klar
zu werden, was wir tun, wenn wir versuchen, die Welt zu verstehen.

INHALT

1 Der Brexit als Lehrstück … 1
2 Das Unsichtbare in Allem 3
3 Computer-Interface als ein Stück Alltag 4
4 Wir als Teil von BIOM I und II 6
5 Homo Sapiens im Blindflug? 9
6 Epilog 11

DOKUMENT (PDF)

KURZKOMMENTAR

Der Text des Dokuments ist das Ergebnis von all den vorausgegangenen Blogeinträgen bis jetzt! Es ist die erste Zusammenschließung von verschiedenen großen Themen, die bislang im Blog getrennt diskutiert wurden. Es ist die große ‚Vereinheitlichung‘ von nahezu allem, was der Autor bislang kennt. Vielleicht gelingt es, dieser Grundintention folgend, diesen Ansatz weiter auszuarbeiten.

KURZKOMMENTAR II

Der Text ist aus philosophischer Perspektive geschrieben, scheut nicht die Politik, nimmt den Alltag ernst, nimmt sich die Digitalisierung vor, bringt die Evolutionbiologie zentral ins Spiel, und diagnostiziert, dass die aktuellen smarten Technologien, insbesondere die neuen Smart City Ansätze, schlicht zu wenig sind. Die ganzen nicht-rationalen Faktoren am Menchen werden nicht als lästiges Beiwerk abgeschüttelt, sondern sie werden als ein zentraler Faktor anerkannt, den wir bislang zu wenig im Griff haben.

ERGÄNZUNG 3.Nov.2019

In dem PDF-Dokument wird erwähnt, dass die Brexit-Entscheidung in England im Vorfeld massiv aus dubiosen Quellen beeinflusst worden ist. Im PDF-Dokument selbst habe ich keine weiteren Quellenangaben gemacht. Dies möcte ich hier nachholen, da es sich um einen explosiven Sachverhalt handelt, der alle noch bestehenden demokratischen Gesellschaft bedroht. Da ds ZDF und Phoenix die Angaben zu immer wieder neuen Terminen machen, sind die zugehörigen Links möglicherweise immer nur zeitlich begrenzt verfügbar.

Der Film „Angriff auf die Demokratie. Wurde der Brexit gekauft?“ von Dirk Laabs wird einmal in einem Text kurz beschrieben, und es wird ein Link auf youtube angegeben, wo man den Film als Video abrufen kann.

Hier aus dem Worlaut der Ankündigung:

„Die britische Wahlkommission ist überzeugt: Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass große Teile der Gelder für eine Kampagne vor dem Brexit-Referendum aus dubiosen Quellen stammen.

„Im Fokus steht der britische Geschäftsmann Arron Banks, Strippenzieher und enger Freund des ehemaligen Ukip-Anführers Nigel Farage. Über seine Offshore-Konten sollen fast neun Millionen Pfund Spenden geflossen sein.“

Die Recherchen des ZDF legen nahe, „dass Wähler verdeckt und so effektiv wie möglich beeinflusst werden sollten.“ Es werden nicht nur die Geldströme vefolgt, sondern der ZDFzoom-Autor Dirk Laabs „redet mit Insidern aus der Kampagne und konfrontiert ihren Kopf, den ehemaligen Chef der Ukip, Nigel Farage. Farage redet im Interview mit dem ZDF auch darüber, welchen Einfluss US-amerikanische Berater für die Kampagne hatten. Steve Bannon, früherer Berater von US-Präsident Trump, war einer der wichtigen Berater in diesem Spiel.“

„Konkret geht es um millionenschwere Kredite, die die Pro-Brexit-Kampagne von Banks erhalten haben soll. Demnach stammte das Geld möglicherweise nicht von ihm selbst, sondern von Firmen mit Sitz auf der Isle of Man und in Gibraltar, die sich damit in den Wahlkampf eingemischt hätten. Mittlerweile ermittelt die National Crime Agency. Sie soll die bislang verschleierte Kampagnen-Finanzierung offenlegen.“

„Nigel Farage spricht im Interview mit dem „ZDFzoom“-Autor Dirk Laabs ganz offen darüber, wie eng die Lager zusammengearbeitet haben und wie wichtig auch der ehemalige Trump-Berater Steve Bannon für die Kampagne in Großbritannien war“ … Ein Whistleblower, der für die Leave-Kampagne gearbeitet hat, ist überzeugt: „Die verschiedenen Brexit-Kampagnen brachen die Gesetze, griffen dabei auf ein ganzes Netzwerk von Firmen zurück, um mehr Geld ausgeben zu können. Ohne diese Betrügereien wäre das EU-Referendum anders ausgegangen.“

„ZDFzoom“-Autor Dirk Laabs geht in der Dokumentation den Fragen nach: „Mit welchen fragwürdigen Methoden wurde die Mehrheit der Briten vom Brexit überzeugt? Welche Interessen und Profiteure stecken dahinter? Und Laabs fragt bei Akteuren in Brüssel nach, welche Maßnahmen mit Blick auf die Europawahl ergriffen werden sollten und überhaupt könnten, um den Digital-Wahlkampf der Zukunft zu regulieren oder kontrollierbarer zu machen.“

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MEDITATION UND MYSTIK. Boxenstop im May 2019

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 13.Juni 2019
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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KONTEXT

Anlässlich einer Lehrveranstaltung (5.Auflage des Moduls ‚Meditation als kulturelle Praxis‘ (zusammen mit anderen KollegenInnen)) habe ich aus verschiedenen Beiträgen dieses Blogs einen leicht synthetisierenden Text geschrieben, der einige der vielen Aspekte aufgreift, die in diesen Beiträgen thematisiert wurden. Dieser Text bleibt aber auch nur eine Momentaufnahme. Für den Vortrag auf dem nächsten Kongress im Oktober versuche ich, eine weitere Klärung und Synthetisierung. Den Kern des Erlebens – Interpretierens im einzelnen Individuum betrachte ich dort im Rahmen von drei verschiedenen Phasen der Aufklärung. Die dritte Phase der Aufklärung ist jene, in der wir uns gerade befinden und die bislang noch nicht so recht thematisiert wurde.

TEXT ALS PDF

Da der Text für einen Blogeintrag zu lang ist verlinke ich hier auf die PDF-Version: MEDITATION IM BLICKFELD VON PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT. Version 1.2, 15.Mai 2019. Die Struktur des Textes ist wie folgt:

Vorwort ……………………………………………………7
1 Einführung ……………………………………………9
2 Selbsterfahrung und Gehirn …………………….11
3 Technische Superintelligenz, menschliche
Kognition, Meditation und Mystik …………………13
4 Außen, Innen, Gehirn, Sprache, Meditation ..17
5 Unbewusstes und Freiheit ………………………21
6 Radikales Selbstexperiment ……………………25
7 Verstehensfragen …………………………………27
8 ANHANG: Titelsuche ……………………………31
Bibliographie …………………………………………33
Index …………………………………………………..35

EPILOG

Wenn man davon ausgeht, dass individuelle menschliche Kognition ein fortlaufender Prozess des Wahrnehmens, Interpretierens, Arrangierens ist, durchsetzt von einer Vielzahl von Einflussgrößen, das dann nochmals eingebettet ist in ein gesellschaftliches Netzwerk, das seinen eigenen Einflüssen und Regeln folgt, dann kann man ahnen, dass aktuelle kognitive Zustände nur eine bedingte Geltung haben können. Dennoch brauchen wir Anhaltspunkte, an denen wir unser Verhalten orientieren. Die neuen digitalen Technologien können helfen und sie helfen auch schon massiv, sie alleine aber reichen nicht … trotz aller anders lautender Visionen von der allmächtigen künstlichen Intelligenz … ohne sie wird es nicht gehen, aber nicht so einfach, wie dies zur Zeit vermarktet wird.

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SELBSTBESCHREIBUNG UND MEDITATION

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 12.Nov 2018
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Autor: Gerd Doeben-Henisch
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Letzte Korrekturen: 14.Nov.2018 {Nr.6, Nr.10, Nr.13 }

KONTEXT

Der folgende Text steht thematisch im Zusammenhang mit den beiden vorausgehenden Beiträgen zum Thema ‚Wissenschaft und Meditation‘ sowie ‚Meditation im Alltag‘. Während der erste Beitrag ‚Wissenschaft …‘  sich die Frage stellte, ob man das kulturelle Phänomen ‚Meditation‘ in einen irgendwie sinnvollen Zusammenhang mit ‚empirischer Wissenschaft‘ sehen kann, ging es im zweiten Beitrag ‚… im Alltag‘  um das konkrete Tun beim Meditieren, zumindest bei jener Form des Meditierens, bei der man sich in eine ‚Ruhestellung‘ begibt, in der man sich selbst zum Gegenstand macht.

SELBSTBEOBACHTUNG ALS THEMA

Das Thema ‚Selbstbeobachtung‘ ist so alt, wie es philosophisches Denken gibt und hat selbst in den empirischen Wissenschaften nicht an Bedeutung verloren. Das Thema voll darzustellen würde allerdings mindestens ein ‚dickes‘ Buch verlangen, eher mehr. Von all den philosophischen Varianten und wissenschaftlichen Diskussionen soll hier aber abgesehen werden, um in einer überschaubaren Weise eine (‚die‘?) grundlegende Perspektive formulieren zu können, die sich heute unter Berücksichtigung von Philosophie und modernen Wissenschaften als Arbeitshypothese formulieren lässt. Arbeitshypothesen bringen es mit sich, dass man sie kritisieren und weiter verbessern kann.

SELBSTBEOBACHTUNG UND MEDITATION

Die neuerliche Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Selbstbeobachtung‘ in diesem Blog (bislang nicht unter dem Stichwort ‚Selbstbeobachtung‘ sondern eher in Verbindung mit Stichworten wie ‚Phänomene‘, ‚Phänomenologie‘, usw.) wurde stimuliert durch die aktive Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Meditation‘, innerhalb deren es neben der theoretischen Auseinandersetzung auch die konkrete Praxis, das konkrete Meditieren gibt. Diese konkrete Praxis eröffnet dem Meditierenden einen an sich unendlichen Raum an möglichen Ereignissen, konkret gefüllt mit einem bunten Strauß an Ereignissen und Veränderungen, die im Wahrnehmen Deutungen erlauben. Was aber ist eine ‚richtige‘, ‚angemessene‘ Deutung?

PHILOSOPHISCHER DEUTUNGSKONTEXT

In einer Kooperation von moderner (Wissenschafts-)Philosophie und modernen wissenschaftlichen Disziplinen lässt sich folgender ‚Rahmen‘ für mögliche Wahrnehmungen und Deutungen formulieren, der allgemein gilt, nicht nur für das Meditieren.

Ausgehend von dem Abschnitt ‚BEOBACHTUNG: SUBJEKTIVITÄT – OBJEKTIVITÄT‘ in dem schon oben erwähnten Beitrag ‚Wissenschaft …‘ werden hier folgende Annahmen gemacht (siehe Schaubild):

Unterschiedliche Datenquellen zusätzlich zur Introspektion
Unterschiedliche Datenquellen zusätzlich zur Introspektion

  1. Die verhaltensorientierten Wissenschaften, allen voran die Psychologie, benutzen vorwiegend Daten aus Verhaltensbeobachtungen. Diese Daten werden hier D_SR genannt (‚S‘ für Stimulus und ‚R‘ für Response). Damit kann die experimentelle Psychologie zwar nicht direkt in das ‚Innere‘ eines biologischen Systems schauen (Tiere, Menschen, …), wohl aber ist es möglich, auf der Basis solcher Daten explizite ‚Verhaltens-Theorien‘ (T_SR) zu formulieren, die mit ‚hypothetischen Annahmen‘ über ‚innere Zustände‘ arbeiten, mit deren Hilfe sich das äußerlich beobachtbare Verhalten ‚erklären‘ lässt. Berühmte Beispiele hierfür sind einmal das Konstrukt des ‚Unbewussten‘ in der Psychoanalyse oder das Konstrukt des ‚Gedächtnisses‘.
  2. Mit der Weiterentwicklung der allgemeinen Physiologie — hier insbesondere mit dem Spezialgebiet ‚Gehirn‘ – konnte die Wissenschaft den Bereich der objektivierbaren Daten weiter ausdehnen auf das ‚Innere des Körpers‘, die verschiedenen Organe, ihre Funktionsweisen und Interaktionen. Diese Daten werden hier D_PHYS genannt. Fasst man die Vielzahl der inneren Strukturen als ‚Input-Output-Systeme‘ auf, dann kann man auf der Basis der Beobachtungsdaten eine Vielzahl von Hypothesen über die Verhaltensfunktion solcher Input-Output-Systeme in Form von physiologischen Theorien (T_PHYS) formulieren.
  3. Sowohl die Daten wie auch die möglichen Theorien zum äußerlich beobachtbaren Verhalten wie auch zu den inneren Strukturen sind zunächst ‚unabhängig‘ voneinander. Man kann von der Theorie des Verhaltens T_SR nicht direkt auf Eigenschaften der inneren Strukturen T_PHYS schließen und auch nicht umgekehrt. Andererseits spricht alles dafür, dass die inneren Strukturen – beschrieben in einer möglichen Theorie T_PHYS – verantwortlich sind für das äußerlich beobachtbare Verhalten D_SR, das in einer möglichen Theorie T_SR beschrieben wird. Es wäre also naheliegend, eine Art ‚Brückentheorie‚ zu bauen (‚Psychophysiologie‘ oder ‚Physiopsychologie‘), in der die beiden Theorien T_SR und T_PHYS explizit als T_SR_PHYS miteinander in Beziehung gesetzt werden (als ‚Neuropsychologie‘ ist diese Idee schon länger bekannt, aber diese stellt eine Engführung des eigentlichen Themas dar und die wissenschaftsphilosophische Konzeption der bisherigen Arbeiten erscheint bislang nicht ganz überzeugend).
  4. Die soeben skizzierten Typen von Daten D_SR und D_PHYS sind relativ weit verbreitet. Was nicht so verbreitet ist, das ist die Inbeziehung-Setzung dieser Daten zum Bewusstsein. Entsprechend der großen Tradition der empirischen Wissenschaften, die den Zugriff auf die Wirklichkeit an die Verfügbarkeit von externen Messprozessen geknüpft hatten, um sich von den vielen falschen Ansprüchen einer damals noch unkritischen Philosophie abzugrenzen, ist die mögliche Bedeutung und Rolle der bewusstseinsbasierten Daten – hier D_PH genannt – etwas aus dem Blick geraten, soweit, dass lange nicht mehr klar war, wie man überhaupt empirische Daten (D_SR und D_PHYS) mit Bewusstseinsdaten (D_PH) in Beziehung setzen kann.
  5. Erst ganz langsam setzt sich mit den neueren Erkenntnissen von Biologie, Physiologie und Psychologie wieder die Einsicht durch, dass das Gehirn als ‚Ermöglichung von Bewusstheit‘ selbst ja gar keinen direkten Bezug zur empirischen Außenwelt besitzt. Über komplexe Signalprozesse werden dem Gehirn Außenweltereignisse mehrfach übersetzt zur weiteren Bearbeitung übermittelt, ebenso Ereignisse aus dem Körper wie auch aus dem Gehirn selbst. Aus all dem konstruiert das Gehirn ein dynamisches Modell der Gesamtsituation, die dann in einem biologischen System das spezifische Gesamtphänomen ‚Bewusstsein‘ ermöglicht, innerhalb dessen das System den ‚Eindruck‘ hat, dass ‚es selbst‘ unterschiedliche ‚Phänomene (PH) erlebt‘. Diese Phänomene repräsentieren nach heutigem Wissensstand nur einen winzigen Teil aller Ereignisse im Körper. Man nimmt daher – spätestens seit Freud — neben der Bewusstheit des Bewusstseins auch ein ‚Unbewusstes‘ an. Verschiedene weitere Annahmen über ein ‚Vor-Bewusstes‘ (so Freud) oder ein ‚temporäres Bewusstsein‘ spielen hier keine wesentliche Rolle, da die Phänomene des Bewusstseins allesamt aus dem Un-Bewussten herrühren und somit das Unbewusste punktuell und temporär ’sichtbar‘ machen.
  6. Mit dieser neueren Einsicht in die Gesamtarchitektur des biologischen Erkennens kann man die Beziehung zwischen empirischen Verhaltens- und Körperdaten einerseits (D_SR, D_PHYS) und Bewusstseinsdaten (D_PH) andererseits neu gewichten: auch das, was wir empirische Daten nennen sind letztlich auch Bewusstseinsdaten (!), allerdings mit der Besonderheit, dass man diese Bewusstseinsdaten mit externen Messprozeduren korrelieren kann, die parallel zu den Bewusstseinsdaten realisiert werden und die selbst sowie ihre Messergebnisse D_SR und D_PHYS zugleich auch Daten des Bewusstseins D_PH_SR und D_PH_PHYS sind. Nur weil sie auch bewusst sein können, wissen wir von ihrer Existenz, und nur wenn diese Daten uns bewusst sind, können wir mit ihnen bewusst umgehen und mit ihnen bewusst arbeiten.
  7. Die sogenannte ‚Kluft‘ zwischen Philosophie und den empirischen Wissenschaften ist daher eher ein ‚Artefakt des Denkens‘. Damit wird die besondere Stellung der empirischen Wissenschaften weder in Frage gestellt noch geschmälert, sondern es wird deutlich, wie die empirischen Wissenschaften letztlich als ein ‚Philosophieren mit anderen Mitteln‘ betrachtet werden können. Das ‚empirische Messen‘ ist von daher eine spezielle Methode, durch die die Philosophie in bestimmten Teilbereichen deutlich ‚mehr‘ erkennen kann als ohne diese Methoden.
  8. Was damit allerdings auch klar wird: statt dass sich die Philosophie – wie so oft in der Vergangenheit – mit ‚Abscheu‘ von den empirischen Wissenschaften abwendet, hat sie eine ganz besondere Verantwortung, diesen extrem wichtigen Teil einer ‚empirischen Philosophie‘ besonders zu pflegen. Die methodischen Herausforderungen, die sich hier stellen, sind enorm und übersteigen alles, was die Philosophie zuvor getan hat.
  9. In diesem Kontext sei auch besonders hingewiesen auf die vollautomatischen (= unbewussten) Prozesse der ‚induktiven Kategorienbildung‘ im Rahmen von Wahrnehmung und Gedächtnis. Was immer an Wahrnehmungsereignisse das ‚Gedächtnis‘ erreicht (ein Teilsystem des Gehirns), es wird automatisch als ein prototypisches Muster ‚angelegt‘, das sich nach impliziten Ähnlichkeitskriterien kontinuierlich ‚anreichern‘ kann. Nur deshalb sind wir in der Lage, einen zuvor schon mal wahrgenommenen ‚Gegenstand‘ der Art ‚A‘ im Fall eines neuerlichen Vorkommens wieder als ‚A‘ oder ‚dem A ähnlich‘ wiedererkennen zu können.
  10. Nur weil es diese ‚automatische induktive Kategorienbildung‘ gibt können wir Sprachsysteme einführen und benutzen, deren Symbole sich auf solche Kategorien als ihren ’natürlichen Gegenständen‘ beziehen. Worte wie ‚Tisch‘, ‚Baum‘,  ‚Hund‘ usw. können sich  auf einen konkreten Gegenstand X beziehen, weil der konkrete Gegenstand X  hinreichend viele ‚Ähnlichkeiten‘ mit der jeweiligen  induktiv entstandenen natürlichen Kategorie ‚Tisch‘, ‚Baum‘,  ‚Hund‘ usw aufweist. Die potentielle Menge von konkreten Objekten X in der realen Welt, die sich auf solch eine Weise einer ‚induktiven Gegenstandskategorie‘ zuordnen lassen,  sind daher implizit ‚offen‘, nicht wirklich ‚begrenzbar‘. Zudem  muss man  davon ausgehen, dass die konkrete Füllung dieser Gegenstandskategorien im Kontext einer natürlichen Sprache bei den einzelnen Menschen stark variieren kann, je nach individueller Erfahrung.
  11. Im Kontext der empirischen Wissenschaft sind solche ‚prinzipiell offenen Bedeutungskategorien‘ unerwünscht. Will man ‚Vieldeutigkeiten‘ vermeiden gibt es bislang zwei Strategien, um diese zu minimieren:
    1. Einführung von Fachsprachen innerhalb der normalen Alltagssprache: man versucht die benutzten Begriffe durch entsprechende Regeln zu ’normieren‘;
    2. Einführung von formalen Kunstsprachen, deren Bedeutungszuordnung durch explizite Bedeutungsregeln sichergestellt werden sollen.
  12. Beide Strategien haben sich als nicht vollständig umsetzbar erwiesen. Am erfolgreichsten erscheint bislang die Strategie der formalen Fachsprachen mit expliziten Bedeutungsregeln, und hier insbesondere die Sprache der modernen Mathematik, bekannt als ‚mengentheoretische Sprache‘ und diverse Formen von ‚Strukturbildungen mit Interpretationsbegriff‘.
  13. Grundsätzlich ist es möglich, dass man mittels einer formalen Kunstsprache ‚künstliche formale Kategorien‘ einführt, die über ‚spezielle Bedeutungszuordnungen‘ nur eine endliche Menge von klar definierten Eigenschaften umfassen oder, zumindest auf rein formaler Ebene, überabzählbar viele  Mengen von Eigenschaften unterschiedlicher Strukturen. Diese Möglichkeit von ‚künstlichen formalen Kategorien‘ hat sich in der empirischen Forschung – z.B. in der Physik – als extrem wichtig erwiesen, da die Eigenschaften der empirischen Welt oft so ganz anders zu sein scheinen als es die gewohnte induktive Kategorienbildung des menschlichen Gehirns nahelegt.
  14. Unter Einbeziehung des Aspekts ‚Sprache‚ lässt sich das Verhältnis von moderner Philosophie und moderner empirischen Wissenschaft nochmals präziser fassen: mittels definierter empirischer Messprozeduren (MSE) und daraus resultierenden empirischen Messergebnissen (D_EMP) ergeben sich im Rahmen des Bewusstseins (CONSC) spezifische Phänomene (D_PH_EMP), denen eben extern diese Messprozeduren korrespondieren. Als wahrgenommene Phänomene D_PH_EMP unterliegen sie allerdings den automatisch erzeugten induktiven Kategorienbildungen, auf die symbolische Ausdrücke einer Sprache bezogen werden können.
  15. Dabei ist zu beachten, dass die Ausdrücke einer Sprache auch sowohl als empirische Ereignisse (D_EMP_L) vorkommen wie auch als Phänomene (D_PH_EMP_L). Die Beziehung zwischen sprachlichen Ausdrücken und zugeordneten Bedeutungskorrelaten geschieht als unbewusster Prozess innerhalb des Gedächtnisses als Teil des Gehirns.
  16. Im Rahmen von Denkprozessen (teils unbewusst, teils bewusst), lassen sich beliebig viele formale Ausdrücke mit zugehörigen formalen Kategorien bilden. Im Falle von empirischen Wissenschaften müssen diese jeweils mit empirischen Phänomenen in Beziehung gesetzt werden können, um ihren Außenweltbezug herstellen zu können. Im Falle von vor-wissenschaftlichen Theorien wie einer unkritischen Metaphysik wurden zwar auch rein abstrakte, bisweilen sogar formale, Strukturen im Denken entwickelt, aber deren Geltung wurde gewöhnlich nicht nach festen Regeln auf empirische Außenweltereignisse zurückgebunden. Die negativen Auswirkungen eines solchen Vorgehens lassen sich im Rückblick untersuchen. Von heute aus gesehen liegt es daher nahe, die modernen empirischen Theorien als die genuinen Nachfolger der klassischen ‚metaphysischen‘ (= jenseits der Natur) Theorien zu betrachten, mit der Innovation, dass heute die potentiellen abstrakten (und formalisierten) Strukturen nach klar vereinbarten Verfahren an empirische Messprozesse zurückgebunden werden.
  17. Nach diesen vorbereitenden Überlegungen wird vielleicht verständlich, dass die ‚Phänomene‘ eines Bewusstseins für alle Disziplinen die ersten ’nicht weiter hintergehbaren‘ Daten darstellen. Die Einführung von empirischen Messverfahren hebt die Priorität von Phänomenen des Bewusstseins daher nicht auf, sondern ergänzt diese nur um zusätzliche Momente, die ‚berücksichtigt‘ werden sollten, will man über eine ‚Wirklichkeit‘ sprechen, die nicht nur im eigenen Bewusstsein zu verankern ist, sondern zugleich auch im ‚Zwischenbereich der Körper‘, den wir ‚empirische Welt‘ nennen.
  18. Damit stellt sich die Frage, was ist mit jenen ‚Phänomenen‘, die sich nicht mit empirischen Messverfahren korrelieren lassen; nennen wir diese abkürzend D_PH*, bestimmt durch die Gleichung D_PH* = D_PH – D_PH_EMP.
  19. Diese nicht-empirischen Phänomene D_PH* sind ja nicht weniger ‚wirklich‘ wie die empirischen Phänomene D_PH_EMP, nur fehlt ihnen ein definiertes Korrelat in der Zwischen-Körper-Welt. Alle diese nicht-empirischen Phänomene D_PH* entstammen letztlich dem Unbewussten (NON-CONSC).
  20. Aus dem Alltag wissen wir, dass alle Menschen aufgrund sehr ähnlicher Körper und Gehirnstrukturen vielerlei Phänomene kennen, über die sich eine gewisse ‚Einigkeit‘ herstellen lässt, weil sie die meisten Menschen ’sehr ähnlich‘ erleben, wie z.B. ‚Müdigkeit‘ nach längerem ’nicht Schlafen‘, ‚Hunger‘ nach längerem ’nicht Essen‘ usw .Man könnte also sagen, dass der ‚menschliche Körper‘ auch eine Art ‚Messgerät‘ ist, das bei entsprechendem ‚Verhalten‘ bestimmte ‚Zustände als Quasi-Messergebnisse‚ erzeugt, über die sich zwischen allen Beteiligten eine ‚praktisch hinreichende Einigkeit‚ erzielen lässt, wenngleich diese Einigkeit in der Regel nicht die ‚Präzision‘ hat, wie die technisch vereinbarten empirischen Messverfahren der Wissenschaften.
  21. Schwieriger wird es allerdings dann, wenn jemand ‚Phänomene‘ zu erleben meint, für die sich nicht sofort eine klare Ursache im Körper zuordnen lässt, die sich von anderen in ‚hinreichend ähnlicher Form‘ ’nachvollziehen‘ lässt. So kann es unterschiedliche Formen von ‚Schmerzen‘, ‚Emotionen‘, ‚Gefühlen‘, und ‚Stimmungen‘ geben, die sich nicht sofort ( auch nicht über längere Zeit) bestimmten körperlichen Prozessen zuordnen lassen. Dann wird eine zwischenmenschliche Verständigung schwierig. Der Angesprochene weiß dann nicht, mit welchen seiner ‚Erfahrungen‘ er die Äußerungen des anderen ‚in Verbindung bringen soll‘.
  22. Aus der schwierigen Kommunizierbarkeit von Phänomenen folgt allerdings nicht, dass diese ‚unwichtig‘, ‚unbedeutend‘ sind. Im Gegenteil, es können sehr wichtige Phänomene sein, die bislang – aus welchen Gründen auch immer – einfach von niemandem beachtet werden. So wie generell die Wissenschaft immer wieder neu um die Angemessenheit ihrer bisherigen ‚Terminologie‘ ringen muss, so müssen wir Menschen – insbesondere, wenn wir uns als Philosophen verstehen – unsere bisherigen Sprechweisen immer wieder neu an unseren Phänomenen ‚überprüfen‘.
  23. In diesem Kontext erscheint das ‚Meditieren‘ als eine der radikalsten Formen ‚eines sich seiner eigenen Erfahrung zensurfreien Aussetzens‘. Hier können sich viele Phänomene ereignen, die quer liegen zu den bisherigen Sprechweisen und die von daher neue Ausdrucksweisen erfordern.
  24. Aktuell ist dem Autor keine systematische philosophische Analyse der Phänomene des alltäglichen Erlebens inklusive speziell auch der Phänomene im Kontext von Meditation und Spiritualität bekannt. Zwar gibt es zahllose Artikel und Bücher zu diesem Thema, diese unterscheiden sich jedoch bezüglich Erfahrungskontexten, gewählten Sprachen und Methoden so stark, dass eine verallgemeinerte Aussage über diese Analysen aktuell nicht möglich erscheint; möglicherweise brauchen wir hier ein völlig neues Forschungsprogramm.
  25. Das Thema einer Super-Brückentheorie zwischen äußeren Verhaltensdaten, Körperdaten und Bewusstseinsdaten soll hier nur erwähnt werden. Eine solche Theorie wäre das ferne Ziel, das zu adressieren wäre.

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MEDITATION UND WISSENSCHAFT. Überlegungen zu einem Lehr- und Forschungsexperiment an einer Deutschen Hochschule

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 16.Okt. 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

KONTEXT

Das Hauptthema in diesem Blog ist seit Beginn die Suche nach dem neuen Menschenbild innerhalb der Koordinaten ‚Philosophie – Wissenschaft‘ ergänzt um die Themen ‚Gesellschaft – Technologie‘ und ‚Religion‘.

Im Laufe der Jahre haben sich aufgrund dieser Überlegungen immer wieder ‚Unterprojekte‘ außerhalb des Blogs herausgebildet, um die allgemeinen Überlegungen auch konkret zu prüfen bzw. umzusetzen.

Aktuell gibt es drei Unterprojekte: (i) Vorbereitet durch viele Jahre Vorlesungen gibt es ein online-Buchprojekt zum integrierten Engineering, das weit fortgeschritten ist. (ii) Ferner gibt es nun schon im vierten Semester ein Projekt ‚Meditation und Wissenschaft‘ an einer Deutschen Hochschule als reguläre interdisziplinäre Lehrveranstaltung, aus der ein erstes Buch hervorgegangen ist (kurz vor dem Druck), und zu dem es in wenigen Tagen einen ersten wissenschaftlichen Kongress geben wird. (iii) Seit dem Frühjahr 2018 hat sich im Anschluss an einen Kongress zur Städteplanung ein neues interdisziplinäres Projekt gebildet, das eine ziemlich direkte Umsetzung der Theorie des Engineerings ist, die unter (i) erwähnt wird (die aktuelle Webseite https://www.frankfurt-university.de/index.php?id=4664 verrät noch nicht all zu viel, aber eine deutlich erweiterte Fassung ist in Vorbereitung (bis ca. Mitte November) und adressiert alle Kommunen in Deutschland (und letztlich in ganz Europa). Eine weitere Variante adressiert Universitäten und Schulen, auch Firmen.

Hier soll kurz auf das unter (ii) genannte Projekt eingegangen werden.

GESELLSCHAFTICHE AUSGANGSLAGE

Wie in dem im Frühjahr 2019 erscheinenden Buch ausführlich dargelegt wird, erleben wir eine Zeit, in der aktuelle technologische Entwicklungen (sehr dominant: die sogenannte ‚Digitalisierung‘) die gewohnten Abläufe in der Gesellschaft von Grund auf neu formen. Zusätzlich wirbeln alte, bekannte Weltbilder mit neuen wissenschaftlichen Sehweisen, meist sehr fragmentiert, durcheinander und lassen den einzelnen eher verwirrt denn aufgeklärt zurück. Die konkreten Alltagsformate der einzelnen Menschen in den Industrieländern induzieren viele neue Stresssituationen, selbst schon bei Kindern, Jugendlichen und Studierenden, die das aktuelle Bildungssystem zu überfordern scheinen.

VERANTWORTUNG DER HOCHSCHULEN

In einem solchen Kontext müssen sich Hochschulen, auch die Hochschulen für angewandte Wissenschaften, neu orientieren und sortieren.

Traditionellerweise verbindet man mit Hochschulen ‚Wissenschaft‘, ‚wissenschaftliches Denken und Arbeiten‘, und es gibt zahlreiche juristische und organisatorische Abläufe, die diese Wissenschaftlichkeit absichern sollen. Aus Sicht des einzelnen Studierenden erscheint eine Hochschule aber immer mehr wie eine ‚Service-Maschine‘, die eine Vielfalt von Studienprogrammen anbietet, die jeweils kleine Ausschnitte aus dem großen Wissenskosmos vorstellt, die — in der Regel — weder mit dem Rest der Wissenschaft noch mit der Breite der Gesellschaft irgendetwas zu tun haben. Wichtiges Detail: der einzelne Studierende als ‚Person‘, als ‚Mensch‘ mit all seinen Facetten und heutigen Belastungen kommt in diesen Programmen normalerweise nicht vor. Dies ist ‚Privatsache‘. Da muss jeder auf eigene Faust schauen, wie er das ‚regelt‘.

Der wachsende ‚Veränderungsdruck‘ in der gesamten Gesellschaft, die Zersplitterung der kognitiven Landkarte in viele Fragmente, die nicht mehr zusammen zu passen scheinen, die allseitige Zunahme an körperlichen und psychischen Erkrankungen, kann man, wenn man will, als Anregung, als Herausforderung verstehen, den Ort ‚Hochschule‘ neu zu formen, um diesen greifbaren Defiziten mehr gerecht zu werden.

ERSTER ANTWORTVERSUCH

Eine umfassende Antwort würde möglicherweise in eine sehr grundlegende Reform der Hochschulen münden. Ob, wann und wie dies geschieht, weiß momentan sicher niemand. Aufgrund einer besonderen Situation an der Frankfurt University of Applied Sciences kam es im Frühjahr 2017 zu einer Initiative (Dievernich, Frey, Doeben-Henisch), die zum Start eines offiziellen Lehrmoduls ‚Meditation als kulturelle Praxis‘ führte, das sich seitdem inhaltlich immer mehr zur Thematik ‚Meditation und Wissenschaft‘ hin entwickelt hat.

Es soll hier einführend beschrieben werden, wie das Projekt so zwei unterschiedlich erscheinende Themen wie ‚Meditation‘ einerseits und ‚Wissenschaft und Technologie‘ andererseits miteinander zu einer Lehrveranstaltung mit forschendem Charakter verbinden kann. Zudem sollte es einen Beitrag zur personalen, menschlichen Situation der Studierenden leisten.

INTERDISZIPLINÄRES FELD STUDIUM GENERALE

Vorweg zu den Details der nachfolgenden Erläuterungen muss festgestellt werden, dass der Start zu dem neuen, innovativen, Projekt ‚Meditation als kulturelle Praxis‘ (oder dann künftig eher ‚Meditation und Wissenschaft‘) nur möglich war, weil es in der Hochschule schon seit 2005 die alle Fachbereiche und Studienprogramme übergreifende Einrichtung eines ‚interdisziplinären Studium Generale (ISG)‘ gibt. In diesem Rahmen können nahezu beliebige Themen von Dozenteams aus mindestens 2 – eher 3 — verschiedenen Fachbereichen angeboten werden, und die Studierenden aus allen Bachelorstudiengängen können sich dafür anmelden. Dieser kreative Raum innerhalb der ansonsten ziemlich ‚hart verdrahteten‘ Lehre war schon vielfach ein Ort für neue, innovative, und vor allem teamorientierte Lernerfahrungen. Doch auch hier gilt: was nützen die besten Optionen, wenn es zu wenig kreative und mutige Dozenten und Studierende gibt. Freiräume sind ‚Einladungen zu‘ aber keine ‚Garantien für‘ eine kreative Nutzung.

PHÄNOMEN MEDITATION

Das Thema ‚Meditation‘ blickt zurück auf eine Tradition von mehr als 2000 Jahren, mit vielen unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen, und erlebt seit Jahren eine starke Wiederbelebung in von Technologie geprägten Gesellschaften, deren Vielfalt kaum noch zu überschauen ist. Im Kern wird das Thema Meditation aber begleitet von einer Art Versprechen, dass jemand, der meditiert, daraus sowohl für seinen Körper als auch für seine Psyche ‚positive Wirkungen‘ ziehen kann.

Meditieren heißt, dass man mit seinem Körper etwas konkretes ‚tut‘, dass man konkrete Zustände seines Körpers konkret ‚erlebt‘, und dass man dieses Tun und Erleben ‚interpretieren‘ kann, aber nicht muss. Sowohl zu den konkreten praktischen Formen des Meditierens wie auch zu den möglichen Interpretationen gibt es ein breites Spektrum an Vorgehensweisen und Deutungen.

Was kann ein einzelner Mensch tun, wenn er sich mit Meditieren beschäftigen will? Was kann er tun, wenn er in einer von Wissenschaft und Technik geprägten Welt mit dem Phänomen Meditation konfrontiert wird? Welche Rolle spielen die ‚Deutungsmodelle‘? Warum gibt es überhaupt so viele unterschiedliche Deutungsmodelle? Was bedeutet es, dass diese Deutungsmodelle in so vielen verschiedenen Sprachen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten vorliegen?

DEUTUNGSMODELLE UND WISSENSCHAFT

Die modernen empirischen Wissenschaften sind im Laufe der Jahrhunderte (mit langen Vorlaufzeiten von bis zu 2000 Jahren!) entstanden als eine neue Art von ‚Wahrheitsbewegung‘: wie kann man in der Vielfalt der Erfahrungen und des Wissens jene ‚Bestandteile‘ herausfinden, die ‚wirklich Geltung‘ haben im Unterschied zu jenen Bestandteilen, die sprachlich zwar beschrieben und behauptet werden, aber nur schwer bis gar nicht als ‚gültig‘ erwiesen werden können? In einem mühsamen Prozess, der in den ca. letzten 400 Jahren zu seiner heutigen Form fand, zeigte sich, dass das Festhalten an intersubjektiv überprüfbaren ‚Standards‘ intersubjektiv nachvollziehbare und reproduzierbare ‚Messoperationen‘ mit ‚Messwerten‘ ermöglichte, was wiederum ganz neue explizite ‚Arbeitshypothesen‘, ‚Modelle‘ und dann ‚Theorien‘ ermöglicht.

KEIN GEGENSATZ ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND ‚GEIST‘

Während das Projekt ‚empirische Wissenschaft‘ lange Zeit als Gegensatz zur klassischen Philosophie und den sogenannten Geisteswissenschaften erschien, führten die Ergebnisse der ca. letzten 150 Jahre mehr und mehr dazu, dass man die Position des ‚Geistes‘, der ‚Geisteswissenschaften‘ im Rahmen der modernen empirischen Theorien schrittweise so ‚einordnen‘ kann, dass die Geisteswissenschaften einerseits im Rahmen der empirischen Wissenschaften integriert werden können, andererseits aber die Besonderheit des Menschen (als Teil des gesamten biologischen Lebens) nicht verschwindet. Statt dass die Besonderheit des Geistigen und des Lebens verschwindet, scheint es eher so zu sein, dass die Besonderheit des Geistigen als Teil des Biologischen eine noch viel größere Wucht erhält als je zuvor. Diese neue mögliche Fusion von empirischen Wissenschaften und ‚Theorie des Geistigen‘ wird bislang noch kaum genutzt. Zu tief haben sich traditionelle Begrifflichkeiten als kulturelle Muster in die Gehirne ‚eingegraben‘; solches zu ändern dauert erfahrungsgemäß viele Generationen.

KANT 2.0

Während der Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) eingesperrt in sein Bewusstsein, ohne Sprachkritik und ohne Evolutionstheorie, die Antworten auf seine Fragen nur als abstrakte Postulate formulieren konnte, nach denen u.a. Raum und Zeit ‚konstitutiv‘ für menschliches Erkennen sind, ohne dass er dies weiter erklären konnte, hat die moderne Wissenschaft nicht nur ein Stück mehr erklären können, wie überhaupt Sprache funktioniert, sondern zusätzlich wie die Strukturen unserer Wahrnehmung, unseres Gedächtnisses, unseres Denkens und vieles mehr von den Strukturen unseres Gehirns in einem bestimmten Körper geprägt sind, die sich wiederum in einer Entwicklungsgeschichte von vielen Milliarden Jahren herausgebildet haben. Wir wissen heute, dass das ‚Bewusstsein‘ nur einen quantitativ verschwindend kleinen Teil des Gesamtkörpers repräsentiert; das meiste ist ‚unbewusst‘ (die Gehirnzellen haben am ganzen Körper einen Anteil von ca. 0.15%, das ‚Bewusstsein‘ wiederum ist nur mit einem Teil der Gehirnzellen assoziiert…). Zusätzlich hat die Wissenschaft ansatzweise aufgedeckt, wie das Gehirn die aufgenommenen Sinnesreize und Körperreize im Kontext von Wahrnehmung, Gedächtnis und Lernen ‚induktiv‘ zu nahezu beliebig komplexen Mustern verrechnen kann, die für uns dann die Konzepte/ Kategorien bilden, mit denen wir die Welt und und uns selbst anschauen. Da diese komplexen Strukturbildungsprozesse durch kommunikative Interaktionen (speziell auch sprachlichen) beeinflusst werde können, können sich Gehirn-induzierte und Kultur-induzierte Muster mischen, vermischen, und so komplexe Deutungsmuster entstehen lassen, deren ‚Gültigkeitsgehalt‘ stark variieren.

REFORMBEDARF DER WISSENSCHAFTEN

Während die empirischen Wissenschaften (und darauf aufbauen die Ingenieurskunst), in den letzten Jahrhunderten viele Pluspunkte sammeln konnten, zeigen sich im bisherigen Konzept und der Praxis von Wissenschaft dennoch gewisse Schwachpunkte: im Rahmen des empirischen Paradigmas können zwar erfolgreiche empirische Experimente und partielle Modelle entwickelt werden, aber die bisherigen empirischen Konzepte reichen nicht aus, um (i) die vielen einzelnen Theorien zu ‚integrieren‘, und (ii) die bisherigen Konzepte sind nicht in der Lage, den ‚Theoriemacher‘ und ‚Theoriebenutzer‘ in der Theorie mit zu repräsentieren. Gerade in den Ingenieurwissenschaften mit ihren immer komplexeren Projekten führt dies zu grotesken Verzerrungen und vielfachen Projektabstürzen. In den empirischen Wissenschaften ist dies nicht wirklich besser, nur fällt es dort nicht so direkt auf. Allerdings kann man zwischen einer rein physikalischen Betrachtungsweise und einer biologischen immer größere Probleme entdecken.

RÜCKKEHR DER PHILOSOPHIE

An dieser Stelle wird klar, dass das historisch ‚ältere‘ Projekt einer umfassenden Philosophie noch nicht ganz ausgedient hat. Während die Philosophie in der oftmals selbst gewählten Abstinenz von Wissenschaft (seit ca. 1500 Jahren) mehr und mehr den Kontakt zur Welt verlor, kann Philosophie in enger Kooperation mit Wissenschaft dieser helfen, ihre fehlende ‚Einheit‘ zurück zu gewinnen. Das neue Paradigma lautet daher ‚Philosophie und Wissenschaft‘ als grundlegendem Denkmuster, erweitert, konkretisiert in der ‚Ingenieurskunst‘. Diese liefern den Rahmen, in dem sich die Freiheit und Kreativität des Lebens entfalten und gestalten kann.

MEDITATION UND WISSENSCHAFT

Schematisches Modell für eine philosophisch begründete empirische Weltsicht am Beispiel des Meditierens
Schematisches Modell für eine philosophisch begründete empirische Weltsicht am Beispiel des Meditierens

Diese neuen, spannenden Entwicklungen in Philosophie und Wissenschaft eröffnen auch neue, interessante Zugangsweisen im Umgang mit dem empirischen (und historisch überlieferten) Phänomen der Meditation. Im folgenden Text (siehe auch die Schaubilder) wird versucht, aufzuzeigen, wie ein modernes Philosophie-Wissenschafts-Paradigma eine aktive Auseinandersetzung mit dem Phänomen leisten könnte.

Für diese aktive Beschäftigung mit dem Phänomen Meditation wird angenommen, dass sich grob vier Perspektiven unterscheiden lassen:

  1. REALE PRAXIS: Meditation wird in einer bestimmten Umgebung praktiziert von einem Menschen, der dabei mit seinem Körper etwas tut. Dies kann zu Veränderungen an seinem Körper führen wie auch in seinem Erleben.

  2. BEOBACHTEN: Vor der Praxis kann man in Form von Fragen festlegen, auf welche Art von Phänomenen man vor, während und nach der Meditation achten will. Dazu kann man festlegen, in welcher Form die Beobachtung ausgeführt werden soll und wie man die Beobachtungswerte/ -daten protokollieren will. Sie sollten unter festgelegten Bedingungen für jeden potentiellen Beobachter reproduzierbar sein. Ort, Zeit, Umstände usw. sollten aus den Protokollen entnehmbar sein.

  3. DEUTUNG: Einzelne Beobachtungswerte repräsentieren isolierte Ereignisse, die als solche noch keine weiterreichenden Deutungen zulassen. Die einfachste Form von Deutungen sind einfache Beziehungen zwischen verschiedenen Beobachtungswerten (räumliche, zeitliche, …). Sobald mehr als eine Beziehung auftritt, ein Beziehungsbündel, kann man Beziehungsnetzwerke formulieren, Modelle, in denen Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Faktoren sichtbar werden. Wahrheitsfähig werden Deutungen aber erst, wenn sie als Theorie formuliert werden (Strukturen, Beziehungen, Dynamiken, Folgerungsbegriff, …), erst dann können sie wahr oder falsch sein, können sie möglicherweise falsifiziert werden, weil man Voraussagen ableiten kann. Generell kann man für Deutungen noch folgende Eigenschaften festhalten:

    1. Die einfachste und historisch häufigste Form von Deutungen sind Texte in ‚Normalsprache‚, eventuell angereichert mit Bildern oder anderen Artefakten.

    2. In modernen Versionen von Deutungen finden sich zusätzlich mehr und mehr voll definierte Diagramm-Sprachen bis hin zu animierten Bildfolgen

    3. Für die eigentliche, harte Modell- und Theoriebildung haben sich aber formale Sprachen durchgesetzt bzw. eine konsequent mathematische Darstellungsweise, ergänzt um eine explizite Logik, die beschreibt, wie man korrekte Folgerungen aus einer gegebenen Theorie gewinnen kann.

    4. Quer zu den Darstellungsweisen Text, Bild und Formel gibt es die zusätzliche Dimension einer dynamischen Repräsentation in Form von Ablaufschilderungen, Bildfolgen, Computer-Simulationen, oft noch erweitert um Interaktionen, die dem Ganzen einen spielerischen Charakter verleihen.

    5. ÜBERLIEFERUNG: Zu vielen (den meisten…) Phänomenen finden sich Überlieferungen aus früheren Zeiten. Die Überlieferungsgeschichte ist unterschiedlich gut, bisweilen sehr schlecht. Die Kontexte und die verwendeten sprachlichen sowie bildhaften Mittel setzen Interpretationsbeziehungen voraus, die heute gar nicht oder nur partiell bekannt sind. Die konkreten Umstände der Überlieferung, die beteiligten Personen, deren Innenleben, sind oft nur wenig bis gar nicht bekannt. Die Einbeziehung von Überlieferungen ist daher mit großer Vorsicht zu sehen. Dennoch können sie wertvolle Hinweise liefern, die man neu überprüfen kann.

  4. REFLEXION: Die bislang genannten Themen ‚Reale Praxis – Beobachtung – Deutung‘ kann man als solche ‚definieren‘, ‚beschreiben‘ und anwenden. Allerdings setzen alle diese Themen einen übergreifenden/ vorausgehenden Standpunkt voraus, in dem entschieden wird, ob man sich überhaupt einer Realität zuwenden will, welcher Realität, wie, wie oft usw. Ebenso muss vor der Beobachtung geklärt werden, ob man überhaupt beobachten will, wie, wann, wie oft, was man mit den Beobachtungswerten dann tun will, usw. Und entsprechend muss man vor Deutungsaktionen entscheiden, ob man überhaupt deuten will, wie, was, usw. Diese Dimension der vorbereitenden, begleitenden, und nachsinnenden Überlegungen zum gesamten Prozess wird hier Reflexion genannt. Als Menschen verfügen wir über diese Fähigkeit. Sie wird in all unserem Tun, speziell dann auch in einem wissenschaftlichen Verhalten, nicht direkt sichtbar, sondern nur indirekt durch die Art und Weise, wie wir mit der Welt und uns selbst umgehen. Es ist irgendwie die gesamte Vorgehensweise, in der sich ein ‚Plan‘, verschiedene ‚Überlegungen‘, verschiedene ‚Entscheidungen‘ auswirken und damit ausdrücken können. Und ein wissenschaftlicher Umgang mit der Welt und sich selbst setzt insofern bestimmte Verhaltensformate voraus. Wissenschaft im üblichen Sinne ist die geordnete Umsetzung eines solchen Planes. Die Analyse und das Design eines solchen wissenschaftlichen Handlungsformates leistet idealerweise die Wissenschaftsphilosophie. Den kompletten Rahmen für jedwede Art von Vorgehen, das Nachsinnen ob und wie überhaupt, die Klärung von Motiven und Voraussetzungen, die Methode einer Wissenschaftsphilosophie, und vieles mehr, das ist die originäre Aufgabe der Philosophie. Insofern ist die Domäne der vor- und übergreifenden Reflexion die Domäne der Philosophie, die darin in einer methodisch engen Weise mit jedweder Form von Wissenschaft verknüpft ist.

Die hier aufgelisteten Punkte bilden eine minimale Skizze, die weitere Kommentare benötigt.

BEOBACHTUNG: SUBJEKTIVITÄT – OBJEKTIVITÄT

Die Verschränkung des 'Objektiven' mit dem 'Subjektiven' aufgrund des heutigen Kenntnisstands
Die Verschränkung des ‚Objektiven‘ mit dem ‚Subjektiven‘ aufgrund des heutigen Kenntnisstands

Setzt man obigen Rahmen voraus, dann scheint es hilfreich, einen Punkt daraus hier speziell aufzugreifen: das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität, das sich nahezu durch die gesamte Geschichte der Philosophie und der Auseinandersetzung zwischen Philosophie und empirischer Wissenschaft zieht. Und gerade im Fall des Meditierens gewinnt diese Unterscheidung eine besondere Bedeutung, da neben jenen Wirkungen des Meditierens, die sich äußerlich und in Körperfunktionen direkt (empirisch, objektiv) beobachten (messen) lassen, es viele (die meisten) Wirkungen gibt, die sich nur ‚im Innern‘ (subjektiv) des Meditierenden erfassen lassen. Wie geht man damit um?

Aufgrund der Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften können wir heute relativ klar sagen, dass das persönliche Erleben an das jeweilige, individuelle Bewusstsein (‚consciousness‘) geknüpft ist, das wiederum – in einer noch nicht genau rekonstruierten Weise – eine Funktion des individuellen Gehirns ist. Das Gehirn wiederum sitzt in einem Körper und wird von diesem neben der notwendigen Energie mit allerlei Erregungsmustern (neuronale Signale) versorgt. Einige stammen von Sinnesorganen, die verschiedene energetische Ereignisse er Außenwelt (Licht, Schall, Geruch, …) in neuronale Signale übersetzen, andere vom Körperinnern, andere vom Gehirn selbst. Das Gehirn weiß also von der Außenwelt ‚direkt‘ nichts, sondern nur in dem Maße, als ihm diverse neuronale Signale übermittelt werden, die in sich schon eine erste Übersetzung darstellen. Aus all diesen Signalen errechnet das Gehirn kontinuierlich ein Netzwerk von repräsentierenden Ereignisstrukturen, die zusammen ein ‚komplexes (dynamisches) Bild‘ des aktuellen Zustands ergeben. Dieses Zustandsbild ist beeinflusst von ‚vergangenen Bildern‘ (Gedächtnis), von unterschiedlichen ‚Abstraktionsprozessen‘, von unterschiedlichen ‚Erwartungswerten‘ und ‚Bewertungen‘, um as Mindeste zu sagen. Wie viel von den kontinuierlichen Berechnungen des Gehirns tatsächlich ins ‚Bewusstsein‘ gelangt, also ‚bewusst‘ ist, lässt sich nicht klar sagen. Sicher ist nur, dass das, was uns bewusst ist, in jedem Fall eine Auswahl darstellt und es insofern – aus Sicht des Bewussten – ein Unbewusstes gibt, das nach groben Schätzungen erheblich größer ist als das Bewusste.

Philosophen nennen die unterschiedlichen Inhalte des Bewusstseins ‚Phänomene [PH]‘ (zumindest in jener Richtung, die sich phänomenologische Philosophie‘ nennt). Innerhalb dieser Menge der Phänomene kann man anhand von Eigenschaften unterschiedliche Teilmengen der Phänomene unterscheiden. Eine sehr wichtige ist die Teilmenge der ‚Phänomene von den externen Sensoren (PH_W_EXT)‘. Durch ihren Bezug zu unterstellten Objekten der Außenwelt und zusätzlich unterstützt durch Phänomene einer realen Kommunikation lässt sich eine Art ‚Korrelation‘ dieser Phänomene mit unterstellten Objekten der Außenwelt in einer Weise herstellen, die sich mit anderen ‚Beobachtern‘ ’synchronisieren‘ lässt. Sofern dies gelingt (z.B. durch vereinbarte Formen des Messens mit vereinbarten Standards) bekommen diese Phänomene PH_W_EXT einen besonderen Status. Wir nennen sie empirische Phänomene weil sie – obgleich sie weiterhin Phänomene bleiben und damit subjektiv sind – sich in einer Weise mit externen Ereignissen koppeln lassen, die sich in der Reaktion anderer Beobachter auch reproduzieren lässt. Durch diese ‚Rückkopplung‘ gelingt es einem Gehirn, seine ‚locked-in‘ Situation partiell zu überwinden. Daher kommt den als empirisch qualifizierbaren subjektiven Phänomene eine ganz besondere Rolle zu.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die modernen empirischen Wissenschaften durch ihren methodischen Bezug auf die empirischen subjektiven Phänomene sich eine Beobachtungsbasis geschaffen haben, der ein maximaler Erfolgt deswegen vergönnt war, weil tatsächlich nur jene Phänomene Berücksichtigung fanden, die im Prinzip allen Beobachtern in gleicher Weise zugänglich sind.

Eine unkritische – was hier heißt: eine un-philosophische – Handhabung des empirischen Auswahlprinzips kann aber zu unerwünschten Ergebnissen führen. Einer der größten Fehler der Wissenschaftsgeschichte ist wohl (und da hat die Philosophie simultan auch versagt), aus der methodisch sinnvollen Einschränkung auf die subjektiven empirischen Phänomene zu schließen, dass alle anderen (subjektiven) Phänomene grundsätzlich unwichtig oder gar irreführend seien. Diese Folgerung war und ist sachlich völlig haltlos und in ihrer Wirkung verheerend.

Es ist ja nicht nur so (siehe den vorausgehenden Text), dass die empirisch genannten Phänomene weiterhin rein subjektive Phänomene bleiben, sondern das Bewusstsein als Ganzes ist die primäre Quelle für jede Form von Erkenntnis, deren der homo sapiens fähig ist! Die neueren Erkenntnisse zur gleichzeitigen Existenz eines sehr großen Unbewussten setzen das Phänomen des Bewusstseins ja nicht ‚außer Kraft‘, sondern, ganz im Gegenteil, es stellt sich verschärft die Frage, warum es in der Evolution zur Ausprägung des Bewusstseins unter Voraussetzung des Unbewussten kam? Was ist der ‚Vorteil‘ für ein biologisches System zusätzlich zum gewaltigen Komplex der ‚unbewussten Maschinerie‘ des Körpers und des Gehirns noch die Form des ‚Bewusstseins‘ zu besitzen? Bei einem sehr groben Vergleich der Zeiträume von Lebewesen ‚mit‘ und ‚ohne‘ Bewusstsein ist unübersehbar, dass es erst mit der Verfügbarkeit eines hinreichend differenzierten Bewusstseins zu den überaus komplexen und beständig weiter anwachsenden komplexen Verhaltensleistungen ganzer Populationen gekommen ist. Und aus der Tatsache, dass sich nur ein kleiner Teil der Phänomene des Bewusstseins direkt über die Außenwelt mit anderen Beobachtern korrelieren lässt, zu folgern, dass alle anderen Phänomene ‚irrelevant‘ seien, ist weder sachlich noch logisch irgendwie begründbar. Mit dem heutigen Wissensstand müssten wir eher das Gegenteil folgern: eine neue bewusste und herzhafte Hinwendung zu jener reichen Phänomenwelt, die ein biologisches System hervorbringen kann, die sich aber (bislang) einem direkten empirischen Zugriff entziehen.

In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass eine ‚Erklärung‘ von subjektiven Phänomenen durch Rückgriff auf ausschließlich direkt korrelierbare physiologische Eigenschaften methodisch fragwürdig ist und in der Regel genau das nicht erklärt, was erklärt werden sollte.

Diese wenigen ersten Gedanken können vielleicht deutlich machen, dass der Anteil subjektiver Phänomene im Kontext des Phänomens ‚Meditation‘ philosophisch und wissenschaftlich kein unüberwindbares Hindernis darstellt, sondern eher eine Einladung, die Forschungen zu vertiefen und zu verbessern.

WIE PRAKTISCH VORGEHEN?

Was bedeutet dies nun für ein praktisches Vorgehen? Wie kann man dies im Rahmen eines konkreten Lehrmoduls umsetzen? Hier ein erster Entwurf:

  1. Als primärer Referenzpunkt sollen konkrete praktische Meditationsübungen dienen, von denen unterschiedliche Formen vorgestellt und dann unter Anleitung ausprobiert werden können. Dies kann in jeder Sitzung und außerhalb, im privaten und öffentlichen Bereich geschehen.

  2. Damit die Perspektive der Wissenschaft und Philosophie zur Wirkung kommen kann, sollte von Anfang an diese Perspektive vorgestellt und demonstriert werden, wie diese sich auf das konkrete Beispiel Meditation anwenden lässt. Neben einer allgemeinen Einführung müsste konkret erläutert werden, welche Fragen sich stellen lassen, und wie eine Beobachtung aussehen könnte. Jeder für sich und dann auch im Team versucht eine Art ‚Logbuch‘ zu führen, in dem alle für die Beobachtung wichtigen Daten eingetragen werden.

  3. Nachdem erste Beobachtungen vorliegen, kann man gemeinsam überlegen, ob und wie man solche Daten ‚deuten‘ könnte: welche Art von Mustern, Regelmäßigkeiten deuten sich an? Gibt es Unterschiede in den verschiedenen Logbüchern? Welchen Status haben solche Deutungen?

  4. Die Schritte (1) – (3) kann man mehrfach wiederholen. Im Alltagsleben kann dies Jahre dauern, viele Jahre. Im Lehrbetrieb hat man nur ca. 2-3 Monate Zeit, um zumindest den grundlegenden Ansatz zu vermitteln.

  5. Nachdem ein erster Eindruck vermittelt wurde, wie man selber sowohl konkret meditieren wie auch empirisch seine Erfahrungen analysieren kann, kann man den individuellen Prozess in größere Kontexte einbetten wie (i) Beispiele von traditionellen Deutungen anhand von prominenten Texten aus der Überlieferung oder (ii) Beispiele aus der Arbeitsweise der verhaltensbasierten Psychologie und der etwas differenzierteren Psychoanalyse oder (iii) Beispielen aus der Philosophie und der Wissenschaftsphilosophie.

Wie man aus diesem kleinen Aufriss entnehmen kann, stellt ein einzelnes Modul nur ein minimales Kick-Off dar, für eine allererste Idee, wie es gehen könnte. Im Grunde genommen bräuchte man für jeden der genannten Punkte (i) – (iii) ein eigenes Modul, und selbst dies wäre nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hieran kann man erahnen, wie schwierig die Ausbildung einer eigenen konkreten Selbsterfahrungs-Praxis mit einer wissenschaftlichen Begleitung eigentlich ist, und wir dürfen uns nicht wundern, wenn so viele Menschen heute sich im Strom der Ereignisse schnell ‚verloren‘ vorkommen… sogenannte ‚Patentantworten‘ sind nicht notwendigerweise ‚richtige Antworten’…

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OBJEKTIVE WERTE? Diskussion von Stace’s ’Religion and the Modern Mind’ Kap.5, Teil 4

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
2.Juli 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

ÜBERSICHT

In Fortsetzung der vorausgehenden Teile 1   sowie 2  und 3  wird in diesem vierten Teil das Kap.5 von Stace besprochen. Im Kapitel 5 beschreibt Stace die direkten Auswirkungen des neuzeitlichen wissenschaftlichen Weltbildes auf den bisherigen christlichen Gottesglauben. Dazu die verschiedenen Versuche, diesen Gottesglauben gegenüber dem modernen Weltbild zu bewahren samt jenen Argumenten, die das alte Bild des christlichen Gottesglaubens vor dem 18.Jahrhundert zu entkräften versuchen.

KAPITEL 5

Stace (1952) Kap.5 - Gedankenskizze
Stace (1952) Kap.5 – Gedankenskizze

 

Das Christliche Weltbild

Um die allmählich eintretende Wirkung des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs zu verdeutlichen benutzt Stace eine kompakte Formel (vgl. S.84), um die Gestalt des christlichen Weltbildes zu umreißen:

1) Ein göttliches Wesen hat das Universum erschaffen.

2) Es gibt eine umfassende Absicht im ganzen Universum.

3) Die Welt repräsentiert eine moralische Ordnung.

4) Gott ist den Menschen nah.

Dieses grundsätzliche Bild wurde noch ergänzt um spezielle kosmologische Annahmen wie (vgl. S.83):

1) Die Sonne bewegt sich um die Erde

2) Die Planetenbahnen sind kreisförmig

3) Die Bewegung der Körper kommt mit der Zeit zur Ruhe

4) Eine Anziehungskraft (Gravitation) war nicht bekannt.

Obwohl die speziellen kosmologischen Annahmen nicht direkt aus den christlichen Glaubenssätzen folgten, waren sie zu jener Zeit eine derart starke Verbindung mit dem christlichen Kernglauben eingegangen, dass sie für die damaligen Menschen wie ’natürliche Bestandteile’ des christlichen Glaubens erschienen, deren Infragestellung mit einer Infragestellung des christlichen Glaubens selbst gleichgesetzt werden konnte.

Das Neue wissenschaftliche Weltbild

Mit der Entstehung des neuen wissenschaftlichen Weltbildes (siehe die Besprechung in Teil 3) kam es zunächst zu einer direkten Entgegensetzung von christlichen Annahmen über den Kosmos und dem neuen wissenschaftlichen Weltbild (vgl. S.83):

1) Die Sonne bewegt sich um die Erde < −− > Die Erde bewegt sich um die Sonne.

2) Die Planetenbahnen sind kreisförmig < −− > Die Planetenbahnen sind ellipsenförmig.

3) Die Bewegung der Körper kommt mit der Zeit zur Ruhe < −− > Die Bewegung der Körper setzt sich unverändert fort solange keine zusätzliche Kraft einwirkt.

4) Eine Anziehungskraft (Gravitation) war nicht bekannt. < −− > Neue Gravitationsgesetze.

Diese letztlich nicht-theologischen Erkenntnisse wurde von der Kirche dennoch zunächst als bedrohlich für den Glauben empfunden, als ketzerisch eingestuft und dementsprechend bekämpft. Zugleich provozierten diese Einsichten den Gottesglauben auch der Wissenschaftler und Philosophen. Während Denker wie Newton und Berkeley meinten, den Gottesglauben auf unterschiedliche Weise verteidigen zu müssen, gab es andere Denker wie z.B. Laplace, die versuchten, weitere Argumente zu finden, warum man die Annahme Gottes im Verständnis der natürlichen Welt nicht brauchen würde.

Rettungsversuch Mit Design-Begriff

Eine beliebte Denkfigur (bis in unsere Gegenwart hinein), um die Begrenztheit der naturwissenschaftlichen Erklärungsansätze mit einem expliziten Gottesbegriff für die Natur zu retten, ist der sogenannte Design Ansatz: der Aufweis der großen Komplexität der bedingenden Faktoren sowie die daraus resultierende immense Unwahrscheinlichkeit, dass in solch einer Situation die bekannten Lösungen ’einfach so’ entstehen konnten, wird als Argument dafür benutzt, dass es hinter allem einen planenden, absichtsvollen Geist geben muss, eben einen Schöpfer, den christlichen Gott (vgl. SS.74ff).

Diese Argumentation erweist sich als schwierig und wenig plausibel. Einmal zeigt der Gang der Wissenschaftsgeschichte, dass der Begriff der Komplexität sehr relativ ist: was in einer bestimmten Zeit als ’komplex’ und ’unerklärbar’ erscheint, findet zu anderen Zeiten einfache und elegante Erklärungen. Zum anderen erklären die Designansätze in der Regel zwar die ’schönen’ Fälle, in denen es für die beteiligten Geschöpfe ’gut’ ausgeht, sie könne aber nicht mit den unzähligen Fällen des Scheiterns und des Elends umgehen. Ein Zufalls-basierter Ansatz mag zwar vielfach ’unwahrscheinlich’ erscheinen, aber das Auftreten von Varianten, von Scheitern, von Übel ist im Rahmen einer vom Zufall bestimmten Entwicklung eingeschlossen. (Anmerkung: Im weiteren Gang der modernen Wissenschaften  wurde die Annahme einer Zufalls-basierten Entwicklung um weitere Faktoren ergänzt. So sind bei der Entwicklung von biologischen Systemen begrenzende Faktoren unterschiedlicher Art anzunehmen, die die Zufallsräume deutlich einschränken!)

Rettungsversuch mit Bewusstseins-Ansatz

Einen für seine Zeit sehr originellen Rettungsversuch startete George Berkeley (1685 – 1753) mit seiner Schrift ”A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge” (1910) [1], [2]. Zunächst arbeitete er heraus, dass unser gesamtes aktuelles Weltwissen primär im Bewusstsein stattfindet (was heute die Neurowissenschaften umfassend bestätigen konnten), was Berkeley dann zum Anlass nahm, anzunehmen, dass all das, was man gemeinhin materielle Objekte nennt, aus Sicht des Bewusstseins nicht wirklich existiert. Berkeley leitete aus dieser Situation die Hypothese ab, dass man für die Existenz der materiellen Welt außerhalb des Bewusstseins generell die Hypothese eines Schöpfers benötigt, der all dies bereitstellt und verwaltet.

Die modernen Naturwissenschaften konnten daher nach Berkeley die Existenz Gottes gar nicht in Frage stellen, da sie sich sowieso nur auf die Phänomene des Bewusstseins und ihre impliziten Gesetzen berufen.

Das Problem der Wissensgrenze

Was sich hier am Beispiel des Design-Begriffs oder der neuen Erkenntnistheorie von Berkeley andeutet, das sind Beispiele für das allgemeine Problem, wenn Menschen mit ihrem Wissen W auf Phänomene stoßen, die nicht so recht oder überhaupt nicht mit dem bisherige Wissen W übereinzustimmen scheinen.

In der Tat ist es ein grundlegendes und ungelöstes Problem, was Wissensgrenzen grundsätzlich bedeuten. Im Normalfall benutzt man sein eigenes Wissen W wie eine Art ’Werkzeug’, um die Wahrnehmung der Welt und von sich selbst ’im Lichte dieses Wissens W’ zu ’deuten’. In diesem Fall ist man ’in’ diesem Wissen drin, man setzt das Wissen W voraus.

Auf der anderen Seite verfügen wir – zumindest ansatzweise, in bestimmten Situationen – über die Fähigkeit, die ’Übereinstimmung’ unseres Wissens W mit wahrnehmbaren Phänomenen zu überprüfen. In diesem speziellen Fall verhalten wir uns zu unserem Wissen W als ob dieses Wissen W für uns ein ’Gegenstand’ ist, ’über’ den wir urteilen können. Und wir wissen aus der Wissenschaftsphilosophie, dass man jedes Wissen W, das in Form einer expliziten formalen symbolischen Theorie T W vorliegt, beschreiben und abändern können.

Letzteres folgt auch alleine schon aus dem Umstand, dass alles Wissen bzw. dann auch alle Theorien von den Autoren ’geschaffen’ werden, indem angesichts von Phänomenen (Daten) nach’ möglichen Beziehungen’ und ’Regeln’ gesucht wird, die diese Daten ’in einen Zusammenhang’ bringen können. In diesen Such- und Konstruktionsprozess können viele logische und nicht-logische Faktoren einfließen. Und es sollte von daher klar sein, dass Wissen bzw. strukturierte Formen von Wissen in Form von symbolischen Theorien grundsätzlich ’dynamische Größen’ darstellen, die im ’Fluss der Zeit’ unterschiedliche Formen annehmen können.

Wenn also im historischen Prozess bestimmte Wissensformen plötzlich Probleme haben, dann ist dies von der Natur des Wissens her eigentlich kein Problem, wohl aber für solche Menschen, die offensichtlich glauben, dass ein bestimmtes Wissen W zu einem bestimmten Zeitpunkt für immer ’fest’ sei, quasi ’absolut’. In diesen Fällen wäre es sehr irreführend, von den Erklärungsproblemen dieser Theorien auf ein Problem in der Welt der Phänomene zu schließen; viel mehr sollten diese Menschen ihr eigenes Verhältnis zu ihrem Wissen problematisieren und überprüfen. Dies ist im Kern die Aufgabe der Philosophie, heute zusätzlich unterstützt von vielen Spezialdisziplinen wie z.B. Psychologie und Neuropsychologie.

Wissenschaftliche Theorie und Glaube

Ein anderer Aspekt, der oft übersehen wird, den Stace aber explizit benennt (siehe z.B. p.96), das ist das Moment des ’Glaubens’ im Kontext von wissenschaftlichen Theorien.

Die Wurzel für diese Form von ’wissenschaftlichem Glauben’ liegt einmal in der Art, wie wissenschaftliche Theorien entstehen (siehe Abschnitt zuvor), zum anderen in der Art ihrer Nutzung.

Bei der Konstruktion von wissenschaftlichen Theorien müssen Forscher grundsätzlich über die endliche Menge von isolierten Datenpunkten ’hinaus’ gehen und explizit ’Vermutungen über Zusammenhänge’ äußern, d.h. was ’glauben’ sie, welche Art von Zusammenhängen ’da draußen’ existieren, aufgrund deren Wirken die beobachteten Phänomene (gemessene Daten) auftreten. Und wenn sie dann ihre Vermutungen, ihren Glauben, niedergeschrieben haben, dann stehen die benutzen theoretischen Terme für genau diese Vermutungen, für den so artikulierten Glauben als mögliche Zusammenhänge.

In der normalen Physik gibt es viele Beispiele für solche Terme, deren ’Bedeutung’, deren ’Extension’ nicht direkt beobachtet werde kann, sondern nur ihre ’Wirkung’, die als ’Hinweis auf ihre Existenz’ angenommen (geglaubt) wird.

So kann man das ’Gewicht’ eines Körpers nicht direkt sehen, sondern nur die Auswirkung des Gewichts im Rahmen eines Messvorgangs, entsprechend mit der Anziehungskraft von Körpern aufgrund der postulierten Gravitation. Wenn also — das wäre der Analogieschluss — das mit der Wortmarke ’Gott’ Gemeine nicht direkt mit normalen Sinnesorganen punktuell beobachtet werden kann, so würde daraus nicht notwendigerweise der Schluss folgen, dass diese Wortmarke keine Extension besitzt. Tausende von menschlichen Zeugnissen deuten in die Richtung, dass ’das mit Gott Gemeinte’ sich auf vielfache Weise in Form von Zeitreihen zeigen kann, die unterschiedliche Randbedingungen aufweisen können. Darauf aufbauende ’Überzeugungen= Wissensformen’ gehen dann über den Augenblick hinaus (analog zu empirischen Theorien) und ermöglichen ein  ’erfahrungsbasiertes Handeln’, das entweder weitere ’Bestätigungen’ zulässt oder nicht. Abänderungen solcher Überzeugungen im Kontext von Erfahrungen ist möglich und üblich.

QUELLEN

[1] G. Berkeley, A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, 1st ed. Skinner Row (Dublin): Jeremy Pepyat, Bookseller, 1710.

[2] ——, A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge. Three Dialogues, 1st ed., R. Woolhouse, Ed. London:Penguin Books, 1988.

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