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K.G.DENBIGH: AN INVENTIVE UNIVERSE — Relektüre — Teil 4

K.G.Denbigh (1975), „An Inventive Universe“, London: Hutchinson & Co.

BISHER

Im Teil 1 der Relektüre von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“ hatte ich, sehr stark angeregt durch die Lektüre, zunächst eher mein eigenes Verständnis von dem Konzept ‚Zeit‘ zu Papier gebracht und eigentlich kaum die Position Denbighs referiert. Darin habe ich sehr stark darauf abgehoben, dass die Struktur der menschlichen Wahrnehmung und des Gedächtnisses es uns erlaubt, subjektiv Gegenwart als Jetzt zu erleben im Vergleich zum Erinnerbaren als Vergangen. Allerdings kann unsere Erinnerung stark von der auslösenden Realität abweichen. Im Lichte der Relativitätstheorie ist es zudem unmöglich, den Augenblick/ das Jetzt/ die Gegenwart objektiv zu definieren. Das individuelle Jetzt ist unentrinnbar subjektiv. Die Einbeziehung von ‚Uhren-Zeit’/ technischer Zeit kann zwar helfen, verschiedene Menschen relativ zu den Uhren zu koordinieren, das grundsätzliche Problem des nicht-objektiven Jetzt wird damit nicht aufgelöst.

In der Fortsetzung 1b von Teil 1 habe ich dann versucht, die Darlegung der Position von Kenneth George Denbighs Buch „An Inventive Universe“ nachzuholen. Der interessante Punkt hier ist der Widerspruch innerhalb der Physik selbst: einerseits gibt es physikalische Theorien, die zeitinvariant sind, andere wiederum nicht. Denbigh erklärt diese Situation so, dass er die zeitinvarianten Theorien als idealisierende Theorien darstellt, die von realen Randbedingungen – wie sie tatsächlich überall im Universum herrschen – absehen. Dies kann man daran erkennen, dass es für die Anwendung der einschlägigen Differentialgleichungen notwendig sei, hinreichende Randbedingungen zu definieren, damit die Gleichungen gerechnet werden können. Mit diesen Randbedingungen werden Start- und Zielzustand aber asymmetrisch.

Auch würde ich hier einen Nachtrag zu Teil 1 der Relektüre einfügen: in diesem Beitrag wurde schon auf die zentrale Rolle des Gedächtnisses für die Zeitwahrnehmung hingewiesen. Allerdings könnte man noch präzisieren, dass das Gedächtnis die einzelnen Gedächtnisinhalte nicht als streng aufeinanderfolgend speichert, sondern eben als schon geschehen. Es ist dann eine eigene gedankliche Leistungen, anhand von Eigenschaften der Gedächtnisinhalte eine Ordnung zu konstruieren. Uhren, Kalender, Aufzeichnungen können dabei helfen. Hier sind Irrtümer möglich. Für die generelle Frage, ob die Vorgänge in der Natur gerichtet sind oder nicht hilft das Gedächtnis von daher nur sehr bedingt. Ob A das B verursacht hat oder nicht, bleibt eine Interpretationsfrage, die von zusätzlichem Wissen abhängt.

Im Teil 2 ging es um den Anfang von Kap.2 (Dissipative Prozesse) und den Rest von Kap.3 (Formative Prozesse). Im Kontext der dissipativen (irreversiblen) Prozesse macht Denbigh darauf aufmerksam, dass sich von der Antike her in der modernen Physik eine Denkhaltung gehalten hat, die versucht, die reale Welt zu verdinglichen, sie statisch zu sehen (Zeit ist reversibel). Viele empirische Fakten sprechen aber gegen die Konservierung und Verdinglichung (Zeit ist irreversibel). Um den biologischen Phänomenen gerecht zu werden, führt Denbigh dann das Konzept der ‚Organisation‘ und dem ‚Grad der Organisiertheit‘ ein. Mit Hilfe dieses Konzeptes kann man Komplexitätsstufen unterscheiden, denen man unterschiedliche Makroeigenschaften zuschreiben kann. Tut man dies, dann nimmt mit wachsender Komplexität die ‚Individualität‘ zu, d.h. die allgemeinen physikalischen Gesetze gelten immer weniger. Auch gewinnt der Begriff der Entropie im Kontext von Denbighs Überlegungen eine neue Bedeutung. Im Diskussionsteil halte ich fest: Im Kern gilt, dass maximale Entropie vorliegt, wenn keine Energie-Materie-Mengen verfügbar sind, und minimale Entropie entsprechend, wenn maximal viele Energie-Materie-Mengen verfügbar sind. Vor diesem Hintergrund ergibt sich das Bild, dass Veränderungsprozesse im Universum abseits biologischer Systeme von minimaler zu maximaler Entropie zu führen scheinen (dissipative Prozesse, irreversible Prozesse, …), während die biologischen Systeme als Entropie-Konverter wirken! Sie kehren die Prozessrichtung einfach um. Hier stellen sich eine Fülle von Fragen. Berücksichtigt man die Idee des Organisationskonzepts von Denbigh, dann kann man faktisch beobachten, dass entlang einer Zeitachse eine letztlich kontinuierliche Zunahme der Komplexität biologischer Systeme stattfindet, sowohl als individuelle Systeme wie aber auch und gerade im Zusammenspiel einer Population mit einer organisatorisch aufbereiteten Umgebung (Landwirtschaft, Städtebau, Technik allgemein, Kultur, …). Für alle diese – mittlerweile mehr als 3.8 Milliarden andauernde – Prozesse haben wir bislang keine befriedigenden theoretischen Modelle

Im Teil 3 geht es um das Thema Determinismus und Emergenz. Ideengeschichtlich gibt es den Hang wieder, sich wiederholende und darin voraussagbare Ereignisse mit einem Deutungsschema zu versehen, das diesen Wiederholungen feste Ursachen zuordnet und darin eine Notwendigkeit sieht, dass dies alles passiert. Newtons Mechanik wird in diesem Kontext als neuzeitliche Inkarnation dieser Überzeugungen verstanden: mit klaren Gesetzen sind alle Bewegungen berechenbar. Denbigh zeigt dann anhand vieler Punkte dass die Annahme eines Determinismus wenig plausibel ist. Betrachtet man den Gang der Entwicklung dann kann man nach Denbigh etwa folgende Komplexitätsstufen unterscheiden: (i) Fundamentale Teilchen, (ii) Atome, (iii) Moleküle, (iv) Zellen, (v) Multizelluläre Systeme, (vi) Soziale Gruppen.(vgl. S.143) Aus wissenschaftlicher Sicht müssen sich alle diese ‚Stufen‘ (‚level‘) einheitlich erklären lassen.

KAPITEL 5: GIBT ES IRGENDWELCHE SCHÖPFERISCHEN PROZESSE? (149 – 178)

1. Nachdem Denbigh in den vorausgehenden 4 Kapiteln die Begrenztheit vieler Konzepte in der modernen Physik in den Fokus gerückt hatte (z.B.: dass die Welt nicht deterministisch ist; dass die Naturgesetze Gedankenbilder sind und nicht automatisch eine ontologische Geltung besitzen; dass alle bekannten Prozesse in der Natur irreversibel sind; dass das Konzept einer Symmetrie nicht empirisch gedeckt ist; dass die sogenannten Konservierungsgesetze postuliert wurden bevor sie überhaupt definiert wurden; dass alles darauf hindeutet, dass die Entropie zunimmt ), konzentriert er sich im letzten 5.Kapitel auf die Frage, ob es überhaupt schöpferische/ erfinderische (‚inventive‘) Prozesse gibt.
2. Mit schöpferisch meint er nicht einen Vorgang wie in den religiösen Schöpfungsmythen, in denen quasi aus dem Nichts ein unbekanntes Etwas genannt Gott/ Schöpfer etwas hervorbringt (die Welt), die dann völlig deterministisch abläuft, sondern eher einen abgeschwächten Hervorbringungsprozess, der ohne Notwendigkeit geschieht, nicht voraussagbar ist, etwas wirklich Neues bringt, und der alle Phänomene des bekannten Universums abdeckt. Er geht sogar soweit, zu sagen, dass alle die zuvor genannten Komplexitätsstufen (i) Fundamentale Teilchen, (ii) Atome, (iii) Moleküle, (iv) Zellen, (v) Multizelluläre Systeme, (vi) Soziale Gruppen.(vgl. S.143) sich als Momente an diesem generischen Innovationsprozess erweisen lassen müssten.

3. Dieser generische Innovationsprozess ist dann allgemeiner als der übliche Emergenz-Begriff. Emergenz beschreibt üblicherweise das Auftreten spezifischer Komplexitätsstufen bzw. -eigenschaften im engeren Sinne und nicht einen generischen Prozess für alle diese Phänomene.

4. In Anlehnung an das bekannte Schema der genetischen Algorithmen (hier ein knapper Überblick zur historischen Entwicklung des Konzepts Genetischer Algorithmus (GA) sowie Classifier Systeme) stellt Denbigh letztlich drei charakterisierende Momente für seine Idee eines Innovationsprozesses vor: 1) Die Ereignisse sind zufällig ; sie sind 2) selektiv (bei biologischen Systemen oft noch verstärkt durch sexuell bedingte Vermischung im Erbmaterial (crossover)(s.160)); schließlich 3) verstärkend aufgrund des anschließenden Erfolges.
5. Er illustriert dieses Schema beim Übergang vom BigBang zu den ersten Gaswolken, dann zu den Sternen und Galaxien, dann bei der Molekülbildung, bei der Zellbildung, usw. Wichtig ist ihm auch, dass dieses Ereignismodell nicht an biologische Substrate gebunden ist, sondern eben von nicht-biologischen Systemen allgemein auch befolgt werden kann, speziell auch von modernen programmgesteuerten Maschinen (Computern).
6. Eine noch allgemeinere Charakterisierung ist jene, die diese schöpferischen Prozesse ansiedelt zwischen Ordnung und Unordnung. Ein Beispiel für hohe Ordnung wären die kristallinen Strukturen (sie sind für schöpferische Prozesse zu starr), und ein Beispiel für Unordnung wäre gasförmige Strukturen (sie sind für schöpferische Prozesse zu instabil, zu flüchtig). (Vgl.S.162f) Mit anderen Worten, bei allem Aufbau von Ordnung muss es hinreichend viel Rest-Unordnung geben, ansonsten kommen alle Prozesse zum Stillstand, oder: gefordert ist ein Zustand unterhalb maximaler Entropie.
7. Wie Denbigh auch in den vorausgehenden Kapiteln schon angedeutet hatte, sieht er spirituelle/ geistige Phänomene einschließlich des Bewusstseins als normale Phänomene des Naturprozesses. (Z.B. S.168f)
8. So sieht er die 6 Komplexitätsstufen von oben auch als Ausprägungen eines allgemeineren 3-stufigen Schemas (i) unbelebt , (ii) belebt sowie (iii) belebt mit wachsendem Bewusstsein. (Vgl. S.171)
9. Unter Voraussetzung seines 3-stufigen Innovationsmodells kann er dann das Bewusstsein als einen Prozess interpretieren, der die Fähigkeit zur Selektion für ein biologisches System dramatisch verbessert. (Vgl. S.163-165)
10. Denbigh kommt in diesem Kapitel auch nochmals auf die Problematik der nichtwissenschaftlichen Voraussetzungen der Wissenschaft zu sprechen, die ich in einem vorhergehenden Beitrag schon angesprochen hatte (der Beitrag war angeregt von der Lektüre von Denbigh).
11. Mit Zitaten von einigen berühmten Forschern und Philosophen thematisiert Denbigh nicht nur allgemein die häufig unreflektierte Voraussetzungsbehaftetheit von Wissenschaft, sondern spricht auch speziell die Tendenz des menschlichen Denkens an, die Prozesse der Natur zu verdinglichen. Während Messgeräte und unsere menschliche Wahrnehmung primär nur isolierte Ereignisse registrieren können, setzt unser Denken diese individuellen Ereignisse automatisch (sprich: unbewusst) zu abstrakten Strukturen zusammen, zu sogenannten Objekten, denen wir dann Eigenschaften und Beziehungen zuordnen. (Vgl. S.164f und Anmk.14) Auf einer größeren Zeitskala gibt es diese Objekte aber nicht, sondern da gibt es nur kontinuierliche Zustandsänderungen eines alles umfassenden Prozesses, dem man zwar Eigenschaften zuordnen kann, aber letztlich nicht isolierte Objekte. Berücksichtigt man diese Artefakten unseres Denkens, dann legt sich der Gedanken nahe, die gesamte Physik von diesem veränderten Blickwinkel aus zu betrachten und zu re-analysieren. Hier verweist Denbigh explizit auf die theoretischen Arbeiten des berühmten Physikers David Bohm (später in Kooperation mit Basil J.Hiley), dessen Ergebnisse nach vielen Jahren Arbeit Eingang in das Buch The Undivided Universe: An Ontological Interpretation of Quantum Theory gefunden haben.

12. Denbigh fasst die manifeste Schizophrenie der modernen Wissenschaft in ihrer Haltung zum Menschen in folgendes Bild: „Die moderne Wissenschaft ist ein gedankliches System, das zwar die kreative Kraft der Menschen umfassend dokumentiert, und doch macht sie den Menschen selbst zu einer Sache/ zu einem Ding (‚thing‘) – also zu einem Objekt, von dem die Wissenschaft annimmt, dass es über eine solche schöpferische Kraft gar nicht verfügt.“ (Anmk.22, S.173)

DISKUSSION

  1. Dieses Buch habe ich als extrem anregend empfunden. Es taucht viele bekannte Positionen in ein neues Licht.
  2. Erkenntnistheoretisch liegt es auf der Linie, die bislang im Blog vertreten wurde, nämlich dass man bei der Diskussion der verschiedenen Phänomene und Positionen die jeweiligen Bedingungen des Erkennens beachten sollte, wenn man zu einer Einschätzung kommen möchte. Und dazu reicht keine klassische Erkenntnistheorie, sondern man muss die  modernen Erkenntnisse aus Psychologie und Biologie einbeziehen. Die Warnung vor einer falschen Verdinglichung der Weltereinisse sollte ernst genommen werden.
  3. Ferner ist der bisherige Erklärungsansatz dieses Blogs über einen generellen Evolutionsbegriff in Übereinstimmung mit dem generellen Innovationsansatz von Denbigh. Tatsächlich erscheint Denbighs Ansatz noch radikaler, generischer.  Dies soll im weiteren mehr bedacht werden.
  4. Die klare Subsumierung alles Geistigen unter den allgemeinen Naturprozess entspricht auch der Linie im Blog. Dieses führt aber nicht — wie Denbigh auch klar herausstellt — zu einer Vereinfachung oder Abwertung des Geistigen sondern zu einem vertieften Verständnis  der potentiellen Vielfalt und Komplexität der Energie-Materie. Mit der unterschiedlichen Einordnung geht ja nicht das Phänomen verloren, sondern die begriffliche Einordnung muss neu justiert werden. Dies verlangt nicht nur eine Neupositionierung der bisherigen Geisteswissenschaften, sondern genauso auch eine Neupositionierung der Naturwissenschaften. Diese erweisen sich bislang aber als nicht minder dogmatisch wie die oft gescholtenen Geisteswissenschaften.

QUELLEN

  1. Kenneth George Denbigh (1965 – 2004), Mitglied der Royal Society London seit 1965 (siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Fellows_of_the_Royal_Society_D,E,F). Er war Professor an verschiedenen Universitäten (Cambridge, Edinbugh, London); sein Hauptgebet war die Thermodynamik. Neben vielen Fachartikeln u.a. Bücher mit den Themen ‚Principles of Chemical Equilibrium, ‚Thermodynamics of th Steady State‘ sowie ‚An Inventive Universe‘.
  2. David Joseph Bohm FRS[1] (December 20, 1917 – October 27, 1992) was an American scientist who has been described as one of the most significant theoretical physicists of the 20th century[2] and who contributed innovative and unorthodox ideas to quantum theory, neuropsychology and the philosophy of mind.
  3. Basil J. Hiley (born 1935), is a British quantum physicist and professor emeritus of the University of London. He received the Majorana Prize „Best person in physics“ in 2012.
  4. Review von: „The Undivided Universe: An Ontological Interpretation of Quantum Theory“ von David Bohm and Basil J. Hiley, Routledge, London and New York, 1993. 397 pp. hc, ISBN 0–415–06588–7 durch Sheldon Goldstein, Department of Mathematics, Rutgers University, New Brunswick, NJ 08903, USA(July 28, 1994)

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NOTIZ ZU DEN UNWISSENSCHAFTLICHEN VORAUSSETZUNGEN DER WISSENSCHAFTEN

  1. Als ich gestern weiter im Buch ‚An Inventive Universe‘ von Denbigh las, diskutierte er dort u.a. die verschiedenen Positionen, die in der Physik und in der Philosophie zum Thema Determinismus eingenommen werden. Er arbeitete heraus, dass jede physikalische Theorie einen nicht unwesentlichen nicht-wissenschaftlichen Anteil besitzt, nämlich diejenigen Interessen, Fragen und Grundannahmen, die der Bildung einer wissenschaftlichen Theorie voraus liegen. Ohne diese Annahmen und vorauseilenden Interessen gibt es keine wissenschaftliche Aktivitäten.
  2. Moderne Wissenschaft versteht sich zwar so, dass sie ihr Vorgehen transparent machen will, wiederholbar, unabhängig (invariant) von individuelle Gefühle und Fantasien, aber die nicht-wissenschaftlichen vorausgehenden Annahmen sind unausweichlich individuell bedingt, aus allen möglichen Quellen (auch individuellen Interessen, Fantasien, Erinnerungen, Vorstellungen) gespeist. Etwas anderes hat auch ein Wissenschaftler nicht zur Verfügung.
  3. Im Fall des Determinismus ist z.B. die Vorstellung, dass die Ereignisse in der Natur nicht zufällig sind, sondern bestimmten Regeln, Gesetzen folgen, dass sie damit berechenbar sind, dass damit Voraussagen möglich sind, eine solche Grundannahme.
  4. Diese Annahmen kommen nicht aus der Welt jenseits des Kopfes, sondern sie entstehen im individuellen Gehirn eines potentiellen Forschers. Sie werden ihm bewusst, prägen seine Sehweise, wie er die Welt betrachtet und interpretiert. Als solche sind sie weder wahr noch falsch. Es sind Formen der Wahrnehmung von Welt.
  5. Die Mechanik von Newton passte sehr gut in diese Erwartung: plötzlich konnte man scheinbar alle Bewegungen damit berechnen. Sowohl die Bewegung der Sterne wie auch die der Körper auf der Erde.
  6. Der weitere Gang der Forschung zeigte dann aber, dass diese Wahrnehmung der Natur unvollständig, wenn nicht gar in einem tiefen Sinne falsch ist. Beim immer weiter Vordringen in das ‚Innere der Natur‘ lernten die Wissenschaftler, dass die Natur alles andere als determiniert ist; ganz im Gegenteil, sie ist radikal probabilistisch, nicht ausrechenbar im Detail, auch nicht ausrechenbar in ihren komplexesten Erscheinungen, den biologischen Lebensformen. Die Annahme einer deterministischen, Gesetzen folgenden Natur erwies sich als Fiktion des individuellen Denkens. Das, was man für objektive Wissenschaft gehalten hatte zeigte sich plötzlich als überaus subjektives Gebilde mit hohem metaphysischen Unterhaltungswert.
  7. Die Einstellung, dass Wissenschaft um so objektiver sei, umso weniger man den Anteil des erkennenden Subjektes in den Erklärungsprozess einbezieht, erweist sich immer mehr als falsch. Gerade diese Verweigerung, den handelnden Wissenschaftler mit seinen spezifischen biologischen Voraussetzungen als konstitutives Element des Erkennens nicht kritisch in die Reflexion einzubeziehen, macht Wissenschaft ideologieanfällig, lässt sie unbewusst in das Schlepptau einer verdeckten Metaphysik geraten, die umso schlimmer wütet, als man so tut, als ob es so etwas doch gar nicht gibt [Anmerkung: Eine solche Wissenschaftskritik ist nicht neu. Die Wissenschaftsphilosophie bzw. Wissenschaftstheorie ist voll von diesen kritischen Überlegungen seit mehr als 100 Jahren].
  8. Für das wissenschaftliche Denken hat dies weitreichende Konsequenzen, vorausgesetzt, man nimmt diese Erkenntnisse ernst.
  9. Streng genommen dürfte es keine einzige wissenschaftliche Disziplin mehr geben, die in ihrem Alltagsbetrieb nicht eine Theorie-kritische, sprich wissenschaftsphilosophische Abteilung besitzt, die sich kontinuierlich aktiv mit den ganzen nichtwissenschaftlichen Annahmen auseinandersetzt, die in jeden Wissenschaftsbetrieb eingehen. Insofern die Verantwortlichen eines solchen wissenschaftskritischen Unterfangens natürlich selbst von den jeweiligen Annahmen infiziert sind, gibt es keine Garantie, dass der nicht-wissenschaftliche Anteil tatsächlich immer angemessen erkannt und behandelt wird.
  10. Das heute oft so beklagte Auseinanderdriften von naturwissenschaftlichem Denken einerseits und und sozialem-kulturellem-geisteswissenschaftlichem Denken andererseits könnte durch die direkte philosophische Aufbereitung des naturwissenschaftlichen Denkens möglicherweise vermindert werden. Doch trotz aller Einsichten in die metaphysischen Schwachstellen des naturwissenschaftlichen Wissenschaftsbetriebs sieht es momentan nicht so aus, dass der Mainstream naturwissenschaftlichen Forschens sich solchen Maßnahmen öffnen würde.
  11. Man könnte sich jetzt einfach vom Geschehen abwenden und sagen, dann lass sie halt (die Naturwissenschaftler). Das Problem ist nur, dass diese Art von eingeschränktem Denken vielfache Fernwirkungen hat, die – für viele unmerkbar – grundlegende Anschauungen über die Welt und die Menschen beeinflussen.
  12. Wichtige Themen hier sind (i) das Bild vom Menschen generell, (ii) davon abhängig die Auffassung möglicher Werte, Grundwerte, Menschenrechte und Verfassungstexte, u.a. auch (iii) die Vorstellungen vom Sinn des Lebens im Kontext von religiösen Vorstellungen.
  13. Diese Überlegungen sind weiter zu führen.

Literaturhinweis:

Kenneth George Denbigh (1965 – 2004), Mitglied der Royal Society London seit 1965 (siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Fellows_of_the_Royal_Society_D,E,F). Er war Professor an verschiedenen Universitäten (Cambridge, Edinbugh, London); sein Hauptgebet war die Thermodynamik. Neben vielen Fachartikeln u.a. Bücher mit den Themen ‚Principles of Chemical Equilibrium, ‚Thermodynamics of th Steady State‘ sowie ‚An Inventive Universe‘.

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CARTESIANISCHE MEDITATIONEN III, Teil 8

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 26.Dezember 2011
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

(114) Den rote Faden der Rationalität, der die ‚universale Philosophie‘ mit den ‚Tatsachenwissenschaften‘ verbindet, formuliert Husserl an einer Stelle auch wie folgt: ‚Alle Rationalität des Faktums liegt ja im Apriori. Apriorische Wissenschaft ist Wissenschaft von dem Prinzipiellen, auf das Tatsachenwissenschaft rekurrieren muss, um letztlich, eben prinzipiell begründet zu werden…‘ (vgl. CM2, S.38, Z28f) Dies klingt auf den ersten Blick so klar. Doch lässt man sich auf die Magie der Worte ein, dann können sich zuvorderst erscheinende Strukturen verschieben, und in der Folge weiteren Nachdenkens können Strukturen sichtbar werden, die einfach anders sind.

(115) Beginnen wir mit den Begriffen ‚Apriorische Wissenschaft‘ und ‚Tatsachenwissenschaft‘. Wie so oft, ist der Begriff der ‚Tatsache‘ nicht wirklich definiert. Aus dem Kontext können wir nur erschließen, dass Husserl jene Gegebenheiten meint, die die empirischen Wissenschaften als ‚gültig‘ beschreiben. Aus Sicht der Phänomenologie sind diese als ‚Tatsachen‘ bezeichneten Gegebenheiten zunächst einmal Phänomene wie alle anderen Phänomene auch. Aus Sicht der Phänomenologie gibt es nur die Menge der Phänomene [Ph], wie sie im Bewusstsein erscheinen unabghängig davon, wie eine bestimme Denkdisziplin eine mögliche Teilmenge von diesen darüber hinaus bezeichnet. Wenn also die empirischen Wissenschaften darüber überein gekommen ist, innerhalb der Menge der Phänomene Ph eine bestimmte Teilmenge auszuzeichnen und dieser Teilmenge den Namen ‚empirische Phänomene [Ph_emp]‘ verleihen, dann kann man dies tun; die Menge der empirischen Phänomene Ph_emp bleibt damit aber dennoch primär eine Menge von Phänomenen Ph, also Ph_emp subset Ph.

(116) Husserl charakterisiert den Übergang vom ’naiven‘ Alltagsbewusstsein zum ’nicht-naiven‘ –sprich ‚kritischen‘– philosophischen (phänomenologischen) Bewusstsein   zuvor durch die Reduktion mittels Epoché, durch die Bewusstwerdung davon, dass alles –insbesondere das Weltliche– nur etwas ist im Bewusstsein, als Gegebenes des transzendentalen ego. (vgl. z.B. CM2, S8f) Damit verschwinden keine Phänomene, auch nicht die, die ‚empirisch‘ genannt werden, es wird nur ihre ‚Interpretation‘ als etwas, das  ein ausserhalb des Bewusstsein Liegendes sei (z.B. der Außenraum, das Andere, die Welt), eingeklammert und aller Sinn beschränkt auf jenen Sinn, der sich aus der Unhintergehbarkeit des ‚Im-Wissen-des-Wissens-um-sich-Selbst-und-seiner-Gegebenheiten‘ (zuvor schon abkürzend transzendentales Subjekt trlS bezeichnet) ergibt.

(117) Folgt man diesem Gedanken, stellt sich nur die Frage, wie ein so transzendental bezogenes Gegebenes jemals wieder als ‚Bote einer anderen Welt‘, und zwar wenigstens hypothetisch, gedacht werden kann? Wie kann ein trlS ‚in sich‘ bzw. ‚aus sich heraus‘ jenes ‚Andere‘ erkennen, das von ihm weg auf etwas anderes verweist, ohne dabei das Gegebensein im trlS zu verlieren? Sofern ein bestimmtes Gegebenes nicht im Kontext von speziellen Eigenschaften W  vorkommt, die das trlS dazu ‚berechtigen‘, auf ein ‚jenseits von ihm selbst‘ (ein Transzendentes) verweisen zu können, wird man die Frage negativ bescheiden müssen. Und die vorausgehenden Reflexionen zum husserlschen transzendentalen ego haben ja gerade zum Konzept des trlS geführt, weil im tiefsten Innern des Transzendentalen, in seinem ‚Kern‘, in seiner ‚Wurzel‘,…. das ‚Andere‘ schon immer da ist. Nur weil das ‚Wissen um sich selbst‘ als dieses  spezielle Wissen das im Wissen als etwas Gegebenes als ‚etwas von dem Wissen Verschiedenes‘, als ein ‚wesentlich Anderes‘ schon immer denknotwendig vorfindet, kann das trlS sowohl den Begriff des Anderen denken wie auch den Begriff des ‚für sich Seins‘ eines Anderen. Da dieses Andere in vielfältigen Eigenschaftskombination sowie in mannigfaltigen dynamischen Abläufen auftritt, zeigt sich das Andere nicht nur mit einem ‚Gesicht‘; es kann sehr viele verschiedene Namen bekommen.

(118) Wenn also in der Epoché die ‚Weltgeltung‘ bestimmter Phänomene innerhalb des Wissens um sich selbst thematisiert wird und damit dieses Wissen sich seiner ‚kritischen Funktion‘ bewusst wird, ermöglicht sich zwar auf der einen Seite ein spezieller reflektierender Umgang mit diesen Phänomenen, durch diesen reflektierenden Umgang wird aber die jeweilige ‚phänomenologische Qualität‘, die jeweilige Mischung von Eigenschaften, die ein Phänomen konstituieren, nicht ausgelöscht; diese Eigenschaften bleiben, wie sie sind. Die grundsätzliche (transzendentale!) Andersartigkeit jeden Phänomens bleibt erhalten und innerhalb dieser unhintergehbaren Andersartigkeit deutet sich in vielen Phänomenen samt ihrem Kontext ein ‚Jenseits‘, eine ‚Transzendenz‘ an, die den Phänomenen und der Art ihres Erscheinens ‚innewohnt‘. In diesem Sinne muss man sagen, dass der transzendentale Charakter des ‚Anderem im für uns sein‘ ergänzt werden muss um die Eigenschaft der ‚Transzendenz‘ als etwas dem Anderen wesentlich Zukommendes.

(119) Das Wissen um sich ‚besitzt‘ das andere ’nicht‘, sondern es ‚empfängt‘ es. Anders gewendet, im kontinuierlichen Empfangen des transzendental Anderen ‚zeigt sich‘ (revelare, revelatio, Offenbarung) etwas ganz anderes als wesentlicher Teil unseres für uns Seins. Und da dieses sich kontinuierlich Zeigen (Offenbaren) aufgrund der Endlichkeit jeden einzelnen Phänomens im Kommen und Gehen und ‚zusammenbindenden Erinnern‘ eine ’nicht abschließbare Endlichkeit‘ ist, eine ‚unendliche Endlichkeit‘, verweist jedes konkrete Phänomen durch diese ‚gewusste Nichtabschließbarkeit‘ auf ein ‚Jenseits‘ des aktuell Gegebenen, manifestiert sich eine ‚Transzendenz‘, die im Wissen um sich und für sich zu einem ‚Faktum‘ wird, dessen kontinuierliche Endlichkeit ein Begreifen, ein ‚Gefasstwerden‘, einen Abschluss, eine Einheit, eine …. herausfordert.

(120) Innerhalb der allgemeinen Menge der Phänomene Ph  eine spezielle Menge der empirischen Phänomene Ph_emp aussondern zu können setzt somit voraus, dass diesen ausgesonderten Phänomenen qua Phänomene etwas zukommt, das diese Aussonderung rechtfertigt. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass bis auf jene Menschen, die als ‚psychisch gestört‘ klassifiziert werden, zwischen Menschen immer eine Einigung darüber möglich ist, ob ein bestimmtes Phänomen ein empirisches Phänomen x in Ph_emp ist oder nicht x -in Ph_emp. Diese Praxis ist möglich, weil es vorab zu dieser Praxis als notwendige Eigenschaften der empirischen Phänomene etwas gibt, was sie von anderen abhebt und aufgrund deren Gegebenheit Menschen diese Unterscheidung treffen können. Die empirischen Wissenschaften, die sich auf diese Teilmenge Ph_emp der allgemeinen Phänomene Ph berufen, sind in dieser Berufung noch nicht verschieden von der allgemeinen phänomenologischen Philosophie. Die Phänomene als Phänomene sind reell, sind gegeben, unabhängig davon, wie ich sie darüber hinaus ‚interpretiere‘, ob ’naiv‘ hinnehmend oder ‚kritisch‘ einordnend.

(121) Das übliche Kriterium in den empirischen Wissenschaften, mittels dessen die empirischen Phänomene Ph_emp von der allgemeinen Menge der Phänomene Ph ‚ausgesondert‘ wird, ist das ‚Experiment‘. Ein Experiment ist eine Ereignis- bzw. Handlungsfolge,  deren Kennzeichen ist, dass sie jederzeit von jedem wiederholbar sein müssen und dass bei gleichen Ausgangsbedingungen die gleichen (Mess-)Ereignisse  auftreten. Eine detaillierte phänomenologische Beschreibung wäre etwas umfangreicher. An dieser Stelle sollen nur die Kernaussagen festgehalten werden. Dazu bezeichnen wir alle Phänomene, die im Kontext eines Experimentes auftreten, als Ph_exp. Das Experiment als solches ist nicht notwendig, sondern ‚kontingent‘. Man kann ein Experiment durchführen, aber man muss nicht. Allerdings, wenn man ein Experiment durchführt, dann gilt, dass das das zu messende Phänomen Ph_emp  mit ‚Notwendigkeit‘ immer auftritt. Man kann also sagen, die empirischen Phänomene sind eine Schnittmenge aus den allgemeinen Phänomenen und den experimentellen Phänomenen Ph_emp = Ph cut Ph_exp. Mit all diesen Besonderheiten bleiben sie aber genuine Phänomene und fallen nicht aus dem Bereich einer phänomenologischen Reflexion heraus. Ein phänomenologischer Philosoph kann die experimentellen empirischen Phänomne betrachten wie er alle anderen Phänomene auch betrachtet.

(122) Das einzelne empirische Phänomen als solches besagt aber so gut wie nichts. Es gewinnt einen möglichen ‚Sinn‘ erst durch die zusätzliche Eigenschaft, dass es nicht nur ‚kontingent‘ im Sinne von ‚regellos‘, ‚zufällig‘ ist, sondern dass es im Zusammenhang mit anderen empirischen Phänomenen etwas ‚Nicht-Kontingentes‘, etwas ‚Nicht-Zufälliges‘  erkennen läßt. Diese Beschreibung schließt mit ein, dass man sagen kann, wie genau die Eigenschaft ‚Zufällig-Sein‘ (Kontingent-Sein) definiert wird. Wir setzen an dieser Stelle einfach mal voraus, dass dies geht (was alles andere als ‚trivial‘ ist!). Nicht-Zufälliges kann z.B. auftreten in Form von Zufallsverteilungen oder aber sogar bisweilen in Gestalt eines ‚gesetzmäßigen Zusammenhangs‘, dass immer wenn ein Phänomen p_i auftritt, ein anderes Phänomen p_j zugleich mit auftritt oder dem Phänomen p_i ‚folgt‘. In diesem Sinne gibt es im Bereich der Phänomene ’notwendige Zusammenhänge‘, die das Denken im Anderen  ‚vorfindet‘. Wichtig ist aber, dass es sich hier um Eigenschaften handelt, die den Phänomenen als Phänomenen zukommen, die nicht aus dem phänomenologischen Denken herausfallen. Ja, mehr noch, es geht hier nicht um ‚primäre‘ Eigenschaften der Phänomene, sondern um ‚phänomenübersteigende‘ Eigenschaften, die auf Zusammenhänge verweisen, die nicht dem einzelnen Phänomen als solchen zukommen, sondern sie verweisen auf ‚Formen des dynamischen Erscheinens‘ von Phänomenen.

(123) Diese ‚das einzelne Phänomen übersteigende Eigenschaften‘ setzen eine Erinnerungsfähigkeit voraus, die aktuell Gegebenes (Aktuales) ‚im nächsten Moment‘ nicht vollständig vergisst, sondern in der Lage ist, ‚Vorher Aktuales‘ wieder zu ‚erinnern‘ und es darüber hinaus noch mit dem ‚jetzt Aktualen‘ in Beziehung zu setzen, z.B. in einem ‚Vergleich‘. Diese Fähigkeit des impliziten Erinnerns gehört unserem Denken zu, ist eine dem Denken inhärierende Eigenschaft, ohne die wir keinen einzigen Zusammenhang denken könnten. In diesem Sinne ist das Erinnern und aus der Erinnerung heraus ‚Beziehen‘ können denknotwendig, transzendental.

(124) Durch Experimente kann das phänomenologische Denken allerdings ermitteln, dass das, was erinnert wird  [Ph_mem]  mit dem ‚ursprünglich Wahrgenommenen‘ [Ph_aktual] nicht identisch sein muss und in der Regel auch nicht identisch ist. Also  Ph_mem = Erinnern(Ph_aktual) & Ph_mem != Ph_aktual. D.h. das Erinnern ist keine 1-zu-1 Kopie des vorausgehenden Aktualen sondern –im Normalfall– eine ‚Modifikation des Originals‘. Es ist eine eigene Wissenschaft, zu erforschen, ob und in welchem Umfang diese Modifikationen selbst ‚gesetzmäßig‘ sind. Wichtig an dieser Stelle ist nur, dass man sich bewusst ist, dass das dem Denken transzendental innewohnende Erinnern im Normalfall eine Form von ‚Transformation‘ darstellt, die dem Denken zwar ’neue‘ Eigenschaften des Anderen aufscheinen lässt, aber diese ’neuen‘ Eigenschaften resultieren aus dem Denken selbst. Das ‚Einordnen‘ von Phänomenen in einen ‚gedachten Zusammenhang‘ ist primär ein Akt des Denkens und damit genuin phänomenologisch. Gedachte Zusammenhänge sind aber  als ‚gedachte‘ keine ‚primäre‘  Phänomene sondern ‚abgeleitete‘, ’sekundäre‘ Phänomene. Als ‚gewusste‘ sind sie ‚evident‘, in ihrem möglichen Bezug zu primären Phänomenen können sie ‚divergieren‘, ‚abweichen‘, sich ‚unterscheiden‘.

(125) Das, was sich im Denken zeigt, sind die Phänomene. Sehr verbreitet ist die Redeweise, in der bestimmte Phänomenkomplexe in besonderer Weise als ‚Objekte‘ [Obj] aufgefasst werden. Diese können als Wahrnehmungsobjekte [Obj_perc] auftreten, als  Erinnerungsobjekte [Obj_mem] oder als Denkobjekte [Obj_cog]. In aller Spezifikation bleiben sie Phänomene und gehören zum phänomenologischen Denken. Auch die empirischen Wissenschaften benutzen solche speziellen Objektkonzepte wie ‚Atom‘, ‚chemische Verknüpfungen‘ usw.

(126) Charakteristisch für empirische Theorien ist aber letztlich, dass die gefundenen Zusammenhänge zusätzlich  in einem System von Zeichen (Sprache) so abgebildet werden können, dass sich auf der Basis solcher symbolischer Darstellungen sowohl ein Bezug zu den primären Phänomenen herstellen läßt wie auch, dass sich unter Hinzuziehung eines Folgerungsbegriffs   logische Schlüsse ziehen lassen.

(127) Hierzu müsste man erklären, wie man innerhalb einer phänomenologischen Theorie den Begriff des Zeichens einführen kann.  Dies soll an dieser Stelle nicht geschehen. Husserl selbst lässt diesen zentralen Punkt ganz beiseite. Wir halten hier nur fest, dass an dieser Stelle solch eine Einführung stattfinden müsste; ohne sie wäre das Konzept einer (empirischen) wissenschaftlichen Theorie wesentlich unvollständig.

(128) Blicken wir nochmals zurück. Erinnern wir die Feststellung Husserls ‚Apriorische Wissenschaft ist Wissenschaft von dem Prinzipiellen, auf das Tatsachenwissenschaft rekurrieren muss, um letztlich, eben prinzipiell begründet zu werden…‘ (vgl. CM2, S.38, Z28f)  Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass die empirischen Wissenschaften sich zunächst nicht von der phänomenologischen Philosophie unterscheiden. Sie basieren auf den gleichen Phänomenen und sie benutzen das gleiche Denken. Insofern die empirischen Wissenschaften versuchen, im Raum der Phänomene Zusammenhänge aufzuspüren, Regelhaftigkeiten, müssen sie auf allgemeine Eigenschaften des Anderen rekurrieren, indem sie sich dieser Zusammenhänge ‚bewusst werden‘ und diese als ‚denknotwendige Zusammenhänge‘ explizit machen, bewusst machen, und dann konzeptuell und semiotisch benennen. Empirische Wissenschaften tun dies ‚phänomengeleitet‘, aber auch bestimmten Methoden folgend, die ein Minimum an ‚Wissen um‘ Phänomene und allgemeine Eigenschaften des Denkens einschließt.

(129) Eine klare Abgrenzung zu einer phänomenologischen Philosophie dürfte letztendlich schwierig sein, da ja auch ein phänomenologischer Philosoph nie in jedem Augenblick ‚das Ganze‘ denken kann, sondern immer nur schrittweise  Teilaspekte reflektiert, die er dann ebenso schrittweise zu größeren Perspektiven ‚zusammenfügen‘ kann. Mir scheinen vor diesem Hintergrund die eher zur Gegenübersetzung von Philosophie und empirischer Wissenschaft anregenden Formulierungen von Husserl nicht so geeignet zu sein. Stattdessen würde ich eher den ‚inklusiven‘ Charakter betonen. Empirische Wissenschaft ist grundsätzlich ein Denkgeschehen, was ‚innerhalb‘ des phänomenologischen Denkens stattfindet. Empirisches Denken stellt insoweit eine ‚Teilmenge‘ des phänomenologisch-philosophischen Denkens dar, insoweit das empirische wissenschaftliche Denken (i) einmal die Menge der zu betrachtenden Phänomene mittels eines überprüfbaren Kriteriums ‚beschränkt‘ und (ii) bei den reflektierenden Betrachtungen nicht alles reflektiert, was man reflektieren könnte, sondern sich auf jene Aspekte beschränkt, die notwendig sind, um die empirisch motivierten Zusammenhänge angemessen zu denken.  Wie die fortschreitende Entwicklung der empirischen Wissenschaften zeigt, können sich die Grenzen empirisch-wissenschaftlicher Reflexion beständig verschieben in Richtung solcher Inhalte, die traditionellerweise nur in der Philosophie zu finden waren. Dass heutzutage Ingenieure über die Konstruktion eines ‚künstlichen‘ Bewusstseins grübeln, kann sehr wohl geschehen im Einklang einer genuinen phänomenologisch-philosophischen Reflektion aller Gegebenheiten eines transzendentalen Subjekts.

Fortsetzung folgt.

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